Das Buch geht der Frage nach, wie viel Markt und Wettbewerb im Interessengeflecht der schweizerischen Politik zustande kommen können. Es gewährt Einblick in Denkmuster der ökonomischen Wissenschaft und relativiert den populären Vorwurf, Ökonomen seien sich nie einig, weshalb man ihrem Rat auch nicht vertrauen könne.
Hans Rentsch
Hans Rentsch beobachtet seit über 30 Jahren die Schweizer Wirtschaftspolitik. Nun zieht er Bilanz.
Wie viel Markt verträgt die Schweiz?
In der Schweizer Politik hat der Rat des Ökonomen zu mehr Markt oft wenig Gewicht. Direkte Volksrechte und Föderalismus scheinen zu bewirken, dass auch Bereiche, die nach ökonomischer Logik in die Markt- und Privatsphäre gehören, kollektiven Beschlüssen und staatlicher Kontrolle unterworfen bleiben. Liberalisierungen ohne ausländischen Druck sind rar.
Hans Rentsch
Ökonomische Streifzüge durchs Demokratieparadies
ISBN 978-3-03810-238-0 ISBN 978-3-03810-238-0
9 783038 102380
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NZZ Libro
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© 2017 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich Lektorat: Rainer Vollath, München Umschlag: icona basel, Basel Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen sowie der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-238-0 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort Zur Einstimmung
Teil I Marktskepsis im Demokratieparadies 1 Demokratie und Markt – ein konfliktreiches Verhältnis 2 Schweizer Spitzenplätze mit Vorbehalten 3 Schatten über dem Erfolgsmodell
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Teil II Die Politik, das Volk und die Ökonomen 4 Politik und Wissenschaft – unterschiedlich codiert 5 Wenig Vertrauen in den Markt – und in die Ökonomen 6 Politisierung der Volkswirtschaft durch die Sonderfall institutionen Teil III Aus dem ABC einer politisierten Volkswirtschaft 7 Arbeitsmarkt 8 Bildung: Schule 9 Energie: Strom 10 Gesundheitswesen 11 Klimapolitik 12 Landwirtschaft 13 Medien 14 Rentensystem 15 Verkehr 16 Wohnungsmarkt
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51 53 61
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Inhaltsverzeichnis
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Teil IV Der lange Weg zu mehr Markt 17 «Economic literacy» als Bildungsauftrag 18 Ökonomen an die Front!
221 223 232
Zum Ausklang Literaturverzeichnis Der Autor
245 253 255
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Vorwort
Vor bald 20 Jahren organisierte ich zusammen mit Silvio Borner, dem emeritierten Basler Professor für Ökonomie und Politik, in Zug eine Tagung zur damaligen Debatte über eine Reform der direkten Volksrechte. Auf der Tagung diskutierte eine ganze Reihe der damals bekanntesten Köpfe der politischen Ökonomie, der Politikwissenschaften und des Staatsrechts über die Frage, ob es Veränderungen bei der Initiative und dem Referendum brauche und wenn ja, in welche Richtung. Der Anlass für die Tagung waren zwei Motive. Das erste ergab sich aus der politischen Agenda. Damals wollte man im Zuge der Bundesverfassungsreform als Begleitprojekt auch eine Reform der direkten Volksrechte angehen. Die Tagung sollte dem in der Politik typischen Übergewicht juristischer Experten auch politökonomische Standpunkte entgegensetzen. Bekanntlich wurde dieses Teilreformprojekt angesichts der starken Widerstände still und leise begraben. Auch aus dem Hauptprojekt einer Reform der Bundesverfassung wurde dann nur eine Nachführung. Das zweite Motiv war quasi fachintern gegeben. Seit Längerem gab es unter den politischen Ökonomen zum Thema der direkten Volksrechte zwei Fraktionen. Die erste Gruppe um Silvio Borner mit ihren ehemaligen Studenten und Assistenten äusserte sich in der Öffentlichkeit gut vernehmbar mit Publikationen wie Schweiz AG: Vom Sonderfall zum Sanierungsfall als Kritiker einer fundamentalistisch überbordenden direkten Demokratie. Die Botschaft lautete, diese sei wegen ihres sprunghaften Charakters zu einer konsistenten, längerfristig ausgerichteten Wirtschaftspolitik nicht fähig, was sich auch in einem seit Jahrzehnten unterdurchschnittlichen Wirtschaftswachstum der Schweiz zeige. In typisch ökonomischer Denkweise postulierten die Anhänger dieser Denkrichtung auch für die direkten Volksrechte ein Optimum, und dieses hielten sie in der Schweiz für bereits überschritten. Die andere Fraktion umfasste bekannte Ökonomen wie Bruno S. Frey (Universität Zürich) und Gebhard Kirchgässner (Universität St. Gallen), ebenfalls mit ehemaligen Assistenten wie Reiner Eichenberger (heute Universität 7
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Freiburg) im Schlepptau. Diese Gruppe plädiert bis heute für möglichst weit ausgebaute direkte Volksrechte. Sie berief sich dabei auf die statistischen Untersuchungen von Teilstaaten (Kantonen, US-Bundesstaaten) mit mehr oder weniger direkten Demokratie. Die Debatten der Tagung vermochten die Differenzen nicht auszuräumen, doch entstand aus den Referaten und Diskussionen das Buch Wie viel direkte Demokratie verträgt die Schweiz?, das die Argumente dieser beiden politökonomischen Fraktionen dokumentiert. Das vorliegende Buch ist eine Fortsetzung, und zwar mit einer etwas veränderten Perspektive. Inzwischen sind die für die schweizerische Volkswirtschaft wachstumsschwachen 1990er-Jahre, welche die damalige Demokratiedebatte beeinflussten, längst vorbei. Unter dem Druck des EWR-Neins im Dezember 1992 und der daraus resultierenden Liberalisierungsdynamik des EU-Binnenmarkts war die Schweiz ebenfalls zu Reformen gezwungen. Dies führte zum Abschluss bilateraler Verträge. Seit der Jahrtausendwende profitiert die schweizerische Volkswirtschaft von den Liberalisierungen der ehe maligen Staatsmonopole und von der Teilnahme am EU-Binnenmarkt. Die Schweiz hat in den vergangenen Jahren vor allem dank der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte als Folge der Personenfreizügigkeit im Durchschnitt besser abgeschnitten als die meisten EU-Staaten. Auch die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/08 hat sie erstaunlich gut gemeistert. Trotz dieses bisher positiven Bilds