Michael Rasch: Die geheime Kunst der Börsenanalyse

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Gestaltung Umschlag: Besiana Bandilli, Zürich Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03823-919-2 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung


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Für meine Liebsten


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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Einleitung

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1 1.1

Indikatoren für langfristige Anleger Das monetäre Umfeld am Aktienmarkt

17 17

1.1.1 Die Kreatur von Jekyll Island 1.1.2 Der Einfluss der Leitzinsen auf die Börse: Don’t fight the Fed 1.1.3 Die neue Welt: Quantitative Easing 1.1.4 Die Prime Rate: Stets im Schatten der Leitzinsen 1.1.5 Die Mindestreserveanforderungen: Aus der Mode gekommen 1.1.6 Die Konsumentenkredite: Ein Indiz für die Stimmung im Volk 1.1.7 Die Zinssitzungen und die Fed-Protokolle: Klassische Market Mover 1.1.8 Die Wirkung von Zinsanstiegen am Aktienmarkt Das fundamentale und technische Umfeld am Aktienmarkt 1.2.1 Das KGV 10 nach Nobelpreisträger Robert Shiller 1.2.2 Das Kurs-Gewinn-Verhältnis nach John Hussman 1.2.3 Tobin’s Q nach Nobelpreisträger James Tobin 1.2.4 Die von Analytikern erwarteten Unternehmensgewinne 1.2.5 Die Höhe der Börsenspekulation auf Kredit 1.2.6 Aktienrückkäufe, Dividendenzahlungen und M&A-Volumen 1.2.7 Das Fed-Modell: Wegen Tiefzinsphase ausser Kontrolle Das zyklische Umfeld am Aktienmarkt 1.3.1 Auf der Spur des US-Präsidentschaftszyklus 1.3.2 Was das Jahr im Jahrzehnt aussagt

17

1.2

1.3

21 25 33 34 36 38 43 47 47 51 53 56 59 61 64 68 68 72 7


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2 2.1

2.2

2.3

2.4

2.5

2.6

2.7

2.8

8

Indikatoren für mittelfristige Anleger Am Anfang stand die Dow-Theorie

79 79

2.1.1 Die Anfänge am Ende des 19. Jahrhunderts 2.1.2 Das Geschehen seit dem Jahr 2000 Die «Fahrpläne» der Saisonalitäten 2.2.1 Saisonalitäten bei verschiedenen Rohstoffarten 2.2.2 Saisonalitäten bei Aktien, Devisen und beim Handelsvolumen Auf der Spur des «schlauen» Geldes: Die Analyse der COT-Reports 2.3.1 Vom Wissen kommerzieller Absicherer profitieren 2.3.2 Worauf es bei der Analyse ankommt Börsentechnische Frühindikatoren 2.4.1 S&P 500 und Nasdaq Composite 2.4.2 Dow Jones und Hang-Seng-Index 2.4.3 Goldpreis und Hui-Index Konjunkturelle Frühindikatoren 2.5.1 Die ISM-Einkaufsmanagerindizes 2.5.2 Der Frühindikator des Conference Board 2.5.3 Der deutsche Ifo-Geschäftsklimaindex und der ZEW-Index 2.5.4 Das Schweizer KOF-Barometer und der Einkaufsmanagerindex Die klassischen Angstbarometer: Volatilitätsindizes 2.6.1 Der amerikanische VIX 2.6.2 Der Schweizer VSMI und deutsche VDAX New Anhaltspunkte durch Vergleichsverläufe 2.7.1 Der Verlauf von Bärenmärkten: Dow Jones und Nikkei-Index 2.7.2 Der Verlauf von Bärenmärkten: Gold, Silber und Erdöl 2.7.3 Der Januareffekt: Ein Signal für das Gesamtjahr? Gleitende Durchschnitte 2.8.1 Tagelinien: Die Kraft der 200-Tage-Linie 2.8.2 Jahresdurchschnitte: Die ultimative Unterstützung 2.8.3 Crossoversysteme: Im Bann von goldenem Kreuz und Todeskreuz

79 82 84 84 89 93

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2.9

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2.10

Ratios: Die Aussagekraft von direkten Vergleichen 2.9.1 Verschiedene Indizes und Aktien untereinander 2.9.2 Zyklische zu nicht zyklischen Aktien 2.9.3 Inflationsgeschützte zu nicht inflationsgeschützten Anleihen 2.9.4 Die Gold-Silber-Ratio Abweichungen von gleitenden Durchschnitten

3 3.1

Indikatoren für kurzfristige Anleger Marktbreite und Momentumindikatoren

151 151

3.2

3.3

3.1.1 Die Bedeutung der Marktbreite am Beispiel des Wilshire 5000 3.1.2 Die Aussagekraft der Advance-Decline-Linie 3.1.3 Hinter den Kulissen des Markts I: Neue 52-Wochen-Hochs bzw. -Tiefs 3.1.4 Hinter den Kulissen des Markts II: Aufwärts- und Abwärtsvolumen Marktstrukturindikatoren 3.2.1 Die Gesundheit des Markts: Der McClellan-Oszillator 3.2.2 Der Blick unter die Motorhaube: Der Armsindex 3.2.3 Das mysteriös anmutende Hindenburg-Omen 3.2.4 Private gegen Profis: Der Montags- und der Freitagsindikator 3.2.5 Die Tagesanalyse: Smart-Money-Flow-Index und Late-Day-Index Stimmungsindikatoren 3.3.1 Weiche Stimmungsindikatoren Investors Intelligence NAAIM-Fondsmanagerumfrage American Association of Individual Investors Weitere weiche Stimmungsindikatoren 3.3.2 Harte Stimmungsindikatoren Die Put-Call-Ratios der CBOE Die Put-Call-Ratios für DAX, Euro Stoxx, SMI und Co. Die OEX-Put-Call-Ratio für den S&P-100-Index

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4 4.1 4.2

Exkurs: So funktioniert die Börse heute Der Aktienhandel verschwindet in dunklen Kanälen Braucht der blitzschnelle Börsenhandel ein Tempolimit?

