ISBN 978-3-03810-470-4
9 783038 104704
[DIE NEUE POLIS]
Herausgegeben von Astrid Epiney und Georg Kreis DIE NEUE POLIS ist Plattform für wichtige staatsrechtliche, politische, ökonomische und zeitgeschichtliche Fragen der Schweiz. Eine profilierte Herausgeberschaft versammelt namhafte Autoren aus verschiedenen Disziplinen, die das Für und Wider von Standpunkten zu aktuellen Fragen analysieren, kontrovers diskutieren und in einen grösseren Zusammenhang stellen. Damit leisten sie einen spannenden Beitrag zum gesellschaftspolitischen Diskurs.
NZZ Libro
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Seite 7
[1]
Einleitung Seite 21
[2]
Vom EWR-Nein zum Bilateralismus Seite 23
[3]
Eine Idee wird geboren Seite 29
[4]
Das Parlament fordert ein Rahmenabkommen Seite 35
[5]
Die Bilateralen II haben Vorrang Seite 39
[6]
Bundesrätin Calmy-Rey wirbt fßr ein Abkommen Seite 43
17
Inhaltsverzeichnis
[7]
Jedes Departement mit eigener Europapolitik Seite 47
[8]
Die EU entdeckt das Rahmenabkommen Seite 49
[9]
Der Bundesrat sagt: «Vielleicht» Seite 53
[10]
Didier Burkhalters grosses Ziel Seite 57
[11]
Staatssekretär Rossier gibt ein fatales Interview Seite 61
[12]
Störfaktor Masseneinwanderungsinitiative Seite 65
[13]
Kommissionspräsident Juncker überrascht alle Seite 67
18
Inhaltsverzeichnis
[14]
Zeitbombe «flankierende Massnahmen» explodiert Seite 69
[15]
Bundesrat Cassis verspricht einen «Reset» Seite 73
[16]
Das Abkommen ist fertig verhandelt – vielleicht Seite 75
[17]
Schluss Seite 77
Anmerkungen, Quellen und Literatur Seite 83
Timeline Seite 89
Abkürzungsverzeichnis und Glossar Seite 101
19
Inhaltsverzeichnis
Auszug aus der Eingabe der Groupe de rĂŠflexion an den Bundesrat Seite 103
20
[1]
Einleitung In den Dauerverhandlungen mit der EU, die die Schweiz seit dem Nein zu einem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Dezember 1992 führt, spielt seit einigen Jahren die Idee eines Rahmenabkommens eine zentrale Rolle. Dieses soll das Management der zahlreichen bestehenden Verträge der Schweiz mit der EU effizienter machen, eine einfache Anpassung an die Rechtsentwicklung im EUBinnenmarkt ermöglichen sowie den Abschluss weiterer Abkommen erleichtern. Die zentrale Bedeutung dieses Abkommens besteht für Bundesrat und Wirtschaft darin, dass damit die gegenwärtige EUPolitik – die auf Verträgen mit Brüssel in ausgewählten Themenbereichen beruht – längerfristig abgesichert werden soll. Dieser in der Schweiz «bilateraler Weg» genannte Ansatz ist eine Folge des Neins zum EWR, der ja eine umfassende Teilhabe am EU-Binnenmarkt gebracht hätte. Der Rahmenvertrag, so wie er vom Bundesrat im Dezember 2018 zur Kenntnis genommen und in eine Konsultationsrunde bei Parteien und Verbänden geschickt wurde, ist aber in der Schweiz stark umstritten. Einerseits wird die Befürchtung geäussert, dass er einen starken Souveränitätsverlust zur Folge hätte, vor allem wegen der zentralen Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EUGH) in der Streitbeilegung. Andererseits wittern Gewerkschaften und die SP in ihm einen raffinierten Versuch von Brüssel, den Lohnschutz für Schweizer Arbeitnehmer aufzuweichen, wie ihn im Moment die sogenannten flankierenden Massnahmen zum Abkommen über die Personenfreizügigkeit garantieren. Gleichzeitig nimmt der Druck der EU auf die Schweiz zu, endlich zu einem Entscheid zu kommen. Weitere Einzelabkommen werde es ohne Unterzeichnung eines Rahmenabkommens nicht mehr geben, bestehende Abmachungen würden nicht mehr nachgeführt oder seien gar infrage gestellt, was mit dem Entzug der Berechtigung der Schweizer Börse für eine Tätigkeit im EU-Raum exemplifiziert wurde – letztlich eine rein machtpolitische Geste, die der Schweiz die Kräfteverhältnisse in Europa in Erinnerung rufen soll.
