Lukas Leuzinger: Ds Wort isch frii.

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Die Glarner Landsgemeinde zieht jedes Jahr Tausende Stimmbürger und Schaulustige an. Während in vielen tionen sinkt, übt sie mit ihrer ausgeprägten Bürgernähe, dem unmittelbaren Mitbestimmungsrecht und der offenen Diskussion eine starke Anziehungskraft aus. Doch vermag sie heutigen demokratischen Ansprüchen zu genügen? Lukas Leuzinger rollt die Geschichte der Glarner Landsgemeinde auf und fragt, ob sie im 21. Jahrhundert noch zeitgemäss ist und welche Reformen not-

Lukas Leuzinger

wendig sind.

«Ds Wort isch frii»

Demokratien das Vertrauen der Bürger in die Institu-

Ds Wort isch frii Die Glarner Landsgemeinde: Geschichte, Gegenwart, Zukunft Lukas Leuzinger

ISBN 978-3-03810-326-4 ISBN

9 783038 103264 www.nzz-libro.ch

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Lektorat: Ingrid Kunz Graf, Stein am Rhein Umschlag: Urs Bernet, Die Büchermacher GmbH, Zürich Gestaltung, Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: Druckhaus Nomos, Sinzheim Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ins­besondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Verviel­fältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen ­unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-326-4

www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung.

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Inhalt

Vorwort 7 Einleitung 9 Die Geschichte der Landsgemeinde 15 Die Entstehung der Landsgemeinde 15 Ur-, aber nicht Musterdemokratie 18 Die konfessionelle Teilung 25 Der Sieg der liberalen Demokratie: Die Landsgemeinde in der Zeit von der Helvetik bis zum Bundesstaat 1848 29 Exkurs: Wer hat die moderne schweizerische Demokratie erfunden? 33 Die Landsgemeinde als Innovationsmotor? 39 An der Schwelle zum 21. Jahrhundert: Rufe nach Abschaffung der Landsgemeinde 54 Die Landsgemeinde im Bild 61 Die Landsgemeinde heute: Demokratisches Vorbild oder undemokratisches Kuriosum? 85 Die Krise der Demokratie 85 Die Landsgemeinde als Antithese  97 Kritik an der Versammlungsdemokratie 108 Das Vorbild Landsgemeinde und seine Grenzen 119 Stimmen zur Landsgemeinde 125

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Die Zukunft der Landsgemeinde 135 Ist die Versammlungsdemokratie noch zeitgemäss? 135 Ideen für Reformen 137 Der schmale Grat zwischen Bewahren und Erstarren 141 Schlusswort 145 Anhang Anmerkungen 150 Literaturverzeichnis 166 Bildnachweis 172 Die Kompetenzen der Landsgemeinde 173 Dank 174 Der Autor 176

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Vorwort

Als Landammann eine Landsgemeinde zu leiten, ist eine sehr emo­ tio­nale und intensive Erfahrung. So war ich 2012 als frisch gewählter Landammann bei meinem Gang auf die Bühne ziemlich nervös. Wel­ che Anträge werden kommen? Wie lasse ich abstimmen? Nicht nur eine gute Vorbereitung, auch Improvisationstalent ist gefragt. Und dann stand ich da am Rednerpult auf der Bühne. Was für ein ein­ drückliches Erlebnis, all die versammelten Stimmbürgerinnen und Stimmbürger vor sich zu sehen ! In keinem anderen Staat der Welt gibt es auf nationaler Ebene auch nur annähernd so weitgehende direkte Volksrechte wie in der Schweiz. Und Ursprung sowie Wiege dieser schweizerischen Demo­ kratie ist die Landsgemeinde. Gewachsen über 600 Jahre, fungiert sie nicht einfach als eine lieb gewonnene, fest verankerte Tradition. Nein, sie stellt nach wie vor die oberste und wichtigste politische Institution im Kanton Glarus dar. Mehr noch: Sie gibt den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern direktdemokratische Möglichkeiten, die einzigartig und weltweit nir­gends in dieser Form zu finden sind. Vielleicht liegt darin die Faszination, welche die Landsgemeinde weit über die Landesgrenzen hinaus ausübt. Das bezeugt der Auf­ marsch zahlreicher internationaler Medien, der zu diesem Anlass re­ gelmässig stattfindet. Gleiches erlebe ich aber auch immer wieder auf meinen Reisen ins Ausland, bei denen ich die Landsgemeinde als Institution vorstelle. An jedem ersten Maisonntag legen Exekutive und Parlament des Kantons Glarus unmittelbar gegenüber dem Volk Rechenschaft über ihre Tätigkeit ab. Was für ein herrlicher Kontrast zum politischen Sys­ 7

