Simona Scarpaleggia: Die andere Hälfte. Frauen fördern für eine starke Wirtschaft

Page 1

Die andere Frauen fördern für eine starke Wirtschaft

simona scarpaleggia

nzz libro

UG_Scarpaleggia_DieAndereHälfte_U1_03_Vorschau.indd 1

01.04.19 11:58


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Other Half – Creating Gender-Balanced Teams for Sustainable Success bei LID Publishing Ltd. Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl © 2019 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG Lektorat: Ulrike Ebenritter Umschlag: ((xxx)) Gestaltung, Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: ((xxx)) Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungs­ anlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Ver­ vielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. ­Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-434-6 ISBN E-Book 978-3-03810-xxx-x

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.


INHALT

EINFÜHRUNG  7

TEIL 1 DIE SITUATION HEUTE UND WAS GETAN WERDEN MUSS

1 2 3 4

Der aktuelle Stand: Es ist noch viel zu tun  15 Die Haupthindernisse für die Gleichstellung  24 Gründe, das Potenzial der anderen Hälfte zu heben  34 Erfolg durch Geschlechterparität  43

TEIL 2 WIE SIE IHRE ORGANISATION FIT MACHEN FÜR DEN PARADIGMENWECHSEL – EINE REISE IN 5 SCHRITTEN

5 Schritt 1: Die Kosten-Nutzen-Analyse  51 6 Schritt 2: Die Hindernisse für eine integrative Kultur abbauen  66 7 Schritt 3: Wie Sie Strukturen ändern, um eine faire Rollenverteilung zu erzielen  78 8 Schritt 4: Wachstum durch Widerspiegelung des Kundenstamms  89 9 Schritt 5: Entfesseln Sie die weibliche Dimension  107


TEIL 3 SICH FÜR DAS POTENZIAL DER ANDEREN HÄLFTE ÖFFNEN

10 Wie sich immaterielle Werte in greifbare Gewinne verwandeln lassen  143 11 Frauen zu fördern kann die Welt verändern: Was Regierungen tun können  149 12 Frauen zu fördern kann die Welt verändern: Was Unternehmen tun können  161 13 Frauen zu fördern kann die Welt verändern: Was Männer tun können  167 14 Frauen zu fördern kann die Welt verändern: Was Frauen tun können  177

NACHWORT

Machen wir die Welt doch zu einem besseren Ort – für Männer wie Frauen  187

ANMERKUNGEN  191 DANK  195 DIE AUTORIN  197


EINFÜHRUNG

In diesem Buch geht es um Chancen. Es geht darum, wie Sie zum Vorreiter eines Paradigmenwechsels werden und für Ihr Unternehmen eine Win-win-Situation schaffen. Denn wir werden uns mit einer der aufregendsten und gewinnbringendsten Veränderungen in unserer Gesellschaft befassen: dem Aufstieg der Frauen. Es gehört zu den Eigenschaften erfolgreicher Unternehmensführer, mit radikalen Veränderungen von Märkten, Technologien und Kundenwünschen zurechtzukommen. Auf solche Umbrüche angemessen zu reagieren ist ein enorm wichtiger Teil ihres Auf­ gabenbereichs. Der Interpretation dieser Veränderungen folgt die Suche nach innovativen Lösungen, und zwar gemeinsam mit ihren Teams. Die Strategie, die sie dabei fahren, hebt sie am Ende von den Mitbewerbern ab. Aber bei den meisten Unternehmen gibt es einen ganz speziellen blinden Fleck, was den gesellschaftlichen Wandel angeht. Dieser blinde Fleck setzt sich zusammen aus Millionen verpasster Gelegenheiten. Verpasst deswegen, weil die Hälfte der potenziell zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte aussen vor gelassen wird. Die Hälfte der Bevölkerung ist weiblich, dennoch schaffen es nur 50 Prozent der Frauen, ein nennenswertes Einkommen zu erzielen. Von diesen wiederum nimmt nur ein verschwindend geringer Prozentsatz eine Führungsrolle ein. Und mehr als eine Mil­liarde Frauen weltweit führen immer noch ein Dasein, das von Missbrauch und Unterdrückung bestimmt ist, ob nun in politischer oder privater Hinsicht ! Obwohl die Statistik der Hochschulabschlüsse zeigt, dass Frauen gewöhnlich einen höheren Bildungs7


grad erreichen als Männer, finden Männer leichter Jobs und werden besser bezahlt. Es ist an der Zeit, dass die Unternehmensführer in aller Welt anfangen, Frauen als wertvolle Mitarbeiter zu sehen – nicht nur für das Wohl und Wehe der Gesellschaft, sondern auch, weil ihre Marken, ihre Unternehmenskultur und nicht zuletzt ihr Betriebsergebnis davon profitieren. Die Revolution hat ja längst begonnen. Mehr und mehr Unternehmen schreiben sich auf die Fahnen, dass sie als Minimalziel einen ausgeglichenen Fifty-fifty-Anteil von männlichen und weiblichen Mitarbeitern erreichen wollen, und zwar in nicht allzu ferner Zukunft. Zum ersten Mal in der Geschichte kamen im März 2017 vierzig CEOs in der Schweiz überein, eine Initiative der Organisation Advance – Women in Swiss Business zu unterstützen. Sie haben sich zu konkreten Massnahmen verpflichtet, um in ihren Unternehmen die Gleichbehandlung der Geschlechter voranzutreiben. Das war ein kleiner, aber bedeutender Schritt auf einem wichtigen Weg. Ein Jahr später, im März 2018, haben sich mehr als sechzig Schweizer Unternehmen zu weiteren konkreten Massnahmen verpflichtet, die dasselbe Ziel verfolgen. Für 2019 werden erneut steigende Zahlen erwartet. Dies ist ein klares Zeichen, dass die Sensibilität für diese Frage zunimmt und in relativ kurzer Zeit schon viel erreicht wurde. Die Anzahl von Frauen in Führungspositionen steigt allmählich. Regierungen in aller Welt bemühen sich, Gesetze abzuschaffen, die Frauen einschränken, und Unternehmen zu unterstützen, die einen ganzheitlicheren und integrativen Ansatz im Hinblick auf Geschlechter und Diversität im Allgemeinen verfolgen. Der Aufstieg der Frauen ist eine der tiefgreifendsten Umwälzungen unserer Zeit. Dieses Buch stellt Wege vor, wie Sie diesen Prozess bewusst annehmen und fördern können, bis sich die damit 8