21
Einleitung
Aus innenpolitischer Sicht ist die Lage für die Befürworter eines Rahmenabkommens schwierig, weil die bisherige europafreundliche Koalition zerfallen ist. Wegen der Fundamentalopposition der SVP gegenüber der EU waren seit dem EWR-Nein sämtliche Abkommen der Eidgenossenschaft mit Brüssel das Ergebnis einer Mitte-Links-Koalition. Mit der Ablehnung des Rahmenabkommens in der Ende 2018 vorgelegten Form durch SP und Gewerkschaften ist diese Koalition zerfallen. Unklar ist, wie die EU auf die Schweizer Forderung nach Nachverhandlungen reagieren wird. Fast sicher ist einzig, dass sich die Schweiz noch längere Zeit mit diesem Thema beschäftigen dürfte. Angesichts des Stellenwerts, den das Rahmenabkommen in der politischen Debatte einnimmt, sind aber die Kenntnisse über die Entstehung und die Hintergründe dieses Vertrags eher bescheiden. Typisch ist etwa folgender Kommentar, der im Juni 2019 als Reaktion auf einen Artikel des Rahmenabkommen-Kritikers Professor Carl Baudenbacher verfasst wurde: «Das Rahmenabkommen mit Freizügigkeitsabkommen wurde 2015 vom FDP-Bundesrat und EU-Fan Burkhalter als Gegenstrategie zur Masseneinwanderungsinitiative angestrebt. Mit der Kombination von Handelsabkommen mit der Personenfreizügigkeit wird versucht, das Volk zu erpressen. Es wird Zeit, Alternativen zu diesem Rahmenabkommen zu diskutieren.» 1 Dass es sich um eine Art Handelsabkommen handeln soll, ist ein doch bemerkenswertes Missverständnis, ein fast so grosses wie die Vorstellung, dessen Ursprünge gingen auf das Jahr 2015 zurück und hätten etwas mit der Masseneinwanderungsinitiative der SVP zu tun. Andere Gegner sagen, es handle sich beim Rahmenabkommen um eine Erfindung der EU. Diese wolle damit die Schweiz an kurze Zügel nehmen. Doch die Wahrheit ist, wie so häufig, komplizierter und steckt voller Überraschungen.