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tem in unseren Nachbarstaaten, in denen – nicht zuletzt durch die Entfremdung der politisch Verantwortlichen vom Stimmvolk – zu­ nehmend Politikverdrossenheit (Stichwort «Wutbürger») und Resi­ gna­tion aufkommen. Dem Autor des vorliegenden Buchs ist es dank intensiver Recher­ che gelungen, ein beeindruckendes Werk zu schaffen. Es zeigt auf, dass die Glarner Landsgemeinde nicht nur eine jahrhundertealte Tra­ dition, sondern auch eine vorausschauende, sich immer wieder er­ neuernde Institution darstellt. So soll dieses Buch mit dazu beitragen, dass sich noch viele kom­ mende Generationen am ersten Maisonntag auf dem Zaunplatz in Glarus zusammenfinden, um über ihre und die Geschicke des Kan­ tons zu befinden. Auf dass die Frauen und Herren Landammänner mit ihrem «Ds Wort isch frii!» stimmungsvolle Debatten eröffnen und die Landsge­ meinde verantwortungsvoll leiten. Für mich gibt es auf der ganzen Welt keine spannendere und würdigere Aufgabe für einen Politiker! Andrea Bettiga, Regierungsrat

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Einleitung

Es war am ersten Maisonntag 2011. Meine Grossmutter schlug mir vor, wieder einmal an die Landsgemeinde nach Glarus zu fahren. Ich war gerade von einem längeren Aufenthalt in Ägypten zurückge­ kehrt, wo ich Anfang des Jahres die Revolution miterlebt hatte, die den Autokraten Hosni Mubarak nach fast 30-jähriger Herrschaft von seinem Thron stürzte. Die Sehnsucht von Hunderttausenden von Menschen nach Demokratie, für die sie auf die Strasse gingen und sich den Schergen des Regimes entgegenstellten, hatte mich beein­ druckt. Nun sass ich im Ring der Landsgemeinde und lauschte der Rede von Landammann Robert Marti. Er nahm darin auf den Arabi­ schen Frühling Bezug, als er sagte: «Die internationalen Turbulenzen der vergangenen Monate mit dem Kampf unterdrückter Völker um ihre Selbstbestimmung haben uns erneut vor Augen geführt, welch unschätzbare Werte wir mit unserer politischen Freiheit und direk­ ten Demokratie besitzen.» Der Kontrast hätte kaum grösser sein können: Dort die Menschen, die auf die Strasse gehen, um demokratische Mitsprache zu bekom­ men, und dabei das Risiko auf sich nehmen, verhaftet, verletzt oder getötet zu werden; hier die Menschen, die auf die Strasse gehen, um ebendiese Mitsprache ganz selbstverständlich auszuüben. Wie wir heute wissen, endete der von Marti erwähnte Kampf zumindest für die Demokratie-Aktivisten in Ägypten mit einer Enttäuschung. An­ stelle von Mubarak herrscht heute in der Person von Abdelfatah ­al-­Sisi ein neuer Autokrat in Kairo, der seinem Vorgänger in Sachen Repression gegen politische Gegner in nichts nachsteht. Deswegen sind aber die damaligen Worte des Landammanns keineswegs über­ holt, sondern unterstreichen im Gegenteil die zentrale Aussage, dass 9