ist nicht zu bestreiten, dass die Schweiz mit Liberalisierungen aus eigener Kraft grosse Mühe hat. Oft stehen kantonale Interessen auf dem Spiel, und nicht weniger oft drohen Referenden und Initiativen gegen Entstaatlichung und gegen mehr Markt. Die grundsätzliche Fragestellung dieses Buchs lautet deshalb, ob die Sonderfallinstitutionen der Schweiz tatsächlich Hindernisse für mehr Markt darstellen. Dieses Buch ist keine geradlinige wissenschaftliche Analyse, sondern eine mit thematischen Schwenkern angereicherte persönliche Bilanz am Ende einer beruflichen Karriere, die in betriebswirtschaftlichen Funktionen begann und sich über die Zeit immer mehr in die Richtung politökonomischer Interessen entwickelte. Die stärksten wirtschafts- und sozialpolitischen Eindrücke erhielt ich durch meine Tätigkeit als externer Projektleiter und Autor beim Thinktank Avenir Suisse. Dort kam ich in den Jahren von 2001 bis 2009 ausgiebig mit Vertretern der politischen Praxis in Kontakt. Dies schärfte mein Bewusstsein für den nur schwer zu überbrückenden Graben zwischen dem Denken von Ökonomen und Nichtökonomen – ein Hauptthema dieses Buchs. Zürich, im November 2016 8
Hans Rentsch
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Zur Einstimmung
«Möchten Sie sich von unseren Intellektuellen regieren lassen? Ich nicht.» Kurt Tucholsky, deutscher Schriftsteller und Journalist
Für die meisten Intellektuellen gelten Ökonomen als geistige Handlanger der kapitalistischen Wirtschaft. Dieser pauschale Vorwurf ist unbegründet, denn unabhängige Ökonomen pflegen ein kritisches Verhältnis zu den realen Zu ständen in der Wirtschaftswelt. Das hat seine guten Gründe. Wer, wie fast alle massgebenden Stimmen der ökonomischen Wissenschaft, für offene Wettbewerbsmärkte eintritt, stört sich an den Strukturen und Verhaltensweisen, die mit der Vorstellung von funktionierenden Märkten unvereinbar sind. An solchen Zuständen ist nicht nur eine regulierungsgeneigte Politik schuld. Auch in der Wirtschaft suchen gewichtige Akteure, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, Vorteile durch staatlichen Schutz oder verstossen sonst gegen Regeln des offenen Wettbewerbs. Was in jüngerer Zeit die Öffentlichkeit und die Politik stark beschäftigte: In den obersten Chefetagen von Grossunternehmen bestehen zum Teil Machtverhältnisse, die zu sozial schädlichem Verhalten einladen können. Gelangen Fälle von exorbitanten und wenig leistungsgerechten Entschädigungen an die Öffentlichkeit, erhalten Systemkritiker Auftrieb. Dann leidet auch die Akzeptanz des marktwirtschaftlichen Systems. Wer in sozialen Hierarchien ganz nach oben will, muss – oben angekommen – akzeptieren, als öffentliche Figur wahrgenommen zu werden. Von solchen Personen wird erwartet, dass ihre materielle Entschädigung mit ihrer Leistung im Einklang steht. Die bekanntesten Namen, die in diesem Zusammenhang in jüngerer Zeit die Gemüter in der Bevölkerung erregten, waren Daniel Vasella, früherer VR-Präsident von Novartis, und Marcel Ospel, früherer VR-Präsident der UBS. Im Zuge einer schärferen Beobachtung von Ent9
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schädigungsexzessen geriet auch Walter Kielholz, VR-Präsident der Swiss Re, unter Beschuss. In einem Interview vom 28. Oktober 2013 mit dem Wirtschaftsmagazin Eco des Schweizer Fernsehens vernahm man, dass Kielholz rund zehn Mal mehr verdient als sein Pendant beim Weltmarktführer Münchener Rück. Diese ist bezüglich ihrer Prämieneinkünfte und ihrer versicherten Risiken gut doppelt so gross wie die Swiss Re. Auf diese Diskrepanz an gesprochen, entgegnete Kielholz, hiesige Entschädigungen seien mit denen in Deutschland nicht zu vergleichen. Tatsächlich sind die Funktionen eines schweizerischen VR-Präsidenten mit denen eines deutschen Aufsichtsratsvorsitzenden nicht eins zu eins vergleichbar. Dennoch darf man sich über den Faktor 10 wundern. Zudem verdiente gemäss Eco auch der Konzernchef (CEO) der Swiss Re rund doppelt so viel wie der CEO der Münchener Rück. Solche Diskrepanzen in der gleichen Branche illustrieren anekdotisch all jene Fachmeinungen und Studien, die unisono zu dem gleichen Schluss kommen: Diese Entschädigungen haben selten etwas mit einer verlässlich messbaren Führungsleistung zu tun. Der Wirtschaftshistoriker R. James Breiding nannte in einem Artikel der Financial Times vom 20. November 2013 weitere solcher Schweizer Fälle. Peter Brabeck, VR-Präsident von Nestlé, verdiente 2012 zwölf Mal mehr als der VR-Präsident des nicht viel kleineren Konkurrenten Unilever. Und gemäss einer führenden Schweizer Zeitung kam Urs Rohner, VR-Präsident der Grossbank Credit Suisse, in den Genuss einer Vergütung, die höher ist als diejenige der Kollegen von Barclays, Deutsche Bank und Royal Bank of Scotland zu sammen. Dabei gerät die Credit Suisse jeweils nicht als Highflyer der Branche in die Schlagzeilen, sondern ist bis zum heutigen Tag vor allem durch hohe Bussen wegen allerlei Verfehlungen gegen geltende Vorschriften bekannt. In schlechter Erinnerung ist auch die berüchtigte Vergütung in Höhe von 71 Millionen Franken an den früheren CEO Brady Dougan im Jahr 2010. Dieser zeigte keine Hemmungen, die Möglichkeiten eines durch die Finanzkrise verzerrten Performance-Incentive-Plans voll auszunützen. Dabei hatte die Credit Suisse unter Dougan überfällige, milliardenschwere Goodwillabschreibungen aus dem Übernahmeflop der US-amerikanischen Investmentbank Donaldson, Lufkin & Jenrette immer wieder geradezu manipulativ hinausgeschoben. Dass es auch anders geht, zeigte Oswald Grübel, der Vorgänger von Dougan bei der Credit Suisse, der als Chef von UBS in den Jahren 2009/10 auf ihm zustehende Boni verzichtete, weil der Aktienkurs gesunken war. Wenn dank ihrer Sonderstellung ausgerechnet Angehörige der Wirtschaftselite anerkannte moralische Regeln verletzen, weil die Disziplinierung 10
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Zur Einstimmung