verbundenen Veränderungen in der ganzen Gesellschaft durchgesetzt haben. Denn zunächst einmal ist die Gleichbehandlung der Geschlechter tatsächlich eine Frage der Menschenrechte. Frauenrechte gehören zu den unveräusserlichen Grundrechten, die die Vereinten Nationen in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 festgeschrieben haben. Dort heisst es ausdrücklich, dass jeder Mensch das Recht hat, ein Leben frei von Gewalt und Diskriminierung zu führen, Eigentum zu besitzen, eine Ausbildung zu erhalten, zur Wahl zu gehen und fair entlohnt zu werden. Das Streben nach Gleichbehandlung der Geschlechter ist also ein Schritt, der auf diesen Prinzipien gründet, ein Schritt zu einer besseren, gerechteren und nachhaltigeren Gesellschaft. Obwohl in dieser Hinsicht schon einige Erfolge erzielt wurden, ist die Gleichbehandlung von Männern und Frauen noch keineswegs Realität. Daher haben die Vereinten Nationen 2015 siebzehn Ziele für eine nachhaltige Entwicklung formuliert, die sich als Empfehlung für globalen Frieden und Wohlstand verstehen. Das fünfte Ziel nennt die Gleichstellung der Geschlechter in allen Ländern bis zum Jahr 2030. Aber es ist mittlerweile auch klar, dass die Gleich­behandlung der Geschlechter für jedes Unternehmen förderlich ist. Die Statistik zeigt, dass Unternehmen, die Frauen – ähnlich wie Männer – einbeziehen, wertschätzen und fördern, besser quali­fizierte und leistungsfähigere Teams bilden. Unternehmen, die Frauen mehr Karrierechancen bieten, haben ausserdem die Nase vorn, wenn es um die Entwicklung von Produkten für eine weib­liche Kundschaft geht. Auf diese Weise wachsen nicht nur Ruf und Prestige der Firma, sondern auch deren immaterielle Aktiv­ pos­ten. Denn solche Unternehmen tragen zur nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft bei und spielen eine aktive Rolle als verantwortungsbewusste Mitglieder der Gesellschaft. 9


In diesem Buch möchte ich aufzeigen, was Unternehmen tun können, um von der Integration weiblicher Mitarbeiter zu profi­ tieren. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen, wie Sie daraus konkret geschäftlichen Nutzen ziehen können, mit konkreten Mög­lichkeiten zur Schaffung eines integrativen Arbeitsumfelds und mit der Maximierung Ihrer immateriellen Aktivposten im Geschäftsumfeld. Ich werde auch kurz darauf eingehen, was auf individueller und politischer Ebene getan werden kann, um aus diesem Prozess Nutzen zu ziehen, ihn zu fördern und zu beschleunigen. Als Unternehmensführerin habe ich einen grossen Teil meiner Arbeit der Suche nach möglichen Strategien und Instrumenten für die Gleichstellung der Geschlechter und deren Umsetzung gewidmet. Dabei standen meine Vision für das Unternehmen und meine geschäftlichen Ziele stets im Vordergrund, ebenso wie die wirtschaftliche Vertretbarkeit dieser Massnahmen. In den letzten 35 Jahren habe ich viele grossartige Frauen kennengelernt, die mich teilhaben liessen an ihrem Karriereweg, ihren Bedürfnissen und Ängsten, aber auch an ihren Zielen und den Hindernissen, auf die sie stiessen. Ich tat mein Bestes, um zu begreifen, was sie antrieb. Und mir wurde klar, dass Unternehmen eine ganze Menge tun können, um ein Umfeld zu schaffen, in dem das Potenzial von Männern und Frauen gleichermassen freigesetzt wird. Dabei wurde mir schnell klar, dass dies einen ausgesprochen positiven Effekt auf das Betriebsergebnis haben kann ! Die Strategien, Instrumente und Verfahren, die meine Teams und ich gemeinsam eingeführt und umgesetzt haben, führten zu besseren Ergebnissen und zu einem Arbeitsumfeld, in dem die Gleichstellung der Geschlechter als wichtig erachtet wird. Auf diese Weise konnten sich viele Frauen beruflich entwickeln und eine Karriere verfolgen. In all dieser Zeit habe ich für die unter10


schiedlichsten Organisationen mit sehr unterschiedlichen Zielen und Unternehmenskulturen gearbeitet. Dabei wurde mir bewusst, dass die Kultur eine extrem wichtige Rolle spielt. Tatsächlich kann die Unternehmenskultur darüber entscheiden, ob ein Geschäft so richtig Fahrt aufnimmt oder eben gegen die Wand fährt. Daher ist dies der erste Punkt, um den es hier gehen wird. Es ist die Aufgabe von Führungspersönlichkeiten, konkrete Ziele umzusetzen. Sie machen die Vorgaben und gehen durch ihr Beispiel voran, sodass ihre Mitarbeitenden zu Agenten des Wandels werden können. Ich hoffe daher, dass dieses Buch für Sie einige nützliche Einsichten und praxisorientierte Lösungen bereithält – oder Ihnen zumindest einige neue Ideen vermittelt, die dazu beitragen, eine Gleichstellung der Geschlechter in der Geschäftswelt und nicht nur dort zu verwirklichen. Simona Scarpaleggia Zürich, Februar 2019