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die politische Freiheit, die wir hierzulande besitzen, alles andere als selbstverständlich ist. Die Rede Martis machte mir grossen Eindruck, und als die Leute anschliessend darangingen, die protokollierten Ge­ schäfte zu beraten, Änderungen vorzuschlagen und schliesslich ab­ zustimmen, glaubte ich, dass mir die Bedeutung der Landsgemeinde erst jetzt wirklich bewusst wurde. Bis dahin hatte ich die Landsgemeinde1 vor allem als gesellschaft­ liches Ereignis, als das viel beschriebene «Volksfest», wahrgenom­ men. Meine Grosseltern, die beide in Glarus aufgewachsen waren, aber (wie ich) im Kanton Zürich lebten, nahmen meine Schwestern und mich als Kinder manchmal mit, um die Landsgemeinde zu besu­ chen. Für sie war es eine Gelegenheit, alte Freunde wiederzusehen, und so blieb mir die Landsgemeinde ebenfalls vorab als gesellschaft­ licher Anlass in Erinnerung. Erst später, während des Studiums der Politikwissenschaft, begann ich mich mit der Versammlung als poli­ tischer Institution zu beschäftigen. Die Landsgemeinde übt eine grosse Faszination aus. Das galt nicht nur für mich an diesem Frühlingstag im Jahr 2011, sondern gilt immer wieder für Gäste und Beobachter aus anderen Kantonen und aus dem Ausland. Diese Faszination erstaunt. Denn die Landsge­ meinde stellt eigentlich einen Anachronismus dar. War die Versamm­ lungsdemokratie früher faktisch die einzige Möglichkeit, demokrati­ sche Entscheidungen zu treffen, gibt es heute diverse Wege, diese Funktion viel schneller und einfacher zu erfüllen, sei es an der Urne, per Post oder elektronisch. Dass alle Stimmberechtigten zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort physisch zusam­ menkommen müssen, um in einer stundenlangen Prozedur zu bera­ ten und abzustimmen – das, so würde man meinen, ist heutzutage doch wirklich überflüssig. Manche erklären, es sei gerade dieser Anachronismus, der so viel Faszination ausübe. Die Landsgemeinde ist in dieser Sichtweise ein alter Brauch, bei dem man die «traditionelle Kultur» beobachten kann, so wie am Sechseläuten in Zürich oder an Trachtenumzügen 10

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im Appenzellerland. Das vorliegende Buch bietet eine andere Erklä­ rung. Die Lands­gemeinde ist mehr als ein «Fossil» der Demokratie, das an einigen Orten zufällig erhalten geblieben ist; mehr als ein «in­ stitutionelles Kuriosum», «das zwar heute noch Besucher aus dem In- und Ausland anzuziehen, den zeitgenössischen Ansprüchen der politischen Gleichheit und der Abstimmungsfreiheit aber nicht mehr zu genügen vermag».2 Die Landsgemeinde steht für eine eigenstän­ dige Auffassung der Demokratie, mit spezifischen Eigenschaften, mit Nachteilen, aber auch Vorteilen. Die direkte Begegnung unter den Stimm­bürgern bringt eine einzigartige politische Kultur hervor. So­ bald der Landammann mit den Worten «Ds Wort isch frii» (Das Wort ist frei) die Diskussion zu einem Sachgeschäft eröffnet, kann jeder Versammlungsteilnehmer ans Rednerpult treten und zu seinen Mit­ bürgern sprechen. Die ausgebauten Antragsrechte erlauben es dem Bürger, sich direkt einzubringen. Dies wiederum führt zu einer sehr direkten Kontrolle über die Politiker. Dasselbe kann bis zu einem ge­ wissen Grad für die direkte Demokratie im Allgemeinen gesagt wer­ den.3 Diese direkten Mitwirkungsrechte sind es, die den besonderen Reiz der Landsgemeinde ausmachen. In einer Zeit, in der in den meisten westlichen Demokratien das Vertrauen der Bürger in die Poli­tik schwindet und viele das Gefühl haben, nicht ernst genom­ men zu werden, stellt die Landsgemeindedemokratie ein attraktives Gegenmodell dar. Es steht für eine Demokratie, in der sich Amtsträ­ ger und «gewöhnliche» Leute auf Augenhöhe begegnen, in welcher der Bürger eine einzigartige Fülle von Rechten innehat, die jedoch auch mit Aufwand und Verantwortung verbunden sind. Dieses Buch will den Leserinnen und Lesern einen Einblick ge­ ben in die Institution der Glarner Landsgemeinde. Es ist jedoch kein Werbe­spot für dieses Demokratiemodell. Und schon gar nicht soll behauptet werden, die Landsgemeinde sei per se besser oder demo­ kratischer als das Urnensystem (aber auch nicht das Umgekehrte). Vielmehr wird argumentiert, dass die Versammlungsdemokratie mit 11

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ihren Stärken und Schwächen je nach Ansprüchen und lokalen Ge­ gebenheiten eine geeignete Form sein kann, um ein politisches Sys­ tem zu organisieren, und das nicht nur nach wie vor, sondern mög­ licherweise mehr denn je. Und: Sie kann anderen Demokratien als Beispiel dienen, dass weitgehende direktdemokratische Rechte und freie Debatte nicht zu Chaos oder Demagogie führen, sondern einen ernsthaften und fairen Diskurs fördern, der für die demokratische Entscheidungsfindung unerlässlich ist. Die Landsgemeinde hat bedeutende Nachteile. Dass die Stimm­ bürger nur an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit ihre Stimme abgeben können, macht das Modell für sie nicht nur kompliziert und aufwendig. Viele von ihnen sind gar nicht in der Lage, ihre Rechte auszuüben, sei es aus beruflichen Gründen, we­ gen Krankheit, Ferienabwesenheit oder altersbedingt. Aus demo­ kratischer Sicht ist das eine schwerwiegende Einschränkung. Auf­ grund der physischen Gebundenheit der Stimmabgabe sowie des zeitlichen Aufwands bleiben jedes Jahr weit über die Hälfte der Glar­ ner Stimmberechtigten der Landsgemeinde fern. Die Stimmbetei­ ligung auf kantonaler Ebene ist in der ganzen Schweiz ziemlich tief. In den Landsgemeindekantonen liegt sie noch darunter. Bemühun­ gen seitens des Kantons, die Teilnahme an der Landsgemeinde für die Bürger so einfach und attraktiv wie möglich zu machen, tragen bescheidene Früchte. Die Stimmbeteiligung ist vor allem von den Traktanden abhängig, die auf dem Programm stehen (aber auch von den Witterungsverhältnissen). Ein weiterer Kritikpunkt betrifft das Abstimmungsprozedere: Die Entscheidungen an der Landsge­ meinde werden nach wie vor durch Handaufheben gefällt. Die Stim­ men werden nicht ausgezählt, sondern abgeschätzt. Kritiker argu­ mentieren, diese Art der Ergebnisermittlung sei mit erheblicher Ungenauigkeit verbunden. Problematisch ist aber nicht allein die Ungenauigkeit an sich, sondern es sind auch die möglichen Kon­ flikte, die bei knappen Ergebnissen entstehen und das Vertrauen in die Landsgemeinde potenziell stark beeinträchtigen können. So trug 12

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in Appenzell Aus­ser­rhoden der Unmut über eine umstrittene Ein­ schätzung des Land­ammanns bei der Abstimmung über das Frauen­ stimmrecht 1989 möglicherweise dazu bei, dass die Landsgemeinde acht Jahre später abgeschafft wurde. Ein weiteres Problem, das sich aus der Handabstimmung ergibt, ist die Verletzung des Stimmgeheimnisses. Dieses gilt seit dem 19. Jahrhundert als eines der Grundprinzipien der Demokratie. Wenn der Nachbar oder gar der eigene Vorgesetzte überprüfen kann, wie man stimmt, ist manch einer gehemmt, sich entsprechend seiner wahren Gesinnung zu äus­sern. Somit ist die «freie und unverfälschte Stimmabgabe», welche die Bundesverfassung vorschreibt, zumin­ dest gefährdet. Man kann argumentieren, dass eine reife demokra­ tische Kultur mit dieser Einschränkung umzugehen vermag, ja, dass die offene Stimmabgabe unter diesen Umständen sogar Vorteile hat. Zudem sagen Befürworter der offenen Stimmabgabe, dass es ohne­ hin zu schnell gehe, um genau zu sehen, wer wie abgestimmt hat. Das Problem lässt sich damit jedoch nicht ganz aus der Welt schaffen. Wenigstens die beiden letztgenannten Nachteile – die Ungenau­ igkeit beim Abschätzen der Mehrheitsverhältnisse und das fehlende Stimmgeheimnis – liessen sich beheben, ohne das Versammlungs­ system als solches abschaffen zu müssen. Denkbar wäre insbeson­ dere ein elektronisches System zum Auszählen der Stimmen. Tat­ sächlich wird ein solches in Glarus schon seit Längerem diskutiert. Viele Glarner sind allerdings skeptisch. Zu gross ist die Sorge, damit ginge der Charakter der Landsgemeinde verloren. Der Grat zwischen zu starker Anpassung an die heutigen Umstände und zu starkem Be­ harren auf der Versammlung in ihrer «ursprünglichen» Form ist ­schmal. Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Das erste Kapitel erzählt die Geschichte der Glarner Landsgemeinde. Es geht auf die Entstehung der Institution ein, auf gängige Mythen und auf die tatsächlichen Verhältnisse. Es zeigt, dass die Demokratie auch in der Landsge­ meinde nicht vom Himmel fiel, sondern sich erst mit der Zeit ent­ 13

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wickelte, aber auch, dass sie eine Inspirationsquelle bildete für die Entwicklung der modernen (direkten) Demokratie in der Schweiz. Im zweiten Kapitel geht es um die Bedeutung der Landsgemeinde in der heutigen Zeit. Dabei wird auch auf die aktuelle Diskussion über den Zustand der Demokratie im Allgemeinen eingegangen. Es stellt sich die Frage, inwiefern die Versammlungsdemokratie als Modell dienen kann in der Krise, in der sich die westliche Demokratie heute befindet. Damit einher geht die Frage, die im Zentrum des dritten Kapitels steht: jene nach der Zukunft der Landsgemeinde selbst. Das Buch kommt zum Schluss, dass die Faszination, welche die Landsgemeinde ausstrahlt, nicht unbegründet ist. Die starken Mit­ bestimmungsrechte, die Bürgernähe und die intensiven und ernst­ haften Diskussionen, welche die Landsgemeinde ermöglicht, können durchaus als Quelle der Inspiration dienen, auch wenn die Ver­samm­ lungs­demokratie an sich aus­serhalb von ländlichen, nicht sehr be­ völkerungsreichen Gebieten nicht praktikabel ist. Doch die Landsge­ meindedemokratie steht auch selbst vor Herausforderungen. Sie muss für die Bürger und Bürgerinnen attraktiv bleiben und das Ver­ trauen rechtfertigen, das diese ihr entgegenbringen. Sie muss leben­ dig bleiben, sonst wird sie eines Tages tatsächlich zum Fossil, das versteinert ist. Die Beispiele anderer Landsgemeindekantone zeigen, dass der Weg zum Ende dieser Institution oft kürzer ist, als man er­ warten würde.

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Die Geschichte der Landsgemeinde

Die Entstehung der Landsgemeinde Die Ursprünge der Landsgemeinden liegen im Dunkeln. Die erste ur­ kundlich belegte Landsgemeinde war jene in Schwyz im Jahr 1294. Es ist aber wahrscheinlich, dass Landsgemeinden oder Vorformen davon schon früher in Schwyz wie auch in den anderen Urschweizer Orten Uri, Obwalden und Nidwalden stattfanden.4 Beeinflusst von diesen, entstand die Landsgemeinde später auch in Zug, Glarus und Appenzell, als sich diese der Eidgenossenschaft anschlossen. Die Glarner Landsgemeinde wurde 1387 erstmals urkundlich erwähnt, woran jedes Jahr in der Eröffnungsrede des Landammanns erinnert wird. Einige Autoren führen die Ursprünge der Landsgemeinde auf die Zeit der germanischen Besiedelung der Schweiz im Frühmittelalter zurück.5 Verwiesen wird dabei auf die Institution des Thing (auch «Ding» genannt), an dem die germanischen Stämme ihre gemeinsa­ men An­gelegenheiten zu besprechen und zu entscheiden pflegten. Schon der römische Historiker Tacitus berichtete um 100 n. Chr. von diesen Versammlungen. Seinen Schriften ist unter anderem zu ent­ nehmen, dass ein Thing in der Regel mehrere Tage dauerte. Stimm­ berechtigt waren ausschliesslich freie Männer, während Frauen und Leibeigene ausgeschlossen waren. Diesbezüglich gleicht das Thing den Versammlungsdemokratien in Athen und anderen griechischen Stadtstaaten der Antike. Eine zentrale Funktion des Things war die Gerichtsbarkeit. Wer als Angeklagter eines Verbrechens nicht an der Versammlung erschien, galt als «dingflüchtig», und wenn er gefasst wurde, hatte man ihn «dingfest» gemacht. Der Ausdruck hat sich in unserem Wortschatz bis heute erhalten. 15

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Die Vorstellung hingegen, dass sich das Thing selbst bis zur Ent­ stehung der Landsgemeinden erhalten habe, dass diese also direkt daraus hervorgegangen wären, ist durch die Wissenschaft schon seit Längerem widerlegt. Auch sonstige Verbindungen zwischen den bei­ den Institutionen sind nicht belegt.6 Geschichtsforscher gehen heute davon aus, dass die Landsgemeinden zu der Zeit entstanden, als die Urschweizer Orte ihre Unabhängigkeit gegen aussen erlangten, also im 13. Jahrhundert. Während nicht genau bekannt ist, wann die Leute in der Ur­ schweiz zum ersten Mal zu einer Landsgemeinde zusammenkamen, können wir aufgrund der historischen Quellen immerhin sagen, war­um sie das taten. Die Versammlungen dienten ursprünglich vor allem zwei Zwecken: der wirtschaftlichen Organisation und der Klä­ rung von Streitigkeiten. Vielerorts schlossen sich Bauern zu so­ge­ nannten Markgenossenschaften zusammen, um einen Teil des Lan­ des als Gemeineigentum zu verwalten. Voraussetzung dafür war, dass die Bauern im Allgemeinen frei waren (was in weiten Teilen Europas zu dieser Zeit nicht der Fall war). Das Gerichtswesen war zur Gründungszeit der Eidgenossenschaft zweigeteilt: Die Blutgerichtsbarkeit – also die Kompetenz, «blutige Strafen» wie Todesstrafe oder Verstümmelung auszusprechen – lag in allen Orten wenigstens theoretisch beim deutschen König (die Eidgenossenschaft war damals Teil des Heiligen Römischen Reichs), der diese über seine Stellvertreter (Reichsvögte oder eingesetzte Ammänner) ausübte. Die niedere Gerichtsbarkeit, die sich mit klei­ neren Vergehen befasste und nur mildere Strafen aussprechen durf­ ­te, hatten oft Grundherren inne, teilweise wurde sie durch Gerichts­ gemeinden ausgeübt. Georg Thürer vermutet, dass man irgendwann begann, die Versammlungen von Markgenossenschaft und Gerichts­ gemeinde aus praktischen Gründen am gleichen Tag abzuhalten, und die beiden so nach und nach miteinander verschmolzen.7 In ­Be­zug auf Glarus vermuten einige Historiker Wurzeln in den sogenannten Hofgerichten.8 Später ging auch die Blutgerichtsbarkeit an die Lands­ 16

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Die Landsgemeinde im Bild

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13/14  Als die Landsgemeinde noch in Männerhand war: Stimmbürger an der Versammlung 1937 (oben). Die Frauen bleiben ausserhalb des Rings und verfolgen das Geschehen an der Landsgemeinde 1961 von dort (unten).

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15/16  An der Landsgemeinde 1971 stimmen die Glarner Männer dafür, der weiblichen Hälfte des Volkes die vollen politischen Rechte zuzugestehen (oben). Ein Jahr später dürfen die Frauen erstmals in den Ring (unten).

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20 Die SP-Landrätin Christine Schmidlin spricht sich an der Landsgemeinde 1973 für kürzere Ladenöffnungszeiten aus.

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21 Die 16-jährige Danielle Hefti versucht an der Landsgemeinde 2014, ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger von der kostenlosen Standseilbahn nach Braunwald zu überzeugen.

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27/28  Am Rande der Landsgemeinde 1965 tauschen sich zwei Teilnehmer bei einer Zigarette aus (oben). Die Jugendlichen an der Versammlung von 1949 verfolgen die Diskussion aufmerksam (unten).

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29  Während die Teilnehmer an der Landsgemeinde 2013 bei sommerlichen Temperaturen in der Sonne stehen, haben zwei Buben ein schattiges Plätzchen unter der Tribüne gefunden.

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30  StimmbĂźrger geben an der Landsgemeinde 2006 ihre Stimme ab.

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Die Landsgemeinde heute: Demokratisches Vorbild oder undemokratisches Kuriosum?