durch einen echten Markt für Topmanager fehlt, untergraben sie in der Bevölkerung die Akzeptanz der Marktwirtschaft. In der Schweiz hat das Stimmvolk die Kompetenz, seine Fairnessempfindungen in Volksinitiativen und Referenden auszudrücken. Die angenommene Minder-Initiative (die sogenannte «Abzocker-Initiative») zeugt davon. Die 1:12-Initiative, die Höchstsaläre auf das Zwölffache des tiefsten Lohns beschränken wollte, wurde zwar verworfen, aber die VOX-Nachbefragung ergab, dass damit für eine grosse Mehrheit der Stimmberechtigten das Thema Abzocker nicht erledigt war. Man kann nur hoffen, dass die Botschaft von unten in den Chefetagen oben angekommen ist. Unser freiheitliches Wirtschaftssystem, das allein Wohlstand schaffen kann, ist auch von anderer Seite ständigem Druck ausgesetzt. Immer mehr staatliche Regulierungen sollen Konsumenten, Sparer oder Eltern schützen, die Umwelt und das Klima retten oder aus den unterschiedlichsten Motiven sonst irgendwie die Wirtschaft gängeln. Mit dem moralisch aufgeladenen Kampfziel «soziale Gerechtigkeit» versuchen linksideologische Interessengruppen in Parlamenten sowie via Initiativen und Referenden, ihre egalitären Umverteilungsziele zu erreichen. Zur Herstellung einer gerechteren Gesellschaft sollen dem Staat immer mehr Kompetenzen für Eingriffe ins Marktgeschehen verliehen werden. Nun gibt es aber kaum eine diffusere Maxime für die Politik als die Vorgabe, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Die Angriffe auf das marktwirtschaftliche System kommen politisch meist von links, doch ist links in der Schweiz nicht mit der reformerischen Linie der SPD Gerhard Schröders oder mit «new labour» unter Tony Blair gleichbedeutend. Der Politologe Adrian Vatter sagte in einem Interview mit der Zeitschrift Die Weltwoche (Nr. 6/2014): «Die SP Schweiz steht ja interessanterweise nicht auf der Position der SPD, sondern auf jener der postkommunistischen Partei der Linken.» Der Linksdruck hat unter dem verstärkten Gewicht der Jungsozialisten noch zugenommen. Im erwähnten Interview konstatierte Vatter weiter, dass das heutige System mit dem permanenten Wahlkampf jene Parteien belohne, die keine Kompromisse schliessen, sondern Vorlagen versenken würden, um sich nach aussen zu profilieren. Die Hebelwirkung der direkten Volksrechte führte somit in der Schweiz zu einer Polarisierung zwischen links und rechts und zu einer Ausdünnung der Mitte. So sind wir zu einer grossen Koalition verdammt, in der die beiden stärksten Parteien SVP und SP in den grundlegendsten Themen wie Sozialstaat, Europa- und Ausländerpolitik, Asylpolitik, Wirtschafts- und Finanzpolitik oder Gesellschaftspolitik diametral auseinanderliegen. Die Frage, ob ein solches System überhaupt noch zu einer politischen Führung mit einer grund11
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sätzlich übereinstimmenden Marschroute fähig ist, lässt sich mit der rituellen Beschwörung des Sonderfalls nicht aus der Welt schaffen. Auf jeden Fall hat die schweizerische Politik in den letzten Jahrzehnten auf nationaler Ebene kaum je aus eigener Initiative heraus marktwirtschaftliche Reformen angestossen und umgesetzt, sondern sie hat sich stets nur als Reaktion auf den Liberalisierungsdruck von aussen zu Entstaatlichungen und zu mehr Markt durchgerungen. Druck entstand nach dem schicksalsschweren EWR-Nein von 1992 durch das Liberalisierungsprojekt des EU-Binnenmarkts. Es gibt kaum einen Bereich, in dem die Schweiz nicht die Nachzüglerin war. Oft wurde dann aber, aus föderalistischer Rücksicht und aus Angst vor Referenden, nur halbherzig liberalisiert und entstaatlicht. Dieses Buch geht der Frage nach, wie viel Markt bzw. freie Marktwirtschaft im vielfältigen Interessengeflecht der schweizerischen Gesellschaft zu stande kommen kann. Der Blick ist besonders auf den Einfluss der politischen Institutionen gerichtet. Die Überhöhung der direkten Volksrechte – in der Schweiz nach verbreiteter Ansicht das Kennzeichen der einzig wahren Demokratie – scheint zu bewirken, dass auch die Bereiche kollektiven Beschlüssen bzw. politischer Kontrolle unterworfen werden oder bleiben, die nach ökonomischer Logik in die Markt- bzw. Privatsphäre gehören. Deshalb interessieren folgende Fragen: Gibt es in der Schweiz aufgrund von Föderalismus und direkten Volksrechten eine grössere Marktskepsis als anderswo? Wie stark ist der Einfluss ökonomischer Erkenntnisse und Meinungen auf die Politik? Und wie könnte dieser Einfluss allenfalls verstärkt werden? Teil I führt zunächst in die Grundthese dieses Buchs ein: die skeptische Einstellung der Bevölkerung gegenüber der Institution Markt. In einer Darstellung der schweizerischen volkswirtschaftlichen Performance werden unsere Spitzenplätze in internationalen Rankings relativiert. Eine noch weiter zunehmende Bürokratisierung und Überregulierung sowie eine zu starke Politisierung vieler Bereiche der Volkswirtschaft werden als Hauptgefahren für ein gedeihliches Wachstum und die künftige Wohlfahrt des Landes beschrieben. Teil II widmet sich zuerst der Frage, weshalb wissenschaftliche Erkenntnisse, besonders auch solche der Wirtschaftswissenschaften, in der Politik nur beschränkten Einfluss haben. Damit zusammenhängend werden danach zahlreiche Forschungsergebnisse über den Graben zwischen ökonomischen Denkweisen und den Ansichten und Einstellungen von Nichtökonomen, also der überwiegenden Zahl der Menschen, präsentiert. Daraus lässt sich die institutionelle These ableiten, dass die direkten Volksrechte sowie der Föderalismus Liberalisierungen behindern und für eine vielfältige Politisierung der Volks12
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Zur Einstimmung
wirtschaft hauptverantwortlich sind. In Teil III werden beispielhaft zehn der gewichtigsten Bereiche wirtschafts- und sozialpolitischer Aktivität kritisch unter die Lupe genommen. Der Fokus liegt dabei auf dem übermässigen Einfluss der Politik bzw. auf der Missachtung ökonomischer Erkenntnisse in Bezug auf Marktverzerrungen, Effizienzverluste und Fehlanreize. Teil IV schliesst das Buch mit einem Aufruf für mehr «economic literacy» ab, um den Graben zwischen Politik und Volk einerseits und den Ökonomen andererseits zu verkleinern. Dass Ökonomen in diesem Projekt selbst eine grössere Rolle spielen sollten als bisher, gipfelt in dem Aufruf «Ökonomen an die Front!».