11


2 Teil

48


WIE SIE IHRE ORGANISATION FIT MACHEN FÜR DEN PARADIGMENWECHSEL – EINE REISE IN 5 SCHRITTEN

49



SCHRITT 1 DIE KOSTEN-NUTZEN-ANALYSE

Viele Unternehmensführer glauben heute noch, dass die Schaffung eines ausgewogenen Geschlechterverhältnisses zeitintensiv ist und ausser Kosten nicht viel bringt. Manche gehen schlicht davon aus, dass es nicht genug kompetente Frauen auf der Welt gibt, die eine gleichberechtigte Rolle in der Arbeitswelt oder der Gesellschaft spielen könnten. Ich sehe das völlig anders. Für mich ist die Gleichstellung der Geschlechter in erster Linie ein Menschenrecht. Vor diesem Hintergrund ist es absolut richtig, wenn Sie sagen, dass Sie schliesslich keine Kosten-Nutzen-Analyse brauchen, um zu belegen, dass wir unsere Mitmenschen respektieren und gut behandeln sollten, ohne Ansehen des Geschlechts, der Rasse oder des Glaubens. Doch hier fällt die Kosten-Nutzen-Analyse so positiv aus, dass sie die Führer zahlreicher Organisationen überzeugen wird, sich so lange für Geschlechterparität einzusetzen, bis sie eine Tatsache ist. Heute sind es immer noch nur vereinzelte Organisationen, die für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis bei ihren Mitarbeitern eintreten. In den meisten Unternehmen beschränken sich die Bemühungen darauf, den sogenannten Talentpool zu erweitern, also das Netzwerk möglicher Bewerber auf mehr Frauen auszudehnen. Bezüglich Produktentwicklung, Werbung und Aussenkommunikation spricht man in der Regel von einem «offeneren» Ansatz – was nichts weiter heisst, als Frauen als Konsumentinnen 51

5


anzusprechen, allerdings auf nach wie vor sehr allgemeine Weise. Das führt meist zu einem höchst ärgerlichen «Pinkwashing», symbolischen Marketinggesten, die den weiblichen Teil der Bevölkerung erreichen sollen. Es ist an der Zeit, diese Perspektive und Herangehensweise zu ändern. Es sind zwei völlig unterschiedliche Dinge, ob man den Wert von Frauen nach ihrer Rolle als Mitarbeiterin oder als Kundin veranschlagt. Ausserdem geht es darum, Männer und Frauen gleichermassen einzubinden, also nicht darum, Konflikte zu schüren, die den einen Part aus dem geschäftlichen Umfeld hinauskatapultieren sollen. Gleichstellung heisst, dass man zusammenarbeitet und gemeinsam erfolgreich ist. Das ist nicht nur gut für die Menschen, sondern auch für die Unternehmen. Daher sollten wir zuerst Männer in Führungspositionen an­ sprechen, weil sie den Grossteil der Führungskräfte im globalen Arbeitsumfeld stellen. Sie können die wichtigsten Katalysatoren für die Gleichstellung sein. Natürlich müssen wir zu diesem Zweck Beweise für die Vorzüge eines gender-diversifizierten Arbeitsumfelds erbringen. Aber schliesslich liegen die Statistiken, die Belege und Nachweise für diese positiven Effekte seit Langem vor. Sie müssen nur auf die einzelnen Organisationen angewandt werden. Dazu gehört natürlich auch die entsprechende Marktforschung, die den einzelnen Unternehmen aufzeigt, wie sich dieses Engagement in klingende Münze umsetzen lässt und wie neue Märkte erschlossen werden können. Die Organisation UN Women hat in einer bemerkenswerten Initiative Männer und Frauen zusammengebracht, die gemeinsam für Gleichstellung kämpfen und grosse wie kleine konkrete Aktionen durchführen. Viele männliche CEOs weltweit tätiger Unternehmen haben sich einer Initiative mit dem Namen HeForShe angeschlossen, um Wegbereiter und Vorbild für andere Männer in 52


ihrer Organisation zu werden, zu stolzen Sponsoren und Verfechtern der Geschlechterparität in ihrem Arbeitsbereich. In der entwickelten Welt stellen Frauen bereits einen grossen Teil des Talentpools. Rein demografisch gesehen gibt es ohnehin einen leichten Frauenüberschuss. Auch was akademische Qualifikation oder höhere Bildungsabschlüsse angeht, überwiegen heute die Frauen. Und noch viel grösser ist die Zahl derer, die einen Job suchen. Dehnen wir dann unseren Blickwinkel auf die gesamte Welt aus, entdecken wir – wie die Statistiken klar zeigen – ein enormes, ungenutztes Potenzial sowohl an qualifizierten Frauen wie auch an Frauen, die erst noch ausgebildet werden müssen; Frauen, die formell bezahlte Arbeit leisten, und andere, die noch immer informelle unbezahlte Arbeit erledigen. Unternehmen brauchen qualifizierte, gut ausgebildete Mitarbei­ tende. Sie dürsten förmlich nach Talenten und stehen im Wettbewerb um die Besten. Und trotzdem wenden sich ihre Talentscouts häufig nur an eine Hälfte des Talentpools. Es wäre ein grosser Vorteil, wenn man sowohl männliche wie weibliche Bewerber gleichermassen berücksichtigen würde. Dann verbesserte sich innerhalb kürzester Zeit das allgemeine Qualifikationsniveau des Pools und die Anzahl der besten 25 Prozent verdoppelte sich. Und davon träumt doch schliesslich jeder CEO. Wir alle wissen, dass die Qualifikation der Mitarbeiter und ihre Motivation Schlüsselfaktoren für den Erfolg jedes Unternehmens sind. Es ist also sonnenklar, dass sich die Chancen auf eine Top-Performance von Unternehmen verbessern, wenn sie die Anzahl der Top-Performer steigern. Frauen in den Arbeitsmarkt einzubeziehen eröffnet den Zugang zu einem ungeheuren Facettenreichtum von Fähigkeiten und Fertigkeiten, und das zu einem weit geringeren Preis, als dies der knallharte Wettbewerb um eine geringere Anzahl von Männern 53