22
[2]
Vom EWR-Nein zum Bilateralismus In den 1980er-Jahren verschrieb sich die EU einem ehrgeizigen Integrationsprojekt. Dank der Abschaffung von Zöllen und der Einführung gemeinsamer verbindlicher Regulierungen sollten Waren und Dienstleistungen innerhalb der EU ohne Hindernisse zirkulieren können. Ziel war es, den grössten geschlossenen Wirtschaftsraum der Welt zu schaffen, was das globale Gewicht der EU zumindest in weltwirtschaftlichen Fragen massiv verstärken würde. Gleichzeitig rückten die Mitgliedstaaten zusammen, weil sie ja diesen Wirtschaftsraum gemeinsam zu gestalten hatten. Für die EU stellte sich bei der Konzeption dieses Binnenmarkts unter anderem die Frage, wie das Verhältnis zu den europäischen Staaten gestaltet werden sollte, die ihr nicht angehörten. Die Antwort bestand in der Idee des Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), in dem die sieben EFTA-Staaten Österreich, Finnland, Liechtenstein, Norwegen, Island, Schweden und Schweiz eine klar definierte Anbindung an den EU-Binnenmarkt erhalten sollten. Jacques Delors, Präsident der Europäischen Kommission (1985–1995) und gleichzeitig auch Architekt dieses Projekts, war die treibende Kraft hinter dem Ansatz, die europäischen Nichtmitgliedsländer so in den Binnenmarkt einzubinden. Die Schweiz interessierte sich anfänglich nicht für dieses Projekt. Erst gelegentlich dämmerte ihr, dass mit dem 1985 lancierten Binnenmarktprojekt eine Entwicklung in Europa eingeleitet wurde, die unmittelbare und tiefgreifende Auswirkungen auf die Schweiz und die Schweizer Wirtschaft haben dürfte. Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 verstärkte diesen Eindruck, zeichnete sich doch ab, dass die EU ihren Einfluss massiv Richtung Osten ausweiten würde. Nun setzte primär in den Medien eine Europadebatte ein, die sich mit der Rolle der EU, dem Binnenmarkt, den Perspektiven für die postsowjetischen Staaten und auch der Situation der Schweiz in einem künftigen Europa befasste. Der Historiker Georg Kreis schrieb «Was gegen Ende der 1980er-Jahre im Schweizerland an europapolitischer Binnendebatte aufkam, war […] kaum das Resultat von Impulsen, die vom Bundeshaus ausgingen, sondern ergab sich aus der direkten Wahrnehmung 23
Vom EWR-Nein zum Bilateralismus
des Aufbruchs im dynamisierten Umfeld der Schweiz.» 2 Immerhin erkannte die offizielle Schweiz dann doch im EWR eine Möglichkeit, drohende wirtschaftliche Nachteile abzuwenden und in einer geregelten Form an dieser europäischen Dynamik teilzuhaben. Als 1990 die EWR-Verhandlungen offiziell begannen, spielten der Schweizer Chefunterhändler Franz Blankart, Staatssekretär im Bundesamt für Aussenwirtschaft (BAWI), und sein Stellvertreter, Botschafter Jakob Kellenberger, Chef des Integrationsbüros, eine führende Rolle bei der Ausgestaltung dieses Abkommens. Der EWR schien zunehmend alternativlos, herrschte doch um 1990 der Eindruck vor, nun werde sich auch das Integrationstempo der EU nochmals beschleunigen. Ausdruck davon war einerseits die Idee einer europäischen Einheitswährung, die dann 1999 eingeführt wurde, andererseits aber, dass Länder wie Schweden, Finnland oder Österreich zwar noch den EWR verhandelten, aber zunehmend der Auffassung waren, damit den Grundstein für einen baldigen Beitritt zu legen. Damit veränderte sich die politische Ausgangslage in eine für die Schweiz ungünstige Richtung, weil zwar der Bundesrat, ein Teil der Schweizer Politiker sowie die meisten Diplomaten – allen voran Staatssekretär Jakob Kellenberger – ebenfalls auf den Beitritt hinarbeiteten, doch viele andere im EWR eine längerfristige Lösung sahen. Staatssekretär Franz Blankart sprach in diesem Zusammenhang immer wieder davon, die Schweiz müsse «beitrittsfähig werden, um nicht beitreten zu müssen». Am 2. Mai 1992 unterzeichnete die Schweiz – zusammen mit den anderen EFTA-Staaten – das