René Scheu: Gespräch und Gestalt. Entspannte Interviews mit …. Hrsg. v. Hans Ulrich Gumbrecht

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Hans Ulrich Gumbrecht (*1948) ist Albert Guérard Professor Emeritus in Literature in Stanford und zählt zu den prägenden Intellektuellen der Gegenwart.

«Der Dialog, der kaum vorgefertigte Redeversatzstücke ­zulässt, ist oft schlackenfreier und insofern erhellender als ein monothematischer Autorentext. Vor allem, wenn er zwischen Menschen geführt wird, die nicht nur Gutes zu sagen haben, sondern es auch gut sagen. Nicht allein deshalb ist René Scheus Büchlein ein großer Lesespass auf kleinem Raum. Es kommt auch dem Geheimnis des ‹Zwischen den Menschen› ziemlich nahe, von dem Martin Buber einst sprach. Unbedingt lesen!» Reinhard K. Sprenger, Unternehmensberater, Philosoph und Bestseller-Autor «Für mich verkörpert René Scheu den Individualitätstyp der Empathie und der intellektuellen Intensität in einer eben erst einsetzenden Gegenwart, der er mit seinen Interviews schon Gestalten und eine erste übergreifende Gestalt ge­ geben hat.» Aus dem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht

René Scheu

René Scheu (*1974) ist promovierter Philosoph, Geschäftsführer des Instituts für Wirtschaftspolitik (IWP) an der ­Universität Luzern, ehemaliger NZZ-Feuilletonchef und Herausgeber zahlreicher Bücher.

Gespräch und Gestalt

René Scheu

Gespräch und Gestalt Entspannte Interviews mit Ayaan Hirsi Ali, Maxim Biller, Jörg Baberowski, Klaus Doldinger, Woody Harrelson, Ilana Lewitan, Elif Shafak, Peter Sloterdijk, Oliver Stone, Anna Zeiter, Slavoj Žižek und anderen

Nach Gespräch und Gegenwart legt René Scheu seinen zweiten Band mit hochkarätigen Interviews vor. Er spricht mit unerschrockenen Intellektuellen, mutigen Künstlern und nachdenklichen Machern der Gegenwart. Im Zeitalter der schrillen Identitäts-Forderungen und überzeichneten Selbstbilder in den sozialen Medien ist Individualität fluide geworden. Sie zeigt sich nicht mehr im Beharren auf den immer gleichen stereotypen Merkmalen, sondern in der gelassenen Fähigkeit, etwas aus den Zufällen menschlicher Begegnungen zu machen. Es gilt die ­Devise: Wenn zwei aufeinandertreffen, ist immer alles möglich. René Scheu pflegt die journalistische Technik des Interviews als Rahmen, in dem sich diese neue Kraft des Individuellen entfalten kann. Sein Fragen und sein Zuhören geben ganz unterschiedlichen Zeitgenossen eine erkennbare Gestalt im anhaltenden Kommunikationsfluss und zugleich die Gelegenheit, sich selbst anders und neu kennenzulernen. Herausgegeben und mit einem einführenden Essay und einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht. 17 entspannte Interviews mit Ayaan Hirsi Ali, Maxim Biller, Jörg Baberowski, Rolf Dobelli, Klaus Doldinger, Markus Gabriel, Woody Harrelson, Ilana Lewitan, Ueli Maurer, Frank A. Meyer, Elif Shafak, Peter Sloterdijk, Oliver Stone, Angelo van Tol, Lars Windhorst, Anna Zeiter und Slavoj Žižek.

Mit einem Essay von Hans Ulrich Gumbrecht ISBN 978-3-907291-47-4

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INHALTSVERZEICHNIS ZUM GELEIT Engagierte Leseanleitung Von Hans Ulrich Gumbrecht  11

SIEBZEHN INTERVIEWS INTELLEKTUELLE 1 2 3 4 5 6

Jörg Baberowski  19 Ayaan Hirsi Ali  35 Peter Sloterdijk  45 Markus Gabriel  71 Frank A. Meyer  95 Slavoj Žižek  109

KÜNSTLER 7

Elif Shafak  131 8 Maxim Biller  147 9 Ilana Lewitan  167 10 Klaus Doldinger  181 11 Woody Harrelson  191 12 Oliver Stone  199

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MACHER 13 Lars Windhorst  209 14 Ueli Maurer  227

15 Angelo van Tol  243 16 Anna Zeiter  255

17 Rolf Dobelli  271

NACHWORT Gestalten der Gegenwart Ein Nachwort zum Fluchtpunkt der Interviews von René Scheu Von Hans Ulrich Gumbrecht  291

QUELLENANGABE UND DANK   313 BILDNACHWEISE   315 BIOGRAFISCHE ANGABEN   317

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ZUM GELEIT

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Engagierte Leseanleitung Von Hans Ulrich Gumbrecht Eigentlich müssen alle möglichen «Gebrauchsanleitungen» irritieren in einer Gegenwart, deren dauerndes Pochen auf individuelle Unabhängigkeit einer Tendenz gegenübersteht, noch die banalsten Register alltäglichen Verhaltens hinter dem Vorzeichen der «Ethik» verbindlich zu machen. Der Entschluss, dieses Buch trotzdem mit einigen Lektürevorschlägen zu eröffnen, folgt dem engagierten Wunsch, meine eigene Begeisterung für die Interviews von René Scheu ansteckend zu machen. Wer allerdings schon weiss, aus welchem Impuls und mit welchem Ziel er die siebzehn grossartigen Gespräche lesen möchte, der braucht die folgenden «Anleitungen» nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen. Geschichtlich gesehen geht die Gattung «Interview» auf die Jahre nach 1850 in den Vereinigten Staaten zurück. Die sich damals ausbildende Öffentlichkeit machte zuerst die Neugierde legitim, mehr über das private Leben weit sichtbarer Protagonisten zu erfahren. Nicht alle Personen, die René Scheu seit gut einem Jahrzehnt interviewt hat, gehören aber zu den wahren Protagonisten unserer Zeit. Eher repräsentieren und illustrieren die meisten von ihnen einige gesellschaftliche Rollen, die das Inhaltsverzeichnis dieses Buchs als «Intellektuelle», «Künstler» und «Macher» unterscheidet. Die beiden im Buchtitel genannten Begriffe «Gespräch» und «Gestalt» hingegen wollen gemeinsam darauf verweisen, dass solche Rollen und ihre individuellen Ausprägungen durch Interviews nur selten als schon fertige «Identitäten» beschrieben werden, sondern dort erst ihre Formen finden, sich verschieben und dann fortentwickeln. Eben 11