189 189 195

Schlusswort

199

Danksagung

201

Abbildungsverzeichnis

203

Bilder- und Tabellenverzeichnis

207

Quellenverzeichnis

208

Der Autor

215

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Vorwort

Wollen Sie reich werden? Dann sollten Sie hart arbeiten, denn das ist der erfolgversprechendste Weg zum Ziel. Am besten gelingt dies vermutlich mit einem Beruf, der Ihnen wahrhaft so viel Freude bereitet, dass er mehr Hobby als Arbeit ist. Und wenn Sie trotzdem nicht reich werden, haben Sie wenigstens ein erfülltes Arbeitsleben. Der Aktienmarkt ist dagegen oft ein grausamer Ort. Er lockt mit grossen, schnellen Gewinnen, doch der Weg zu diesem Ziel ist steinig. Nie dürfen sich Anleger in Sicherheit wiegen, immer müssen sie auf der Hut sein, denn allzu schnell treten Unwägbarkeiten auf. Zwei Schritten nach vorn folgt oft ein Schritt zurück – und manchmal geht es sogar drei oder vier Schritte rückwärts. Welcher Börsianer hat noch kein Geld am Aktienmarkt verloren, ist nicht schon mal genau zum falschen Zeitpunkt in den Markt eingestiegen oder hat sich zum schlechtesten Zeitpunkt gerade wieder enttäuscht vom Markt verabschiedet? Dieses Buch soll Ihnen helfen, grosse Fehler zu vermeiden. Für langfristig orientierte Menschen gehört dazu, nicht auf dem Höhepunkt einer Aktienhausse einzusteigen. Dies war etwa am Ende des New-EconomyBooms im Jahr 2000 oder am Ende des grossen Rallyes in den Jahren von 2003 bis 2007 der Fall. Auch dürfen langfristig orientierte Anleger, am Tiefpunkt entnervt, nicht die Flinte ins Korn werfen wie zum Beispiel im Frühjahr 2003 oder im Frühjahr 2009. Die Experten der amerikanischen Vermögensverwaltungsfirma GMO haben in den vergangenen Jahrzehnten 28 grössere Blasen identifiziert. Alle endeten für die Investoren sehr böse – vor allem, wenn sie zu spät auf den Zug aufsprangen. Die Kurse fielen immer wieder auf den vor der Blasenbildung herrschenden Trend zurück. Die schlimmsten Blasen waren dabei jene am amerikanischen Aktienmarkt mit den Höhepunkten 1929, 1965 und 2000, am japanischen Aktienmarkt 1990 sowie am japanischen und amerikanischen Immobilienmarkt 1991 bzw. 2005. Schon Börsenaltmeister André Kostolany soll gesagt haben: «Beim Tiefstand der Kurse haben die Hartgesottenen die Papiere und die Zittrigen das Geld. Auf dem Höhepunkt des Booms haben die Hartgesottenen das Geld und die Zittrigen die Papiere.» Derlei schlechte Entschei11


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dungen treffen nicht nur langfristig orientierte Anleger, sondern auch Investoren oder Spekulanten mit einem mittelfristigen oder kurzfristigen Zeithorizont. Das soll Ihnen künftig weniger häufig passieren, ganz vermeiden kann man das an der Börse aber nicht. Schön wäre natürlich der Blick in eine Kristallkugel, um zu sehen, ob die Kurse steigen oder ob ein neuer Crash droht. Um den Antworten auf derlei Fragen näherzukommen, haben sich die Experten allerlei Hilfs­ mittel ausgedacht. Keines funktioniert immer, und nicht alle weisen den Weg gleich gut. Ich zeige Ihnen einige dieser Massstäbe, Indikatoren und Kennzahlen für verschiedene Zeitebenen, damit Sie nach Möglichkeit keine oder zumindest sehr viel weniger Fehler beim Timing Ihrer Investi­ tionen machen. Im Fokus der Analyse stehen dabei oftmals Zeitreihen. Muster in Datenfolgen sind in vielen Bereichen der Wirtschaft von Bedeutung, von der Konjunktur über die Unternehmensanalyse bis hin zu den Finanzmärkten. Vor allem im Fachgebiet der Ökonometrie untersuchen Wissenschaftler unzählige Daten und Zeitreihen, um Trends, Saisonalitäten oder andere ökonomische Grössen zu identifizieren. Dabei kann der Übergang zum Aberglauben in Form von Astrologie, Numerologie oder Kabbalismus fliessend sein. Apophänie lautet der Fachbegriff für die entsprechende Krankheit, nämlich die krankhafte Suche nach einer Bedeutung in zufälligen Daten. Viele Börsianer haben sich mit dieser Krankheit schon infiziert. Es ist jedoch bei aller Interpretation von Kursbildern und anderen Zeitreihen wichtig, nicht mehr zu sehen, als zu sehen ist. Charts sind ein Spiegel der Vergangenheit, der für die Prognose der Zukunft hilfreich sein kann – aber nicht zwingend sein muss. «Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich», soll Mark Twain sinngemäss gesagt haben. Dies dürfte auch für viele Entwicklungen an der Börse gelten, denn das Geschehen am Ak­­tienmarkt beruht oft auf den Emotionen und der Psychologie der Anleger. Deren Verhalten wiederholt sich häufig mehr oder weniger ähnlich in gleichartigen Situationen. An der Börse gibt es keine Gewissheiten, denn sonst wären wir alle tatsächlich reich. Handeln am Aktienmarkt heisst stets Denken in Wahrscheinlichkeiten und in Szenarien. Ist es also gerade wahrscheinlicher, dass die Kurse steigen oder dass sie fallen? Dabei gleicht die Börse einem gigantischen Puzzle, bei dem man möglichst viele passende Teile kombinieren muss. Es wird sich allerdings nie ein perfektes Gesamtbild ergeben. Und 12