EWR-Abkommen. Nur kurze Zeit später, am 18. Mai, deponierte der Bundesrat zur grossen Verblüffung des Landes ein Gesuch zur Aufnahme von Verhandlungen über den Beitritt der Schweiz zur EU in Brüssel. Dass eine knappe Mehrheit der Landesregierung nicht einmal die Volksabstimmung über den EWR abwarten wollte, bevor man einen weiteren – entscheidenden – europapolitischen Schritt einleitete, illustriert die damalige Stimmungslage treffend. Die Spaltung Europas war endlich vorbei, der Osten drängte nach Westen, die liberale Demokratie sowie die Marktwirtschaft galten als Königsweg für die vom Kommunismus befreiten Länder. Der Geist der «neuen Weltordnung» bestimmte das Denken und Handeln der Politiker. Geprägt hatte den Begriff der amerikanische Präsident 24
Vom EWR-Nein zum Bilateralismus
George Bush. Es drückte sich darin die Überzeugung aus, dass die positiven Kräfte der Welt unter der benevolenten Führung der USA die Ideen der Demokratie, der Menschenrechte, der Marktwirtschaft und des Freihandels global durchsetzen würden. In Konfliktfällen übernähmen dieselben Staaten die Aufgabe, gemeinsam für Frieden und Ordnung zu sorgen. Das Modell dafür war der Erste Irakkrieg von 1991, ein von der UNO sanktionierter Feldzug, mit dem der irakische Diktator Saddam Hussein für die Invasion von Kuweit bestraft werden sollte. Eine Armee von 660 000 Soldaten aus 34 Ländern befreite den ölreichen Kleinstaat innert weniger Tage. Der Irak selbst kapitulierte nach einem guten Monat. Die Rolle, die die USA in dieser neuen Weltordnung im globalen Rahmen spielen sollten, werde die EU für Europa übernehmen, schien es. Wer die globalpolitische Entwicklung so deutete, für den musste ein Beitritt der Schweiz zur EU folgerichtig, ja fast zwingend erscheinen. Doch Christoph Blocher, damals ein aufstrebender Politiker der Zürcher SVP, sah die Zukunft der Schweiz im Nationalstaat, weshalb er den EWR ablehnte. Er war fast allein in diesem Kampf, bloss die Grünen lehnten das Vorhaben als zu wirtschaftslastig ebenfalls ab, woran sie sich heute nicht mehr gerne erinnern. Nach einem erbitterten Abstimmungskampf sagte das Schweizer Volk am 6. Dezember 1992 Nein zum EWR. Dieser knappe Volksentscheid, der ohne das übereilt eingereichte Schweizer Beitrittsgesuch ohne Zweifel anders ausgefallen wäre, wirkte für den Bundesrat, die anderen Parteien und die Wirtschaft als Schock. Der Autor erinnert sich noch, wie er zwei Tage nach diesem Votum einen Interviewtermin bei Franz Blankart wahrnahm. Der gebürtige Basler, ein hervorragender Kopf und aus-serordentlicher «public official», war als Schweizer Chefunterhändler eine zentrale Figur bei der Ausarbeitung des Vertragswerks gewesen. Nun sass er an diesem trüben Dezember-Nachmittag an einem langen Tisch in seinem stattlichen Büro. Vor den Fenstern des Bundeshauses fiel Schneeregen, rasch brach die Dämmerung herein. Nur eine kleine Tischlampe warf ein bescheidenes Licht in den grossen Raum. Mit leiser Stimme analysierte Blankart das Abstimmungsergebnis, suchte nach Gründen für das Nein, widerlegte die Argumente der Gegner und zeigte sich überzeugt davon, dass die Schweiz soeben eine historische Weichenstellung vollzogen habe, in die falsche Richtung. So wie sich die Dunkelheit 25
Vom EWR-Nein zum Bilateralismus
über den stillen Raum und eine wie erstarrte Bundeshauptstadt legte, so verdüsterte sich die damalige Stimmung bei den Befürwortern des EWR, schien nun doch der weitere Weg der Schweiz in Europa wie in die Dunkelheit der nahenden Nacht zu führen. Die pragmatischen Schweizer rappelten sich aber rasch auf. Einerseits wurde beschlossen, den Schweizer Binnenmarkt analog zu demjenigen der EU zu stärken. Regulierungen sollten abgebaut, Kartelle geknackt und kantonale Sonderlösungen, z. B. bei der Anerkennung von Berufsdiplomen, geschleift werden, um so die Mobilität der Arbeitskräfte