Gerhard Schwarz: Die Schweiz hat Zukunft. Von der positiven Kraft der Eigenart.

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SSIAF Bd. 3

In seinem Essay zeigt Gerhard Schwarz, warum die Schweiz Zukunft hat, wenn sie ihre einzigartigen Institutionen so reformiert, dass sie ihren Wesenskern behalten. Inmitten der vielleicht grössten Krise, die die reichen Industriestaaten seit dem 2. Weltkrieg durchmachen, hält er fest: Das Modell Schweiz ist kein Schönwettermodell. Es b ­ ietet alle Chancen, die Welt von morgen aktiv mitzugestalten.

Gerhard Schwarz Die Schweiz hat Zukunft

Was macht das Erfolgsrezept der Schweiz aus? Grundrechte, Gewaltentrennung und Wohlstand gibt es auch anderswo. Es ist der produktive Mix aus politischer Balance, wirtschaftlicher Prosperität und kultureller Vielfalt, der die Schweiz zum Unikat macht. Ihre Institutionen halten die Nation voller Gegensätze zwischen Jung und Alt, Arm und Reich, Stadt und Land, Zugewanderten und Einheimischen, zwischen Regionen, Religionen, Sprachen und Kulturen zusammen.

Gerhard Schwarz

Die Schweiz hat Zukunft Von der positiven Kraft der Eigenart

NZZ Libro ISBN 978-3-03810-446-9

Schriften des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung www.nzz-libro.ch

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SCHRIFTEN DES SCHWEIZERISCHEN INSTITUTS FÜR AUSLANDFORSCHUNG Begründet von Dr. Dr. h.c. Martin Meyer

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Gerhard Schwarz

Die Schweiz hat Zukunft Von der positiven Kraft der Eigenart

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© 2021 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Lektorat: Ingrid Kunz Graf, Stein am Rhein Gestaltung & Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: CPI books GmbH, Leck Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der ­Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikro­verfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Daten­­ verarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser ­Verwertung, vor­­ behalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen ­Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen ­unterliegen den Straf­ bestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-446-9 ISBN 978-3-907291-45-0 (E-Book) www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

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Meinen Enkelkindern

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Inhalt Zum Geleit  9

1. Vorwort  11

A.  Ein von unten gebauter Staat  15

2. Zukunft braucht Herkunft  17

3. Die Idee Schweiz – der unbehagliche Sonderfall  20

4. Subsidiarität und Solidarität – der Staat als Genossenschaft  29

B.  Institutionelle Eigenarten  35

5. Die direkte Demokratie – das Volk im Führerstand  37

6. Das Milizprinzip – Partizipation im Bürgerstaat  46

7. Der Non-Zentralismus – Zusammenhalt dank Autonomie  54

8. Die Konkordanz – der Kompromiss als Teil der Kultur  62

C.  Mitten in der Welt  69

9. Immerwährende Neutralität  71

10. Selektive Offenheit  75

11. Der Platz in Europa und in der Welt  82

D.  Raum für Unternehmertum  89

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E.  Arbeit am Morgen  105

12. Zukunft braucht Reformen  107

13. Reformieren, um zu bewahren  112

14. Anpassung der institutionellen Eigenarten  115 a)  Verwesentlichung der direkten Demokratie  115 b)  Revitalisierung des Milizgedankens  118 c)  Stärkung des Non-Zentralismus  122 d)  Erneuerung der Konkordanz  127

15. Interesse und Teilhabe an der Welt  130

a) Gute Dienste  131 b) Veritabler Freihandel  133 c) Kontrollierte Offenheit  134 16. Wettbewerb, Privateigentum und Eigenverantwortung  135 a)  Mehr Wettbewerb, weniger Überregulierung  136 b)  Mehr Privateigentum, weniger Staat  137 c)  Mehr Eigenverantwortung, weniger Paternalismus  140 d)  Mehr nachhaltiges Wachstum, weniger Umverteilung  143 F.  Exzellent anders  145 Die Schweiz und ihre Zukunft als Sonderfall  153 (Ein Nachwort von Lars P. Feld) Der Autor  159

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Zum Geleit Wie es sein Name sagt, richtet das Schweizerische Institut für Auslandforschung seit seiner Gründung im Jahr 1943 den Blick auf das Weltgeschehen. Vorträge, Diskussionen und Publikationen befassen sich mit dem, was früher und noch lange «Ausland» war und hiess, doch inzwischen näher herangerückt ist: als der globalisierte Globus, dessen Verbindungen und Verflechtungen doch nicht darüber hinwegtäuschen können, dass wachsende Nähe die Konnotationen und Erfahrungen des Fernen keineswegs einfach durchstreichen kann. Daran ändert auch ein gestiegenes Bewusstsein für die Schicksals­ gemeinschaft auf unserem Planeten im Zeichen von Seuchen, Klima und anderen Verwerfungen wenig. Der Ausgangspunkt des mit der Universität Zürich assoziierten Instituts ist freilich die Schweiz. Das Bedürfnis, aus der Freiheit, dem Verständnis und den Eigenarten unseres Landes heraus die Welt in ihren Komplexitäten besser zu verstehen und kritisch zu analysieren, markierte die Geburtsstunde des Siaf in bedrängter Zeit. Orientierung tat not, und sie wurde bald im regen Kontakt mit Wissenschaftern und Forschern insbesondere auch aus dem Ausland nachhaltig geschaffen. Nach dem Zusammenbruch des Totalitarismus von rechts rückte derjenige von links in den Fokus. Das atlantische Bündnis war und blieb immer ein wichtiger Brennpunkt. Und bald wurde auch die Dritte Welt zum Thema von Veranstaltungen, Schriften, Gesprächen und Berichten. Dies alles jedoch immer wieder auch vor dem Hintergrund dessen, was der grosse Schweizer Schriftsteller und Nobelpreisträger Carl Spitteler anlässlich einer berühmt gewordenen Rede vom Dezember 1914 mit dem Titel «Unser Schweizer Standpunkt» versah. Der Blick auf die Welt als Blick aus der Schweiz: Das war und ist keine perspektivische Verkrümmung, sondern offen oder auch unausgesprochen eine Voraussetzung unserer Tätigkeiten. Bisherige Arbeit hat gezeigt, dass daraus niemals Provinzialismus erwachsen ist. Im 9