Die Krise der Demokratie Die Demokratie – verstanden als Staatsform, in der die politische Macht in den Händen aller Bürger statt nur einiger weniger Auser­ wählter liegt – hat einen einzigartigen Siegeszug hinter sich. Gemäss dem breit anerkannten «Polity IV»-Index können heute 97 Staaten als Demokratien bezeichnet werden.86 Zum Vergleich: 1940 waren es nur gerade neun gewesen (in der Zwischenkriegszeit hatte die Zahl etwas höher gelegen, allerdings immer noch weit unter dem heuti­ gen Wert). Dass es einmal Zeiten gab, in der die Demokratie ernsthaft infrage gestellt, ja als autokratischen Regimen unterlegen aufgefasst wurde, kann man sich heute kaum noch vorstellen.87 Die faschistischen Diktaturen in Europa gehören der Vergangen­ heit an, autokratische Regime in Asien, Afrika und Lateinamerika sind reihenweise gekippt und haben gewählten Regierungen Platz gemacht. Und mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Dik­ taturen in Ost- und Mitteleuropa hat sich die Demokratie endgültig durchgesetzt – wenn nicht immer sogleich in der Praxis, so doch mindestens als Anspruch. Kein Land, abgesehen von China, Nord­ korea und einigen arabischen Monarchien, kann es sich heutzutage leisten, seine Bürger von politischen Rechten auszuschliessen – zu gross ist der Druck von innen, aber auch vonseiten internationaler Partner. Francis Fukuyama, so scheint es, hat recht behalten, als er 1989 (noch vor dem Fall der Berliner Mauer) das «Ende der Ge­ schichte» ausrief und postulierte, die liberale Demokratie habe sich als Modell politischer Organisation durchgesetzt.88 85

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Sinkendes Vertrauen Noch nie hatten weltweit so viele Menschen die Möglichkeit, in eini­ germassen freien und fairen Wahlen über die Politik in ihrem Land mitzubestimmen. Die Demokratie steht also zweifellos auf dem Hö­ hepunkt ihrer historischen Entwicklung. Doch ausgerechnet auf dem Zenit mehren sich Zweifel. Das Vertrauen in demokratische Institutionen ist über alle west­ lichen Demokratien hinweg seit Jahren im Sinkflug. Wie die Poli­ tologen Robert Putnam, Susan Pharr und Russell Dalton bereits im Jahr 2000 zeigten, ging das Vertrauen der Bürger in ihr nationales Parlament zwischen den 1960er- und den 1990er-Jahren in 11 von 14 Ländern in Westeuropa, Japan und Nordamerika, für die Daten vorhanden waren, zurück, in manchen davon massiv. Das Vertrauen in Poli­tiker nahm in 12 von 13 Staaten ab.89 Der Trend hat seither nicht gekehrt, sondern sich zumindest in Europa ungebremst fortge­ führt.90 Die Stimmbürger scheinen immer weniger Interesse daran zu ha­ ben, von ihren demokratischen Rechten Gebrauch zu machen: Die Beteiligung bei Wahlen ist weltweit rückläufig. In Westeuropa fiel sie von 84 Prozent im Jahr 1975 auf 75 Prozent im Jahr 2010. Während sich der Trend in dieser Region zuletzt etwas abgeflacht hat (in der Schweiz ist die Beteiligung an den Nationalratswahlen seit 1995 so­ gar leicht gestiegen), zeigt sich für den Osten Europas seit Anfang der 1990er-Jahre ein geradezu dramatischer Einbruch: Lag die Beteili­ gung bei den ersten demokratischen Wahlen in den ehemals sozia­ listischen Ländern auf dem Niveau Westeuropas, sank sie danach innerhalb zweier Jahrzehnte um mehr als 20 Prozentpunkte.91 Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Mitgliedschaften in politi­ schen Parteien: Kaum jemand möchte sich heute an eine bestimmte Partei binden, geschweige denn sich aktiv engagieren. Der Anteil von Bürgern europäischer Demokratien, die Mitglied einer Partei sind, beträgt heute noch knapp 5 Prozent. In den 1980er-Jahren waren es gut doppelt so viele.92 86