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Teil II Die Politik, das Volk und die Ökonomen
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4 Politik und Wissenschaft – unterschiedlich codiert
«Mir ist bekannt, dass es schwierig ist, politische Entscheidungen immer auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen ... Aber wenn wissenschaftliche Erkenntnisse nicht genutzt werden, ist es die Pflicht der Politiker, zu erklären, warum diese Erkenntnisse keine Berücksichtigung finden.» Anne Glover, bis 2014 Chief Scientific Advisor der Europäischen Kommission
«... economics is not a dismal science because the economists like it that way; it is because in the end we must submit to the tyranny not just of the numbers, but of the logic they express.» Paul Krugman, Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2008
Wer sich mit den Erkenntnissen des verstorbenen deutschen Soziologen und Systemtheoretikers Niklas Luhmann beschäftigt hat, wird mitbekommen haben, dass die Funktionssysteme Politik und Wissenschaft unterschiedlich codiert sind. Beide erfüllen nach ihrer je eigenen Logik eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Auf den Punkt gebracht folgt daraus, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in der Politik nur dann nützlich sind, wenn sie der Erringung, Steigerung oder Erhaltung der Macht dienen.
Grüne Gentechnik? Nein danke! – Trotz NFP 59 Das war im September 2012 bei der parlamentarischen Abstimmung über die Verlängerung des Moratoriums für das Inverkehrbringen von GVO-Pflanzen wohl nicht der Fall. Am 28. August 2012 hatte der Schweizerische National53
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Die Politik, das Volk und die Ökonomen
fonds (SNF) in einer Medienmitteilung den Abschlussbericht des Nationalen Forschungsprojekts 59 (NFP 59) über den Nutzen und die Risiken der Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen angekündigt. Gemäss der Website des NFP 59 sollte das Projekt primär die Frage klären, «inwieweit die grüne Gentechnik einen Beitrag zu einer nachhaltigen Landwirtschaft in der Schweiz leisten kann, ob also aus Sicht des Umweltschutzes, der Landwirte sowie der Gesellschaft der Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen in der Schweiz von Nutzen sein könnte». Dabei waren auch die Risiken der grünen Gentechnik zu beurteilen. Einige Tage später war die Programmsynthese auf der Website des NFP 59 abrufbar (Programmsynthese des Nationalen Forschungsprogramms 59, 2012). Dort stand einleitend, das NFP 59 habe die weltweit verfügbare Fachliteratur ausgewertet. Obwohl die grüne Gentechnik schon seit rund 15 Jahren in der Landwirtschaft eingesetzt werde und bis jetzt keine nachteiligen Wirkungen auf Umwelt und Gesundheit wissenschaftlich nachgewiesen werden konnten, gelte sie in der Schweizer Bevölkerung noch immer als neue und risikobehaftete Technologie. Das aufwendige Projekt bestätigte damit bloss, was aus unzähligen Studien bereits bekannt war. Es gibt keine wissenschaftlich nachgewiesenen Risiken, weder durch den Verzehr beim Menschen noch in der Umwelt. Im Gegenteil: Die grüne Gentechnik zielt auch auf die Schonung der Umwelt in der Nahrungsmittelproduktion und auf einen Zusatznutzen für die Gesundheit von Mensch und Tier. An diesen Grundaussagen änderte der unverständliche, wohl aus politischen Gründen auf die Schweiz eingeengte Fokus des Projekts nichts. Alle wichtigen Medien berichteten über die Ergebnisse des NFP 59. Zwei Wochen nach der Publikation der Programmsynthese stimmte der Nationalrat mit 122 zu 62 Stimmen der zweiten Verlängerung des seit 2005 bestehenden GVO-Moratoriums um weitere vier Jahre bis Ende 2017 zu. Die unheilige Rechts-links-Allianz aus dem grossen Lager der Agrarprotektionisten und dem ideologisch stramm geeinten linken Anti-GVO-Block hatte leichtes Spiel, insbesondere weil man sich auf die GVO-kritische Stimmung in der Bevölkerung berufen konnte. Der Einfluss der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem NFP 59 auf die Abstimmung war gleich null. Die Ja-Mehrheit war sogar noch deutlicher als bei der Abstimmung über die erste Verlängerung drei Jahre zuvor. Den Vorschlag zur Verlängerung des Moratoriums hatte der Bundesrat gemacht, der in der Volksabstimmung von 2005 noch mit nüchtern-rationalen Argumenten gegen ein Moratorium angetreten war. Man müsse die Sorgen und Ängste der Bevölkerung ernst nehmen, lautet die rituelle 54
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Politik und Wissenschaft – unterschiedlich codiert
Floskel des politischen Führungspersonals. Die politische Elite hätte aber auch eine Pflicht zur Aufklärung. Wenn die Politiker dieser Pflicht nicht nachkommen, könnten die meinungsprägenden Medien einspringen. Dies wird dadurch erschwert, dass die öffentlich-rechtlichen SRG-Kanäle als Service-public-Anbieter politischer Information dem Zwang zur politischen Ausgewogenheit unterliegen und deshalb stets die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse berücksichtigen müssen, auch zum Schaden wissenschaftlicher Objektivität. Im September 2012 veranstaltete das öffentlich-rechtliche Deutschschweizer Radio DRS1 (heute SRF1) eine Sendung zu dem Thema GVO in der Nahrungsmittelproduktion. Der Moderator verwies auf den Graben zwischen den Erkenntnissen des NFP 59 und der unverändert ablehnenden Einstellung der breiten Bevölkerung. Eine Hörerin meldete sich per Telefon und forderte, man müsse auch die GVO-kritischen Studien berücksichtigen. Dass im NFP 59 über 1000 wissenschaftlich ernst zu nehmende Studien einbezogen worden waren, war der engagierten GVO-Gegnerin nicht geläufig. Dem Moderator wohl auch nicht, sonst hätte er die Hörerin darüber freundlich aufklären können. Allerdings war gut zu spüren, wie er unter dem Zwang zur politischen Ausgewogenheit bestrebt war, ja nicht den Eindruck zu erwecken, er nehme Partei. Nun ist es jedoch schlicht absurd, den laienhaften Meinungen von uninformierten Menschen den gleichen Stellenwert zuzugestehen wie den Erkenntnissen der aufwendigen Untersuchung von Wissenschaftlern. Wenn die SRG- Medien unter dem Diktat der politischen Ausgewogenheit einfach nur das jeweils aktuelle Meinungsspektrum abzubilden versuchen, verletzen sie in einer aufgeklärten Gesellschaft ihre Informationspflicht. Mit der Gleichstellung aller Meinungen, unabhängig von ihrer Quelle und der erfahrungsmässigen und methodischen Fundierung, fördern sie einen Relativismus, der die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse abwertet und schlechter Politik Vorschub leistet. Fundamentalistische Positionen, die latent im Konflikt mit anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen, belasten den politischen Alltag. Dabei werden im Volk verbreitete Ängste bedient. Die stark moralisch aufgeladene Ablehnung der grünen Gentechnik oder der Kernenergie sind nur zwei von vielen Beispielen. Zu erwähnen wäre auch der Streit um die Aufnahme von Naturheilverfahren ohne wissenschaftlichen Wirkungsnachweis in den Leistungskatalog der obligatorischen Grundversicherung. Auch das Thema Elektrosmog beim Mobilfunk erhitzt in der Schweiz viele Gemüter. Dabei hat die Schweiz für Mobilfunkantennen vielfach geringere Grenzwerte als die EU. 55
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Die Politik, das Volk und die Ökonomen
Nehmen die Behörden damit etwa Rücksicht auf besonders sensible Personen, bei denen schon der Anblick einer Mobilfunkantenne Beschwerden auslöst, wie in dem folgenden Leserbrief geschildert? Eingebildete Strahlenbelastung Bei mir in der Nachbarschaft wurde vor gut zehn Jahren ein Swisscom-Mast auf einem Fabrikgebäude errichtet. Kaum stand er, litt die Frau unseres Quartiervereinspräsidenten, die in Sichtweite wohnte, plötzlich an Hitzewallungen, Kopfschmerzen, nächtlichen Schweiss ausbrüchen usw. Sie sammelte dann eifrig Unterschriften von weiteren Betroffenen, zum grössten Teil ebenfalls Damen um die 50, und übergab schliesslich der Swisscom eine geharnischte Petition. Das Unternehmen bedankte sich und wies darauf hin, dass der Mast erst in gut einem halben Jahr den Betrieb aufnehmen würde. Seitdem ist es bei uns zum Glück ruhig geworden um das Thema Elektrosmog. Peter Zürcher Quelle: Unbekannt, aus der Schweizer Tagespresse.
