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Der Schweizer Umgang mit der Corona-Pandemie
Der Schweizer Umgang mit der Corona-Pandemie
Anmerkungen 1 Staub, Kaspar et al.: «The ‹Pandemic Gap›» in Switzerland across the 20th Century and the Necessity of Increased Science Communication of Past Pandemic Experiences, in: Swiss Medical Weekly (2020). https://smw.ch/op-eds/post/the-pande mic-gap (Zugriff: 24.8.2021). 2 Vgl. dazu Rühli, Frank et al.: «Do not call it COVID-19, it might have been the second wave», in: Medical Hypotheses 144 (2020). https://doi.org/10.1016/j.mehy.2020.11 0285.
Marianne Hochuli
I. Armut und prekäre Lebenssituationen werden sichtbar
Menschen stehen in Schlangen stundenlang für Essen an. Dieses Bild, das bis anhin mit ärmeren Ländern in Verbindung gebracht wurde, erschien nun auch in der reichen Schweiz. Es erschütterte die vielerorts herrschende Gewissheit, dass in der Schweiz mindestens die Notversorgung für alle garantiert sei. Ein Bild vermochte der breiten Öffentlichkeit vor Augen zu führen, dass auch wir in der Schweiz ein Armutsproblem haben. Eigentlich ist dies längst bekannt. Das Bundesamt für Statistik veröffentlicht seit über einem Jahrzehnt regelmässig Armutszahlen: 735 000 Menschen lebten 2019 offiziell unter der Armutsgrenze, davon 115 000 Kinder, und jede fünfte Person kann eine Rechnung von 2500 Franken nicht innerhalb eines Monats bezahlen.1 Das Bild mit den für Essen anstehenden Menschen zeigt also nur die Spitze des Eisbergs von prekären Lebenslagen, die nun immer deutlicher zutage treten. Die Coronakrise hat die Armut in der Schweiz sichtbar gemacht und weiter verschärft.
II. Nichtregierungsorganisationen nehmen zentrale Rolle in der Unterstützung wahr
Unmittelbar nach Beginn des ersten Lockdowns stiegen bei Hilfswerken die Anfragen um Informationen für finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten und konkrete Hilfegesuche sprunghaft an. Die Hilferufe waren auch dann nicht rückläufig, als der Bundesrat staatliche Unterstützungsmassnahmen ankündigte, die er laufend erweiterte. Auf den ersten Blick schien
Die Schweiz nach der Pandemie – die Perspektive einer Nichtregierungsorganisation
sich der Sozialstaat Schweiz zu bewähren und gab vielen Menschen Hoffnung, die Krise überstehen zu können. Die Gesuche bei den Hilfswerken zeigten jedoch bald, dass viele prekäre Alltagssituationen nicht mitbedacht wurden, oder etwas auf den Punkt gebracht: Die Menschen mit kleinem Einkommen und ungesicherten Arbeitsverhältnissen wurden ganz einfach vergessen.
Einen umso grösseren Stellenwert bekam darum die Corona-Hilfe von privaten Organisationen, die wiederum nur dank der grossen Solidarität und Spendenbereitschaft der Schweizer Bevölkerung durchgeführt werden konnte. Damit bauten die Organisationen in kürzester Zeit – oft in diversen Partnerschaften – Nothilfestrukturen vor Ort auf oder dehnten bereits vorhandene Beratungsangebote aus. Sie berieten und unterstützten die Hilfesuchenden persönlich, was umso notwendiger war, als vielerorts die Schalter bei den öffentlichen Anlaufstellen geschlossen und nur noch online zugänglich waren. Dies bereitete vielen grosse Mühe. Sie waren verzweifelt und wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten. So agierten die privaten Organisationen noch mehr als sonst als Triagestellen und Scharnier zu den staatlichen Stellen. Je nach Kanton beteiligten sich allmählich auch der Kanton oder die Städte an der Finanzierung dieser sozialen Aktivitäten der Hilfswerke. Der Staat konnte in dieser Krise auf deren grosse Erfahrungen mit basisnaher Tätigkeit zählen.