zu erleichtern. Andererseits griff die Politik den Ansatz auf, den die Kritiker des EWR als Alternative empfohlen hatten: mit Brüssel in ausgewählten Bereichen Marktzugangsabkommen abzuschliessen. Diese Politik wurde Bilateralismus genannt. Schon am 5. Februar 1993 beantragte der Bundesrat in Brüssel Verhandlungen zu nicht weniger als 15 Themen. Brüssel zeigte sich für diese Idee vorerst aber nicht sehr empfänglich. Die Beamten der zuständigen Abteilung in der Kommission gaben vielmehr kräftig Gegensteuer. Sie wollten verhindern, dass die Schweiz nur in jenen Bereichen am Binnenmarkt teilnahm, an denen sie sich interessiert zeigte. Auf politischer Ebene kam es in Brüssel aber 1993 zu einer Meinungsänderung, nicht zuletzt darum, weil an der Kommissionsspitze die Ansicht überwog, es handle sich bei diesen angestrebten bilateralen Verträgen ja nur um Übergangslösungen. Es liege schliesslich ein Gesuch um Beitrittsverhandlungen vor, das in absehbarer Zeit zu einer Mitgliedschaft der Schweiz führen werde. Zudem sah die EU in solchen bilateralen Verhandlungen nicht nur ein Gefäss für Schweizer Wünsche, sondern auch für Themen, an denen sie selbst interessiert war. Dazu gehörte etwa der freie Personenverkehr. Deswegen pochte sie auf ein Verhandlungspaket, das verschiedene Einzelverträge bündeln sollte. Die Schweiz dagegen dachte ursprünglich eigentlich nur an einen Vertrag über eine (sektorielle) Beteiligung am Binnenmarkt. Der Wegfall aller Zuwanderungsbarrieren für EU-Bürger stand in Bern bestimmt nicht auf der Agenda. Als schliesslich unausweichlich war, dass dieses Thema als Bestandteil eines Paktes dennoch auf den Tisch kam, schrieb der Bundesrat in das Verhandlungsmandat, ein völlig freier Personenverkehr komme nicht infrage. 26
Vom EWR-Nein zum Bilateralismus
So einigten sich die beiden Parteien im Herbst 1993 auf ein Menü von sieben Abkommen. Doch die Tücken der direkten Demokratie störten diesen anlaufenden Verhandlungsprozess schon bald, als das Schweizer Volk am 20. Februar 1994 die Alpeninitiative guthiess. Innert 24 Stunden rief ein Vertreter der Kommission den Chef der Schweizer Mission in Brüssel, Botschafter Alexis Lautenberg, zu sich und suspendierte mit den Worten «Rien ne va plus!» alle offiziellen Gespräche. Man wolle jetzt einmal abwarten, ob die Schweiz diese Initiative europakompatibel umsetze. In intensiven Diskussionen suchten danach die Vertreter der Schweiz, unter ihnen Michael Ambühl, der auf der Mission für das Transportdossier zuständig war, nach einer Lösung für diese Knacknuss. Dies gelang im September 1994, worauf die Verhandlungen über das Paket der Bilateralen offiziell am 12. Dezember eröffnet wurden. Diese verliefen aber ausgesprochen zäh. Mehr als einmal dachte Brüssel daran, die Übung abzublasen, umso mehr, weil die für die Schweiz zuständigen EU-Funktionäre die Idee der Bilateralen nach wie vor ablehnten. Würde dieser Ansatz scheitern, dachten sie, so bliebe der Schweiz keine Alternative als der Beitritt. Stolpersteine gab es viele. Um Zug in die Verhandlungen zu bringen, übernahm schliesslich François Lamoureux, Generalsekretär der Kommission und ein Vertrauter von Kommissionspräsident Jacques Delors, die Verhandlungsführung auf EU-Seite. Er setzte sich zum Ziel, möglichst rasch zu einem Abschluss zu kommen. Doch verschiedene Mitgliedsländer stellten Sonderwünsche und forderten weitere Konzessionen von der Schweiz. Dennoch schafften Lamoureux und der Schweizer Chefunterhändler Kellenberger im Dezember 1998 den Durchbruch in einem nächtlichen Treffen, das teilweise unter vier Augen stattfand. 3 In diesem finalen Verhandlungsergebnis akzeptierte die Schweiz den freien Personenverkehr mit der EU. Die Unterzeichnung der sieben Abkommen fand am 21. Juni 1999 in Luxemburg statt, in Kraft traten sie erst am 1. Juni 2002 nach einer Volksabstimmung.