Immer mehr setzt sich in der Politik, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Ethikkommissionen, eine extreme Auslegung des Vorsorgeprinzips durch. Nicht alle professionellen Ethiker teilen diesen Extremismus. «Ich bin nicht besonders glücklich mit dem bei uns geltenden Vorsorgeprinzip …», sagte Effy Vayena, Professorin am Institut für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich in einem Gespräch mit der NZZ am Sonntag.
Unpopuläre Ökonomenstimmen So wie fundierte naturwissenschaftliche Erkenntnisse bei moralisch aufgeladenen Themen kaum einen Einfluss auf gefestigte Vorurteile haben, gibt es in der Bevölkerung und in der Politik auch beträchtlichen Widerstand gegen die Einsichten und Empfehlungen aus wirtschaftswissenschaftlichen Quellen. Dabei wird gerne argumentiert, die Sozialwissenschaften seien keine exakte Wissenschaft. Besonders beliebt ist das Argument, Ökonomen täuschten sich regelmässig bei ihren Prognosen über Wirtschaftswachstum, Inflation oder andere volkswirtschaftliche Makrogrössen. Viele Menschen, auch Journalisten, meinen offenbar, die Ökonomie als praktisch nützliche Disziplin bestehe vorwiegend aus Wirtschaftsprognosen, und da versage sie regelmässig. Was diese Kri56
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Politik und Wissenschaft – unterschiedlich codiert
tik übersieht, ist die Tatsache, dass die moderne Ökonomie als Wissenschaft des menschlichen Verhaltens stark mikroorientiert, also auf das Individuum bezogen, ist. Mithilfe eines realistischen Verhaltensmodells des Homo oeconomicus lassen sich sehr wohl vernünftige Prognosen über die Reaktionen der Menschen auf wirtschaftspolitische Massnahmen anstellen. Kritiker bemängeln auch gerne, dass sich Ökonomen in wirtschaftspolitischen Fragen oft widersprächen. Diese Kritik verkennt, dass sich Ökonomen in entscheidenden Grundfragen, etwa zu den Ursachen von Wachstum und Wohlstand, auch schon einiger waren als in der jüngeren Krisenzeit. So schrieb Paul Krugman, der US-amerikanische Träger des Wirtschaftsnobelpreises von 2008, der in den USA als «liberal» (das heisst dort links stehend) gilt, vor mehr als 20 Jahren zum wirtschaftlichen Aufstieg der asiatischen Tigerstaaten mit ihren hohen Wachstumsraten: «If there is a secret to Asian growth, it is simply deferred gratification, the willingness to sacrifice current satisfaction for future gain. That’s a hard answer to accept, especially for those American political intellectuals who recoil from the dreary task of reducing deficits and raising the national savings rate» (Krugman, 1994). «Deferred gratification» und «reducing deficits» – das klingt doch wohl eher konservativ, und so könnte auch ein sogenannter neoliberaler Ökonom Krugmans Aussagen Wort für Wort unterschreiben. Allerdings gehört Krugman heute zusammen mit Joseph Stiglitz, einem anderen Nobelpreisträger, zu einer Gruppe von neokeynesianischen Makro ökonomen, welche die enorme Geldschwemme der Zentralbanken zur Überwindung von Schuldenkrise und Wachstumsschwäche ausdrücklich befürworten. Mit «deferred gratification» und «reducing deficits» bzw. tief greifenden strukturellen Reformen hat dies selbstverständlich nichts mehr zu tun. Krugman und Stiglitz stehen damit im Gegensatz zu gewichtigen ökonomischen Gegenmeinungen, die vor den längerfristigen Folgen des aktuellen Krisenmanagements durch die Notenbanken warnen und die Ansicht vertreten, dass das extreme «monetary easing» zur Beseitigung der strukturellen Krisenursachen nicht nur nichts beitrage, sondern die Probleme sogar noch verschärfe. Nicht zuletzt wegen solcher Meinungskonflikte betrachten nicht wenige Leute Ökonomen immer noch als Vertreter einer «dismal science», also einer trostlosen Wissenschaft. Dieses abwertende Urteil geht auf den US-amerikanischen Historiker Thomas Carlyle zurück, der Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die Aufhebung der Sklaverei kämpfte, weil er überzeugt war, dass es den Schwarzen schlechter ginge, wenn sie gleichberechtigt wären. Viele Menschen 57
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Die Politik, das Volk und die Ökonomen
verkennen, dass der wissenschaftliche Wettbewerb in der Ökonomie zu einer selbstkritischen Beschäftigung mit der eigenen Disziplin geführt und dadurch grosse Erkenntnisfortschritte ermöglicht hat. Davon könnte die Gesellschaft besser profitieren, wenn ökonomische Denkansätze stärker verbreitet wären. Diese sind in der Politik jedoch oft nicht populär. So sind zum Beispiel in wohlfahrtstaatlichen Demokratien mit einem Wachstumsprogramm unter dem Slogan «deferred gratification» kaum Wahlen zu gewinnen. Bekanntlich waren besonders die opportunistischen Politiker der hoch verschuldeten Problemländer bei ihren auf Gegenwartskonsum fixierten Wählern genau mit der gegenteiligen Strategie erfolgreich: kreditfinanzierter Konsum und wohlfahrtsstaatliche Expansion durch Verschuldung auf Kosten künftiger Generationen. Solche Entwicklungen werden ausserhalb der westlichen Welt als Symptome westlicher Dekadenz wahrgenommen.