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solche Prozesse der Gestaltausbildung (einschliesslich ihres Auslösens wie ihrer Steuerung durch den Gesprächspartner) machen die hier abgedruckten Texte auf exemplarische Weise nachvollziehbar und verständlich. Dies ist eine erste – man könnte sagen: die soziologisch relevante – Funktion ihrer Veröffentlichung als Buch. Zugleich kommt den Scheu-Interviews auch ein besonderer histo­ rischer Stellenwert zu. Denn als Serie lenken sie unsere Aufmerksamkeit – in einigen Fällen vielleicht zum ersten Mal – auf wiederkehrende Strukturen und Tendenzen des Alltags, die die Gegenwart von all den ihr vorausgegangenen vergangenen Gegenwarten als geschichtlichem Kontrasthintergrund abheben. Der Hauptbefund in dieser Hinsicht lässt sich mit einer paradoxalen Formel fassen: Es ist zu einem Massenphänomen, ja geradezu zu einer Massenverpflichtung geworden, sich selbst entschlossen zum exzentrischen Individuum zu stilisieren. Welche Schlüsse ein Leser der Scheu-Interviews aus dieser zweiten, der geschichtlichen Beobachtung ziehen, welche Hypothesen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft er daraus entwickeln möchte, bleibt ihm natürlich selbst überlassen. Immerhin kann er in der zweiten Hälfte des «Nachworts» einige Vorgaben zum zentrifugalen Weiterdenken finden, die als ein intellektueller Impuls wirken, ihn aber keinesfalls verpflichten sollen. Denn aus historischer Perspektive hat diese Sammlung von Interviews allein den Status einer Dokumentation, nicht den Anspruch einer definitiven Auslegung. Als «Autor» dieses Buchs, insofern er es war, der aus den Gesprächen als Primärmaterialien Texte gemacht hat, hält René Scheu sein individuelles Profil von Gespräch zu Gespräch mit Geschick und Diskretion bedeckt. Wer diesen Meister des Interviews persönlich kennenlernen möchte, der ist gut beraten, ihn in ein hochkarätiges Restaurant einzuladen. Der Wert seiner Interviews als Qualitätsproduktion wird nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage sehr wahrscheinlich aufgrund der Tatsache steigen, dass Scheu nun eine Aufgabe ausserhalb der journalistischen Welt übernommen hat. Umso schöner wäre es, wenn die Lek12

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türe auch als Ermutigung wirkte, ihm im Stil der Gesprächs- und Interviewpraxis nachzufolgen. Auch das Wort «Stil» erfasst einen paradoxalen Sachverhalt, nämlich das Aufscheinen von Kontinuität auf Strecken der Variation und Veränderung.

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SIEBZEHN INTERVIEWS

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9  Ilana Lewitan Ilana Lewitan besuchte mit ihrem Mann gerade Zürich, und sie wollte die Gelegenheit nutzen, um mir von ihrer in München laufenden Ausstellung «Adam, wo bist Du?» zu erzählen. Ich hatte davon gehört, die Schau machte von sich reden. Es ging um die lauteste Frage unserer Zeit: die nach Identität und Anderssein. Wir setzten uns an einem warmen Nachmittag im August 2020 auf die Treppen des Opernhauses in Zürich, das gleich neben der NZZ liegt. Persönlich kannten wir uns noch nicht, nur vom Namen her. Ilana Lewitan sprudelte nur so los – sie erläuterte mir vor allem ihre Installation. Aber mehr noch als die Kunst faszinierte mich ihr Leben, aus dem sich die Kunst nährte. Ich spürte instinktiv: Ihr Leben war so lang wie die Kunst, mindestens. Als wir uns dann im November zum offiziellen Gespräch an der Falkenstrasse trafen, war ich irgendwie auf ein Abenteuer gefasst – und Ilana Lewitan auch, wie sie mir später versicherte. Tatächlich kamen verschüttet geglaubte Erinnerungen hoch, Erinnerungslücken taten sich auf. Wir korrespondierten und telephonierten viel nach dieser Begegnung, die uns beide mitnahm. Seither hat Ilana Lewitan wieder viel zu ihren Eltern recherchiert – und manche, die ihr schreiben (auch nach der Veröffentlichung unseres Interviews), helfen ihr dabei. Ilana Lewitan, 1961 geboren, arbeitete als Architektin, bevor sie sich Mitte der 1990er Jahre ganz der Kunst zu widmen begann. Sie hat Ausstellungen in zahlreichen Museen und Galerien in und ausserhalb Deutschlands rea­ lisiert. Ihre jüngste Kunstinstallation trug den Titel «Adam – wo bist du?» und hatte grosse Resonanz.

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Ilana Lewitan: «Einerseits habe ich zu einem entspannten Verhältnis zu meinem Jüdischsein in Deutschland gefunden. Anderseits nehmen die Warnsignale zu»

Frau Lewitan, eines Ihrer neueren Werke hat mich besonders frap­ piert. Sie haben im Ägyptischen Museum in München vier verschie­ dene Selbstporträts gezeigt : Ilana Lewitan kantig mit kurzen blon­ den Haaren, dann mit Rasta­locken und dunkler Haut, asiatisch mit glatten schwarzen Haaren und einmal mit Tschador. Die Person ist dieselbe, aber die Wirkung des Gesichtes ganz unterschiedlich. Ist dies ein Triumph der Äusserlichkeit ? Sagen wir es so: Wir alle achten zu sehr auf oberflächliche Nuancen. Ändert sich die Erscheinung, wird uns diese plötzlich fremd – und dar­ auf können wir so oder so reagieren: mit Neugierde und Offenheit oder mit Vorurteilen und Abscheu. Oftmals fehlt es einfach an der erforderlichen Empathie, sich in andere Identitäten hineinzuversetzen. Kennen Sie diese Erfahrung – anders als die anderen zu sein ? Das ist ein emotionaler Zustand, mit dem ich seit meinen Kindheits­ tagen sehr vertraut bin. Als ich in München Ende der 1960er-Jahre in die Grundschule kam, da fühlte ich mich auf Anhieb sehr fremd. Das Umfeld war katholisch, und ich war jüdisch. Irgendwann wird aus dem Grundgefühl eine Identität – und die Gedanken beginnen um diese Identität zu kreisen. Woran haben Sie das eigene Fremdsein zunächst festgemacht ? Zuerst mal, ganz banal, am Aussehen. Ich hatte als einziges Kind meiner Klasse dunkle Locken. Mein hebräischer Name Ilana klang anders als jene meiner Klassenkameradinnen. Statt Religionsunterricht hatte ich eine Freistunde, die ich mit mir selbst verbrachte. Und ich habe mich natürlich auch schrecklich darüber geärgert, dass ich keine Weihnachtsgeschenke bekam!

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Klar. Aber das Fremdsein blieb. War Ihre Familie Teil der jüdischen Gemeinde in München ? Nicht wirklich. Mein Vater war zwar engagiert in der Gemeinde, aber die ganze Zeit beruflich unterwegs, mitunter in der französischen Schweiz, wo er eine seiner Fabriken für Damen-Lingerie aufgebaut hatte. Er wollte lieber in Lausanne Mitglied der Gemeinde sein als in München. Meine Mutter hingegen hat sehr zurückgezogen gelebt, mit ihren Ängsten und Erinnerungen. Sie vermied es, mit Deutschen zu verkehren, um nicht fragen zu müssen, wie sie zum Nationalsozialismus standen. Sie wollte aber auch nicht mit anderen Überlebenden die ganze Zeit über ihr Schicksal reden. Dadurch lebten Sie selbst in einer Art Isolation. Haben Sie dieses Fremdsein damals als Last empfunden ? Es kam mir so vor, als würde ich nicht dazugehören, und zugleich wollte ich sein wie die anderen. Ich wollte Ulrike, Monika oder Barbara heissen. Und ich wollte glatte blonde Haare haben. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, dann war ich oftmals alleine, einsam, auf mich selbst zurückgeworfen. Ich wurde zu einer Beobachterin der Welt und meiner selbst. Von früh an habe ich mich meinen Phantasiewelten hingegeben und wie verrückt gemalt und gezeichnet. Heute, im Zeitalter des inszenierten Hyperindividualismus, wollen ja gleichsam alle anders, besonders, einzigartig sein. Hat sich etwas Grundlegendes im Verhältnis der Individuen zum Anderssein ge­ wandelt ? Hm, lassen Sie mich nachdenken. In einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft ist das Anderssein selbstverständlicher geworden. Für mich als Heranwachsende war das Fremdsein zuerst ein Makel, und erst im Laufe der Jahre habe ich mich damit arrangiert. Ich bin zum Schluss gekommen: Ich bin, wie ich bin. Ich nehme mich an, wie ich bin. Wenn andere mich so annehmen, schön, wenn nicht, auch gut. Denn ich habe gemerkt, dass ich aus dieser meiner Geschichte, zu der

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das Anders- und Fremdsein gehört, schöpfen kann. Sie gibt mir Kraft und Kreativität. Aber das Anderssein als Ideal, das in den sozialen Netzwerken und in der Werbung geradezu aufdringlich beschworen wird – können Sie damit etwas anfangen ? Anderssein ohne Identitätskern ist beliebig und inhaltsleer. Diese Art des Besonders-sein-Wollens scheint mir ein Zeitgeistphänomen zu sein, das auf einer tiefen Unsicherheit beruht. Die Heimat, die Religion, die Familie haben an Gewicht verloren, die Werte haben sich verschoben. Man will partout auffallen, ohne zu wissen, wer man wirklich ist und wofür man einsteht. Ein leeres Fass macht eben den grössten Lärm. Konkreter, bitte. Worauf beziehen Sie sich ? Ich habe Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre in New York gelebt. Da wurde die Selbstverständlichkeit, anders zu sein, mit der grösst­möglichen Coolness gelebt. Jeder konnte und durfte anders sein. Ob Channuka, Weihnachten oder Ramadan, jeder wusste um die Feiertage der anderen. Das Anderssein war das Normalsein, nicht rhetorisch, sondern wirklich. Das ist echte, gelebte Freiheit, würde ich sagen. Wunderbar. Das hat mich damals mit meiner Geschichte versöhnt. Sind Sie in New York erst angekommen ? Ja, es war damals ein Gefühl innerer Freiheit, ohne die braunen Geister der Vergangenheit. Ich bin aber bis heute an keinem Ort der Welt angekommen – das Schöne ist, dass ich auch nicht mehr das Gefühl habe, ankommen zu müssen. Denn ich bin bei mir angekommen. Das ist eine – meine – positive Erfahrung der Freiheit, die ich als Künstlerin weitergeben möchte. Hand aufs Herz : Wie steht es heute um diese Freiheit ? Menschen, die in den letzten dreissig Jahren gross geworden sind, haben in Europa, mit Ausnahme vom ehemaligen Jugoslawien, zumeist

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keine Erinnerung mehr an die Zeit des Leidens, der Entbehrung, des Kriegs, der Diktatur. Für manche sind kleine Frustrationen und Entbehrungen schon eine mittlere Katastrophe – weil sie keine reale Vorstellung einer Katastrophe haben. Ich werfe das niemandem vor, denn jeder lebt sein Leben, so gut er kann. Aber dieser Mangel an historischem Bewusstsein – an kulturellem Gedächtnis –, nun ja, der bereitet mir schon Sorgen. Mir scheint, es gebe auch eine gewisse Frivolität – und zugleich ei­ nen Überdruss dieser Frivolität. Könnte man sagen : Wer keinen Be­ griff von der Unfreiheit hat, kann seine Freiheit gar nicht wirklich schätzen ? Ich fürchte, so ist es. Wenn die Massstäbe fehlen, fehlen die Vergleiche. Und wenn die Vergleiche fehlen, nun ja, dann fehlt das Verständnis für die Situation, in der man lebt, das Verständnis für die, die einem vorausgingen, und für die, die einem nachfolgen werden. Jeder lebt in der ­eigenen Blase. Wir, nein viele, sind so satt – und doch ständig unzufrieden. Verantwortung kommt ebenso abhanden wie Dankbarkeit – und sollten wir nicht jeden Tag dankbar sein, trotz allem, in der freiesten aller Gesellschaften zu leben? Gerade in Deutschland? Gewiss. So spricht jemand, der sechzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren ist. Ja, und deshalb hat mich immer die Frage nach dem Zufall des Ortes und des Zeitpunkts der Geburt beschäftigt. Ich hatte Glück. Natürlich habe ich meine Themen und meine Neurosen aufgrund der Familiengeschichte, aber ich kann inzwischen meine Identität und mein Künstlersein ausleben. Das empfinde ich als Geschenk, dessen ich mir bewusst bin. Denn ich weiss: Alles könnte schnell auch anders sein. Wie sehen das Ihre beiden Töchter ? Beide haben viele Themen – die Schrecken der Grosseltern haben nicht haltgemacht vor der dritten Generation. Hinzu kommen aktuelle Fra­

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14  Ueli Maurer Bundespräsident Ueli Maurer war Gastredner am Jahreskongress der Zeitungsverleger, der im September 2013 im bernischen Interlaken stattfand. Seine gepfefferte Rede hatte für manche Buhrufe gesorgt. Ein Skandal? Nein, andersherum: Die Buhrufe deuteten darauf hin, dass er nicht nur einen heiklen Punkt angesprochen, sondern dabei auch ins Schwarze getroffen hatte. Sein Punkt: Die verschiedenen Medien in der Schweiz würden bloss eine Scheinvielfalt vertreten. Der Präsident des Staates wagte es, den sich achso kritisch dünkenden Journalisten zu viel Staatsgläubigkeit vorzuwerfen. In der Folge stimmten Verleger und Jour­nalisten, die sich sonst spinnefeind sind, natürlich überein: Das ginge gar nicht. Was nur bewies, dass der helvetische Magistrat den rosaroten Elefanten im Raum treffend benannt hatte. Ich fand, dass eine solche Provokation Respekt verdiente, zumal Politiker sonst gerne mit dem Zuspruch der Medien rechnen. Die Buhrufe nahm Maurer gelassen, ja sogar als Zustimmung. Diesen Mann wollte ich treffen. Ich meldete mich beim Presseverantwortlichen, der ohne viel Aufhebens ein Interview mit dem Bundespräsidenten organisierte. Alles sehr unkompliziert. Ich traf Maurer im Dezember 2013 in einem anonymen Sitzungszimmer in Bern. Wie aus dem Nichts war er da: Ueli Maurer, drahtig, sportlich, gespannt wie eine Feder. Wir redeten und hatten Spass. Ueli Maurer, 1950 geboren, hat eine kaufmännische Lehre absolviert. Er war Geschäftsführer des Zürcher Bauernverbandes, Nationalrat, Partei­präsi­dent der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Seit 2009 ist er Mitglied des Bundes­ rats, zuerst als Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungs­schutz und Sport, seit 2016 als Vorsteher des Eidgenössischen Finanzdepartements.

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Ueli Maurer: «Ich sehe schon, Sie bringen mich auf neue Gedanken: Ich muss über die Bücher»

Herr Maurer, beginnen wir konkret : Sind Sie ein klassischer Zei­ tungsleser ? Nein, bin ich nicht. Um mir einen Überblick zu verschaffen, gehe ich morgens kurz online. Wenn ich im Auto unterwegs bin und nicht selber fahre, ist zumeist eine Zeitung dabei. Aber Zeitungen haben nicht so viel Gehalt, als dass man sich ewig darin vertiefen müsste. Tenden­ ziell nimmt mein Zeitungskonsum ab. Konsumieren Sie vielleicht bloss die falschen Zeitungen ? Ich lese eher wieder mal ein gutes Buch oder einen grundsätzlicheren Essay. Da geht es um die grossen Zusammenhänge, und genau das ist es, was uns oftmals fehlt: das Begreifen der Zusammenhänge. Welche Zeitschriften lesen Sie denn ? Die Weltwoche und die Wochenzeitung, damit ich mit den Themen abgedeckt bin, die rechts und links gerade verhandelt werden. Die Weltwoche überrascht mich nicht. Aber Sie lesen tatsächlich die softsozialistische WOZ ? Klar. Die Redaktoren vertreten zwar völlig verkehrte Ansichten, doch ist die Zeitung nicht schlecht gemacht – sie bringt immer wieder mal gut recherchierte Geschichten. Und zwischendurch kaufe ich mir die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die ist klug und unterhaltsam. Reissen Sie nach guter alter Sitte die Texte mit potenziellem Erkennt­ nisgewinn heraus, um sie später in Ruhe zu lesen ? Selten. Ich bewahre mir einige Artikel auf, um sie zu studieren. Am Ende jedes Monats schaue ich mir die Schnipsel an und stelle erleich-

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tert fest: Das meiste hat sich erübrigt, all dieses Werweissen, Mutmassen und Meinen. So spart man Zeit, die man in die Buchlektüre investieren kann. Aha. Welches Buch lesen Sie gerade ? Ich habe die Angewohnheit, immer ein paar Bücher gleichzeitig zu lesen. Zurzeit ist dies ein spannender Roman von Marc Elsberg, der sich um eine Welt dreht, wo der Strom ausfällt: Blackout. Dann bin ich gerade in die Biographie des Gesandten Walter Stucki vertieft. Der Titel des dritten Buches ist mir entfallen. Steht bei Ihnen zu Hause ein Fernseher ? Nein. Und bei Ihnen? Auch nicht. Machen Sie bei sozialen Medien mit – als betont «volks­ naher» Bundesrat ? Nein. Inkognito ? Nein. Interessieren Sie sich immerhin für das, was dort über Sie geschrie­ ben wird ? Das tue ich grundsätzlich nicht. Das kann ich kaum glauben. Es ist so. Wirklich. Sie lesen also nur wenige Zeitungen und Zeitschriften, kritisieren aber gerne die Zeitungsmacher. In einer vielbeachteten Rede am Ver­ legerkongress haben Sie die Verleger attackiert. Ihr Vorwurf an die Anwesenden : Sie lassen es an persönlicher Statur fehlen und pflegen

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den journalistischen Einheitsbrei. Die Verleger quittierten die Kritik mit Pfiffen. Haben Sie damit gerechnet ? Der Auftritt war einer der Höhepunkte meines Präsidialjahres: Inter­ laken, ein schöner Saal, Frauen in langen Roben, weiss gedeckte Tische, Herren im gepflegten Smoking – und ich wurde zeit meines Lebens noch nie so ausgebuht. Das habe ich, ganz ehrlich gesagt, nicht erwartet. Mir war sofort klar, dass ich einen wunden Punkt getroffen haben musste. Den wunden Punkt würde ich gerne mit Ihnen vertiefen. Sie haben eine kritischere Haltung gegenüber Exponenten der Macht ange­ mahnt. Dazu zählen Sie selbst als Bundesrat. Was hat Sie geritten, die Medien zu mehr Bundesratsschelte aufzufordern ? Es geht ja nicht um mich, sondern um die Sache. Ich beziehe mich in meinem Vortrag auf die Mediationszeit und die Gründungsjahre des modernen Bundesstaates. Damals hat man der Presse eine klare, staatspolitisch unverzichtbare Aufgabe zugewiesen: die Mächtigen zu kon­ trollieren, und dazu zählen alle Vertreter des Monopolisten Staat. Der Staat hat die Freiheit der Bürger zu schützen, darum wurde er von den Bürgern gegründet. Aber genau darum stellt er zugleich eine ständige Bedrohung für ihre Freiheit dar, indem er sich immer wieder unaufgefordert in ihr Leben einmischt. In meinem Vortrag habe ich die Frage aufgeworfen: Wo ist diese kritische Grundhaltung heute? Wo sind die staatsskeptischen Journalisten? Ich würde antworten : Sie existieren sehr wohl. Allerdings werden sie von Ihren Spindoctors auch gut bearbeitet. Wie viele Kommunika­ tionsleute beschäftigen Sie eigentlich im VBS ? Etwa 100 Leute. Die meisten davon sind damit beschäftigt, Lehrmittel, Programme, Filme, Reglemente für die Armee herzustellen. Im Medien­ umfeld sind es 15 Leute.

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Das sind immer noch eine Menge Spindoctors, die die gehetzten Journalisten gezielt mit Informationen füttern können. Ich erkenne hier eine Asymmetrie in der Informationsmacht. Das ist zweifellos ein Problem. Eindeutig. Wir haben viel zu viele Kommunikationsbeauftragte in Bern. Die Journalisten wissen damit aber im Übrigen klug umzugehen. Sie entlocken dem einen eine Information, dann dem anderen eine leicht anders gefärbte – und schon haben sie eine Geschichte, mit der sie für ein paar Stunden Aufmerksamkeit erzielen können. Aus solchen Geschichten entstehen wiederum neue Geschichten, und das Rad dreht sich weiter und immer weiter. Dagegen hilft nur eins: Der Chef muss mehr selber kommunizieren. Das habe ich als Parteipräsident auch so gehalten. Ich sehe schon, Sie bringen mich auf neue Gedanken: Ich muss über die Bücher. Ihre Kommunikatoren arbeiten effizient. Den Kauf der neuen Gri­ pen-Kampfflugzeuge haben Sie ziemlich reibungslos über die Bühne gebracht. Danke. Ich sage immer: Rein machtpolitisch betrachtet sind die Medien eigentlich unsere Instrumente. Sie bringen die Anliegen unter die Leute. Hier brauchen wir eine glasklare Kommunikationsstrategie, damit die Botschaft so ankommt, wie wir dies wollen. Die Kommunikationsmacht ist – um Ihr Wort zu benutzen – staats­ politisch bedenklich. Stimmt. Eigentlich müssten wir weniger Auskunft geben – und dann bräuchten wir auch nicht so viele Kommunikationsexperten in Bern. Wenn es etwas zu sagen gibt, nun wohl, dann veranstalten wir eine Pressekonferenz. Und sonst schweigen wir. Heute geht hingegen die Angst um, dass wir in die Pfanne gehauen werden, wenn wir die Journalisten nicht ständig mit Geschichten beliefern.