27
[17]
Schluss Ob die Schweiz das Rahmenabkommen, wie es seit Ende 2018 vorliegt, unterzeichnen wird, ist ungewiss. Der Bundesrat schrieb nach Abschluss der Konsultationen im Juni 2019 nach Brüssel, man sei grundsätzlich bereit, ein solches Abkommen einzugehen, doch bedürfe es in drei Punkten noch zusätzlicher Klärungen: bei den flankierenden Massnahmen, bei den staatlichen Beihilfen (z. B. an Kantonalbanken) und bei der Regelung, ob und wie die Unionsbürgerrichtlinie für die Schweiz verbindlich sei. Zwar vermied es die Landesregierung sorgfältig, den Ausdruck Nachverhandlungen zu verwenden – was die EU kategorisch ausgeschlossen hatte. Doch faktisch handelt es sich genau darum. Zudem änderte die Regierung unter Federführung der neuen Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) im Sommer 2019 den europapolitischen Fahrplan. Bevor das Volk nicht über die Initiative der SVP entschieden habe, die im Fall einer Annahme die Kündigung des Freizügigkeitsabkommens zur Folge hätte, sei ein Entscheid über die Ratifizierung eines Rahmenabkommens auszusetzen. Zeitlich gesehen befindet man sich damit tief im Jahr 2020, was heisst, dass es Bern dann mit der neuen Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen zu tun hat – und vor allem nicht mehr mit Jean-Claude Junckers Kabinettschef, dem deutschen Martin Selmayr, der in Bern als Nemesis der Schweiz galt. Ob die Schweiz je ein Rahmenabkommen unterzeichnet, hängt einerseits davon ab, in welchem Mass sich die EU offen für solche Klärungen zeigt, andererseits auch davon, ob es Karin Keller-Sutter gelingt, die Gewerkschaften zu einer gewissen Konzessionsbereitschaft bei der Regelung der flankierenden Massnahmen zu bewegen. Nur so liesse sich die europapolitische Koalition von FDP, CVP, SP und – neustens – Grünliberalen erneuern, die bisher zusammen mit dem Wirtschaftsdachverband economiesuisse den Kurs der Schweiz gegenüber der EU bestimmt hat. Weil dieser Prozess unter Umständen länger dauern könnte als angenommen, schlug der ehemalige Staatssekretär Michael Ambühl in einem NZZ-Artikel 26 ein Interimsabkommen etwa in Form eines Memorandum of Understanding vor, um den Verhand77
Schluss
lungsprozess am Leben zu erhalten und eine beginnende Erosion der bilateralen Beziehungen zu vermeiden. In seinen Überlegungen spielen die Verhandlungen zwischen der EU und Grossbritannien über den Brexit eine wichtige Rolle: «Es liegt auf der Hand, dass Brüssel weiterhin jede präjudizielle Wirkung der Verhandlungen mit Bern verhindern will. Dies umso mehr, als sich die weiteren UK-EU-Verhandlungen gerade auch um institutionelle Fragen drehen werden.» 