Nobelpreise für die trostlose Wissenschaft Unter den Sozialwissenschaften ist diese «dismal science» dank ihrer laufend verbesserten theoretischen und empirischen Fundierung die methodisch wohl am weitesten entwickelte Disziplin. Dies hängt auch damit zusammen, dass mit der Einführung des Wirtschaftsnobelpreises durch die Schwedische Reichsbank im Jahre 1969 die Wirtschaftswissenschaften gleichsam in den Kreis der olympischen Geistessportarten aufgenommen wurden. Analog zum Sport bedeutet dies mehr Mittel, eine höhere Attraktivität für den akademischen Nachwuchs, stärkere Leistungsanreize, mehr Wettbewerb und bessere Forschungsleistungen. Mit dem Fortschritt der Mittel und Methoden sowie dank eines immer wirklichkeitsnäheren Modells menschlichen Handelns haben sich Ökonomen auch neuer Themen angenommen, mit denen sich traditionell andere Wissenschaften beschäftigen, und sie haben damit den Vorwurf eines «economic imperialism» provoziert. Die Grenzen zu anderen Forschungsdisziplinen sind aber in beiden Richtungen durchlässig. Wesentliche Beiträge zum Fortschritt der ökonomischen Forschung stammen aus anderen Disziplinen, etwa aus der Psychologie als Inspirationsquelle für die Verhaltens ökonomie. Insbesondere Mathematiker haben die Wirtschaftswissenschaften befruchtet, so zum Beispiel Alvin Roth und Lloyd Shapley, die beiden Träger des Wirtschaftsnobelpreises von 2012. Sie erhielten den Preis für ihre spieltheoretisch fundierten Forschungen zur praktischen Gestaltung funktionierender Märkte unter dem Titel «market design».
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Politik und Wissenschaft – unterschiedlich codiert
Ökonomie zu 80 Prozent Weltanschauung? In öffentlichen Auftritten verkündet der frühere SP-Nationalrat und Preisüberwacher Rudolf Strahm, selbst Ökonom, gerne sein Credo: Die Ökonomie sei bloss zu 20 Prozent Wissenschaft, zu 80 Prozent aber Weltanschauung. Das hören Nichtökonomen natürlich gern. Mit einer solchen Abwertung zielt Strahm auch darauf ab, seinen ökonomisch argumentierenden Widersachern den Teppich unter den Füssen wegzuziehen. Die Leute folgern: Wenn Ökonomie zu 80 Prozent Weltanschauung ist, kann man die Argumente von Strahms Widersachern auch nicht ernst nehmen. Die Koketterie Strahms mit der wissenschaftlichen Reputation der eigenen Zunft steht in scharfem Gegensatz zum Zitat von Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman am Anfang dieses Kapitels, der wie Strahm als politisch linker Ökonom gilt. Immerhin hat Strahm nicht ganz unrecht, doch das Verhältnis 80 zu 20 ist polemisch überspitzt. Fakt ist: Drei Forscher der Columbia University und der New York University untersuchten die ideologische Färbung der Papiere von 1800 Mitgliedern in der US-amerikanischen Ökonomenvereinigung. Empirische Schätzungen über die Folgen von Steuererhöhungen fielen bei als links eingestuften Ökonomen signifikant weniger negativ aus als bei rechten Ökonomen (NZZ vom 13. Dezember 2014). Die Frage ist nun, welche der beiden Ökonomengruppen stärker ideologisch geprägt ist. In der akademischen Welt dominiert eine Mainstream-Monokultur, die klar nach links neigt. Auch Ökonomen sind in diesem Klima einem Gruppendruck ausgesetzt.
Die meisten Menschen glauben, die Wirtschaftswissenschaften definierten sich durch ihren Gegenstand wie Geld, Kapital, Güterproduktion und Gütermärkte, Aussenhandel, Unternehmensführung usw. Das ist ein Missverständnis, denn die Ökonomie ist primär durch ihre Methode(n) bestimmt. Sie betreibt eine möglichst datenbasierte Analyse von gesellschaftlichen Fragen bzw. die Überprüfung von Hypothesen zu deren Erklärung, um daraus praktische Folgerungen zu ziehen. Der Kreis möglicher Themen ist breit. Dabei benützen Ökonomen das Menschenbild des Homo oeconomicus, aber nicht in seiner reinen Version des viel gescholtenen kalten Nutzenmaximierers, dessen egoistisches Verhalten sich gleichsam mathematisch voraussagen liesse. Wegleitend ist eine vermenschlichte Variante des rationalen Individuums, das zwar auf Anreize reagiert, um seine Interessen zu wahren, das sich aber nicht stur nutzenmaximierend verhält und auch zu altruistischen Regungen neigen kann.
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Die Politik, das Volk und die Ökonomen
Unter Zynismusverdacht Praktisch relevante Ökonomie ist vor allem eine Wissenschaft vom menschlichen Verhalten unter besonderer Beachtung der wirksamen Handlungsanreize. Sie beurteilt die Menschen nach ihrem tatsächlichen Verhalten (Stichwort «revealed preference»), nicht nach schön klingenden Deklamationen in Diskussionen oder Befragungen. Ökonomen reagieren deshalb skeptisch gegenüber allem, was deklamatorisch im Namen des Guten daherkommt. Mit dieser Haltung geraten sie leicht in Konflikt mit dem verbreiteten Moralismus in der Politik, und das bringt sie unter Zynismusverdacht. Viel zu wenig wird in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen, dass praktisch alle Fortschritte hin zu einer Wissenschaft, die auf einem möglichst realistischen Bild des Menschen und seiner Handlungen auf den Märkten und in der Politik beruht, aus der Ökonomie selber stammen. Stichwörter dazu wären etwa externe Effekte, öffentliche Güter, Informationsasymmetrien oder Fehlanreize durch «moral hazard». So ist zum Beispiel die Problematik von Umweltbelastungen oder der Übernutzung von Ressourcen nicht von Umwelt aktivisten entdeckt worden, sondern dieses Thema ist seit Jahrzehnten ein wichtiger Untersuchungsgegenstand der ökonomischen Forschung. Der Blick der Ökonomen ist heute mehr als früher auf das Individuum und seine Verhaltensweisen unter bestimmten Anreizbedingungen und in Be ziehungen zu anderen Personen gerichtet. Der Fortschritt quantitativer Methoden erlaubt eine immer bessere Mikrofundierung von Makrothemen wie Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand. Diese neuen Entwicklungen haben auch die Erkenntnisse über die Bedingungen wirtschaftlichen Fortschritts verändert. Setzte man früher aufgrund des mechanistischen neoklassischen Wachstumsmodells primär bei Makrogrössen wie Ersparnissen, Konsum, Kapital, Investitionen und Beschäftigung an, spielen heute Institutionen wie geschützte private Eigentumsrechte, Vertragsfreiheit, vernünftige staatliche Regulierungen und funktionierende Märkte eine zentrale Rolle. Günstige institutionelle Bedingungen wirken auf das Verhalten der einzelnen Menschen positiv, fördern deren Leistungsbereitschaft sowie den Mut zum unternehmerischen Risiko und schaffen damit die Voraussetzungen für Innovation und wirtschaftlichen Erfolg. Daraus lassen sich die Kriterien ableiten, an denen auch die Zukunftsfähigkeit des Erfolgsmodells Schweiz mit seinen Sonderfall institutionen zu messen ist.