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selbst wenn noch so sehr alles für ein bestimmtes Szenario spricht, kann es doch anders kommen. Oder es kommt zumindest kurzzeitig anders, treibt Sie aus dem Markt, und erst dann setzt sich Ihr Szenario bzw. jenes mit der höheren Wahrscheinlichkeit durch. Man kann deshalb immer nur versuchen, sich an die Wirklichkeit und an das möglicherweise Kommende heranzutasten und jeden Tag ein bisschen dazuzulernen, um künftig noch besser für die Unwägbarkeiten des Börsenalltags gerüstet zu sein. Ich wünsche Ihnen eine spannende, unterhaltsame und lehrreiche Lektüre. Michael Rasch Zürich, im Sommer 2014

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Einleitung

«Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen», soll der dänische Physiker Niels Bohr während eines Seminars in Kopenhagen zum Thema Quantenphysik einmal gesagt haben. Wer wüsste das nicht besser als Börsianer? Das Timing, also das zeitlich richtige Abschätzen von bestimmten Entwicklungen an der Börse, ist eine hohe Kunst, die nur sehr wenige Marktexperten gut beherrschen. Viele Scharlatane tun jedoch so, als verstünden sie diese Kunst. Es gibt allerdings Indikatoren für die lange, mittlere und kurze Frist, die Anlegern helfen, nicht gerade im ungünstigsten Moment das Falsche zu tun. Mit diesen Indikatoren werde ich Sie in den folgenden Kapiteln vertraut machen und Ihnen hoffentlich dabei helfen, dem Teufel in Gestalt des unberechenbaren Markts ein Schnippchen zu schlagen. Steigen Sie künftig als ein in Jahren denkender, konservativer Anleger in den Aktienmarkt ein, der nicht mehr von der allgemeinen Euphorie am Ende eines langen Rallyes getrieben ist, nur weil beispielsweise gerade der Deutsche Aktienindex die 10 000-Punkte-Marke überwunden hat und jedermann wieder über die Börse redet – sogar Ihr Tankwart und Ihre Friseurin. Geben Sie als mittelfristig, im Sinn von vielen Monaten orientierter Anleger nicht gleich auf, nur weil sich gerade mal wieder eine deftige Korrektur in einem langfristigen Aufwärtstrend vollzieht. Und lassen Sie sich als eher kurzfristig, auf Sicht von Wochen agierender Hobbyspekulant nicht vom hektischen Auf und Ab der Börse ins Bockshorn jagen, sondern versuchen Sie, die Vorgänge zu durchschauen. Eines sollte Ihnen vor der Lektüre dieses Werks klar sein: Das Buch ist kein Plädoyer für den Versuch, mit Timing den Gesamtmarkt zu schlagen. Für private Anleger ist eine auf die persönliche Risikoneigung, Risikotoleranz und Risikofähigkeit ausgerichtete strategische Asset Allocation das sinnvollste Vorgehen. Damit ist die Aufteilung des anzulegenden Geldes auf verschiedene Anlageklassen wie Aktien und Anleihen sowie gegebenenfalls auch Gold und andere Rohstoffe, Immobilien oder sogar alternative Anlageklassen wie Hedgefonds und Private Equity gemeint. Die strategische Asset Allocation ist nach den Schätzungen von Experten für etwa 80 Prozent des Anlageerfolgs verantwortlich. Nur die übrigen 20 Prozent kommen 15


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durch taktische Wetten zustande, also durch die phasenweise Übergewichtung von einer oder mehreren Anlageklassen. Zudem sollten Sie stets über mehrere Investmentkategorien und Regionen der Welt diversifizieren, die Kosten Ihrer Investitionen beispielsweise durch die Nutzung von passiven Anlageprodukten wie Exchange-Traded Funds niedrig halten und die Altersvorsorge von taktischen Wetten trennen. Seien Sie zudem kritisch: Misstrauen Sie Ihrem Anlageberater, den Medien und irgendwelchen Gurus – und auch allen Aussagen, die Sie in diesem Buch finden. Bilden Sie sich selbst eine Meinung. Für viele Privatanleger ist es nicht möglich, mit dem wenigen Geld, das ihnen zur Verfügung steht, eine langfristig sinnvolle Vermögensaufteilung über mehrere Anlageklassen umzusetzen. Viele Anleger müssen immer wieder gewisse Beträge investieren oder von der Börse abziehen. Wenn Sie auch zu dieser Gruppe gehören, bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, als taktische Massnahmen an der Börse zu treffen. Die Anlageberater – oder besser gesagt Verkäufer – Ihrer Hausbank werden Ihnen dabei wenig hilfreich sein, denn die Instrumente und Indikatoren, die ich Ihnen in den folgenden Kapiteln vorstelle, werden Sie von diesen nie zu sehen bekommen. Die Verkäufer der Banken wollen Ihnen primär die Produkte empfehlen, die gerade von der Zentrale auf die Verkaufsliste gesetzt wurden und Ihnen bestenfalls noch bei der strategischen Asset Allocation helfen. Von den hier vorgestellten Massstäben für das Niveau des Aktienmarkts dürften die meisten Banker in den Filialen noch nicht viel gehört haben. Dabei sind darunter extrem wichtige, langfristige und fundamentale Indikatoren zur Bewertung der Aktienbörse wie etwa das monetäre Umfeld, das KGV 10 oder Tobin’s Q. Zudem weihe ich Sie in die Analyse der Commitment of Traders Reports (COT-Reports) ein, die von der amerikanischen Terminmarktaufsichtsbehörde Commodity Futures Trading Commission (CFTC) veröffentlicht werden. Darüber hinaus werde ich Ihnen auch Barometer zeigen, die auf den ersten Blick etwas esoterisch klingen, beispielsweise das mysteriös anmutende Hindenburg-Omen, den McClellan-Oszillator oder den Armsindex. Die Anwendung und das Verständnis dieser Bewertungsmassstäbe und Indikatoren bezeichne ich als «die geheime Kunst der Börsenanalyse». Schieben Sie alle Skepsis und Vorurteile beiseite und lassen Sie sich darauf ein. Auf los gehts los.