III. Es klaffen Lücken im Sozialsystem
Das Hilfswerk Caritas führte seit dem Frühling 2020 schweizweit seine grösste Hilfsaktion für Armutsbetroffene durch. Seit über zwei Jahrzehnten mit der wachsenden strukturellen Armut in der Schweiz beschäftigt, genügte es ihm nicht, Hilfe vor Ort zu leisten. Er analysierte laufend seine Erfahrungen, um daraus sozialpolitische Erkenntnisse ziehen und an Politik und Öffentlichkeit gelangen zu können. Die private Corona-Hilfe wurde subsidiär geleistet, also nur an Personen, die keine staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen konnten. Wer konnte denn nicht auf die staatlichen Corona-Massnahmen zählen? Aus welchen Gründen? Welche Lücken zeigten sich im Sozialsystem?
Kultur und Gesellschaft
Der Grossteil der Menschen – viele Familien –, die Hilfe suchten, lebten bereits vor der Coronakrise in schwierigen finanziellen Verhältnissen. Sie zählen zu den Working Poor, die trotz Arbeit ihre Existenz nur mit Mühe bestreiten können. Oder sie arbeiten in tiefen Pensen, obwohl sie mehr arbeiten möchten. Hinter dieser Unterbeschäftigung, die mehr die Frauen betrifft, versteckt sich eine zunehmende Arbeitslosigkeit, die noch zu wenig wahrgenommen wird.2 Arbeitnehmende haben auch immer öfter Arbeit lediglich auf Abruf mit stark schwankenden Arbeitsstunden, und sie sind schlecht bezahlt. Die zuvor schon sehr prekären Arbeitsverhältnisse wirkten sich in der Coronakrise sofort aus und hatten akute finanzielle Probleme zur Folge. Angestellte wurden auf Kurzarbeit gesetzt oder verloren gar ihre Stelle. Die 80-Prozent-Entschädigung ihres bisherigen niedrigen Lohns reichte nicht mehr. Im Stundenlohn Angestellte erhielten weniger Arbeitseinsätze und Selbstständigen brachen die Aufträge weg. Viele verloren ihre kleinen Nebenverdienste, die geholfen hatten, sich über Wasser zu halten. Nun reichte das bereits vorher knappe Budget nicht mehr, um die Rechnungen bezahlen zu können.
Man hätte erwarten können, dass die Anmeldungen bei der Sozialhilfe explodieren würden. Dem war nicht so. Bis man sozialhilfefähig ist, braucht es viel. Oftmals ist ein zweijähriger Gang durch die Arbeitslosigkeit mit vermindertem Arbeitslosengeld nötig. Dies bedeutet nebst finanziellen Einbussen gerade für Menschen mit einem kleinen Bildungsrucksack vergebliche Stellensuchen mit immer neuen Absagen, wachsenden Zweifeln an sich selbst, eine immer grössere Existenzangst, an der auch die einem Nahestehenden leiden. Nie wurde deutlicher als in dieser Krise, dass die Sozialhilfe wirklich das letzte Sicherungsnetz ist. Eine schwerwiegende Versorgungslücke gibt es für alle, deren Einkommen knapp über der Grenze zur Sozialhilfe liegt. Viele Haushalte, die ihre Rechnungen für Miete, Krankenkassenprämien und Steuern kaum oder nicht mehr bezahlen können, benötigen ein Budget, das nicht zum Bezug von Sozialhilfe berechtigt. Der Bedarf eines Menschen im untersten Mittelstand liegt also noch einiges über der sehr tief definierten Armutsgrenze. Die Armutsgrenze richtet sich an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS aus und ist für viele Haushalte nachweislich zu tief und reicht nicht aus, um den grundlegenden Bedarf zu decken. Bestehen noch finanzielle Reserven, müssen diese vor