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Teil IV Der lange Weg zu mehr Markt
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17 «Economic literacy» als Bildungsauftrag
«I don’t care who writes a nation’s laws if I can write its economics textbooks.» Tilman Slembeck, Professor für Ökonomie an der ZHAW und Blogger
Aufgrund langjähriger Erfahrungen mit den Mechanismen des politischen Systems und den typischen Verhaltensweisen der politischen Akteure bin ich wenig zuversichtlich, dass die Schweiz in absehbarer Zeit eine Wende hin zu einer marktfreundlicheren Wirtschaftspolitik der Entstaatlichung und des Regulierungsrückbaus vollziehen wird. Auch das Stimmvolk, der allmächtige Souverän, ist weit davon entfernt, die Schweiz in ein Musterland von Frei handel und marktwirtschaftlichen Reformen verwandeln zu wollen. Als symptomatisch für die verbreiteten Meinungen sei hier nur das bemühende Gezerre um die sogenannten Gegengeschäfte bei den Verhandlungen um die Beschaffung des schwedischen Kampfflugzeugs Gripen erwähnt. Bis auf den letzten Franken sollte das Auftragsvolumen mit schwedischen Aufträgen für die Schweizer Wirtschaft kompensiert werden – dazu noch föderalistisch ausgewogen über das Land verteilt, Mehrkosten hin oder her. Damit hoffte man – völlig zu Recht, wenn auch vergeblich – im Referendum gegen die Gripen-Beschaffung genügend Stimmen für die Beschaffungsvorlage zu gewinnen. Dass dies in einem Land mit dem weltweit wohl höchsten ProKopf-Überschuss in der Handels- und Leistungsbilanz ein derart dominierendes Thema werden konnte und weder in der Politik noch in den Medien kritisch kommentiert wurde, spiegelt nicht zuletzt auch die ökonomisch unbedarfte Denkweise der Bevölkerung. Es sollte allerdings nicht verwundern, dass es im Volk an Vertrautheit mit ökonomischen Denkkonzepten fehlt, denn bisher verliessen unsere Schulabgänger die Schule nach der obligatorischen Schulzeit als ökonomische Anal223
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Der lange Weg zu mehr Markt
phabeten. So habe ich zum Schluss nichts weiter anzubieten als einen Aufruf, die ökonomische Grundbildung zu einem vordringlichen Bildungsziel zu machen. Wenn man bedenkt, dass die mündige schweizerische Bevölkerung pro Jahr drei bis vier Mal zur Urne gerufen wird, um über verschiedenste Vorlagen zu befinden, die in vielen Fällen von wirtschaftlicher Tragweite sind, braucht man ein Bedürfnis nach mehr «economic literacy» kaum weiter zu begründen. Besonders politisch interessenungebundene Ökonomen haben in diesem langfristigen Projekt eine besondere Verantwortung, sich vermehrt öffentlich wahrnehmbar zu engagieren.
Verbreitete «economic illiteracy» Die durch Umfragen belegte ökonomische Inkompetenz der Bevölkerung wird in angelsächsischen Ländern unter dem Begriff «economic illiteracy» abgehandelt. Wörtlich übersetzt bezeichnet der Begriff «illiteracy» Analphabetentum, also völliges Unwissen, Inkompetenz oder, noch stärker, Ignoranz. Damit gelangen wir ein zweites Mal zum bereits früher kommentierten Zitat des schwedischen Professors Hans Rosling, Gründer des Stockholmer Gapminder-Instituts: «The problem is not ignorance, but preconceived ideas.» Zur Erinnerung: Rosling wies anhand eines einfachen Experiments mit Studenten nach, dass «preconceived ideas» weniger korrekte Antworten produzieren als «ignorance». Die befangenen Studenten erzielten signifikant schlechtere Ergebnisse als der unwissende Zufallsgenerator «Schimpanse». Wenn selbst gut informierte Menschen befangen sind, bedeutet das nichts anderes, als dass die Informationen, auf denen ihre Meinungen beruhen, verzerrt sind. Vorgefasste Meinungen stellen in der Politik ein grosses Problem dar, weil sie eine schlechte Politik begünstigen. Das in Kapitel 1 zitierte Buch The Myth of the Rational Voter von Bryan Caplan handelt von den «preconceived ideas» der breiten Bevölkerung in Bezug auf die Wirtschaftspolitik. Caplan beklagt einen statistisch erhärteten «systematic bias» gegen den Markt und für staatliche Eingriffe. Er führt aufgrund seiner Untersuchungen als Wählermodell den nicht egoistischen, inkompetenten Wähler ein. Dieser neigt zu einer sozialen Haltung im Sinne von staatlicher Regulierung und Umverteilung, weil er die Folgen der Politik, die er damit vertritt, gar nicht richtig einschätzen kann oder will. Die volkswirtschaftlichen Kosten, die seine einzelne Stimme zugunsten einer schlechten Politik verursacht, werden vom Nutzengewinn auf der emotionalen Seite weit übertroffen.