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1

Indikatoren für langfristige Anleger

1.1

Das monetäre Umfeld am Aktienmarkt

1.1.1

Die Kreatur von Jekyll Island

«Die Kreatur von Jekyll Island» ist an den Finanzmärkten allgegenwärtig. So bezeichnete in seinem gleichnamigen Buch G. Edward Griffin die USNotenbank Federal Reserve (Fed) und nannte sie «das schrecklichste Ungeheuer, das die internationale Hochfinanz je schuf». Die US-Notenbank wurde am 23. Dezember 1913, also einen Tag vor Heiligabend, gegründet – sie ist aber alles andere als heilig oder gar unumstritten. Initiiert hatten die Gründung schon lange vorher führende US-Bankiers, und zwar bei einem geheimen Treffen auf der nur 23 Quadratkilometer grossen und zum USBundesstaat Georgia gehörenden Insel Jekyll Island. Die vom Autor G. Edward Griffin geäusserte Kritik an der US-Notenbank ist sicherlich journalistisch zugespitzt, wenn nicht gar überzogen. Doch in der Tat hat die Fed einen enormen Einfluss auf das Geschehen an den internationalen Finanzmärkten. An der Börse ist das monetäre Klima von entscheidender Bedeutung. Für diese geldpolitische Stimmung gibt es mehrere Einflussfaktoren, von denen der wichtigste das allgemeine Zinsniveau ist, das durch die Leitzinsen beeinflusst wird. Diese Leitzinsen legt für jeden Währungsraum die zuständige Zentralbank im Rahmen ihrer Geldpolitik fest. In den USA ist das die Federal Reserve. In Europa übernimmt dies für die Eurozone die Europäische Zentralbank (EZB). Davor war es die Deutsche Bundesbank für Deutschland sowie die D-Mark, und in der Schweiz ist es die Schweizerische Nationalbank (SNB) für den Frankenraum. Der Leitzins ist der Zinssatz, zu dem sich Finanz­ institute wie Banken und Sparkassen kurzfristig untereinander Geld ausleihen. Er beeinflusst vor allem das Zinsniveau für Kredite mit zeitlich kurzen Laufzeiten. Durch die Festlegung des Leitzinssatzes versuchen die Zentralbanken, auf Faktoren wie das Wirtschaftswachstum und die Inflation sowie in neuerer Zeit auch auf den Arbeitsmarkt Einfluss zu nehmen. Wichtig für das monetäre Klima sind neben der Politik der jeweiligen Notenbank auch die Kreditnachfrage der Wirtschaft, die Liquidität der Ban17


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ken, die Entwicklung der Konsumentenkredite, das Vorherrschen von deflationären oder inflationären Tendenzen sowie die Höhe des Diskontsatzes zur Beeinflussung der kurzfristigen Zinsen und die Prime Rate. Das sind die Zinsen, zu denen Banken ihren grössten Kunden Geld leihen. Entscheidend ist jedoch die Politik der Notenbank, die wiederum alle anderen Faktoren stark beeinflusst. Als Faustformel kann man sich merken, dass sinkende Zinsen gut für die Wirtschaft und die Börse sind, wohingegen steigende Zinsen bremsend wirken. Dennoch kann es oft dringend nötig sein, dass eine Notenbank die Zinsen erhöht – etwa um eine Überhitzung der Wirtschaft zu verhindern oder um eine zu stark steigende Inflation zu bekämpfen. Sinkende Zinsen sind gut für die Aktienmärkte, weil dadurch ihre relative Attraktivität gegenüber dem Anleihenmarkt zunimmt. Sie führen nämlich zu einem abnehmenden Zinsniveau an den Anleihemärkten, wodurch Aktien für die Anleger – relativ gesehen – interessanter werden. Auf dieser Überlegung fusst auch das sogenannte Fed-Modell, dass Sie später in Kapitel 1.2.7 noch kennenlernen werden. Aktien und Anleihen sind die beiden grossen Anlageklassen, zwischen denen das meiste Geld hin und her fliesst, wenngleich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viele andere Investmentkategorien entstanden sind, beispielsweise Rohstoffe, Währungen, Hedgefonds, Private Equity und vieles mehr. Zudem wird es in einem Umfeld fallender Zinsen für Unternehmen günstiger, sich zu verschulden. Dies machen Konzerne zum Beispiel, um Investitionen in neue Projekte zu tätigen. Von sinkenden Zinsen profitieren also besonders solche Firmen, die einen hohen Grad an Fremdfinanzierung aufweisen, also stark verschuldet sind. Für sie nimmt durch das sinkende Zinsniveau ein grosser Kostenblock ab. Und wenn sich die Ausgaben reduzieren, steigen bei sonst gleichbleibenden Bedingungen die Gewinne, die wiederum neben dem monetären Klima der wichtigste Treiber für die Aktienkurse von Unternehmen sind. Das allgemeine Zinsniveau hat darüber hinaus in der gesamten Wirtschaft eine wichtige Steuerungsfunktion. Es signalisiert, ob es tendenziell attraktiver ist, zu sparen oder sich zu verschulden, also auf Kredit zu konsumieren. Am Aktienmarkt führen, wie erwähnt, steigende Zinsen ökonomisch tendenziell zu sinkenden Kursen und fallende Zinsen zu steigenden Kursen. Der Wechsel von einer Hausse zu einer Baisse und umgekehrt erfolgt allerdings meist nicht abrupt. Für den Anleihenmarkt sieht das Bild 18