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Und die Journalisten schreiben dann das, was die Leute hören wol­ len ? Sie schreiben das, von dem sie glauben, dass es die Leute hören wollen. Fakt ist: Seichte Unterhaltung dominiert heute auch in den Printmedien. Das Credo heisst «Brot und Spiele», wie im alten Rom. Zurück zu Ihrem Vortrag. Sie sprechen darin von einem «Glaubens­ bekenntnis der Schweizer Medien». Diese Glaubenssätze lauten ge­ mäss Ueli Maurer wie folgt : «Der Klimawandel ist dem Menschen anzulasten. – Atomenergie ist böse, Alternativenergien sind gut. – Einwanderung ist immer und überall eine Bereicherung. – Internatio­ nale Lösungen sind immer besser als nationale. – Die Schweiz ist immer im Unrecht, die Vorwürfe an unser Land können noch so absurd und durchsichtig sein. – Der Staat ist verantwortungsvoller als der Bürger.» Wie kommen Sie darauf ? Das sind die Botschaften, mit denen wir täglich bombardiert werden – selbst Leute wie ich, die sich ihnen zu entziehen versuchen. Ich frage aber einmal zurück: Stimmt es denn nicht, dass die meisten Journalisten heute links oder Mitte-links stehen? Ich würde es so sagen : Viele meiner Kollegen sind tendenziell staats­ gläubig und wirtschaftskritisch eingestellt – die wenigsten waren jemals auf eigene Rechnung in der Privatwirtschaft unterwegs. Sie sind geprägt von ihrem Umfeld und folgen den Gesetzen der Be­ quemlichkeit : Wer staatsaffin eingestellt ist, hält sich in der Publizis­ tik alle Berufsoptionen offen. Das ist letztlich bloss rational. Die meisten Journalisten sind heute weniger unabhängig als früher. Sie sind eingebunden in politische Aktivitäten und Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen, die politische Ziele verfolgen. Sie sind Teil eines Machtgebildes. Es ist ja klar, dass sie nicht die Hand beissen, die sie mit Geschichten füttert. Bern ist eine Käseglocke ohne Frischluftzufuhr. Das führt automatisch zu mentalen Verformungen.

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Sie übertreiben. In der Schweiz weht bloss derselbe etatistische Zeit­ geist, der auch im Rest Europas den Ton angibt. Ralf Dahrendorf schrieb bereits zu Beginn der 1980er-Jahre : «Wir sind (fast) alle zu Sozialdemokraten geworden.» Damit meinte er : Ausbau des Sozial­ staats, Freiheit wird nur noch als politische Teilhabe verstanden, Ge­ rechtigkeit meint grössere materielle Gleichheit, der Glaube an poli­ tische Machbarkeit ist ungebrochen, und der Staat agiert stets wohlwollend. Das kann ich alles unterschreiben. Dahrendorf hat insofern recht, als der deutsche Staat ständig wuchs, in den friedlichen und prosperierenden Jahrzehnten nach dem Krieg. In der Schweiz wurde der linke Zeitgeist vor allem in den 1990er-Jahren so richtig spürbar, nach dem Fall der Mauer. Er wirkt bis heute nach. Auch bei uns wird der Staat mittlerweile zum grossen Problemlöser verklärt. Nehmen wir einen Moment an, Ihre These sei korrekt. Worauf füh­ ren Sie die Veränderung des Zeitgeists zurück ? Ich nenne Ihnen eine Zahl: 1968. Pardon, das war vor langer Zeit. Stimmt. Aber dann kam der Marsch durch die Institutionen. Die Schulen wurden linker und femininer, das beginnt schon in der Primarschule und geht dann munter weiter: Mittelschule, Hochschule. Das Umfeld färbt ab. Ich sehe das bei meinen eigenen Kindern. Je mehr Zeit sie in Schulen verbringen, desto linker ist ihre Einstellung, jedenfalls vorübergehend! Wir haben sechs Kinder. Jene, die an die Uni gehen, kommen irgendwann links nach Hause. Jene, die eine Lehre ab­ solvieren und mit dem realen Leben statt nur mit schönen Ideen konfrontiert sind, bleiben solide bürgerlich. Wir hatten deswegen beim Abendessen jeweils die heftigsten Diskussionen.

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NACHWORT

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Gestalten der Gegenwart Ein Nachwort zum Fluchtpunkt der Interviews von René Scheu Von Hans Ulrich Gumbrecht Nichts führt daran vorbei – dieses Buch muss mit dem Geständnis beginnen, dass es den Status einer Fortsetzung hat. Den Status einer Fortsetzung allerdings, deren vorausgehenden Teil man nicht kennen muss, um auch den folgenden mit Gewinn und Freude lesen zu können. Als Fortsetzung fügt der Band Gespräch und Gestalt den zwanzig vor gut einem Jahr unter dem Titel Gespräch und Gegenwart wieder veröffentlichten Interviews von René Scheu 17 weitere hinzu. «Mehr vom Selben» liesse sich also mit unüberhörbarem Anglizismus und einiger Ambiguität sagen. Die Verantwortung dafür, auf die positive Seite dieser Ambiguität zu setzen, übernehme ich ohne Zögern. Denn die Impulse für beide Bücher kamen von mir und nicht vom Verfasser der Texte. Unzählige Mails, viele transatlantische Telefonate und einige Gespräche vor Ort in der Schweiz wie in Kalifornien waren tatsächlich nötig, um René davon zu überzeugen, dass seine Interviews mehr als journalistische Pflichtübungen sind, weil ihr Themenhorizont, ihre Rhythmen und ihre Formen einen Fluchtpunkt sichtbar werden lassen, der nicht allein mich fasziniert. Worin genau dieser Fluchtpunkt liegt, lässt sich freilich jenseits (oder diesseits) hochfliegender Gemeinplätze des Lobs nicht ohne Weiteres angeben. In der Einleitung zum ersten Band der Scheu-Gespräche habe ich zu zeigen versucht, wie im Kontrast zu unserer kommunika­ tiven Umwelt aus sozialen Medien – von Blog über Tweet zu Chat – ge291

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rade der in scheinbar altmodischer Schriftlichkeit ausgearbeiteten Präg­ nanz von Zeitungsinterviews eine besondere Attraktivität zukommt. Diese These möchte ich nun mit einer doppelten Konzentration auf den Begriff «Gestalt» präzisieren und weiterführen. Gelingende Interviews, werde ich behaupten, geben ihren Lesern erstens die Möglichkeit, einzelne Zeitgenossen als Gestalten zu erfahren, und zweitens aus dem so entstehenden Panoptikum individueller Gestalten zu einer Ahnung von der Gestalt ihrer jeweiligen Gegenwart zu gelangen. Statt aber die Vorüberlegungen für den Band Gespräch und Gegenwart hier im Detail zu wiederholen oder als bekannt vorauszusetzen, fasse ich vorab ihre zentralen Punkte so knapp wie möglich zusammen. *** Gespräch und Gegenwart begann mit einer doppelten Distanznahme, die auch für diese Reflexion gilt. Wir wollen die Interviewtexte weder prinzipiell in humanistischer Euphorie als Wahrheitsursprung ansehen, wie es seit Beginn der frühen Neuzeit im Blick auf das Gespräch als Form immer wieder geschehen ist, noch unter dem von J­acques Derrida vor gut fünfzig Jahren analytisch heraufbeschworenen Verdacht, dass sie eine gefährliche Illusion von Selbsttransparenz begründen, insofern Gespräche Selbstbeobachtung ermöglichen. Die Wirkung von Zeitungsinterviews als verschriftlichen Gesprächen, das war unsere Voraussetzung, hängt in erster Linie davon ab, was der der Textautor im Einzelfall aus seinen Notizen und Erinnerungen macht. Darüber hinaus haben wir die einschlägige Gattungsgeschichte nach vier Schritten rekonstruiert. Interviews traten zuerst in den Ver­ einigten Staaten als eine von Zeitungen regelmässig benutzte Textform hervor, nachdem dort um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die sich dynamisch entwickelnde Gesellschaft – anstelle von Religion und einer durch sie legitimierten Hierarchie der Stände – zum Rang der entscheidenden Wirklichkeitsdimension aufgestiegen war. Anhand repräsentativer Protagonisten zu sehen, in welche Richtungen sich jene 292

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zentrale Wirklichkeit entwickelte, wurde zu einem neuen und schon bald dringenden Anliegen. Die Gattung erreichte zweitens den Höhepunkt ihrer Beliebtheit – nun auch bei Europäern und Südamerikanern – in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen mit einer von der Aufklärungstradition übernommenen Konzentration auf die harmonisch-authentische oder problematisch-gespannte Beziehung zwischen privater und öffentlicher Person. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eroberte das Interview dann drittens in der Gegenwärtigkeit vielfältiger «Talkshow»-Formate das Millionenpublikum des Direktfern­ sehens, um schliesslich für unsere Gegenwart nach 2000 im Medium unendlich ausdehnbarer und permanent abrufbarer Podcasts an die Peripherie des gesellschaftlichen Interesses zu rücken. Interview-Autoren wie René Scheu bringen also – für die Spätphase der vielleicht vor ihrem historischen Ende stehenden Tageszeitungen – eine gepflegte Schriftlichkeit zurück ins Spiel, die sich seit der Zeit der Talkshows aufgelöst hat. Gegen die fliessende Gegenwärtigkeit der so­­ zialen Medien und die ausufernden, weil stets unabgeschlossenen Pod­ casts verstärken die ausgearbeiteten Gespräche eine existenzielle Sehnsucht nach Form, Gestalt und Prägnanz, an der man sich gleichsam existenziell festhalten möchte. Am Ende des Bands Gespräch und Gegenwart beschreibt René, wie er in der der Konversation mit seinen Interviewpartnern das Entste­ hen solcher Textformen vorbereitet. Entscheidend ist das Auf­kommen einer entspannten wechselseitigen Zuwendung durch das Aus­blen­den aller laufenden Alltagsthemen (er nennt diese Situation in Anlehnung an einen Begriff des Philosophen Edmund Husserl «Epoché»). Erst in solcher Atmosphäre kann die Dynamik eines Flows entstehen, der zu nicht vorhergesehenen Inhalten und ihrer Entwicklung durch ebenso ­wenig vorbereitete Fragen führt. An die Stelle von Themen- oder Fragenprogrammen tritt fortschreitend Empathie als Bedingung für das Hervortreten von Konturen je individueller «Denkseelen». Diesem Prozess und seinem Ergebnis gibt die Verschriftlichung der Gespräche eine für den Leser nachvollziehbare Form. 293

