Beat Kappeler: Leidenschaftlich nüchtern.

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© 2014 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich

Lektorat: Ingrid Kunz Graf, Schaffhausen Umschlaggestaltung: Atelier Mühlberg, Basel Gestaltung, Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: CPI – Clausen & Bosse, Leck Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03823-913-0

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VORWORT Diese Leiden haben mich zu den 144 Vorschlägen getrieben Ein mulmiges Gefühl sagt vielen, der alte Westen geht schlechte Wege, wird immobil, versinkt in Schulden, riecht nach Dekadenz. Der Westen wird mit seinen 1000 Regeln ein Gefängnis. Doch wer die Freiheit für Sicherheit eintauscht, verliert am Ende beides, sagte Benjamin Franklin. Die Politiker wählten die Sicherheit. Niemand will mehr Zufälle, Schicksale aussitzen, keine Banken- oder Firmenkonkurse werden ertragen, Ungleichheiten führen Bürgerliche wie Linke zu hastigem Umverteilen. Einzelrisiken führen zu allgemeinen Vorschriften. Doch die sogenannt sozialen Systeme sind zu Ritualen, oft Widersinn degeneriert. Die Westeuropäer sind im Kopf alle zu Opfern geworden, sie sind nicht mehr Schmiede ihres Schicksals. Alles ist schon da gewesen. Ganz Reiche sind an ihren Zwängen erstickt und untergegangen. Oder gut genährt eingeschlafen. Wir lernen aus der Geschichte, dass man aus der Geschichte nichts lernt. Trotzdem, hier werden Freude, Schadenfreude, überraschende Einblicke, intellektuelle Überlebenshilfen vorgelegt. Manchmal reicht auch schon eine zweitbeste Lösung für eine vitale Gesellschaft. Visionen hingegen machen fiebrig und krank. Dies führte mich zu 144 kleinen Gedankenblitzen, Erinnerungen, Einsichten. Fakten aus der Wirtschaftsgeschichte sind dabei und zwei, drei vergnügliche Episoden auch. Vor allem muss man die gleichgerichtete intellektuelle Trägheit bekämpfen, das ist eine der sieben Haupt­ sünden. Einiges davon habe ich in der NZZ am Sonntag als «Standpunkte» entwickelt. In Amerika hätte ich aus jeder Notiz einen Reisser rund um eine einzige These geschrieben – und verkauft. Europa ist kleiner, ich bin

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Vorwort

ungeduldig. Daher die Kurzform. Entweder lässt sich eine Idee auf einem Blatt zusammenfassen, oder sie ist keine Idee. Vor allem aber: Seien wir nüchtern. Den einzigen zulässigen Taumel hat uns Schiller gelehrt: Wir wollen frei sein wie die Väter (und Mütter) waren. Freude, schöner Götterfunken … Leidenschaftlich nüchtern muss Gesellschaft sein. Der grosse Rest gehört dem Einzelnen. Offenlegung Ich habe diese Ideen nicht alle selbst erfunden. Correctness Ich brauche meist die männliche Form, aber alle anderen Geschlechter sind mitgemeint, es werden immer mehr. Immerhin habe ich mit meiner Frau die Arbeit mit den Kindern hälftig geteilt, ist doch auch schon was. Verweise Zahlen im Text verweisen auf eine andere der 144 Ideen.

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INHALT 1

Freiheit 9 2

Technik bringts, bei Maschinen und in der Gesellschaft  28 3

Grundlagen 56 4

Täter, Kämpfer, Taten und Untaten  86 5

Die Wirtschaft richtig lenken – oder auch nicht  116 6

Arbeit und die gute Gesellschaft  135 7

Sozial, sozialer, am unsozialsten (schon wieder)  146 8

Wie der Staat entstand, und wie er wirkt  173 9

Bildung und immer vorwärts, aufwärts  191

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Politik, Steuern, reiche Länder, arme Länder und Aufsteiger  198 11

Die neue Weltgesellschaft  215 12

Rettet das Geld !  229 13

Künstlicher Euro, aber kein Kunstwerk  243 14

Und immer wieder: Moral, Ethik  255 15

Und das Ende: der Welt, der Umwelt, der Freiheit, des Kapitalismus ?  267 Literatur 285 Der Autor  287