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bei nach oben tendierenden Zinsen anders aus. Die Besitzer von bereits emittierten Anleihen leiden tendenziell bei kletternden Zinssätzen. Wenn die Renditen steigen, kommt es nämlich vor allem bei Anleihen mit Laufzeiten von mehr als zwei Jahren zu signifikanten Kursverlusten. Das schreckt viele Anleihenbesitzer ab und gilt besonders für zahlreiche institutionelle Anleger wie Pensionskassen und Versicherungen, weil sie ihre Anleihenportefeuilles immer wieder umschichten müssen. Grundsätzlich machen steigende Renditen die Obligationen, wie Anleihen auch heissen, im Vergleich mit anderen Anlageklassen jedoch attraktiver. Das gilt vor allem dann, wenn die Zinsen wieder auf einem ansprechenden Niveau sind und die Marktteilnehmer den Zinserhöhungszyklus als abgeschlossen erachten. Für Investoren in Anleihen, die ihre Papiere bis zum Ende der Laufzeit halten, ist die Zinswende allerdings weniger problematisch, da der investierte Betrag samt Verzinsung am Laufzeitende zurückgezahlt wird – falls der Emittent inzwischen nicht zahlungsunfähig wurde. Ein wichtiges Signal ist eine Wende bei den Zinsen (und dadurch vor- oder nachlaufend auch an den Aktienbörsen) zudem für den Immobilien- und Hypothekarmarkt. Wer mit dem Gedanken spielt, eine Hypothek aufzunehmen, will dies zu möglichst niedrigen Zinsen tun. Sinkende Zinsen ziehen also immer mehr «Häuslebauer» und Käufer von Immobilien an, wohingegen steigende Zinsen mittelfristig einen boomenden Immobilienmarkt abkühlen sollten. Doch nicht nur für Hypothekenbesitzer, sondern für alle Schuldner wirken steigenden Zinsen einschränkend, da sie bei höherer Zinslast auf anderweitigen Konsum verzichten müssen oder weniger sparen können. So viel zur Theorie und damit zurück zum Aktienmarkt – vor allem zu jenem der USA, der noch immer der Weltleitmarkt ist, wodurch der USNotenbank eine besondere Funktion zukommt. Sie beeinflusst mit ihrer Politik oft die Notenbanken auf der ganzen Welt. Mit der US-Notenbank ist in der Regel die Hauptfiliale in der Prachtstrasse 20th Street and Constitution Avenue N. W. im Herzen von Washington D. C. gemeint. Sie liegt in etwa in der Mitte zwischen dem Weissem Haus und dem Lincoln Memorial. Genau genommen handelt es sich bei der amerikanischen Zentralbank um das Federal Reserve System. Dieses besteht aus dem Board of Governors, aus den zwölf regionalen Federal-Reserve-Banken, aus zahlreichen weiteren Mitgliedsbanken sowie aus anderen Institutionen. Entscheidend für die Festsetzung des Leitzinses in den USA, der sogenannten Federal Funds Tar19


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get Rate, ist der Offenmarktausschuss der Fed, das sogenannte Federal Open Market Committee (FOMC). Das Besondere an diesem Gremium ist der jährliche Wechsel einiger Mitglieder. Ständige Vertreter sind die sieben Mitglieder des Board of Governors sowie der Präsident der Federal Reserve Bank von New York, der schon immer ein grösseres Gewicht zukommt. Dazu kommen als stimmberechtigte Mitglieder vier jeweils jährlich wechselnde Präsidenten der anderen regionalen Fed-Banken. Die rotierenden Sitze werden aus folgender Gruppe von regionalen Fed-Banken gefüllt: ein Präsident der Fed kommt aus Boston, Philadelphia oder Richmond, ein Präsident der Fed aus Cleveland oder Chicago, ein Präsident der Fed aus Atlanta, St. Louis oder Dallas sowie ein Präsident der Fed aus Minneapolis, Kansas City oder San Francisco. Nicht stimmberechtigte Mitglieder (sieben von 19) können zwar an den Sitzungen teilnehmen und sich an den Diskussionen beteiligen, dürfen aber nicht abstimmen. Jeweils zum Jahreswechsel kommt es zur Rotation. Seit einiger Zeit sind sogar Frauen in dem erlauchten Gremium zugelassen, und seit 2014 führt mit Janet Yellen, die am 1. Februar Ben Bernanke ablöste, erstmals eine Frau das Federal Reserve Board. Das Gremium krankt allerdings ein wenig daran, dass die Mitglieder fast

Bild 1: Hauptsitz der US-Notenbank Federal Reserve

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allesamt rein akademische Karrieren gemacht haben und kaum Praktiker sind. Eine Ausnahme ist der derzeit amtierende Präsident der Federal Reserve Bank von Dallas: Richard W. Fisher. Er war vor seinem Eintritt in die Fed unter anderem als Hedgefondsmanager tätig.

1.1.2

Der Einfluss der Leitzinsen auf die Börse: Don’t fight the Fed «Don’t fight the Fed», heisst einer der bekanntesten Ratschläge für Anleger. Damit ist gemeint, dass sich Börsianer nicht gegen die US-Notenbank stellen sollten. Sie bestimmt, wie Sie bereits gelesen haben, das für die Finanzmärkte so wichtige monetäre Klima. Dahinter steht die Theorie, dass sinkende Zinsen tendenziell zu steigenden Aktienkursen führen und steigende Zinsen den umgekehrten Effekt auslösen. Doch die Welt wäre zu einfach, wenn sich diese Regel so leicht eins zu eins anwenden liesse. Die Effekte spielen meist mit einer schwierig abschätzbaren Zeitverzögerung und werden oft auch von anderen Ereignissen und Entwicklungen beeinflusst oder überlagert. So begann beispielsweise der letzte Zinssenkungszyklus der USNotenbank im September 2007, als die Aktienkurse noch nahe an den Höchstständen lagen. Der folgende Kurseinbruch an den Börsen dauerte trotz schnell und stark sinkender Zinsen bis März 2009. Ab dann machte sich ein Umfeld äusserst niedriger Zinsen bemerkbar. Die Wirtschaft erholte sich stark, ebenso verhielt es sich mit den Aktienkursen. Gemessen vom Tief am 6. März 2009 bei 6470 Punkten kletterte der Dow Jones bis zum Sommer 2014 um sage und schreibe gut 160 Prozent auf 17 000 Zähler. Zu diesem Zeitpunkt lagen die Leitzinsen immer noch bei 0,25 Prozent. Ferner kaufte die US-Notenbank im Rahmen ihrer aussergewöhnlichen geldpolitischen Lockerungen in grossem Stil amerikanische Staatsanleihen und Hypothekenpapiere. Diese werden Sie im nächsten Kapitel noch kennenlernen. Zeitlich verzögerte Reaktionen auf die Massnahmen der US-Notenbank gab es auch nach dem Platzen der New-Economy-Blase direkt nach der Jahrtausendwende. Anfang 2001 begann die US-Notenbank damit, die Leitzinsen zu senken. Abgeschlossen war die Reduktion von 6,5 auf nur noch 1,0 Prozent schliesslich erst Mitte 2003. Trotz dieser massiven geld­ politischen Unterstützung sanken die Aktienkurse, gemessen am Dow Jones, bis ins Frühjahr 2003. In dieser Phase wurden die Börsen allerdings nicht nur durch das vorläufige Ende der Interneteuphorie belastet, sondern 21


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auch durch die Terroranschläge vom 11. September 2001, durch die Krise vieler Versicherungsgesellschaften im Jahr 2002 und durch den sich abzeichnenden Zweiten Irakkrieg Anfang 2003. Die Aktienmärkte erholten sich schliesslich vom Tief im Frühjahr 2003 bei rund 6400 Punkten bis zur ersten Zinserhöhung Mitte 2004 um rund 65 Prozent. Dann begann sehr langsam der neue Zinserhöhungszyklus durch die US-Notenbank, der den Aktienmarkt anfangs prompt bremste. Erst als die Währungshüter ab Mitte 2006 die Zinsen bis Ende 2007 konstant bei 5,25 Prozent hielten, nahm der amerikanische Aktienmarkt nochmals richtig Fahrt auf – bis zum Ausbruch der Finanzkrise, die mit der Subprimeund Hypothekenkrise in den USA begann. Der Zusammenhang zwischen Zinsen und Aktien zeigte sich schon in früheren Zeiten oft, beispielsweise in den 1970er- bis Anfang der 1980erJahre – eine Periode, die in den USA zum Teil von hohen Inflationsraten Entwicklung der US-Leitzinsen und des Dow Jones von 2000 bis 2014 (Wochendaten) 16 000

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Dow Jones, in Punkten (linke Skala) US-Leitzinsen, in Prozent Grafik 1

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Quelle: Bloomberg/Neue Zürcher Zeitung


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gekennzeichnet war. In den Phasen der Zinserhöhung von Anfang 1972 bis Mitte 1974 sowie von Anfang 1977 bis Mitte 1980 verzeichneten die Börsenindizes jeweils nominale Verluste von gut 10 und rund 14 Prozent. Real, also unter Berücksichtigung der Inflation, waren die Verluste deutlich höher. Erst in den ebenfalls in diesem Zeitraum auftretenden Zinssenkungsperioden erholten sich die Börsenindizes wieder oder verzeichneten einen deutlichen Anstieg, etwa von Mitte 1981 bis Mitte 1983. Diese Entwicklung setzte sich von 1983 bis 2000 fort. In der Zeit sinkender Leitzinsen von Spätsommer 1984 bis Mitte 1986 entwickelte sich der amerikanische Aktienmarkt, gemessen am Dow Jones, mit einem Plus von etwa 70 Prozent bestens. Das Gleiche gilt für den Zeitraum von Anfang 1989 bis Anfang 1994, als der Dow Jones in etwa um den gleichen Prozentsatz zulegte. In den Phasen steigender Zinsen, wie dies von Mitte 1987 bis Mitte 1989 der Fall war, sanken die Kurse dagegen unter dem Strich minimal, wobei es bis zum Crash im Herbst 1987 zu steigenden und nach dem Entwicklung der US-Leitzinsen und des Dow Jones von Anfang 1971 bis 1983 (Wochendaten) 1400 1300 1200 1100 1000 900 800 700 600

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Crash des Aktienmarkts um insgesamt rund 35 Prozent in rund zwei Wochen ebenfalls zu leicht steigenden Kursen gekommen war. Auch in der Periode steigender Zinsen von Anfang 1994 bis Mitte 1995 entwickelte sich der Aktienmarkt lediglich seitwärts. Erst als von 1995 bis 2000 die Zinsen relativ konstant zwischen 6 und 5 Prozent lagen, vollzog sich beim Dow Jones wieder ein rasantes Rallye. Auch heute ist die Federal Reserve noch immer die führende Notenbank der Welt, da sie für die grösste Volkswirtschaft der Erde zuständig ist, wenngleich die Europäische Union (EU) als Ganzes mit den USA auf Augenhöhe ist. In US-Dollar gerechnet hatten beide Wirtschaftsräume im Jahr 2013 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 17 Billionen US-Dollar. Immer wichtiger ist in den vergangenen Jahren jedoch China geworden, das 2013 auf ein Bruttoinlandsprodukt von etwa 9 Billionen US-Dollar kam. Dieser Trend, nämlich dass das Reich der Mitte zunehmend an Bedeutung Entwicklung der US-Leitzinsen und des Dow Jones von 1984 bis 2000 (Wochendaten) 12 000

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gewinnt, dürfte anhalten. Mit dem wachsenden Gewicht der chinesischen Wirtschaft wird auch die Politik der dortigen Notenbank wichtiger werden und auch international immer mehr Beachtung finden, sodass es bald heissen könnte: «Don’t fight the People’s Bank of China.» Die Entwicklung der amerikanischen Leitzinsen können Sie auf der ­Homepage der US-Notenbank unter www.federalreserve.gov bzw. unter http://www.federalreserve.gov/monetarypolicy/openmarket.htm verfolgen.

1.1.3

Eine neue Welt: Quantitative Easing Die in den Jahren 2007/08 ausgebrochene Finanzkrise hat alles verändert. Die Krise setzte das herkömmliche Auf und Ab der Leitzinsen ausser Kraft und sorgte dafür, dass die Geldpolitik in den USA und weit darüber hinaus in ein neues Zeitalter eintritt. Am 16. Dezember 2008 senkte die US-Notenbank die Leitzinsen auf quasi null. Seitdem liegt die Federal Funds Target Rate bei 0,25 Prozent. Bis in den Sommer 2014 hatte sich daran nichts ge­­ ändert, und wenn man den Verantwortlichen der US-Notenbank Glauben schenkte, sollte dies auch noch bis weit ins Jahr 2015 so bleiben. Da die Leitzinsen angesichts des herrschenden Nullzinsniveaus nicht mehr tiefer gesenkt werden konnten, mussten sich die Notenbanker ab dem Jahr 2009 neue, noch nie zur Anwendung gekommene Instrumente ausdenken. Sie griffen dabei tief in die Trickkiste. «Quantitative Easing» – so hiess der neue Zauberbegriff. Mit diesen aussergewöhnlichen quantitativen Lockerungen ist der Aufkauf von Wertpapieren wie Staatsanleihen und Hypothekenpapieren durch die USNotenbank gemeint. Am 19. März 2009, kurz nachdem der Dow Jones den Tiefpunkt der Finanzkrise erreicht hatte (wie sich jedoch erst später herausstellte), startete die US-Notenbank mit dem Kauf längerfristiger Staatsanleihen die erste Runde Quantitative Easing (QE1). Zuvor war an den Märkten bereits eine gewisse Zeit lang über eine ausserordentliche geldpolitische Lockerung spekuliert worden, was die Kurse gestützt hatte. Die ohnehin laufende Erholung wurde durch die Massnahme der US-Notenbank, die einer weiteren Senkung der Zinsen gleichkam, verstärkt und bis in das Frühjahr 2010 verlängert. Insgesamt legte der Dow Jones dabei in der Spitze um gut 50 Prozent zu. Als nach dem Auslaufen von QE1 im Sommer 2010 die Aktienmärkte aufgrund von Konjunktursorgen und der sich 25


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akzentuierenden Schuldenkrise in Europa wieder schwächelten und ein neuerlicher Kursrutsch zu befürchten war, griffen die Währungshüter um den damals amtierenden Präsidenten der US-Notenbank Ben Bernanke erneut in die Trickkiste. Beim globalen Branchentreffen der Notenbanker im Ferienort Jackson Hole im US-Bundesstaat Wyoming in Sichtweite der auch im Sommer mit Schnee bedeckten Rocky Mountains kündigte Bernanke am 27. August 2010 eine zweite Runde geldpolitischer Lockerungen an: Quantitative Easing 2 (QE2). Zwar wurde das Programm erst ab dem Herbst umgesetzt, doch die Märkte starteten aufgrund der guten Erfahrungen mit QE1 sofort durch. Bis zum Sommer 2011 kletterten die Kurse um knapp 30 Prozent. Bernanke meinte, dass das Kaufprogramm für Staatsanleihen in Höhe von 600 Milliarden US-Dollar einem Leitzins von –0,75 Prozent entspreche. Dabei flossen die auf elektronischen Knopfdruck – früher hätte man vom Anwerfen der Notenpresse gesprochen – aus dem Nichts geschaffenen Gelder nicht einmal direkt in die Aktienmärkte oder in andere Finanzmarktsegmente. Ein Grossteil der Wirkung war und ist psychologischer Natur. Der Beistand der US-Notenbank in kritischen Zeiten signalisierte den Finanzmärkten, dass ein etwaiger Kurszerfall politisch nicht zugelassen wird. Das stärkte das Vertrauen der Marktteilnehmer und erhöhte ihre Risikofreudigkeit. Mittel aus gefühlt sicheren Häfen wie Anleihen wurden abgezogen und in die riskanteren Aktien investiert. Das Dilemma der USNotenbank ist jedoch, dass sie die Liquidität zwar schaffen, aber ihren Fluss nicht kontrollieren kann. Entsprechend der Beobachtung, wonach auch an der Börse die Flut oft alle Boote hebt, setzten nicht nur die Aktienmärkte der westlichen Welt, getrieben von QE1 und QE2, zu einem Höhenflug an, sondern auch die Aktienmärkte vieler Schwellenländer. Es entstand zudem eine neue Hausse an den Rohstoffmärkten. Am 21. September 2011 kündigte die US-Notenbank dann die nächs­ ­te aussergewöhnliche geldpolitische Massnahme an, nämlich die Operation Twist. Sie besagte, rund 400 Milliarden US-Dollar von kurz laufenden in lang laufende Staatsanleihen umzuschichten. Damit wollten die Währungshüter nach den kurzfristigen Zinsen endgültig auch die politisch unerwünscht hohen langfristigen Zinsen unter ihre Kontrolle bringen. Auch dies wirkte im Prinzip wie eine Leitzinssenkung. Vom Beginn bis zum Ende der ersten ausserordentlichen geldpolitischen Lockerung (QE1) avancierte der Dow Jones um rund 45 Prozent, 26


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Erste Eingriffe von US-Notenbank und EZB von 2009 bis 2011 27.8.2010

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18.3.2009: Fed startet Quantitative Easing 1 27.8.2010: Fed kündigt Quantitative Easing 2 an Dow Jones, in Punkten

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21.9.2011: Fed startet Operation Twist 8.12.2011: EZB gibt Banken unlimitiert Kredite Quelle: Bloomberg/Neue Zürcher Zeitung

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und von der Ankündigung bis zum Ende von QE2 kletterte er um 24 Prozent. In der Spitze waren die Kursavancen, wie anfangs erwähnt, sogar deutlich grösser. Dazwischen sah es jeweils düster aus. Zwischen dem Ende von QE1 und der Ankündigung von QE2 sank der S&P-500-Index um 8 Prozent, und zwischen dem Ende von QE2 und dem Beginn der Operation Twist fiel er um 12 Prozent. Entsprechend stellte Richard W. Fisher, Präsident der Federal Reserve Bank von Dallas, fest, dass die Marktteilnehmer vom «monetärem Morphium» abhängig geworden seien. Der ehemalige Hedgefondsmanager wusste genau, wie leicht die Börsianer zu verführen sind. Neu war die Erkenntnis nicht, denn es war nicht das erste Mal, dass der Spurt der Aktienkurse auf neue absolute oder relative Gipfel auf der Wirkung von geldpolitischen Anabolika beruhte. Die Europäische Zentralbank kündigte kurze Zeit später, nämlich am 8. Dezember 2011, ihre Variante von Quantitative Easing an, die sie schliesslich ab dem 21. Dezember umsetzte – ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk für die Not leidenden Banker in Europa und für die Börsianer in der ganzen Welt. Die Europäische Zentralbank lieh Banken der Eurozone für drei Jahre unlimitiert Geld zu niedrigen Zinsen. Diese nutzten das Angebot und nahmen rund 500 Milliarden Euro auf. Wenige Wochen später wiederholte die Europäische Zentralbank die Aktion und offerierte den Banken nochmals 500 Milliarden Euro. Das Geld wurde beide Male – wie politisch gewünscht – zu grossen Teilen in Staatsanleihen der europäischen Krisen27


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staaten investiert. Zuvor hatte die Europäische Zentralbank bereits im Mai 2010 für eine gewisse Zeit damit begonnen, deren Staatsanleihen zu kaufen, um dadurch die marktgerechten, aber als unerträglich hoch wahrgenommenen Refinanzierungskosten der selbst verschuldet in die Bredouille geratenen südlichen Euromitglieder zu senken. Damit waren die ungewöhnlichen Massnahmen der Notenbanken aber noch längst nicht beendet. Am 26. Juli 2012 nahm Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, die wohl erfolgreichste verbale Intervention in der Geschichte der Notenbanken vor. Bei einer Rede auf der Global Investment Conference im Herzen der Londoner City, im Finanzdistrikt der britischen Kapitale, sagte Draghi vor den verblüfften Zuhörern, «im Rahmen unseres Mandats ist die Europäische Zentralbank bereit, alles Nötige zu unternehmen, um den Euro zu erhalten». Und er fügte an: «Glauben Sie mir, das wird genug sein.» Mit diesem Satz insinuierte Draghi, dass er bereit ist, notfalls gegen den Willen der in Europa wichtigen und viel stabilitätsorientierter denkenden Deutschen Bundesbank, in grossem Stil bzw. sogar unbegrenzt Staatsanleihen der südeuropäischen Krisenländer, etwa Italiens, Spaniens oder Portugals, aufzukaufen, um die Zinssätze für deren Staatsanleihen zu sen-

Bild 2: Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank

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Der Autor

Michael Rasch, Jahrgang 1970, studierte Wirtschaftswissenschaften in Kassel und legte 1997 die Prüfung zum Qualitätsmanager ab. In den Jahren 2000/01 absolvierte er die Georg-von-Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalisten der Verlagsgruppe Handelsblatt. Seit 2002 ist er Wirtschaftsredaktor bei der Neuen Zürcher Zeitung, seit dem Jahr 2006 Leiter der Redaktion Börsen & Märkte. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2009 und 2014 mit dem Schweizer Medienpreis für Finanzjournalisten von Private – Das Geld-Magazin sowie mit dem deutschen StateStreet-Preis für Finanzjournalisten 2011.

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