27 Früher oder später wird der Entscheid von einer Kosten-Nutzen-Rechnung abhängen, die das Schweizer Volk wird vornehmen müssen. Es wird ein Entscheid sein, der die Furcht vor drohenden wirtschaftlichen Nachteilen gegen Bedenken über souveränitätsrechtliche Einschränkungen abzuwägen hat. Die Schweiz ist ja in ihrem Verhältnis zur EU stets hin und her gerissen zwischen diesen beiden Aspekten, was auch erklären dürfte, weshalb ihre Haltung in der ganzen Diskussions- und Verhandlungsphase um ein Rahmenabkommen nie sehr kohärent war. Die EU dagegen vertrat seit etwa 2008 stets eine klare Position: Ohne ein Rahmenabkommen werden keine neuen bilateralen Abkommen mehr abgeschlossen. Ebenso kohärent war eigentlich auch ihr Verhältnis zum Bilateralismus, der auf Beamtenebene in Brüssel abgelehnt wird. Doch zu den Erfolgen der Schweizer Diplomatie zählt, die EU immer wieder davon überzeugen zu können, auf bilateraler Basis an einer Weiterentwicklung der Beziehungen zu arbeiten. So gesehen stellt die grundsätzliche Bereitschaft, überhaupt ein Rahmenabkommen abzuschliessen, eine Konzession der EU dar. Allerdings beschäftigte sich die EU lange Zeit nicht vertieft mit der Frage, wie das Verhältnis mit unmittelbaren Nachbarstaaten zu regeln sei. Denn diese Nachbarn wurden ja im Verlauf des Erweiterungsprozesses stets aufgenommen – mit der Ausnahme natürlich der EWRStaaten. Das erwies sich als ein Vorteil für die Schweiz, waren doch Sonderlösungen in dieser Wachstumsphase der Union eher möglich. Heute ist der Erweiterungsprozess mehr oder weniger abgeschlossen und die EU steht nun vor der Aufgabe, eine Methode für enge Beziehungen mit einer Nachbarschaft zu finden, die auf absehbare Zeit nicht Mitglied werden will oder kann, also den EWR-Staaten, der Schweiz, Grossbritannien, den Mikrostaaten wie Andorra und möglicherweise auch den Staaten des Westbalkans. Damit gewinnen für Brüssel prin78
DIE NEUE POLIS ist eine Plattform für wichtige staatsrechtliche, politische, ökonomische und zeitgeschichtliche Fragen der Schweiz. Sie zeichnet sich durch differenzierte und aktuelle Beiträge und eine klare grafische Gestaltung aus. 2009 wurde die Reihe beim Wettbewerb «Schönste Schweizer Bücher» ausgezeichnet. Bisher sind zwölf Bände in der Reihe DIE NEUE POLIS erschienen, davon u.a.: Wie viel Staat braucht die Schweiz? Georg Kreis (Hrsg.) Mit Beiträgen von Astrid Epiney, Katja Gentinetta, Konrad Hummler, Georg Kreis, Markus Ritter, René Rhinow, Christoph Schaltegger, Walter Schmid, Paul Schneeberger und Rico Valär. 144 Seiten ISBN 978-3-03810-399-8 ISBN E-Book 978-3-03810-427-8 Reformbedürftige Volksinitiative Verbesserungsvorschläge und Gegenargumente Georg Kreis (Hrsg.) Mit Beiträgen von Andreas Auer, Christine Egerszegi-Obrist, Astrid Epiney, Andreas Gross, Georg Kreis, Giusep Nay, Lukas Rühli und Daniel Thürer. 160 Seiten ISBN 978-3-03810-155-0 ISBN E-Book 978-3-03810-174-1
NZZ Libro www.nzz-libro.ch
111
ISBN 978-3-03810-470-4
9 783038 104704