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Technik bringts, bei Maschinen und in der Gesellschaft

18 Wenn Komitees herrschen – ein Beispiel

Deutschland wurde 1989 in den Euro gemobbt, von einem harmlosen Komitee der Zentralbanker unter EU-Präsident Delors. Die EU-Gipfelkonferenz in Hannover 1988 wünschte einen besser geregelten Währungsraum Europa, nicht eine neue Währung. Sie beauftragte ein Komitee von zwölf Zentralbankchefs mit der Sondierung. Als aber der Kommissionspräsident der EU, Jacques Delors, als Vorsitzender bestimmt wurde, bezeichnete es der britische Finanzminister als «disaster». Der Chef der Bundesbank, Karl-Otto Pöhl, telefonierte sogar dem Bundeskanzler in die Hannover-Sitzung hinein, um zu protestieren. Delors aber setzte die Sitzungsmechanik gezielt in Gang: Alles sei geheim, und keiner der Zentralbanker dürfe den Eindruck von Meinungsverschiedenheit erwecken. Ausserdem sei das Ganze ein Auftrag des EU-Gipfels, daher nicht verhandelbar. Die Zentralbanker wurden zu Ausführungsbeamten der Regierungen. Als Sekretär bestimmte Delors den europhilen Tommaso Padoa-Schioppa von der italienischen Zentralbank. Als Pöhl wütend protestierte, kündigte Delors seinen Helfer einfach bei der Pressekonferenz an, damit war er gesetzt. In den sieben Sitzungen des Zentralbanker-Komitees wurden die widerstrebenden deutschen, britischen, holländischen und dänischen Zentralbanker gelegt. Padoa-Schioppa kam an der dritten Sitzung mit einem Drei-StufenPlan, und die Idee einer einheitlichen Währung kam auf. Die Kritiker bissen sich an der ersten Stufe fest, um sie möglichst unverbindlich zu halten, Pöhl kam mit 30 Seiten Einwänden und Abänderungen gegen einen Euro, gegen eine Zentralbank, gegen eine Vertragsänderung. Kurz danach aber war alles in den Stufen zwei und drei drin, und Padoa-­ Schioppa brachte es später fertig, den Schritt in die erste Stufe als verbindlich für die zweite und dritte Stufe festzulegen. Gegen eine Defizit-

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Technik bringts, bei Maschinen und in der Gesellschaft

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überwachung der Mitgliedsländer wandten sich Padoa-Schioppa und Delors mit Vehemenz. Gemäss einer Notiz der Briten sah Pöhl mit der Zeit aus «wie ein geknicktes Schilfrohr». Der britische Notenbankchef stimmte Delors am Schluss zu, den Bericht nicht zur Konsultation mit den eigenen Regierungen zu senden, sondern sofort als Fait accompli zu veröffentlichen. Wir lernen aus dem Buch von Harold James darüber, dass die grosse Politik genau so läuft, wie klein Hänschen sie sich vorstellt: Hinter­ treppenlist gewinnt, weil die Mehrheit feig bis ins Mark ist. Wir lernen auch, dass Helmut Kohls nachträgliche Behauptung, er habe den Franzosen die Wiedervereinigung gegen den Euro eintauschen müssen, eine Schutz­behauptung ist.

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4 TÄTER, KÄMPFER, TATEN UND UNTATEN