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Nun könnte man einwenden, dass das nicht zwingend schlimm sei. Schliesslich handelt es sich bei politischen Rechten, wie der Name schon sagt, um Rechte. Man kann davon Gebrauch machen, muss aber nicht. Wer nicht mitreden will, der wird eben auch nicht gehört und überlässt die Entscheidung anderen. Und vielleicht ist eine tiefe Beteiligung sogar ein positives Zeichen: Die Bürger sind mit dem Gang der Dinge zufrieden, deshalb sehen viele von ihnen keinen Grund, an Wahlen teilzunehmen, um etwas zu verändern.93 Diese optimistische Sichtweise wäre sehr beruhigend, würde sie nicht an der Realität vorbeizielen. Denn wenn die Bürger mit der Ar­ beit der demokratischen Institutionen so zufrieden wären, würden sie wohl kaum gleichzeitig das Vertrauen in diese verlieren. Die Fak­ ten deuten weniger auf Zufriedenheit mit der Arbeit der Politiker hin als vielmehr auf Resignation. Dass die Leute mit der Regierung un­ zufrieden sind, die gerade an der Macht ist, ist nicht ungewöhnlich. (Der Grund dafür ist, dass Politiker im Wahlkampf meistens viel mehr versprechen, als sie einhalten können; zudem hat es sich zur Ge­ wohnheit entwickelt, dass die Opposition die Regierung für alles ver­ antwortlich macht, was schlecht läuft, ohne beweisen zu müssen, dass sie es besser machen würde.) Dass das Vertrauen über mehrere Jahre und trotz Regierungswechseln konstant sinkt, weist hingegen darauf hin, dass wir es hier mit einem generellen Misstrauen gegen­ über den demokratischen Institutionen zu tun haben. Unfähige Politiker oder falsche Erwartungen? Was ist der Grund für diesen Vertrauensverlust? Die einfachste Er­ klärung ist, dass Politiker schlechtere Arbeit leisten als früher und daher schlicht und einfach weniger Vertrauen verdienen. Schlechte Arbeit zu leisten, bedeutet bei Politikern, dass das Ergebnis ihrer Po­ litik die Erwartungen der Wähler nicht erfüllt. Demnach gibt es für ein sinkendes Vertrauen in die Politik zwei mögliche Erklärungen: Entweder bringt die Politik weniger gute Resultate, oder die Erwar­ tungen der Wähler sind gestiegen. Tatsächlich stellten die Politikwis­ 87

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Bildnachweis Landesarchiv des Kantons Glarus: 1, 7, 8, 20, Coverrückseite Keystone / Christian Beutler: 29 Keystone / Samuel Trümpy: 12 Keystone / STR: 15, 17, 19, 24, 25 Photopress-Archiv / BE: 11 Photopress-Archiv / Paul Foschini: 16, 18 Photopress-Archiv / Haefliger: 2 Photopress-Archiv / Albert Jansen: Vorsatz Photopress-Archiv / Marchesi: 27 Photopress-Archiv / Eugen Suter: 5, 10, 28 Photopress-Archiv / Joe Widmer: 14 Photopress-Archiv / STR: 13, 22 Samuel Trümpy: 6 Fridolin Walcher: Covervorderseite, 3, 4, 9, 21, 23, 26, 30

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Der Autor

Lukas Leuzinger (* 1987) hat Politikwissen­ schaft studiert und war anschliessend als Journalist bei der Nachrichtenagentur SDA und bei der Luzerner Zeitung tätig. Seit 2017 arbeitet er als Produktionsredaktor bei der Neuen Zürcher Zeitung; daneben ist er als freischaf­fender Journalist und Chefredaktor des Politik-Blogs «Napoleon’s Nightmare» tätig. Website zum Buch: www.landsgemeinde.gl

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Die Glarner Landsgemeinde zieht jedes Jahr Tausende Stimmbürger und Schaulustige an. Während in vielen tionen sinkt, übt sie mit ihrer ausgeprägten Bürgernähe, dem unmittelbaren Mitbestimmungsrecht und der offenen Diskussion eine starke Anziehungskraft aus. Doch vermag sie heutigen demokratischen Ansprüchen zu genügen? Lukas Leuzinger rollt die Geschichte der Glarner Landsgemeinde auf und fragt, ob sie im 21. Jahrhundert noch zeitgemäss ist und welche Reformen not-

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Ds Wort isch frii Die Glarner Landsgemeinde: Geschichte, Gegenwart, Zukunft Lukas Leuzinger

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