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Den für René Scheu wichtigen und sonst durchaus ungewöhnlichen Begriff einer «Denkseele», die sich als Individualität im Gespräch zeigen kann, möchte ich nun unter verschiedenen Perspektiven mit dem Begriff der «Gestalt» konvergieren lassen. Am Beginn wird eine Charakterisierung unserer Gegenwart im Blick auf die Frage stehen, woher die Faszination des Erfassens solcher Denkseelen kommt. Es folgt eine an dieser Analyse orientierte Ausarbeitung des Gestalt-Konzepts, die zum eigentlichen Anliegen führt, nämlich zur detaillierten Darstellung des Entstehens von Denkseelen – die sich dem Leser als Gestalten einprägen. Damit zeichnen sich dann auch Materialien für die Diskussion einer übergreifenden Gestalt der Gegenwart ab, die sich aus den individuellen Gestalten ergeben kann. Abschliessend werden wir diskutieren, ob sich als Fluchtpunkt aus all diesen Blickwinkeln der Reflexion und Analyse eine Gestalt des Interview-Autors abzeichnet – oder ob eine solche Gestalt von seinen Übungen dynamischer Empathie ganz absorbiert wird. *** Was also bedeutet Individualität in der Gegenwart? Und was ist die spezifische Form unserer Gegenwart? Um dies zu klären, müssen wir über unseren Begriff von Zeit nachdenken. Dass der heutige Begriff von Geschichte selbst eine Geschichte hat, gehört zu den wenigen Einsichten der Geisteswissenschaften, die im vergangenen halben Jahrhundert eine gewisse gesellschaftliche Resonanz gefunden haben. Allerdings unterstellen wir weiter eine Dominanz der Struktur «historischer Zeit», wenn wir – unabhängig von unseren Alltagsproblemen – über Vergangenheit und Zukunft nachdenken. Seit der Entstehung der Form historischer Zeit im späten achtzehnten Jahrhundert gehen wir erstens davon aus, dass wir die Vergangenheit hinter uns lassen und dass mit wachsendem Abstand von der Vergangenheit ihre Relevanz für die Gegenwart abnimmt. Die Zukunft fassen wir zweitens als einen offenen Horizont von Möglichkeiten auf, 294

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BIOGRAFISCHE ANGABEN

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DER AUTOR René Scheu, geboren 1974, ist Geschäftsführer

des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern. Von 2016 bis bis Juni 2021 war er Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung. Er wurde mit einer Arbeit in zeitgenössischer Philosophie an der Universität Zürich promoviert, ist zudem Italianist und Herausgeber zahlreicher Bücher im Bereich der philosophischen Zeitdiagnostik.

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DER HERAUSGEBER Hans Ulrich Gumbrecht, geboren 1948, ist Albert

Guérard Professor Emeritus in Literature in Stanford und zählt zu den prägenden Intellektuellen der Gegenwart. Zuletzt sind von ihm die Bücher Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität (Klostermann, 2020), Brüchige Gegenwart (Reclam, 2019) und Weltgeist im Silicon Valley (NZZ Libro, 2018) erschienen.

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Hans Ulrich Gumbrecht (*1948) ist Albert Guérard Professor Emeritus in Literature in Stanford und zählt zu den prägenden Intellektuellen der Gegenwart.

«Der Dialog, der kaum vorgefertigte Redeversatzstücke ­zulässt, ist oft schlackenfreier und insofern erhellender als ein monothematischer Autorentext. Vor allem, wenn er zwischen Menschen geführt wird, die nicht nur Gutes zu sagen haben, sondern es auch gut sagen. Nicht allein deshalb ist René Scheus Büchlein ein großer Lesespass auf kleinem Raum. Es kommt auch dem Geheimnis des ‹Zwischen den Menschen› ziemlich nahe, von dem Martin Buber einst sprach. Unbedingt lesen!» Reinhard K. Sprenger, Unternehmensberater, Philosoph und Bestseller-Autor «Für mich verkörpert René Scheu den Individualitätstyp der Empathie und der intellektuellen Intensität in einer eben erst einsetzenden Gegenwart, der er mit seinen Interviews schon Gestalten und eine erste übergreifende Gestalt ge­ geben hat.» Aus dem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht

René Scheu

René Scheu (*1974) ist promovierter Philosoph, Geschäftsführer des Instituts für Wirtschaftspolitik (IWP) an der ­Universität Luzern, ehemaliger NZZ-Feuilletonchef und Herausgeber zahlreicher Bücher.

Gespräch und Gestalt

René Scheu

Gespräch und Gestalt Entspannte Interviews mit Ayaan Hirsi Ali, Maxim Biller, Jörg Baberowski, Klaus Doldinger, Woody Harrelson, Ilana Lewitan, Elif Shafak, Peter Sloterdijk, Oliver Stone, Anna Zeiter, Slavoj Žižek und anderen

Nach Gespräch und Gegenwart legt René Scheu seinen zweiten Band mit hochkarätigen Interviews vor. Er spricht mit unerschrockenen Intellektuellen, mutigen Künstlern und nachdenklichen Machern der Gegenwart. Im Zeitalter der schrillen Identitäts-Forderungen und überzeichneten Selbstbilder in den sozialen Medien ist Individualität fluide geworden. Sie zeigt sich nicht mehr im Beharren auf den immer gleichen stereotypen Merkmalen, sondern in der gelassenen Fähigkeit, etwas aus den Zufällen menschlicher Begegnungen zu machen. Es gilt die ­Devise: Wenn zwei aufeinandertreffen, ist immer alles möglich. René Scheu pflegt die journalistische Technik des Interviews als Rahmen, in dem sich diese neue Kraft des Individuellen entfalten kann. Sein Fragen und sein Zuhören geben ganz unterschiedlichen Zeitgenossen eine erkennbare Gestalt im anhaltenden Kommunikationsfluss und zugleich die Gelegenheit, sich selbst anders und neu kennenzulernen. Herausgegeben und mit einem einführenden Essay und einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht. 17 entspannte Interviews mit Ayaan Hirsi Ali, Maxim Biller, Jörg Baberowski, Rolf Dobelli, Klaus Doldinger, Markus Gabriel, Woody Harrelson, Ilana Lewitan, Ueli Maurer, Frank A. Meyer, Elif Shafak, Peter Sloterdijk, Oliver Stone, Angelo van Tol, Lars Windhorst, Anna Zeiter und Slavoj Žižek.

Mit einem Essay von Hans Ulrich Gumbrecht ISBN 978-3-907291-47-4

www.nzz-libro.ch UG_Scheu_Gespraech-Gestalt_Klappenbroschur_04_Ruecken-22mm.indd 1

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