40 «Romulus der Grosse», letzter Kaiser

Das Theaterstück Friedrich Dürrenmatts sollte nicht nur an Schülerabenden aufgeführt werden. Es ist ein flammender Aufruf gegen Staatsallmacht und gegen die Instrumentalisierung der Bürger für Visionen der Macht. Der letzte Kaiser Westroms ruiniert das Reich ganz grundsätzlich. Er regiert nicht, er lässt alle Niederlagen gegen die eindringenden Germanen an sich abprallen. Alle sind gegen Romulus, die Minister, die Kaiserin, der Präfekt der Reiterei, der bei ihm Schutz suchende ost­ römische Kaiser Zeno. Der Kaiser belehrt sie alle: «Rom hat sich selbst verraten. Es kannte die Wahrheit, aber es wählte die Gewalt, es kannte die Menschlichkeit, aber es wählte die Tyrannei.» Selbst dem aus germanischer Folterhaft zurückgekehrten jungen Aristokraten Aemilius wagt er zu sagen, dass sein Patriotismus überholt und pathetisch ist. Dürrenmatt hat damit gut 60 Jahre früher gemerkt, wohin der alte Westen mit seinem verriegelten, verregulierten privaten wie öffentlichen Leben hinsteuert. 1949 geschrieben, wendet er sich auch gegen die erst kurz zurückliegende, von den Achse-Soldaten verlangte Selbstaufopferung. Das Stück ist geradezu anarchistisch. Der milliardenschwere Hosenfabrikant Cäsar Rupf anerbietet sich, das Imperium zu retten um den Preis der Hand der Kaisertochter. Das verweigert der Kaiser, bei ihm kommt der Staat an zweiter Stelle. Der Fabrikant spricht im Stück allerdings eine Sprache ökonomischer Gewaltmenschen, und die Rettung durch monopolistische Privatwirtschaft erscheint auch nicht gerade als erstrebenswerter Ausgang.

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Täter, Kämpfer, Taten und Untaten

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Dürrenmatt bezeichnete das Stück als Komödie. Viele fast slapstickhafte Elemente und Kalauer stützen diese Sicht. Doch gegen den Schluss gewinnt Romulus, also Dürrenmatt, grandiosen staatsphilosophischen Schwung. Dass ein Politiker, ein Verwaltungshecht, sich selbst zurücknimmt, seine Macht nicht ausspielt, dass er die Gier der anderen ausbremst, ist eine schöne Parabel. Als gesellschaftliche Regel kann sie allerdings nicht genügen. Die Bremsen der Macht und der Gier müssen in die überpersonellen Regeln, in Verfassung und Gesetz eingebrannt werden. Und durchgesetzt werden …

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Und das Ende: der Welt, der Umwelt, der Freiheit, des Kapitalismus?

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143 Kinder wählen die Zukunft

In den alternden westlichen Gesellschaften haben die über 55-Jährigen die Mehrheit an den Urnen (Stimmurnen wohlverstanden. Die andere Urne kommt später). Das könnte zu engem, egoistischem Verhalten bei Abstimmungen und Wahlen führen, wenn die Probleme rund um die Sicherung der Altersrenten, die Investitionen in die Zukunft oder das Schuldenmachen gelöst werden sollten. Denn die Umlagesysteme der Altersrenten und die in vielen Ländern enorm aufgetürmten Schulden der Staaten sind nicht in einem Generationenvertrag festgelegt, wie manchmal gesülzt wird. Die Jungen hatten dazu nichts zu sagen, diese Probleme wälzen sich weiter als eine Generationendiktatur. Die Jungen werden bezahlen. Damit an den Wahl- und Abstimmungsurnen die Zukunft zu ihrem Recht kommt, muss den Kindern ab Geburt ebenfalls das Stimmrecht erteilt werden. Ausgeübt wird es von den gesetzlich Erziehungsberechtigten. Damit gewichtet die Gesellschaft die Wünsche der Familien mit Kindern wieder stärker. Sind sich die Eltern politisch nicht einig, lassen sie es sein oder wechseln ihre Meinungsäusserung ab, oder sie machen mehrere Kinder und haben dann die Auswahl. Es gibt in Europa einige Kirchgemeinden, evangelische und katholische, die diese Kinderstimmen schon ausüben lassen. Den Staaten selbst stünde es auch wohl an. Ich habe unseren beiden Buben, als sie etwa 15 Jahre alt waren, bei der Nationalratswahl je eine Linie zur Verfügung gestellt und den Packen Wahlbroschüren gegeben. Militärbegeistert, wie sie damals waren, wählten sie einen Panzerobersten. Dieser war gleichzeitig ein ausgezeichneter Gemeindepräsident im Bernbiet und als Nationalrat ein verständiger, weltoffener Mann. Die Schweiz hat damit gewonnen.

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Und das Ende: der Welt, der Umwelt, der Freiheit, des Kapitalismus?

144 Wir sind auf Wanderschaft

Die Zivilisation der Menschen nährt sich aus dem Speicherzwang, um gegen Umschwünge gerüstet zu sein, aus der Bindung an überfamiliäre Regeln, die nicht aus dem Augenblick eines Gewaltherrschers geboren, sondern schriftlich für alle – sogar für ihn – niedergelegt werden. Sigmund Freud hätte noch den Triebverzicht als Kulturleistung angeführt, aber das ist oben schon inbegriffen. Schriftlich und öffentlich legte sich die menschliche Gesellschaft also ihre Regeln fest: auf der Gesetzesstele König Hammurabis 1750 v. Chr., im Zwölftafelgesetz des republikanischen Rom des 5. Jahrhunderts v. Chr., in der Magna Charta 1215, in den Verfassungen aller Länder seither. Sehr gut, und schon zu viel. Ich habe hier mit Analysen und Beispielen dargelegt, dass der alte Westen heute in davon abgeleiteten, immer weiter aufgefächerten Verrechtlichungen erstickt, die Freiheit damit, die man eigentlich schützen wollte. Verfassungsgerichte annullieren Parlamentsentscheide, Volksentscheide werden wegen eines verästelten, nur von Juristen erkennbaren allgemeinen Völkerrechts und internationaler Bürokratien wie im Strassburger Menschenrechtsdelirium zurückgebunden. Beschwerderechte der einen erdrücken die Eigentums- und Handlungsrechte der anderen Bürger. Rekurse gegen Verfahrensschritte, gegen Beweismittel, die Umkehr der Beweislast: «summum ius summa iniuria» – maximale Rechtsmittel, maximales Unrecht. Schon das alte Rom kannte das Problem. Also lockern wir dieses Halseisen wieder ! Die Gesellschaft besteht nicht nur dank Rechtssätzen, sondern dank Treu und Glauben des Alltags, dank No-nonsense-Anwendung von Recht, dank Ermessen der Behörden. Aber sie ist gerecht auch durch die Wachsamkeit der Medien, dank der Meinungsfreiheit, dank Protest und

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Und das Ende: der Welt, der Umwelt, der Freiheit, des Kapitalismus?

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verweigertem Gehorsam der Bürger. Die Gesellschaft ist auf Wanderschaft, sie wandelt sich, sie kann nicht nur durch Schriftsätze gestylt werden. Das Weiche, das Vertrauen, die unausgesprochenen, aber wirksamen Verfahrensformen unter uns Menschen sind wichtiger. Sonst wäre die DDR eine Krone des Menschseins und der Gesellschaft gewesen. Doch all dieses Weiche fehlte ihren hochtrabenden Verfassungssätzen. Die Gesellschaft auf Wanderschaft, mit offenem, nicht garantiertem Ziel, das muss uns genügen. In der Wissenschaft von der Gesellschaft gilt die Hermeneutik als gute Methode – nämlich sich einzulassen auf die Zeichen der Zeiten, des Denkens und Verhaltens der Menschen hinter den Schriften und vorgezeigten Symbolen. So wollen wir es halten.

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Der Autor Beat Kappeler, geboren 1946, lic. sc. pol., Studium in Genf und Westberlin. 1972–1977 freier Wirtschaftsjournalist, u. a. bei der Nationalzeitung und der Weltwoche. 1977–1992 Geschäftsführender Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB). 1993–2002 Autor der Weltwoche. 1996– 2000 Professor für Sozialpolitik an der Universität Lausanne. 1998–2007 Mitglied der Eidgenössischen Kommunikationskommission. 1999 Dr. h. c. der Universität Basel. Heute tätig als Kommentator bei der NZZ am Sonntag. Referent in SKU (Schweizerische Kurse für Unternehmensführung), Advanced Management Program. Verheiratet mit der Historikerin Dr. Franziska Rogger, Vater zweier Söhne, CC.

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