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Gegenteil: Austausch mit Selbstbewusstsein und Neugier für das Verstehen von anderem ist schon grundsätzlich ein wesentlicher Teil der «success story» dieses Landes. Dies gesagt, ist es uns eine besondere Freude, die dritte Publikation unserer neuen Schriftenreihe begrüssen zu dürfen. Sie stammt aus der Feder des profilierten Wirtschaftswissenschafters und Publizisten Gerhard Schwarz und ist dem Thema der Zukunftsfähigkeit der Schweiz gewidmet. In einer Epoche weltweit zunehmender, aber auch kontrovers wahrgenommener Interdependenzen und Abhängigkeiten ist immer wieder auch energisch zu fragen, wo unser Land steht, wie es aufgestellt ist, woher es seine geistigen und materiellen Ressourcen bezieht, weshalb es Erfolg hat und weiterhin haben kann, wo umgekehrt Defizite registriert werden müssen oder Schönfärberei und Illusionen die Realitäten verdecken. Jedermann, der Geri Schwarz kennt und seine Publikationen studiert, schätzt den Denker und Debattierer, der unbeeindruckt von Moden und politisch hochgefahrener «Korrektheit» die Dinge beim Namen nennt, auf den Punkt bringt und auf weitere Perspektiven hin entwickelt. Man kann es auch so sagen: Liberalismus soll, ja muss auch unbequem und unangepasst sein, wenn er seine Werte und Überzeugungen in einem Klima verteidigt, das vielerorts diverseste Ansprüche und Begehrlichkeiten einerseits, den Dirigismus von oben mit einem immer längeren Schweif von Vorschriften und Zwängen anderseits begünstigt. Die gute Nachricht lautet: Die Schweiz hat Zukunft. Sie hat dank eines ziemlich einzigartigen Mixes aus Herkunft, Offenheit, institu­ tioneller Balance, wirtschaftlicher Kompetenz, Innovationskraft und kultureller Diversität alle Chancen, in einer Welt von morgen nicht einfach aufzugehen, sondern diese selbsttätig mitzugestalten. Dr. Martin Meyer, Präsident des Vorstands Schweizerisches Institut für Auslandforschung

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1. Vorwort Beim Schreiben des Buchs Wirtschaftswunder Schweiz 1 habe ich begonnen, mich eingehender mit den Ursachen des ungewöhnlichen wirtschaftlichen Erfolgs der Schweiz nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg, sondern schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu befassen. Erste Anstösse dazu waren allerdings schon früher erfolgt. Während meiner Zeit als NZZ-Korrespondent in Paris hatte mir mein Kollege Paul Keller, langjähriger Frankreich-Korrespondent für die Basler Nachrichten, die Basler Zeitung und zuletzt auch für die NZZ, als Willkommensgeschenk sein Buch Die Schweiz warum?2 überreicht. Später beeindruckte mich Jonathan Steinbergs Why Switzerland?.3 Die an Stammtischrunden jeglichen Niveaus meist mit viel moralischem Tremolo vertretene These, die Schweiz sei auf Kosten der anderen Staaten reich geworden, liess sich nur begrenzt erhärten. Die Schweiz überholte schon vor den grossen Kriegen viele Staaten in Europa – in einer Zeit also, in der sie weder von Bankgeheimnis und Kapitalflucht noch von der Unversehrtheit im Krieg profitierte. Die naheliegende und partiell richtige These, es seien vor allem markt1

Gerhard Schwarz/James Breiding, Wirtschaftswunder Schweiz. Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells, 3. überarbeitete Aufl., Zürich: NZZ Libro 2018.

2

Paul Keller, Die Schweiz warum? Zwänge und Chancen der Wirtschaft, Solothurn: Verlag Vogt-Schild AG 1982.

3

Jonathan Steinberg, Why Switzerland?, 3. Aufl., Cambridge: Cambridge University Press 2015. (Hierbei handelt es sich um eine gegenüber der ersten Auflage von 1976 völlig überarbeitete und massiv erweiterte Ausgabe.)

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wirtschaftliche Rahmenbedingungen für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes entscheidend, genügte als Erklärung ebenfalls nicht. Zum einen war und ist das Land keineswegs immer so marktwirtschaftlich, wie es scheint. Zum anderen – und vor allem – zeigte sich, dass es das politische System und einige weiche Faktoren sind, die letztlich den Unterschied ausmachen. Schon Gottfried Keller hatte die Schweiz einst als politische Idee bezeichnet.4 Halbwegs marktwirtschaftliche Länder gibt es nämlich noch einige mehr auf dieser Welt. Ein zweites Land mit einem politischen System, das dem der Schweiz ähnelt, gibt es hingegen nicht. All diese Beobachtungen haben dazu geführt, dass ich mich in den vergangenen zehn Jahren in Vorträgen und kürzeren Texten immer wieder mit diesem eigen­wil­ ligen politischen System befasst habe. (Vgl. dazu die Angaben zum Autor am Schluss des Buches.) In der vorliegenden Schrift versuche ich nun, diese Vorarbeiten zu einem schlüssigen Ganzen zusammenzufügen. Der Essay enthält – ohne eigene Kenntlichmachung – viele Textbausteine, die ich an anderer Stelle bereits einmal mündlich oder schriftlich formuliert oder gar veröffentlicht habe. NZZ-Wirtschaftsredaktor Thomas Fuster und der Ökonom Ru-

dolf Walser haben das Manuskript gegengelesen und viele wertvolle Anregungen geliefert. Ihnen gilt mein Dank ebenso wie dem Wirtschaftshistoriker Roman Wild, der mich bei der Sichtung von Zitaten und Daten unterstützt hat. Mit beidem bin ich allerdings im Interesse einer flüssigeren Lesbarkeit sparsam umgegangen. Mein besonderer Dank gilt Professor Lars Feld für ein sehr spontan geschrie­ benes Nachwort. In ihm sieht er «mit Augenzwinkern, aber e ­ inem ernsten Kern» die Rolle der Schweiz ausserhalb der EU unter anderem darin, dass sie zeigt, dass politische und wirtschaftliche Lösungen selten alternativlos sind. 4

Vgl. Carl Steiner, Über Gottfried Kellers Verhältnis zur Demokratie, in: Monatshefte 60, 1968, Nr. 4, S. 353 – 368.

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Gegenüber dem Ausgangsmaterial ist der vorliegende Text ausführlicher, er enthält neue Überlegungen, und er fokussiert vor allem nicht allein auf die Wirtschaft. Als liberaler Ökonom habe ich immer die Auffassung vertreten, der wirtschaftliche Erfolg sei nicht alles, ja aus liberaler Sicht sei – unbesehen ihres Erfolgs in Sachen Wohlstand – jene politische und jene wirtschaftliche Ordnung vorzuziehen, die den Menschen in Politik und Wirtschaft am meisten Souveränität, also Selbstbestimmung, ­gewährt. Dieser sehr grundsätzliche liberale Tenor, der von vielen Vertretern der Wirtschaft nicht geteilt wird, die sich immer wieder einmal vom Staatskapitalismus Chinas, von der Effizienz, Schnelligkeit und Wachstumskraft autoritärer Regime wie Singapur oder von den wirtschaftlichen Vorteilen grosser Märkte beeindrucken lassen, prägt auch dieses Buch. Es ist Ausdruck der Überzeugung, dass einerseits der weit über 150 Jahre anhaltende Erfolg der Schweiz mehr auf ihrem System ausgeprägter politischer Selbstbestimmung als auf ihrer – gerade auch wegen des politischen Systems keineswegs ungebrochenen – Bejahung des Marktes beruht und dass anderseits dieses politische System trotz all seiner Schwächen den Bürgerinnen und Bürgern mehr Mitbestimmung und Freiheit gewährt als alle real existierenden Alternativen. Gleichzeitig kann dieses Erfolgsmodell Schweiz kein Modell, kein Vorbild für andere Staaten sein. Die Schweiz ist ein Staat sui generis, der nicht auf dem Reissbrett entworfen wurde, sondern durch die Zufälle von Geografie und Geschichte zu dem geworden ist, was er heute ist. Insofern führt auch der beliebte Begriff der «Willensnation» auf eine falsche Fährte. Die vielen Eigenarten der Schweiz lassen sich nicht ohne Weiteres übertragen, sie können höchstens da und dort als Inspiration dienen. Und sie sollten dem Land ohne Neid oder Trotz als Eigenwilligkeiten belassen werden. Leider kann dies nicht einfach erwartet werden, weshalb die Schweiz viel stärker bereit sein müsste, für ihre institutionellen Eigenheiten zu kämpfen. Die Ausarbeitung des Manuskripts fiel in die Zeit der vielleicht 13

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grössten Krise, die die reichen Industriestaaten seit dem 2. Weltkrieg durchgemacht haben. Obwohl sich in dieser Pandemie im Schweizer Krisenmanagement viele Schwächen gezeigt haben, was sofort die üblichen Kritiker auf den Plan rief, haben sich die institutionellen Eigen­heiten des Landes zumindest nicht schlechter bewährt als andere politische Systeme. Das Modell Schweiz ist kein Schönwettermodell. Mein früherer Arbeitgeber, der liberale Thinktank Avenir Suisse unter seinem damaligen Präsidenten Andreas Schmid, und das Schwei­zerische Institut für Auslandforschung unter der Leitung von Martin Meyer haben es mir ermöglicht, Zeit zum Nachdenken und zum Schreiben zu nehmen, und mich ermuntert, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Und die Bonny-Stiftung war mir durch die Vergabe ihres Bonny-Preises der Freiheit ein zusätzlicher Ansporn. Ihnen allen gilt mein grosser Dank.

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A.  Ein von unten gebauter Staat

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2.  Zukunft braucht Herkunft Wer die Schweiz von heute in die Zukunft hinein weiterdenken will und dabei an den bestehenden – zum Teil vormodernen – Institutionen des Bundesstaats anknüpft, setzt sich leicht dem Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit und Vergangenheitsromantik aus. Solches Festhalten an den institutionellen Eigenwilligkeiten sei unzeitgemäss, heisst es. Es ist noch der mildeste Vorwurf, den man zu hören bekommt – mild deshalb, weil sich der Vorwurf so offensichtlich als versteckte Anmassung, genau zu wissen, was und wer denn zeitgemäss sei, entlarven lässt. Gerne wird man auch bezichtigt, den zum Teil sich widersprechenden Geschichtsmythen aufzusitzen, etwa dem Rütlischwur, dem Bundesbrief, der Tell-Sage oder den vielen, bis zur Niederlage in Marignano sehr erfolgreichen Schlachten (wie Morgarten, Sempach und Näfels). Man erliege dem Irrglauben, die direkte Demokratie, die starke Autonomie der Kantone und Gemeinden und die Partizipation der Bürger seien unmittelbare Folgen des Freiheitskampfes einfacher Bauern. Doch trotz aller Bedenken gegen mythische Überhöhung – Mythen und Symbole gehören zur Identität jedes Landes, sie müssen nur den rechten Stellenwert haben. Man muss Geschichten und Geschichte auseinanderhalten. Dass es sich bei den Mythen um Geschichten, um Konstruktionen und Fantasien handelt, ist zweitrangig. Länder brauchen Ursprungsgeschichten, die ihre Werte und Haltungen zum Ausdruck bringen und verständlich machen, die auch Kraft geben können. Diese Erzählungen dürfen nur nicht in die 17

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anachronistische Erstarrung führen. Und die Geschichte und die Erinnerung daran braucht es erst recht. «Eine Gesellschaft ohne Erinnerung ist nicht viel mehr als ein Menschenauflauf», meinte der pol­ nische Filmemacher Andrzej Wajda einmal.1 Sehr vieles, was die Schweiz ausmacht, ist im historischen Gedächtnis tief verankert. Und man kann eine Ordnung nicht bewahren und nicht weiterentwickeln, wenn man nicht weiss, auf welchen historischen Grund­ lagen sie beruht. «Zu wissen, wie es gekommen ist, den Prozess zu begreifen, den wir selbst weiterführen müssen, das können wir uns nicht ersparen.»2 Dazu kommt, dass nur die pragmatische Weiterentwicklung des Bestehenden einigermassen realistisch ist. Änderungen können und sollten immer schrittweise erfolgen. Utopien führen nicht zu nachhaltigen Lösungen, sie können höchstens eine vage Orientierung geben, wobei aber der Versuch einer perfektionistischen Umsetzung utopischer Zukunftsentwürfe fast notwendigerweise in die totalitäre Verirrung führt. Mein Doktorvater Walter Adolf Jöhr plädierte daher für das Prinzip der «Anknüpfung an das Bestehende».3 Heute würde man wohl eher von der Pfadabhängigkeit aller Politik sprechen. Das gilt besonders ausgeprägt für die Schweiz, die sich noch ausgeprägter als andere Länder gemäss Herbert Lüthy «nur historisch definieren» lässt.4 Die Institutionen des Landes sind zwar reformbedürftig – welche wären es nicht? –, aber so schlecht auch wieder nicht, dass man sie über Bord werfen müsste. Sie brauchen 1

Christian Neef/Jahn Puhl, Spiegel-Gespräch mit Andrzej Wajda, «Opfer spielten keine Rolle», in: Der Spiegel, Nr. 38, 14. 9. 2009.

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Herbert Lüthy, Geschichte als Selbstbesinnung, in: Irene Riesen/Urs Bitterli (Hrsg.), Gesammelte Werke. Essays I. 1940 – 1963, Gesammelte Werke Herbert Lüthy, Bd. 3. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2003, S. 393 – 409 (409).

3

Walter Adolf Jöhr/Gerhard Schwarz, Wirtschaft und Politik II: Ursachen- und Gestaltungsprobleme, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Stuttgart/ Tübingen/Göttingen: Gustav Fischer/J. C. B. Mohr/Van­den­­hoeck und Ruprecht 1980, S.  12 – 33 (27).

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Herbert Lüthy, Die Schweiz als Antithese, Zürich: Verlag der Arche 1969, S. 19.

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B.  Institutionelle Eigenarten

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5.  Die direkte Demokratie – das Volk im Führerstand Man kommt nicht umhin, auch wenn es etwas langweilig wirkt, als gewiss bekanntestes Alleinstellungsmerkmal der Schweiz die direkte – präziser: halbdirekte – Demokratie zu nennen, halbdirekt deshalb, weil ja nur ein Teil der Entscheide direkt vom Volk gefällt wird, der andere hingegen wie in parlamentarischen Demokratien vom Parlament. Die direktdemokratischen Instrumente sind ein Ausfluss des genossenschaftlichen Staatsverständnisses. Die Schweizer (und seit 1971 auch die Schweizerinnen) haben in politischen Fragen mehr zu sagen als irgendein anderes Volk. Sie sitzen, auch wenn es natürlich wie überall ein Parlament und eine Regierung gibt, letztlich doch selbst am Steuer, nicht bloss auf dem Beifahrersitz. Nirgendwo sonst auf der Welt wird das Instrument der Volksinitiative so häufig und so machtvoll eingesetzt. Weil der Bürger, die Bürgerin im schweize­ rischen Staatsverständnis der Souverän ist, hat nicht die von ihm und ihr gewählte Exekutive oder Legislative das letzte Wort, sondern – wenn er und sie will – der Bürger, die Bürgerin selbst, und zwar regelmässig, nicht nur alle vier oder fünf Jahre am Wahltag. Aber auch am Wahltag verfügt das Wahlvolk in der Schweiz über mehr Einfluss als anderswo. Die Wählerinnen und Wähler können nämlich auf den vorgedruckten Parteilisten Kandidaten streichen und dafür anderen aus der gleichen Liste eine zweite Stimme geben (kumulieren). Vor allem aber können sie aus den verschiedenen Parteilisten die Wägsten und Besten heraussuchen und diese auf die Liste der «eigenen» Partei setzen (panaschieren). Sie stellen also seit 37

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1919 die Wahllisten selbst zusammen. Das erlaubt es, die individuellen personellen und politischen Präferenzen besser zum Ausdruck zu bringen. Dass die Schweizerinnen so ungebührlich lange, bis zur Ein­ führung des Frauenstimm- und Wahlrechts auf eidgenössischer Ebene im Jahr 1971, auf die direkte Mitbestimmung warten mussten, wird gerne mitleidig lächelnd als Beleg für das Versagen des Systems an­geführt. Immerhin war dieser Schritt in Deutschland und Österreich bereits nach den Umbrüchen des Ersten Weltkriegs und in Frankreich und Italien am Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgt. Doch Demo­kratien arbeiten langsam, und die halbdirekte Demokratie schweizerischer Prägung arbeitet besonders langsam. Es gibt in ihr keine Durchbrüche und Revolutionen von oben, von einem Herrscher, einer Regierung oder einem Parlament verordnet, sondern nur den langsamen, evolutiven, mühsamen Weg der kleinen Schritte. Und es genügt nicht, dass eine Mehrheit eines Parlaments von etwas überzeugt ist, es braucht auch eine Mehrheit der Stimmberechtigten. Und so ist die Schweiz neben Liechtenstein, wo es bis 1984 dauerte, das einzige Land, in dem die bis dahin allein Stimm- und Wahlrecht geniessenden Männer in einer Volksabstimmung freiwillig1 – mit einer satten Zweidrittelmehrheit – den Entscheid fällten, diese Rechte fortan mit den Frauen zu teilen. Wer mit dem zähen Festhalten am blossen Männerstimmrecht und mit der Langsamkeit des Prozesses hadert, wird in der Tendenz die halbdirekte Demokratie immer nur so weit bejahen, als sie innert nützlicher Frist Resultate hervorbringt, die der eigenen Werthaltung und den eigenen Vorstellungen entsprechen. Wenn dies nicht der Fall ist, wird er der Weisheit einer Elite, eines Gerichts, eines Parlaments oder gar eines aufgeklärten, wohlwollenden Herrschers mehr vertrauen. Dies gilt erst recht, wenn er 1

Im Fall von Appenzell Innerrhoden war die Sache nicht ganz so freiwillig. Das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene musste hier auf dem Rechtsweg eingeführt werden, nach einem entsprechenden Entscheid des Bundesgerichts. Erst 1991 nahmen erstmals Frauen an der Landsgemeinde teil.

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C.  Mitten in der Welt

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9.  Immerwährende Neutralität Lange Zeit galt die Neutralität, und zwar wohlgemerkt die bewaffnete Neutralität, als eines der zentralen Charakteristika und als einer der Erfolgsfaktoren der Schweiz. Der Devise «Mischt Euch nicht in fremde Händel» des Bruder Klaus folgend, verstand sich die Schweiz spätestens nach der Niederlage der «Gewalthaufen» in Marignano (1515) als Kleinstaat, der in der europäischen und globalen Machtpolitik keine grosse Rolle spielt. Dass Selbstbeschränkung vorteilhaft sein kann, zeigte sich im Dreissigjährigen Krieg (1618 – 1648), vor dessen Verwüstungen die Schweiz verschont blieb und an dessen Ende die offizielle Anerkennung der Schweizer Neutralität im Westfälischen Frieden stand. Mit dem Wiener Kongress (1815), also noch vor dem Erlass der Bundesverfassung von 1848, wurde die Neutralität der Schweiz endgültig völkerrechtlich festgezurrt. So entwickelte sich das Land halb aus freiem Willen, halb den Umständen und dem Wunsch der Nachbarn geschuldet, zum überzeugten neutralen Beobachter von aussen, der sich aus fremden Händeln möglichst heraushielt. Es konnte aus der Distanz vieles klarer und früher erkennen – ein Sachverhalt, mit dem man sich bekanntlich nicht eben beliebt macht –, wurde in viele Irrungen seiner Nachbarn nicht hineingezogen und blieb dadurch zum Teil von den Schäden verschont. Zudem erlaubte die Neutralität eine Befriedung im Innern. Die Religionen und Kulturen, die sich in den europäischen Kriegen gegenüberstanden, waren ja auch Teil der «Willensnation» Schweiz. Parteinahme für eine der Kriegsparteien hätte den europäischen Konflikt 71

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in die Schweiz hineingetragen, Neutralität erlaubte es, ihn zu überspielen. Die Neutralität bekam mit der Zeit einen gewissen Nimbus, da die Schweiz, abgesehen vom Einmarsch Napoleons, von Besetzungen verschont blieb, sich in zwei Weltkriegen aus den Kriegshandlungen hatte heraushalten können und – nicht nur, aber auch – deswegen zu einem der reichsten Länder Europas, ja der Welt geworden war. So avancierte die Neutralität fast zum Modell. Ein sprechender Beleg dafür ist, dass sich beispielsweise Österreich im sogenannten Moskauer Memorandum vom 15. April 1955 auf eine Neutralität der Art, «wie sie von der Schweiz geübt wird»,1 verpflichtete, um die ­So­wjet­union für den Abzug aller Truppen und den Abschluss des Staatsvertrages zu gewinnen. Inzwischen ist der Glanz der Neutra­ lität im In- und Ausland mit dem Ende des Kalten Krieges etwas verblasst. Im Ausland schwindet das Verständnis für das Abseitsstehen und für die Verweigerung einer Parteinahme, und im Inland wird die Neutralität oft als aussenpolitisches Eunuchentum diskreditiert. Der schlechtere Ruf mag damit zu tun haben, dass für einen Kleinstaat, der sich im Konzert der Grossen nur schwer behaupten kann, die Neutralität nicht nur als aussenpolitische Strategie fast zwingend war, sondern dass sie dem Land politisch wie wirtschaftlich auch gros­sen Nutzen brachte. Der offenkundigste Nutzen, menschlich und wirtschaftlich, war die Verschonung vor gravierenden Kriegsschäden,2 wenn sich Europäer wieder einmal bekämpften. Diese Unversehrtheit war nach jedem Krieg ein Vorteil. Doch schon während der Kriege konnten die Schweizer Hersteller und Händler unter rela1

Gerald Stourzh, Österreichs Weg zum Staatsvertrag und zur Neutralität, in: Forum Politische Bildung (Hrsg.), Frei – Souverän – Neutral – Europäisch. 1945 – 1955 – 1995 – 2005 (Informationen zur Politischen Bildung, Band 22), Innsbruck/Wien: Studien Verlag 2004, S. 7 – 20 (18).

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Eine Ausnahme stellte vor allem die Bombardierung Schaffhausens dar. Vgl. Mat­ thias Wipf, Die Bombardierung von Schaffhausen. Ein tragischer Irrtum, Schaffhausen: Meier 2019.

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D.  Raum für Unternehmertum

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Nicht zu den Alleinstellungsmerkmalen, aber doch zu den Charak­ teristika der Schweiz wird die relativ grosse wirtschaftliche Freiheit gezählt. Sie ist eine Grundlage nicht nur des wirtschaft­lichen, sondern auch des gesellschaftlichen Erfolgs. Wenn man im Ausland unterwegs ist, spürt man oft, dass die Schweiz als ökonomiegetriebener und damit kapitalistischer gilt als ihre Nachbarn. Das hat wohl auch mit dem berühmten, unter anderem dem Kardinal Mazarin (1602 – 1661) zugeschriebenen Urteil «point d’argent, point de Suisse» zu tun,1 das die Schweiz als haushälterisch, um nicht zu sagen geldgierig charakterisiert, als auf Geld und Wirtschaft ausgerichtet und weder auf Kultur noch auf feudale Repräsentation. Dieses Image, der hohe Wohlstand, das Jahrzehnte hochgehaltene Bankgeheimnis und einige Ingredienzen wie der liberale Arbeitsmarkt haben dazu geführt, dass die Schweiz im Ausland je nach politischem Standpunkt als Tiefsteuerland oder gar als Steuerparadies mit einem schlanken und effizienten Staat bewundert, beneidet oder aber verfemt wird. Die Einschätzung ist zweifellos nicht ganz falsch. Denn sowohl der kanadische Fraser-Index als auch der amerikanische Heritage-Index 2 kommen seit vielen Jahren zum Resultat, dass die Schweiz zu den 1

O. A., Apologie pour Monseigneur le Cardinal Mazarin, Tirée d’une conference entre son Eminence et Monsieur ***** homme deprobité et excellent casuiste. Premiere iournée, Paris: François Prevveray, 1649, S. 22.

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James Gwartney/Robert Lawson/Joshua Hall, Economic Freedom of the World. 2019 Annual Report, Vancouver: Fraser Institute 2019; Terry Miller/Anthony B. Kim/ James M. Roberts, Index of Economic Freedom, Washington: The Heritage Foundation 2020.

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fünf freiesten Ländern der Welt gehört, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Dass trotzdem viele Liberale in der Schweiz das Land als (zu) wenig marktwirtschaftlich kritisieren,3 hat nicht nur damit zu tun, dass es auch bei den Besten immer Verbesserungspotenzial gibt. Vielmehr gilt für die marktwirtschaftliche Ausrichtung noch mehr als für viele andere Eigenheiten der Schweiz, dass sie nicht absolut und nicht ohne Widersprüche praktiziert wird. So wie die direkte Demokratie, an die man im Zusammenhang mit dem politischen System der Schweiz meist zuerst denkt, eben nur eine halbdirekte Demokratie ist, ist auch die Marktwirtschaft der Schweiz in vielerlei Hinsicht bestenfalls eine halbe Marktwirtschaft, eine Mischform zwischen staatlich gelenkter und offener Ökonomie. Es geht bei der Einschätzung der wirtschaftlichen Freiheit immer um eine summarische und zugleich relative Beurteilung. Und in Summe sowie im Vergleich mit vielen anderen Staaten, vor allem den Nachbarn, steht die Schweiz noch immer gut da. Allerdings ist richtig, dass sie zwar in vielen wirtschaftlichen Belangen sehr li­beral war und ist, dass dies aber keineswegs auf alle Aspekte des W ­ irtschaftslebens zutrifft. Die Kritiker leiden naturgemäss an Letzteren, fokussieren also auf die unbestreitbaren Schwächen. Wahrscheinlich kann man sagen, dass der wirtschaftliche Ordnungsrahmen der Schweiz weniger liberal ist, als es der internationalen Wahrnehmung entspricht, aber liberaler, als es dem Urteil jener entspricht, die das halb leere statt das halb volle Glas sehen. Deshalb ist es kein Wider­spruch, die Schweiz als im internationalen Vergleich relativ marktwirtschaftlich zu taxieren und trotzdem marktwirtschaftlichen Reformbedarf zu diagnostizieren. Ein in Variationen mehrfach publizierter Vortrag über die «Ord-

3

Vgl. Hans Rentsch, Wie viel Markt verträgt die Schweiz? Ökonomische Streifzüge durchs Demokratieparadies, Zürich: NZZ Libro 2017.

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E.  Arbeit am Morgen

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12.  Zukunft braucht Reformen Ich habe in meiner Jugend einige Bücher von Zukunftsforschern gelesen. Der Bedeutendste dieser Zunft war Herman Kahn. 1967 hat er zusammen mit seinem Kollegen Anthony Wiener unter dem Titel The Year 2000 – auf Deutsch: Ihr werdet es erleben1 – einen Bestseller ­veröffentlicht. Das Buch, das über die nächsten 33 Jahre, also damals bis zum Jahr 2000, spekulierte, sah fast nichts richtig voraus, vielleicht abgesehen von der Prognose eines massiv wachsenden Tourismus, der Beschreibung einer Art Mobiltelefonie und vagen Hinweisen auf so etwas wie das Internet. Die meisten Vorhersagen zur Technik trafen dagegen nicht ein. Weder beleuchten künstliche Monde die Nachtseite der Erde noch kennen wir wirksame Appe­ titkontrollen, noch werden im Bergbau nukleare Sprengsätze ein­ gesetzt. Und Kahn sah weder die 68er-Bewegung, die Energiekrise oder das Aufkommen grüner Parteien voraus noch das Ende des Sowjetreichs oder die Schaffung des Euro, um nur einige Beispiele zu nennen. Ich halte es daher mit dem von Abraham Lincoln bis Willy Brandt gleich mehreren Persönlichkeiten zugeschriebenen Ausspruch, dass es die beste Art sei, die Zukunft vorherzusagen, wenn man versuche, die Zukunft zu gestalten. Vieles spricht auch für die These des Soziologen Niklas Luhmann, dass die Zukunft so oder so «wie das Jüngste 1

Herman Kahn/Anthony J. Wiener, The Year 2000. A Framework for Speculation on the next Thirty-Three Years, New York: Macmillan 1967.

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Gericht» «als Überraschung kommen» wird.2 Die Corona-Pandemie hat uns diesbezüglich wieder einmal aufs Deutlichste Demut gelehrt. So richtig auf die Zukunft vorbereiten kann man sich also kaum. Aber man kann natürlich – möglichst dezentral, weil man sich ja auch irren kann – Investitionen tätigen, die man für zukunftsträchtig hält. Und man kann versuchen, die Institutionen zukunftsfähig zu ge­stal­ ten, sodass sie auch in Krisen und bei veritablen Überraschungen ­flexibel und mit hoher Resilienz und Anpassungsfähigkeit funktionieren. Will man die Schweiz konstruktiv auf eine weitgehend unbekannte, voller Überraschungen steckende Zukunft vorbereiten, darf man nicht auf den Zug der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Moden aufspringen. Vielmehr muss man Mut zu Eigenständigkeit so­ wie individueller Selbst- und Mitbestimmung haben, Mut zu Wett­bewerb, Privateigentum und Eigenverantwortung und Mut zu manchmal schmerzhaften Reformen in diese Richtung. Allerdings sollte man dabei nicht die Effizienz über alles stellen. Das ist meine Überzeugung als begeisterter Ökonom. Gerade die Corona-­Pande­ mie hat gezeigt, dass Widerstandsfähigkeit gegenüber Schocks aller Art für eine Gesellschaft mindestens so wichtig ist wie die Jagd nach maximaler Effizienz. Im Durchschnitt hat, wer in der Schweiz und nicht in irgend­ einem anderen Land der Welt lebt, weit bessere Chancen, sein Leben in Frieden, sozialer Sicherheit, Wohlstand, Gesundheit und allgemeinem Wohlergehen zu führen. Das sagt nichts über den Einzelfall aus, über den kometenhaften Aufstieg fast aus dem Nichts, der anderswo eher möglich sein mag, über den da und dort noch höheren Wohlstand oder die noch besseren Umweltbedingungen. Aber als statis­ tische Aussage über ein Gesamtpaket müssen das wohl selbst die schärfsten Kritiker der Schweiz einräumen. Dass das so ist, dass die Schweiz nicht einfach während zwei, drei 2

Niklas Luhmann, Was bleibt von der Zukunft?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 12. 1998, S.  43.

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Die Schweiz und ihre Zukunft als Sonderfall Von Lars P. Feld 1 Kaum ein Staat beschäftigt sich mit sich selbst als einer Besonderheit so sehr wie die Schweiz. Dabei gilt trivialerweise: Jeder Staat in der Welt ist besonders. Jeder Staat, nicht zuletzt in der westlichen Welt, zu der die Schweiz ja gehört, kann sich aufgrund seiner in der Geschichte gemachten Erfahrungen, seiner gewachsenen Institutionen, seiner Kultur als etwas Besonderes empfinden. Aber nur in der Schweiz, so scheint es mir, wird der Sonderfall als Ausgangspunkt für politische, insbesondere für wirtschaftspolitische Diskussionen genommen. Meine erste direkte Berührung mit der Schweiz, nachdem ich mich zuvor im Rahmen beginnender Forschung mit dem kantonalen Steuerwettbewerb und der direkten Demokratie auseinandergesetzt hatte, fand im Jahr 1995 an der Universität St. Gallen statt. Die Schweiz war mitten in einer Wirtschaftskrise, in einem von Stagnation gekennzeichneten Jahrzehnt. Der Entscheid des Volkes gegen den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vom Dezember 1992 hatte die Wirtschaftseliten zusätzlich wachgerüttelt. Das Sonderfallnarrativ dominierte. Schon im Jahr 1990 hatten Silvio Borner, Aymo Brunetti und 1

Lars P. Feld ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg und ­Direktor des dortigen Walter-Eucken-Instituts. Von 2011 bis Februar 2021 war er Mitglied des Sach­verständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, von März 2020 an auch dessen Vorsitzender.

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­Thomas Straubhaar den Schweizer Sonderfall eher als Sanierungsfall ­gesehen; nach dem EWR-Nein geisselten sie den Alleingang der Schweiz vehement.2 Das Weissbuch «Mut zum Aufbruch» von David de Pury, Heinz Hauser und Beat Schmid,3 an dem Gerhard Schwarz einen nicht zu vernachlässigenden Anteil hatte, machte ­Furore. Die Institutionen der Schweiz, der Markenkern des Sonderfalls, standen auf dem Prüfstand: Die Verwesentlichung der direkten Volksrechte oder ihre Einschränkung wurde gefordert, der Kantönligeist als Preis des Föderalismus herausgestellt, die Neutralität der Schweiz geriet in der Diskussion um ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg ins Zwielicht, das Bankkundengeheimnis wurde mit einem ­gewissen, wenngleich noch nicht durchschlagenden Erfolg attackiert. In dieser Lage war ich also im «Sonderfall Schweiz» an der Uni­ver­ sität St. Gallen gelandet, an dem Institut, dem Heinz Hauser zusammen mit Gebhard Kirchgässner vorstand. Ich durfte diese Diskussionen, nicht zuletzt die überschäumenden Emotionen dieser Debatten, aus nächster Nähe miterleben. Für meine Forschungsinter­essen zur Politischen Ökonomie des Föderalismus und der direkten Demokratie war dies ein Glücksfall. Als Erstes konnten wir empirisch belegen, dass direkte Demokratie eher günstig für die wirtschaftliche Leistungskraft ist,4 als Zweites, dass der Schweizer Wettbewerbs­ föderalismus überwiegend positive Effekte hat,5 drittens, als diese 2

Vgl. Silvio Borner/Aymo Brunetti/Thomas Straubhaar, a. a. O. und Silvio Borner/ Aymo Brunetti/Thomas Straubhaar, Die Schweiz im Alleingang, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1994.

3

Vgl. David de Pury/Heinz Hauser/Beat Schmid (Hrsg.), a. a. O.

4

Vgl. Lars P. Feld/Marcel R. Savioz, Direct Democracy Matters for Economic Performance: An Empirical Investigation, in: Kyklos 50 (4), 1997, S. 507 – 538 und Gebhard Kirchgässner/Lars P. Feld/Marcel R. Savioz, Die direkte Demokratie: Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig, Basel/München: Helbing Lichtenhahn/ Vahlen 1999.

5

Vgl. Lars P. Feld, Steuerwettbewerb und seine Auswirkungen auf Allokation und Distribution: Ein Überblick und eine empirische Analyse für die Schweiz, Tübingen: Mohr Siebeck 2000.

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Der Autor Gerhard Schwarz (* 1951) ist seit 2014 Präsident der Progress Foundation (Zürich) und seit 2016 im Rahmen seiner Firma «Schwarz auf Weiss» als Publizist und Berater tätig. Von 2010 bis 2016 leitete er als Direktor den liberalen Thinktank Avenir Suisse. Davor war er 30 Jahre für die Neue Zürcher Zeitung tätig, zunächst als Wirtschaftskorrespondent für Frankreich, ab 1994 als Leiter der Wirtschaftsredaktion und am Schluss zusätzlich als stellvertretender Chefredaktor. Daneben nahm er viele Jahre einen Lehrauftrag an der Universität Zürich wahr. Schwarz hat an der Universität St. Gallen (Dissertation 1980), am American Institute for Economic Research in Great Barrington (Mass.) und an der Harvard Business School studiert. Er ist Mitglied der Orpheum-Stiftung (Zürich) und Präsident der Internationalen J. S. Bach-Stiftung Zürich. Für seine Arbeit wurde er mehrfach aus­ gezeichnet, so mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik, dem Jahrespreis der Stiftung für abendländische Ethik und Kultur, dem Bonny-Preis der Freiheit und dem Röpke-­Preis für Zivilgesellschaft. Schwarz war neben seiner journalistischen oder seiner Think­ tank-Arbeit immer auch als Autor von Büchern und Aufsätzen in Sammelbänden und Zeitschriften tätig. Die folgende Auswahl umfasst Texte, die um die Themen dieses Essays kreisen oder in ihm

­zitiert werden.

Wirtschaft und Politik II: Ursachen- und Gestaltungsprobleme, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Stuttgart/Tübingen/Göttingen: Gustav Fischer/J. C. B. Mohr/Vandenhoeck und Ruprecht 1980, S.  12 – 33 (Mitarbeiter von Walter Adolf Jöhr).

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SSIAF Bd. 3

In seinem Essay zeigt Gerhard Schwarz, warum die Schweiz Zukunft hat, wenn sie ihre einzigartigen Institutionen so reformiert, dass sie ihren Wesenskern behalten. Inmitten der vielleicht grössten Krise, die die reichen Industriestaaten seit dem 2. Weltkrieg durchmachen, hält er fest: Das Modell Schweiz ist kein Schönwettermodell. Es b ­ ietet alle Chancen, die Welt von morgen aktiv mitzugestalten.

Gerhard Schwarz Die Schweiz hat Zukunft

Was macht das Erfolgsrezept der Schweiz aus? Grundrechte, Gewaltentrennung und Wohlstand gibt es auch anderswo. Es ist der produktive Mix aus politischer Balance, wirtschaftlicher Prosperität und kultureller Vielfalt, der die Schweiz zum Unikat macht. Ihre Institutionen halten die Nation voller Gegensätze zwischen Jung und Alt, Arm und Reich, Stadt und Land, Zugewanderten und Einheimischen, zwischen Regionen, Religionen, Sprachen und Kulturen zusammen.

Gerhard Schwarz

Die Schweiz hat Zukunft Von der positiven Kraft der Eigenart

NZZ Libro ISBN 978-3-03810-446-9

Schriften des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung www.nzz-libro.ch

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