mit noch geringerer Kompetenz tut. Auf diese Weise sinken auch die Kosten für das Recruiting und die Ausbildung, die unvermeidliche Folge dieses Wettbewerbs sind. Ausserdem stellen Frauen einen grossen Anteil des globalen Marktes. Sie treffen nicht nur einen Grossteil der Entscheidungen in der Familie, sie haben auch zunehmend genug Geld, um die Kaufkraft der Familie zu stärken. Da immer mehr Frauen in die Arbeitswelt eintreten, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen Produkte kaufen, die speziell für sie entworfen wurden – von den anderen positiven Effekten wie der Steigerung des Bruttoinlands­ produkts, des Konsumindexes und der genannten Wachstums­ chan­cen für Unternehmen einmal abgesehen. Wenn Frauen die Hälfte des Marktes darstellen, heisst das, sie haben eine starke Kaufkraft. Wie sollen wir sie also ansprechen ? Wie können wir unser Angebot auf sie zuschneiden ? Unternehmen müssen herausfinden, wie sie weibliche Konsumenten in Zielgruppen einteilen, anziehen und überzeugen können. Sie müssen lernen, was sie tun müssen, damit Frauen sich für ihre Dienstleistungen und Produkte entscheiden, damit sie eine vertrauensvolle Beziehung zu den weiblichen Konsumenten aufbauen und sie an sich binden können. Bei den Männern ist ihnen das bisher recht gut gelungen, auch mit allgemeinen, geschlechtsneutralen Ansätzen. Doch wenn sie ihr Angebot speziell auf die Geschlechter zuschneiden, haben sie vieles zu gewinnen – beziehungsweise zu verlieren, wenn sie es nicht tun. Doch es gibt noch einen Faktor, der bei der Kosten-Nutzen-­ Analyse der Geschlechtergleichstellung eine Rolle spielt: die immateriellen Aktivposten. Wir alle wissen, wie wichtig Ruf und Vertrauenswürdigkeit eines Unternehmens bei der Kundenbindung und der Gewinnung neuer Konsumenten sind. Gerade für Frauen sind diese Werte häufig entscheidend. 54


Unternehmen können das Vertrauen von Frauen gewinnen, indem sie die authentische Bereitschaft beweisen, Frauen zu fördern und damit für mehr Gleichstellung zu sorgen. Gilt ein Unternehmen als tatsächlich ausgewogen, was das Geschlechterverhältnis angeht, als vorurteilsfrei und sozial aktiv, steigert dies den Markenwert ganz erheblich. Damit steigt nicht nur der Wert der immate­ riellen Wirtschaftsgüter, sondern auch der Aktienkurs. Unternehmen, die die Gleichstellung nur als kurzlebigen Trend sehen, als «nettes Extra» oder als Anforderung, die sie formal halt erfüllen sollten, entgeht der übergeordnete Zusammenhang. Die Folge ist, dass sie auch die damit verbundenen unternehmerischen Möglichkeiten verpassen. Firmen aber, die ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu ihren Top-Prioritäten zählen und entsprechende Strategien entwickeln, werden erleben, dass dies für sie zum Wendepunkt für mehr Wachstum werden kann. Gleichstellung als Thema im Unternehmen muss auf Vorstandsund Managementebene angegangen werden. Diese Aufgabe sollte nicht einfach an die Personalabteilung (HR) delegiert werden oder ans Diversity-&-Inclusion-Team (D&I). Diese Gruppen können zwar die nötigen Instrumente liefern, um die Initiative der Führungsebene umzusetzen. Doch zunächst muss die Spitze des Unternehmens die Geschlechterparität als Vision setzen. Kurz zusammengefasst lässt sich sagen, dass es bei dieser Frage drei Kernelemente gibt, über die Unternehmen und ihre Führungskräfte nachdenken sollten: Talente, Kunden und immaterielle Vermögenswerte.

55


DIE GESCHICHTE VON PETER UND MARIA

Peter und Maria sind zusammen zur Schule gegangen, seit sie elf Jahre alt waren. Sie hatten bis zur Matura dieselben Lehrer. Ausserdem waren sie Nachbarn und wirklich gute Freunde. Da sie gemeinsame Interessen hatten, schrieben sie sich an derselben Universität ein und studierten Wirtschaft. Sie machten zur gleichen Zeit ihren Abschluss und nahmen an einem strahlenden Sommertag ihre Bachelor-Urkunde entgegen. Beide traten mit demselben Enthusiasmus in den Arbeitsmarkt ein. Peter bekam sofort einen Job in einem grossen Industriekonzern. Maria hingegen suchte gut sechs Monate nach einer Stelle, bevor man ihr ein einjähriges Praktikum anbot. Am Ende fand sie einen festen Arbeitsplatz in einem kleinen Familienbetrieb. Ihr Einstiegsgehalt lag um 15 Prozent unter dem Peters. Peters Konzern expandierte und suchte deshalb nach qualifizierten Mitarbeitern mit Spezialisierung im Finanzwesen. Da man auf dem Arbeitsmarkt niemanden fand, engagierte man einen Headhunter, um die Stelle zu besetzen. Der neue Mitarbeiter war genauso alt wie Peter und kam von der gleichen Universität, aber sein Einstiegsgehalt lag um 12 Prozent über dem Peters, weil man ihm den Jobwechsel entsprechend versüssen wollte. So addierte sich innerhalb weniger Jahre der Gehaltsunterschied zwischen Maria und Peters neuem Kollegen auf 27 Prozent. Und Peters Firma musste die erhöhten Kosten tragen. Natürlich sind zwei Menschen nicht exakt gleich qualifiziert, selbst wenn sie dieselbe Ausbildung haben. Daher können wir nur spekulieren, was es für den Konzern bedeutet hätte, wenn man dort Maria nicht von Anfang an über­ sehen und ihr stattdessen eine Stelle angeboten hätte. Vermutlich hätte das Unternehmen ordentlich Geld gespart und eine fähige – vielleicht sogar überlegene – Mitarbeiterin gewonnen. 56


Die Anwerbung, Entwicklung und Bindung von Talenten ist von jeher ein Thema für Unternehmen, die kompetente Leute mit ­guter Ausbildung brauchen, die in den verschiedensten Betriebs­ szenarien zurechtkommen. Das ist heute wichtiger denn je. Die Digitalisierung schafft vollkommen neue Jobs, in denen hohes technisches Geschick ebenso gefordert ist wie andere Fertigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt noch nicht durchgehend verfügbar sind. Wenn wir den Digitalisierungsprozess nicht behutsam steuern, wird er am Ende noch mehr Ungleichheit zwischen den Geschlechtern schaffen, denn viele der Routinejobs mit wiederkehrenden Abläufen werden heute von Frauen erledigt. Gerade diese Jobs aber werden weitgehend wegfallen. Andererseits verpassen viele Unternehmen gerade die Möglichkeit, von den sogenannten Soft Skills wie Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zu profitieren, die in der Arbeitswelt mehr denn je gefragt sind. Gerade diese Fähigkeiten bringen Frauen vermehrt mit. Wenn wir digitale Prozesse nur mechanisch einführen, wird die Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz weiter leiden. Ein behutsames, proaktives Vorgehen hingegen wird sich für die Un­ ternehmen positiv auswirken, weil es für einen Mitarbeiterstab mit Geschlechterparität sorgt, der für eine ganze Reihe neuer unternehmerischer Herausforderungen besser gerüstet ist. Das Gute daran ist, dass Universitäten viel investieren, um ihr Ausbildungsangebot auf diese neuen Bedürfnisse abzustellen. Sie betreiben massiv Werbung, damit mehr Frauen sich für die MINT-Fächer einschreiben (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). Am Ende dieser Bemühungen wird ein steter Strom von Hochschulabsolventinnen stehen, die die geforderten Fähigkeiten und Kompetenzen mitbringen. Und es gibt noch weitere Gründe, die Frauen für Positionen in der digitalen Arbeitswelt empfehlen. Wie bereits gesagt, sind 57


Frauen in ihrem Verhalten häufig flexibler und anpassungsfähiger als Männer. Sie sind lösungsorientiert und streben dabei eher gemeinsame Lösungen anstelle binärer Win-lose-Modelle an.18 Wenn Sie all dies berücksichtigen, liegt es wohl auf der Hand, wie sinnvoll es ist, aktiv nach weiblichen Talenten zu suchen, wenn Sie neue Mitarbeiter gewinnen wollen.

KUNDEN

Ich bin nun seit 18 Jahren im Einzelhandelsgeschäft tätig. So konnte ich Kundenverhalten immer direkt beobachten. Ich kann nur sagen, dass Frauen und Männer ihre Kaufentscheidungen auf vollkommen unterschiedliche Weise treffen. Männer betreten gewöhnlich das Geschäft und steuern direkt auf die Abteilung zu, in der das Gewünschte verkauft wird. Sie überprüfen kurz, ob das Produkt funktioniert und wie teuer es ist, dann wird gekauft. Sie lassen sich manchmal von Spielereien verführen, aber im Allgemeinen verbringen sie wenig Zeit im Laden. Die meisten kommen mit der Absicht, sich nicht mehr als eine halbe Stunde im Geschäft aufzuhalten. Frauen hingegen betreten den Laden und stöbern die gesamte Verkaufsfläche durch. Sie nehmen die Dinge in die Hand, machen Fotos und schicken sie an Freunde, auf deren Feedback sie Wert ­legen. Dann sehen sie nach, ob die gewünschten Produkte zusammenpassen, bitten die Verkaufsmitarbeiter um mehr Informationen und tauschen sich mit Freunden über soziale Medien aus, was das Produkt angeht. Am Ende kaufen sie, was sie brauchen, und wenn die Mischung auf der Verkaufsfläche stimmt, nehmen sie auch mal einen Artikel mehr mit. Frauen stellen höhere Ansprüche, sie sind neugieriger und wollen sich ihre eigene Meinung bil58


den. Ausserdem vergleichen sie mehr als Männer. Das sind absolut typische Unterschiede im Kaufverhalten von Männern und Frauen. Als Geschäftsleute wissen wir, dass es kein Unternehmen gibt ohne Kunden. Wir arbeiten hart daran, um innovative Möglich­ keiten zu finden, die uns attraktiv und wertvoll machen, sodass die Kunden sich für unsere Produkte entscheiden. Das ist in jedem Wirtschaftszweig so. Und doch gibt es da einen Punkt, der in den Marktanalysen so gut wie nie vorkommt: der Faktor «Geschlecht». Sehr häufig teilen Unternehmen ihre Kunden in bestimmte Zielgruppen ein, manchmal spielt dabei auch das Geschlecht eine Rolle. Doch trotz aller Marktsegmentierungen und -analysen ist ihr Angebot an Produkten oder Dienstleistungen vorurteilsbehaftet. Tatsächlich stützen sich das Produktdesign, das Zuschneiden von Dienstleistungen auf Zielgruppen, ja selbst die Unternehmenskommunikation häufig auf recht altmodische Klischees. So wird Waschpulver immer noch von lächelnden, gut gekleideten Damen beworben, die «sooo glücklich» sind, dass ihre Wäsche «weisser als weiss» ist. In einer durchaus ernst gemeinten Broschüre für den Business-to-Business-Markt sehen wir hingegen männliche Ingenieure, die den Prototyp einer Maschine begutachten, während im Hintergrund die hübsche Sekretärin Kaffee ausschenkt. Die Produktdesigner entwerfen Autos, in denen man jederzeit eine Getränkedose oder -flasche unterbringt, aber keinen Platz für die Handtasche findet … Und nein, man kann sie auch nicht auf den Beifahrersitz legen, weil dann die Sicherheitsgurtsensoren anfangen zu piepsen und Sie in den Wahnsinn treiben. Diese Liste liesse sich noch endlos weiterführen. Wenn das Produkt- und Service-Design auch die Bedürfnisse weiblicher Kunden berücksichtigen würde, dann würde das Unternehmen sicher bessere Geschäfte machen. Mittlerweile ist auf diesem Gebiet allerdings eine bestimmte Entwicklung erkennbar. Es 59


gibt ­immer mehr Firmen, die das Marktpotenzial von Frauen heben wollen. Wo das am besten gelingt, ist ein klares Verständnis für die weiblichen Bedürfnisse vorhanden. In vielen Fällen liegt das einfach daran, dass die Unternehmer beziehungsweise Führungskräfte selbst Frauen sind. Kein Wunder also, dass diese Firmen auch mehr weibliche Mitarbeiter haben, und dies auch in Füh­rungs­posi­ tionen. Am 20. September 2017 hielt Larry Fink, Aufsichtsrats- und Vorstands­vorsitzender des weltweit grössten Vermögensverwalters BlackRock, eine Rede vor dem Bloomberg Global Business Forum in New York: «Die Wahrheit ist, dass mehr als 50 Prozent der Haushaltsvermögen weltweit von Frauen gemanagt werden. Wenn ich also meine Klientel abbilden will, brauchen wir mehr Frauen im Unternehmen.»

IMMATERIELLE VERMÖGENSWERTE

Gute Produkte herzustellen oder ausgezeichnete Dienstleistungen anzubieten genügt schon lange nicht mehr. Die Konsumenten heute sind besser informiert und wissen ein Produkt, ein Unternehmen oder eine Marke besser einzuschätzen. Diese Informationen besorgen sie sich über neue und unterschiedliche Kanäle. Die kaufkräftige Öffentlichkeit verwendet mehr Zeit auf Recherchen darüber, wer hinter einem Unternehmen oder einer Marke steht. Das Warum ist schon fast wichtiger als das Was. Und das ist gut so. Denn Unternehmen üben auf die ein oder andere Weise massiven Einfluss auf das Leben der Menschen aus – auf ihre Gesundheit, ihr Wohlbefinden, ihren Wohnort und ihr Einkommen. Und es wird immer wichtiger, ob dieser Einfluss sich positiv oder negativ gestaltet beziehungsweise darstellt. 60


Vorstand und Aufsichtsrat sehen sich immer mehr vor der inspirierenden Herausforderung, die nichtfinanzielle Dimension ihres Geschäfts deutlich zu machen. Elemente wie Markenwert, Enga­ gement für die Gemeinschaft oder für Themen wie Nachhaltigkeit und Gleichstellung werden zum integralen Bestandteil des Unternehmenswerts. Die immateriellen Vermögenswerte übertreffen die materiellen, sowohl in den Augen der Gesellschafter als auch in denen der Aktionäre oder institutionellen Investoren. Unternehmen wie MSCI und Pearl Meyer bieten Analyseinstrumente und Kennzahlen, die verdeutlichen, wie viel jedes einzelne Unternehmen zum Erreichen der nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen beiträgt. Diese Entwicklungsziele – die für das Wohl der Menschheit als unverzichtbar gelten – wurden in konkrete ESG -Ziele (Environmental, Social, Governance) überführt, die Umwelt, Soziales und Unternehmensführung berücksichtigen. Diese dienen als Bezugspunkte für Ziele und Einschätzung heutiger Unternehmen. Die Kosten-Nutzen-Analyse der Gleichstellung in individuelle Organisationen einzubinden ist also gar nicht so schwierig. Wenn es uns gelingt, die greifbaren Vorzüge eines ausgewogenen Geschlechterverhältnisses zu zeigen, ihre konkreten positiven Auswirkungen auf die Performance und das Wohlergehen des Unternehmens, sollte es immer einfacher werden, die Gleichstellung zu för­dern und praktisch umzusetzen. Zu diesem Zweck aber müssen sich die Unternehmen den Pionieren anschliessen, die jenen unbegreiflichen, lang genährten Mythos endlich als solchen entlarven: dass nur Männer in der Lage sind, in der Gesellschaft eine aktive Rolle zu spielen. Ihre Kunden und Anteilseigner werden es ihnen lohnen. Diese Unternehmen schliessen sich einer Revolution an. Sie arbeiten auf eine nachhaltigere und florierende Wirtschaft, auf eine ausgeglichene und fried­ liche Gesellschaft hin. 61


INTERVIEW MIT GUIDO SCHILLING, PARTNER DER GUIDO SCHILLING AG EXECUTIVE SEARCH

Sie veröffentlichen jährlich den Schillingreport, der über die Zusammensetzung der strategischen und operativen Leitungsgremien der Schweizer Wirtschaft Auskunft gibt. Aus ihm lässt sich ablesen, wie gross der Gendergap in Führungspositionen immer noch ist. Wo sehen Sie die Haupthindernisse für die Karriere von Frauen, vor allem im Privat­ sektor ? Es gibt viele Gründe, warum Frauen so selten Spitzenpositionen erreichen. Da sich anspruchsvolle Jobs selten mit Schulstunden vereinen lassen, arbeiten die meisten Frauen Teilzeit. Das aber ist karrieretechnisch so gut wie immer eine Sackgasse. Auf der anderen Seite sind die traditionellen Familienmodelle in der Schweiz immer noch fest verankert. In den nordischen Ländern oder in Frankreich gehen die Menschen lockerer an die Frage heran, ob eine Frau nach der Geburt weiter an ihrer Karriere arbeiten sollte. Was uns hier am meisten fehlt, sind weibliche Rollenvorbilder für Führungspositionen. Es wird eine gewisse Zeit brauchen, bevor Frauen in solcher Stellung adäquat repräsentiert sein werden. Meiner Ansicht nach ist dies ein Projekt für mehrere Generationen. Wo sehen Sie die grössten Chancen ? Die grössten Chancen liegen sicher in den sich ständig verbessernden Bedingungen. Unsere Recherchen zeigen, dass die Schweiz ein vielversprechendes Reservoir weiblicher Talente besitzt. Bei den hundert grössten Unternehmen liegt der Frauenanteil immerhin schon bei 23 Prozent (Schillingreport 2016). Und dieser Anteil wächst stetig. Ausserdem gibt es immer mehr Kandidatinnen, die sich für Spitzenpositionen eignen. In fünf Jahren werden viele Un62


ternehmen genügend junge, weibliche Profis ausgebildet haben, sodass sich aus diesem Pool Frauen in Führungspositionen wählen lassen. Ausserdem haben viele Firmen in den letzten Jahren diesbezüglich neue Wege eingeschlagen. 2015 schlug der Schweizerische Arbeitgeberverband – unterstützt von uns – 400 weibliche Kandidaten für eine Position im Verwaltungsrat ihrer Unternehmen vor. Im Jahr darauf gab man einen Verhaltenskodex für Personalberatungen heraus. Bis Februar 2021 sollten die 150 grössten Unternehmen in der Schweiz mindestens eine Frau im Verwaltungsrat haben, Firmen mit einem Verwaltungsrat von über fünf Personen sogar zwei. Unternehmen, die nicht genügend Frauen in Führungspositionen beschäftigen, werden zunehmend in Erklärungsnot geraten. Und sie werden angesichts der demografischen Entwicklung Schwierigkeiten haben, künftig die besten Talente anzuwerben. Was macht es Ihrer Ansicht nach schwierig, weibliche Kandidaten zu finden oder einzustellen, wenn es um Positionen im höheren Management geht ? Passende Kandidatinnen zu finden ist mittlerweile nicht mehr das Problem. Vor allem für Positionen im Verwaltungsrat fällt es eher leicht, qualifizierte Frauen zu finden, nicht zuletzt, weil es dort auch Teilzeitstellungen gibt. Etwa 25 Prozent der Verwaltungsratsmitglieder in der Schweiz sind heute Frauen. Im Verwaltungsrat eines Unternehmens ist Diversität gefordert. Er sollte nach Möglichkeit nicht aus einer Gruppe Männer mit gleichen Ansichten und gleicher Ausbildung bestehen, die eine ähnliche Karriere hinter sich haben und über ähnliche Erfahrung in diesem Geschäftszweig verfügen. Bei Positionen in der Geschäftsleitung wird es schon schwieriger. Dort sind häufig traditionelle Karrierewege gefragt. Trotzdem sollten die Unternehmen auch mal über ihren Teller­rand hinausdenken und Frauen mit eher unüblichen Lebens63


läufen für solche Führungspositionen in Betracht ziehen. Manchmal braucht es auch einfach ein bisschen Zeit, bis man eine Frau überzeugen kann, sich für eine solche Top-Stellung zu bewerben. Frauen stellen eher als Männer infrage, ob sie für die entsprechende Position die richtigen Qualifikationen mitbringen. Mitunter sind sie sich auch nicht sicher, ob sie dieses Engagement wirklich eingehen wollen. Wie sehen Sie die jüngere Generation, die gerade ihre Ausbildung abgeschlossen hat und einen Karrierepfad einschlagen will ? Legen die jungen Leute dieselben Haltungen, Sorgen und Anforderungen an den Tag wie die Generationen davor ? Oder ist ihre Situation eine andere ? Junge Erwachsene sind meist selbstbewusster als die älteren. Dies gilt vor allem für Frauen. Für sie ist es ganz natürlich, ihren Platz einzunehmen und sich gegen männliche Bewerber durchzusetzen. Die Generation Y verlangt ausserdem mehr als die Babyboomer. Viele junge Männer und Frauen wollen nicht mehr um jeden Preis Karriere machen. Selbstverwirklichung, ein sinnerfülltes Leben und eine gute Work-Life-Balance sind ihnen wichtiger. Gleichzeitig ist die jüngere Generation häufig flexibler und pragmatischer. Meist aus schierer Notwendigkeit, denn die Arbeitswelt ändert sich rasant. Neue Berufe und Arbeitsformen entstehen, andere verschwinden. Den «Beruf fürs Leben» gibt es nicht mehr. Welche Chancen entstehen Ihrer Ansicht nach für Männer und Frauen aus der Wandlung der Arbeitswelt heute ? Ich bin sehr optimistisch, was die Chancen angeht. Der Arbeitsmarkt verlangt zunehmend nach Kandidaten mit starker emo­ tionaler In­telligenz, die kommunikativ, flexibel, anpassungs- und mul­ titaskingfähig sind. Das sind durchwegs Eigenschaften, die Frauen in Hülle und Fülle besitzen. Dass immer mehr Frauen in 64


den Arbeitsmarkt inte­griert sind, wird einen positiven Einfluss auf das Arbeitsumfeld haben. Gleichzeitig ändert sich dieses massiv aufgrund der demografischen und technologischen Voraussetzungen. Flexible Arbeitszeitmodelle wie Teilzeitarbeit, Jobsharing, Homeoffice oder Projektarbeiten werden sich weiter ausbreiten. Das nützt sowohl Männern als auch Frauen. Auch weil es dafür sorgt, dass sich Karriere und Familie besser vereinbaren lassen. Gleichzeitig sind im Zeitalter der Digitalisierung Innovation und Kreativität wichtige Erfolgsfaktoren. Die sich rasch wandelnde Arbeitswelt verlangt neue Führungs- und Organisationsmodelle, denn Kreativität und Innovation lassen sich nun mal nicht ver­ ordnen. Daher werden zunehmend Führungspersönlichkeiten gebraucht, die sich als Coach sehen und mit flachen Hierarchien arbeiten. Und Formen der Arbeit, die auf Teamwork, Teilhabe und Netzwerken beruhen. Teams mit einem ausgewogenen Verhältnis beider Geschlechter sind hier ein Schlüsselelement, da sie bessere Resultate erzielen als Teams, die nur aus Männern beziehungsweise aus Frauen bestehen. Erfolgreiche Unternehmen tun daher gut dar­ ­an, sich für mehr Diversität einzusetzen, sei es beim Geschlecht, beim Alter, beim kulturellen Background oder der Nationalität ihrer Mitglieder.

65



NACHWORT

MACHEN WIR DIE WELT DOCH ZU EINEM BESSEREN ORT – FÜR MÄNNER WIE FRAUEN

In just diesem Moment leben auf der Welt Millionen begabter Frauen, die mit ihren Talenten, Fähigkeiten und Fertigkeiten für jedes Unternehmen, jede Organisation eine Bereicherung wären. Und trotzdem sind sie nicht ins Arbeitsleben integriert. Es gibt auch Millionen begabter Frauen, die in den verschiedensten Organisationen tätig sind, ohne dass sie dort ihre Begabung ausspielen können. In diesem Augenblick, in dem Sie diese Zeilen lesen, hoffen Millionen weiblicher Kunden weltweit, dass sie von Unternehmen jeglicher Art endlich als wertvolle Kundinnen erkannt werden. Und Millionen von Frauen kommentieren in den sozialen Medien und in ihren persönlichen Netzwerken den Wert und Nutzen von Produkten, Dienstleistungen, Marken und Firmen. Darüber hinaus erwartet uns ein gewaltiger Bruch, der durch alle Märkte gehen wird: Die Digitalisierung wird unsere Arbeitswelt von Grund auf verändern. Dazu kommen noch unzählige weitere Pro­bleme, die immer noch mit Gewalt, Krieg und Machtkämpfen zu lösen versucht werden – Konflikte, die sich mit einer fürsorglicheren, menschlicheren und integrativeren Haltung mühelos entschärfen liessen. Wie nicht anders zu erwarten, werden diese Kämpfe selten von Frauen verursacht oder ausgetragen.

187


Und doch sehen immer noch viele Menschen die Stärkung der Frauen als potenzielle Bedrohung für die Gesellschaft, als Belastung für Unternehmen und Organisationen. Das liegt schlicht dar­ ­an, dass sich Einstellungen und Wahrnehmungen im Hinblick auf Geschlechterrollen nicht über Nacht verändern lassen, genauso wenig wie althergebrachte, männlich dominierte Geschäftspraktiken. Viele Firmen entscheiden sich, ihre Unternehmenspolitik auf ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis auszurichten, nur um dann festzustellen, dass dies von innerhalb des Unternehmens sabotiert wird oder sich die festgefahrene Unternehmenskultur der Öffnung strikt verweigert. Wir sehen immer wieder, dass der Weg zur Gleichstellung der Geschlechter lang und steinig ist. Für Führungskräfte kann sich dies zur echten Herausforderung entwickeln. Dieser Art von Gegenwind müssen sie mit Festigkeit begegnen. Daher ist die Gleichstellung ein Punkt, der von den Spitzen der Regierungen und Unternehmen angegangen werden muss, denn sie sind es, die die Politik festlegen und die Gelder verteilen. Es hat wenig Sinn, die Umsetzung dieser Aufgabe allein auf die Gleichstellungsbeauftragten abzuwälzen. Menschen in dieser Funktion können ihrer Sache als Botschafter dienlich sein, doch ein so radikaler Wandel muss von oben her initiiert werden. Gleichstellung sollte für die CEOs dieser Welt oberste Priorität haben, denn sie sind es, die ihr Unternehmen mit ihren Investments und Strategien auf die Zukunft ausrichten. Sie müssen mit gutem Beispiel vorangehen und durch ihre Überzeugungen und ihr Verhalten die Unternehmenskultur prägen. Nicht zuletzt ist die Gleichstellung der Geschlechter ein Anliegen, das jedem Menschen auf diesem Planeten am Herzen liegen sollte. Wenn wir die Menschheit an sich erhalten wollen, dann müssen wir uns für Gleichstellung einsetzen. Jede und jeder Einzelne 188


von uns kann dazu beitragen – durch ihre/seine Wählerstimme, die Auswahl des Arbeitgebers, die Produkte, die sie/er kauft, und die Haltung, die sie/er einnimmt. Lassen Sie uns all unsere Kräfte bündeln, um eine Welt zu schaffen, in der junge Menschen künftig in den Geschichtsbüchern lesen werden, wie wir nach Jahrhunderten die Gleichstellung endlich durchgesetzt haben. Unternehmen, Organisationen und Regierungen stehen an der Schwelle zu einer ganz entscheidenden Wende: Sie können weitermachen wie bisher oder sich öffnen und aktiv für Integration einsetzen. Sie können die Hälfte der Talente in ihrer Organisation beziehungsweise ihrem Kundenstamm weiterhin übersehen – oder den Wandel leben mit allen Chancen und Möglichkeiten, die er bietet. Führungskräfte tragen hier eine besondere Verantwortung. Sie müssen diesen Wandel einleiten, zum Besten des Unternehmens, der Gesellschaft und der Menschheit als Ganzes. Konkrete Beispiele von Frauen, deren Wirken Menschen, Or­ ganisationen und der Gesellschaft geholfen hat, können dazu beitragen, dass sich uns noch mehr Menschen anschliessen. Diese ­Beispiele sollten wir wieder und wieder erzählen, sie an unsere Lebenssituation anpassen und in aller Welt verbreiten. Dies führt zu einer Art wechselseitiger Befruchtung, die den ganzen Prozess beschleunigt, sodass die Stärkung der Frau nicht mehr als Bedrohung, sondern als unschätzbare Chance wahrgenommen wird. Die Daten beweisen klar und deutlich, dass ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis am Arbeitsplatz (und in der Wirtschaft insgesamt) der Arbeitswelt ungeahnte Vorteile bringt. Es ist daher mein Hauptinteresse, die Ideen und Gedanken in diesem Buch mit meinen Kolleginnen und Kollegen in der Geschäftswelt zu teilen. Zudem bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Mission, die andere Hälfte der Menschheit in die Arbeitswelt zu integrieren, weit über die Geschäftswelt hinaus Früchte tragen wird. Tatsächlich könnte sie dazu beitragen, die ganze Welt zu retten. 189


© Emma Freeman

DIE AUTORIN

Simona Scarpaleggia (*1960) studierte Politikwissenschaften und absolvierte einen MBA. 2000 stieg sie als Personalmanagerin bei IKEA Italien ein, seit 2010 ist sie CEO von IKEA Schweiz. 2013 gründete sie die Vereinigung «Advance – Women in Swiss Business». Die Vereinigung hat sich zum Ziel gesetzt, den Frauenanteil in den obersten Führungsgremien bis ins Jahr 2020 auf 20 Prozent zu steigern.

197



Für das praxisorientierte Buch hat die Autorin aus ihrer eigenen Erfahrung geschöpft und Gespräche mit sechs Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik geführt : Sergio Ermotti Gudrun Sander Natascha Schill Guido Schilling Jeanette Söderberg Luis Guillermo Solis

Die andere Hälfte

Das Potenzial der Frauen nutzen, gemischte Arbeitsteams bilden und die Fähigkeiten beider Geschlechter fördern – Simona Scarpaleggia, CEO von IKEA Schweiz und Gründerin der Vereinigung «Advance – Women in Swiss Business», zeigt, wie das geht. Ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis auf sämtlichen Unternehmens­stufen sowie gleicher Lohn und gleiche Chancen für Männer und Frauen sind Voraussetzung für echte Gleichstellung in der Arbeitswelt. Nur so lässt sich die Erkenntnis, dass die Wirtschaft starke Frauen braucht, in nachhaltigen unternehmerischen Erfolg ummünzen. Und in einen bleibenden Gewinn für die Gesellschaft.

simona scarpaleggia

«Frauen sind anders, deshalb brauchen wir sie in der Arbeitswelt.» Simona Scarpaleggia

Die andere Frauen fördern für eine starke Wirtschaft

simona scarpaleggia

ISBN 978-3-03810-434-6

www.nzz-libro.ch

UG_Scarpaleggia_DieAndereHälfte_02_HI-RES.indd 1

nzz libro

03.07.19 16:16


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.