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«Economic literacy» als Bildungsauftrag
In der Schweiz an der politischen Vernunft des Stimmvolks zu zweifeln, grenzt an Blasphemie. Vernunft misst sich natürlich nicht daran, ob das Volk so entscheidet, wie ich selbst es für richtig halte. Vielmehr geht es um das Verhältnis zwischen Emotionalität (Bauchentscheidung, nicht selten angereichert mit Ressentiments) und Rationalität (nüchtern reflektierte, informierte Entscheidung) bei den Abstimmungsmotiven. Die heutigen Trends sind wenig ermutigend. Stichworte dazu sind die Polarisierung und, damit einhergehend, die Emotionalisierung. Auch die Veränderungen in der Medienwelt zeigen diesen Trend in der Politik. Der Konsum von «soft news» des Boulevardjournalismus nimmt Jahr für Jahr zu, begleitet von einem gleichzeitigen Rückgang, vertieft berichtende Informationsmedien zu nutzen. Die wachsende Emotionalisierung der politischen Debatte fördert ein Klima diffuser Ängste vor schwierig einzuschätzenden Risiken. Dadurch erhalten fundamentalistische Strömungen Auftrieb. Diese treten organisiert in politischen Bewegungen auf, die aus einer Position der moralischen Selbstüberhöhung eine Art politische Theologie betreiben. Sie beanspruchen, bezüglich bestimmter Probleme im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Solche Fundamentalismen münden in die bekannten absoluten Nein-danke-Forderungen wie «Atomkraft – nein danke» oder «Gentechnik – nein danke». Die Folgerung daraus ist für die Demokratie als Staatsform des Kompromisses brisant: Fundamentalisten kennen keinen Kompromiss, denn das wäre Verrat an der heiligen Sache. Auch am rechten Pol des politischen Spektrums gibt es Anflüge von politischer Theologie, zum Beispiel wenn der Nationalstaat, der Volkswille oder die Neutralität mythisch überhöht werden. Entsprechend kompromisslos sind auch hier die politischen Standpunkte zu bestimmten Themen. Wie rational das Stimmvolk in Abstimmungen entscheidet, ist aus den VOX-Analysen ersichtlich. Allerdings lassen einen die Ergebnisse von Volksabstimmungen etwas ratlos zurück. Die deutliche Ablehnung von klar sozialistischen, die Wirtschaftsfreiheit tangierenden Initiativen der jüngeren Zeit lassen auf ein nüchtern abwägendes Urteil schliessen. Ein wirtschaftspolitischer Schuss in den eigenen Fuss wie die von der sozialistischen französischen Regierung 1997 eingeführte 35-Stunden-Woche hätte in der Schweiz beim Volk keine Chance, sonst hätten linke Kreise längst eine Initiative lanciert. Untersucht man aber anhand von VOX-Analysen die Abstimmungsmotive bei anderen Volksentscheiden, etwa die Begründungen der Befürworter des Referen dums von 2010 gegen die Senkung des Umwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge, beschleichen einen doch gewisse Zweifel. Eine Umfrage der AXA-Versicherung zeigte, dass nur jeder zweite Schweizer nachvollziehen 225
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Der lange Weg zu mehr Markt
konnte, wie sich die Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent auswirken würde. Trotzdem stimmten wir im Rentenklau-Referendum von 2010 darüber ab. 11 Prozent Nein statt Ja Die VOX-Analysen von Volksabstimmungen decken regelmässig die Wissens- und Verständnisdefizite der Wähler auf, ohne dass diese Einsichten den Mythos vom mündigen Stimmvolk erschüttern würden. In einer früheren Volksabstimmung wurde eine Volksinitiative über ein Moratorium für Atomkraftwerke nur deshalb abgelehnt, weil 11 Prozent der Wähler die Frage verkehrt verstanden hatten und mit Nein stimmten, obwohl sie mit Ja stimmen wollten. 4 Prozent stimmten umgekehrt verkehrt, doch die Differenz von 7 Prozent genügte, um die Vorlage ins Nein zu kippen. In einer anderen Abstimmung im Jahr 1990 über die sukzessive Stilllegung der Atomkraftwerke bis etwa im Jahr 2030 meinte ein Drittel der Wähler, es gehe um eine sofortige Abschaltung der Atomkraftwerke, was selbstverständlich ihr Stimmverhalten beeinflusste.
Zur Ehrenrettung des Souveräns ist anzufügen, dass Defizite an «economic literacy» auch in höheren Sphären, etwa unter Angehörigen der politischen Elite, vorkommen. Peter Buomberger, früher Chefökonom der damaligen Schweizerischen Bankgesellschaft (SBG) und aktuell Senior Economist bei Avenir Suisse, erklärte mir vor Jahren, wie schwierig es sei, selbst Regierungsmitgliedern ökonomische Denkkonzepte zu vermitteln. Als CVP-Mitglied und als Berater hatte er seine Erfahrungen mit den damaligen CVP-Bundesräten und Juristen Flavio Cotti und Arnold Koller gemacht. Doch vielleicht sind Politiker gleichsam berufsbedingt gegen ökonomisches Denken immun, weil sich dieses oft so schlecht mit den Vorstellungen vom politisch Opportunen verträgt.
Erschwerter Bildungsauftrag Der eingangs zitierte bloggende Wirtschaftsprofessor Tilman Slembeck scheint mir doch etwas sehr optimistisch, wenn er meint, es genüge für eine bessere ökonomische Grundbildung und, daraus folgend, für eine bessere Wirtschaftspolitik, wenn er als Ökonom die wirtschaftlichen Lehrmittel verfassen könne. Ein Lehrmittelprojekt braucht zunächst einmal Auftraggeber. Im Falle der Bildung sind es die staatlichen und staatsnahen Bildungsexperten, welche die 226
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Der Autor
Hans Rentsch, Dr. rer. pol., Jahrgang 1943, arbeitete nach dem Ökonomiestudium an der Universität Bern zunächst in verschiedenen Funktionen in der Privatwirtschaft, später als selbstständiger Organisations- und Strategieberater für Firmen im In- und Ausland. Ab 1999 war er Aktionär und geschäftsführender Verwaltungsrat, von 2003 bis 2008 VR-Präsident der Zürcher Capital-Info.Net AG (später IFIT AG), einem Entwickler und Betreiber von elektronischen Börsenplattformen. Parallel dazu leitete er ab 2001 bis 2008 im Auftrag des Think-Tanks Avenir Suisse mehrere Projekte und wirkte dort als Autor und Co-Autor von Buch- und Medienpublikationen zu den Schwerpunkt themen Wirtschaftswachstum und Institutionen, Unternehmenssteuern und Agrarpolitik. Heute ist Hans Rentsch freier Wirtschaftspublizist zu polit- ökonomischen Themen und Vorstandsmitglied des im Sommer 2016 gegründeten Think-Tanks Carnot-Cournot-Netzwerk.
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Das Buch geht der Frage nach, wie viel Markt und Wettbewerb im Interessengeflecht der schweizerischen Politik zustande kommen können. Es gewährt Einblick in Denkmuster der ökonomischen Wissenschaft und relativiert den populären Vorwurf, Ökonomen seien sich nie einig, weshalb man ihrem Rat auch nicht vertrauen könne.
Hans Rentsch
Hans Rentsch beobachtet seit über 30 Jahren die Schweizer Wirtschaftspolitik. Nun zieht er Bilanz.
Wie viel Markt verträgt die Schweiz?
In der Schweizer Politik hat der Rat des Ökonomen zu mehr Markt oft wenig Gewicht. Direkte Volksrechte und Föderalismus scheinen zu bewirken, dass auch Bereiche, die nach ökonomischer Logik in die Markt- und Privatsphäre gehören, kollektiven Beschlüssen und staatlicher Kontrolle unterworfen bleiben. Liberalisierungen ohne ausländischen Druck sind rar.
Hans Rentsch
Ökonomische Streifzüge durchs Demokratieparadies
ISBN 978-3-03810-238-0 ISBN 978-3-03810-238-0
9 783038 102380
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro