David Signer: Afrikanische Aufbrüche. 18 Porträts mutiger Menschen.

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Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in Senegal – spürt in seinem neuen Buch den abenteuerlichen, steinigen und oft verblüffenden Lebenswegen 18 afrikanischer Männer

David Signer (*1964), Dr. phil., Studium der Ethnologie,

und Frauen nach, die trotz widrigsten Umständen ihre Ziele

Psychologie und Linguistik in Zürich und Jerusalem. Er

verfolgen. Der Malawier, der schon als Kind in seinem

ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem von Grenzen

Dorf davon träumte zu fliegen und heute eine Pilotenlizenz

erzählen Geschichten (NZZ Libro, 2015). Er schrieb

hat. Der frühere Strassenjunge aus Gambia, der später

regelmässig für das Magazin des Tages-Anzeigers, war

den einzigen Zirkus in Senegal gründet. Der ehemalige

Redaktor bei der Weltwoche und bei der NZZ am Sonntag.

Kindersoldat in Kongo, der eine Organisation gegen den

Ab März 2013 betreute er bei der Neuen Zürcher Zeitung

Einsatz Minderjähriger im Krieg auf die Beine stellt. Die

das Dossier Afrika, 2016–2020 als Afrika-Korrespondent

Frauen in Kinshasa, die gegen alle gesellschaftlichen Normen

aus Dakar. Seit Dezember 2020 berichtet er mit Sitz in

professionell boxen. Oder die Frauen und Männer in Somalia,

Chicago über die USA und Kanada.

die der Tradition trotzen und ihre Töchter nicht beschneiden. Viele Afrikaner leben heute in einem Widerspruch zwischen

Ebenfalls bei NZZ Libro erschienen:

traditionellen Werten und Moderne. Den Porträtierten im Buch ist es gelungen, das Dilemma in einen kühnen Spagat, den Bruch in einen kreativen Aufbruch zu verwandeln.

David Signer (Hrsg.) Grenzen erzählen Geschichten Was Landkarten offenbaren 136 Seiten, 51 Abbildungen, gebunden mit Halbleinen 3. Auflage 2017 ISBN 978-3-03810-270-0

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AFRIKANISCHE AUFBRÜCHE

Der Ethnologe David Signer – bis 2020 als Afrika-

E H C S I N A K I R AF E H C U R B F AU

Aus dem Inhalt Einleitung – Leben in Afrika Aus der ärmlichen Hütte in die Luft (Malawi) Salto mortale am Abgrund (Senegal) Boxerinnen, freie Frauen und der Dämon der Ledigen (Kongo-Kinshasa) Der Blinde hilft dem Lahmen (Kenia) Er möchte den anderen geben, was er selbst nie hatte (Senegal) Odyssee durch die Wüste (Eritrea) «Töte, um nicht getötet zu werden» (Kongo-Kinshasa) Gottlos in Ghana (Ghana) Die Wäscherin am Strassenrand von Dakar (Senegal) Die Vagina zugenäht und vor der Hochzeit aufgeschnitten (Somalia) «Wir haben Gott nicht darum gebeten, uns so zu machen» (Senegal) Ein Kind opfern, um Minister zu werden (Gabun)

DAVID SIGNER

Foto: © Katja Müller

«VERSUCHE ÖGLICHE » DAS UNM

DAVID SIGNER

Nach dem Studium in Europa zurück in die Heimat (Gambia) Die emanzipierten Männer von Atimédodi (Togo) Jahrzehntelanges Warten im Sand (Westsahara) Prostitution als Überlebensstrategie in einer heuchlerischen Gesellschaft (Senegal) Warum in Burkina Faso so viele Hebammen Männer sind (Burkina Faso) Die weiblichen Dandys von Brazzaville (Kongo-Brazzaville)

I S B N 978-3-907291-50-4

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Nachwort – Schreiben über Afrika

783907 291504

www.nzz-libro.ch

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Verlag und Autor danken für den Unterstützungsbeitrag:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Umschlaggestaltung: Weiß-Freiburg GmbH, Freiburg i. B. Umschlagbild (Zirkus in Senegal): Katja Müller Gestaltung, Satz: Marianne Otte, Konstanz Druck, Einband: BALTO Print, Litauen Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-907291-50-4 ISBN E-Book 978-3-907291-51-1 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

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Inhalt

Einleitung – Leben in Afrika 7 Aus der ärmlichen Hütte in die Luft (Malawi) 27 Salto mortale am Abgrund (Senegal) 37 Boxerinnen, freie Frauen und der Dämon der Ledigen  (Kongo-Kinshasa) 47 Der Blinde hilft dem Lahmen (Kenia) 59 Er möchte den anderen geben, was er selbst nie hatte (Senegal) 69 Odyssee durch die Wüste (Eritrea) 83 «Töte, um nicht getötet zu werden» (Kongo-Kinshasa) 91 Gottlos in Ghana (Ghana) 99 Die Wäscherin am Strassenrand von Dakar (Senegal) 107 Die Vagina zugenäht und vor der Hochzeit aufgeschnitten  (Somalia) 115 «Wir haben Gott nicht darum gebeten, uns so zu machen»  (Senegal) 129 Ein Kind opfern, um Minister zu werden (Gabun) 141 Nach dem Studium in Europa zurück in die Heimat (Gambia) 151 Die emanzipierten Männer von Atimédodi (Togo) 163 Jahrzehntelanges Warten im Sand (Westsahara) 173 Prostitution als Überlebensstrategie in einer   heuchlerischen Gesellschaft (Senegal) 183 Warum in Burkina Faso so viele Hebammen Männer   sind (Burkina Faso) 193 Die weiblichen Dandys von Brazzaville (Kongo-Brazzaville) 201 Nachwort – Schreiben über Afrika 211 Quellenangaben 225 Über den Autor 229

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Ein belebter Innenhof in Dakar. (Bild: Katja Müller)

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Einleitung

Leben in Afrika

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Der rosa Coiffure-Salon von Ngoné Niang (links) ist eine Oase in Gouye Sapout, einem ärmlichen Quartier in Dakar. (Bild: Katja Müller)

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In diesem Buch werden Afrikaner und Afrikanerinnen porträtiert, die durch ihren Mut und ihre Kreativität beeindrucken: Der junge Malawier, der schon als Dorfkind davon träumte, einmal fliegen zu können; die anderen lachten ihn aus. Heute hat er eine Pilotenlizenz. Das Strassenkind aus Gambia, das es nach Dakar verschlug. Ein paar Jahre, Zufälle und hartes Training später gründete er den ersten und bis heute einzigen Zirkus in Senegal. Die junge Frau, die in Kinshasa im Keller des Stadions, wo einst Muhammed Ali auftrat, trainiert, um sich als Profiboxerin durchzuschlagen. Der blinde Kenianer, der in seinem Dorf zusammen mit anderen behinderten Bewohnern ein Gemeinschaftsfeld unterhält. Der Kindersoldat, der nach Jahren endlich seine Miliz verlassen konnte und eine Organisation gründete, die Jugendlichen in derselben Situation hilft. Der Mann, der in Burkina Faso den vielleicht typischsten Frauenberuf ausübt – er ist «Hebamme». Die Frau, die in Ghana, dem möglicherweise frommsten Land der Welt, einer Atheistenvereinigung vorsteht. Die waghalsigen Männer und Frauen, die sich in Somalia gegen die Mädchenbeschneidung engagieren. Der LGBT-Aktivist in Senegal, einem Land, wo auf Homosexualität immer noch die Gefängnisstrafe steht. Der Gambier, der nach einem Studium in St. Gallen auf eine Karriere in der Schweiz verzichtet und in seine Heimat zurückkehrt, wo er eine Backsteinbrennerei gründet und sich mit einer absurden Diktatur herumschlagen muss. Es geht nicht darum, mit diesen (Über-)Lebenskünstlern ein idealisiertes, rosiges Bild von Afrika zu zeichnen. Gerade wer weiss, wie widrig die Umstände auf dem Kontinent sind, wird solche Unerschrockenen umso mehr bewundern. Sie ähneln Seiltänzern, die jederzeit abstürzen könnten, aber weitermachen; angesichts von Hindernissen werden sie nicht entmutigt, sondern mobilisieren noch mehr Einfallsreichtum und Energie. Im Folgenden soll die wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Welt, in der sich diese Helden des Alltags bewegen, etwas aus9

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geleuchtet werden. Dadurch werden die Schwierigkeiten, denen sie bei der Verfolgung ihrer Träume und ihrer Selbstverwirklichung begegnen, umso deutlicher. Bei Afrika neigt man zum Extremen Afrika ist eben beides: In keinem anderen Kontinent sind die Lebensbedingungen für die Mehrheit der Menschen wahrscheinlich so hart wie in Afrika; zugleich gibt es wohl keine andere Weltregion mit so viel Lebensfreude, Gelassenheit, Widerstandskraft, Improvisationstalent, unerschütterlichem Optimismus und sozialem Zusammenhalt. Und nirgendwo sonst ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen so frappant: Das Handy neben der Strohhütte, moderne Chemie neben Geister- und Hexenglauben. In Afrika kann man lernen, mit Ambivalenzen und Widersprüchen umzugehen (die Brücke sind, nebenbei gesagt, oft der Humor und das Gelächter). Aber Aussenstehende neigen in Bezug auf Afrika oft zu Schwarz-Weiss-Malerei. Entweder ist man Afrooptimist oder Afropessimist, Idealist oder Zyniker. In den 1990er-Jahren galt es als hoffnungsloser Kontinent. Zehn Jahre später war alles anders. Auf einmal wurde Afrika wegen der eindrucksvollen Wachstumsraten als «neues Asien» gehandelt. Die Mehrheit der Bevölkerung merkte jedoch kaum etwas von diesem Aufschwung. Mit dem Fall der Rohstoffpreise sank dann auch das Wachstum schon bald wieder. Im Coronajahr 2020 schlitterte das subsaharische Afrika in eine Rezession und die Verschuldung kletterte in astronomische Höhen. Die Zahl der Armen geht weltweit zurück, ausser in Afrika. Die einseitige Abhängigkeit des Kontinents von Öl, Metallen und landwirtschaftlichen Produkten konnte während der fetten Jahre nicht überwunden werden und belegte diverse Länder mit dem «Ressourcenfluch»: Die Elite lebt bequem von einer automatisch fliessenden Rente, erachtet es nicht für nötig, die Wirtschaft zu 10

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diversifizieren und pflegt Klientelismus und Korruption. Zudem hängen immer noch viele Länder wie zu kolonialen Zeiten von einem einzigen Bodenschatz ab. Aber trotz allem muss man sich sowohl vor Dämonisierung wie vor Beschönigung hüten. Auch Afrika wird von Grautönen geprägt. So wird als Beispiel für die Modernisierung Afrikas oft auf die rasante Urbanisierung und die Verbreitung von Handys und Internet verwiesen. Einerseits ist Afrika mit seinen jungen Konsumenten zweifellos ein interessanter Absatzmarkt, von Neugierde und Offenheit geprägt. Andererseits müsste der Kontinent aber für einen nachhaltigen Aufschwung vor allem als Produktionsstandort attraktiver werden. Und hier zeigt sich, wie oberflächlich die Modernisierung oft ist. Häufig mangelt es an Infrastruktur, Zulieferern und qualifiziertem Personal. Die rechtlichen Verhältnisse sind oft unklar, die Bürokratie kompliziert, zähflüssig und korrupt. Das tägliche Malaise Afrika hat es von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht geschafft, die Boomjahre auszunützen, die Gewinne sinnvoll zu investieren und die Wirtschaft zu diversifizieren, um von der einseitigen Rohstoffabhängigkeit wegzukommen. Eine kleine Elite hat sich bereichert, die Situation der Mehrheit verbesserte sich kaum. Zwar gibt es nun in vielen Stadtzentren glitzernde Hochhäuser und Luxusboutiquen, aber in den Wohnquartieren von Lagos, Kinshasa, Dakar oder Libreville sieht es immer noch ähnlich aus wie vor 20 Jahren. Bis heute beherrschen staubige, ungeteerte Strassen das Bild, die während der Regenzeit unpassierbar werden; überschwemmte Hauseingänge, stinkende Abwasserkanäle, wilde Mülldeponien und Malariamücken machen den Alltag zum Vabanquespiel, während man Trinkwasser von einem öffentlichen Brunnen nach Hause schleppen muss und das nächste Spital am anderen Ende der Stadt liegt. Abends, wenn man den Strom für 11

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Licht und Ventilator am nötigsten hätte, fällt er aus, und all die herumlungernden Jungen zeigen, dass die Arbeitslosenrate so hoch ist, dass sie gar nicht erst erhoben wird. Einen festen, bezahlten Job zu haben ist die Ausnahme. Und selbst Staatsangestellte erhalten ihren Lohn oft monatelang nicht. Die meisten wursteln sich nach wenigen Schuljahren mit Gelegenheitsjobs im informellen Sektor durch. Polizisten, die der Bevölkerung unter absurden Vorwänden Geld abpressen, sind oft der einzige «Service public». Auf dem Land lebt das Gros der Bevölkerung von Selbstversorgung. Aber auch all die Kleinbauern kommen nicht ohne Bares, zum Beispiel für das Schulgeld, über die Runden. Zugleich fehlt ihnen der Zugang zu verbessertem Saatgut oder zu Informationen für eine Intensivierung der Landwirtschaft. Dieses desolate Bild wurde nur oberflächlich übertüncht durch die enormen Einnahmen einer politisch-wirtschaftlich Elite. (Selbst wo Staatsbetriebe privatisiert wurden, hat die Regierung oft nach wie vor privilegierten Zugang zu den Futtertrögen, vor allem in Ländern, in denen die Präsidenten und ihre Entourage seit Langem an der Macht sind.) Falls es nun im Gefolge von Covid-19 zu einem Rückfall in die 1990er-Jahre kommt, könnte die Situation allerdings noch dramatischer werden als damals. Denn durch die Einnahmen wurden hohe Erwartungen geweckt, die Unterschiede zwischen Arm und Reich haben sich verstärkt, was zu Neid, Ressentiment und Revolten führen könnte. Zudem ist die Bevölkerung in der Zwischenzeit enorm gewachsen. Man geht davon aus, dass sie sich bis zum Jahr 2050 verdoppeln wird, das heisst, sie wird dann mehr als zwei Milliarden umfassen. So wie es jetzt aussieht, können für diese neue Generation niemals genug Arbeitsplätze geschaffen werden. Jegliches Wirtschaftswachstum wird «weggefressen».

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Der Mythos vom Mittelstand Der angeblich gewaltig gewachsene Mittelstand wird sich als das herausstellen, was er jetzt schon ist: eine Chimäre. 315 Millionen Menschen zählen laut der Afrikanischen Entwicklungsbank auf dem Kontinent zur Mittelschicht. Das wäre fast ein Drittel. Aber das ist nichts als Zahlenzauberei. Denn die Entwicklungsbank zählt jeden mit mehr als 2 Dollar pro Tag zum Mittelstand. Damit ist aber auch in Afrika kein menschenwürdiges Leben möglich. Afrika ist entgegen einem verbreiteten Vorurteil nicht arm. Punkto Bodenschätzen ist es wohl der reichste Kontinent, und es gibt auch in Afrika Reiche und Superreiche: laut vorsichtiger Schätzung 55 Milliardäre und 2500 Millionäre. Doch viele zahlen keine Steuern und deponieren ihr Geld im Westen, anstatt es vor Ort zu investieren. Falls die afrikanische Wirtschaft in den nächsten Jahren stagniert, dürften angesichts der Kluft zwischen der armen Mehrheit und einer Minderheit, deren Reichtum weithin als illegitim betrachtet wird, die Verteilkämpfe zunehmen. Ein typisches Beispiel ist das oft als Wunderland gepriesene Äthiopien, das inzwischen von ethnisch geprägten Kämpfen zerrissen wird. Besonders brisant sind solche Auseinandersetzungen dort, wo sich ethnische, religiöse und ökonomische Konflikte überlappen, wie im Sudan, in Zentralafrika, in Nigeria oder früher in Côte d’Ivoire. Fehlende Infrastruktur Das subsaharische Afrika wurde gewissermassen direkt aus der prä- in die postindustrielle Ära katapultiert. Das ermöglichte es dem Kontinent, beispielsweise den Ausbau eines funktionsfähigen Telefonnetzes zu überspringen. Manche Beobachter schwärmen von der Verbreitung der Mobiltelefone in Afrika und deren vielfältigen Möglichkeiten. So können Bauern beispielsweise jederzeit 13

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genaue Wetterberichte erhalten und sich aus unabhängigen Quellen über die Abnahmepreise ihrer Produkte informieren. Auch bei Demokratiebewegungen spielen sie eine grosse Rolle, beispielsweise beim unblutigen Sturz des langjährigen Diktators Compaoré in Burkina Faso oder von Bashir im Sudan. Aber dieses Überspringen einer Entwicklung, die in Europa mehr als ein Jahrhundert in Anspruch nahm, führt zu seltsamen Ungleichzeitigkeiten. So kann ein Betrieb heute zwar die internationale Logistik per Computer abwickeln, aber ein Lastwagen braucht dann für die 800 Kilometer von Abidjan nach Lagos fünf Tage wegen der schlechten Strassen und all der Schikanen durch Polizisten und Zöllner. Modernisierung bedeutet eben nicht nur Import von Technologie, sondern sollte einhergehen mit sozialer und kultureller Entwicklung. Die Ursachen der Armut Im Afrika südlich der Sahara haben Urbanisierung, Zentralisierung und Staatenbildung lange nur vereinzelt stattgefunden. Im grossen Massstab haben sie, wie auch die Alphabetisierung, erst mit der Kolonialisierung eingesetzt. Bis heute ist in vielen Teilen Afrikas der Staat schwach; die wesentlichen sozialen Einheiten sind die Ethnie, die Dorfgemeinschaft und der Clan. Das geht einher mit einer wenig ausgeprägten Arbeitsteilung und dem Vorherrschen der Selbstversorgungswirtschaft sowie einem grossen, relativ unproduktiven informellen Sektor. Die Institutionen sind wenig entwickelt, die Identifikation der Bürger mit dem Staat ist minimal. Da informelles Wirtschaften dominiert, sind Steuereinnahmen entsprechend irrelevant für den Staat. In vielen Fällen finanziert er sich durch Renten aus den Rohstoffvorkommen. Diese automatischen Einnahmen ermöglichen es den Regierenden, ein loyales Heer von «Klienten» zu unterhalten, anstatt die Politik auf die Bedürfnisse der Steuerzahler auszurichten. 14

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Das Bejubeln des afrikanischen Wirtschaftswunders ab 2000 war oft naiv. Dieser angebliche Boom hat kaum Arbeitsplätze geschaffen. Insgesamt haben nur etwa 15 Prozent der Afrikaner im erwerbsfähigen Alter eine Lohnarbeit. Ein Drittel von ihnen ist im Durchschnitt beim Staat angestellt, in rohstoffreichen Ländern steigt dieser Anteil bis auf zwei Drittel. Nur 3 Prozent der Afrikaner im erwerbsfähigen Alter leisten Lohnarbeit im industriellen Sektor. Das heisst, selbst in einem Land, das wirtschaftspolitisch vieles richtig macht wie etwa Rwanda, braucht die Entwicklung viel Zeit. In zahlreichen Ländern, wie etwas Kongo-Kinshasa, unternimmt die Regierung jedoch kaum Anstrengungen für einen Strukturwandel.

Die Bedeutung der Emigration Die massive Abwanderung aus Afrika zeigt ein ähnliches Janusgesicht. Natürlich ist es paradox, von Aufschwung zu sprechen, wenn die meisten Jungen eigentlich den Kontinent am liebsten verlassen würden. Zugleich sind es jedoch auch nicht die Allerärmsten, die sich auf den Weg nach Europa machen. Es ist blauäugig zu meinen, man könne den afrikanischen Exodus einfach durch Entwicklungshilfe stoppen. Die gegenwärtige Emigration kann auch als Zeichen des Fortschritts gelesen werden: Oft gehören die Auswanderungswilligen zur unteren Mittelschicht, die dank einer gewissen Ausbildung die Ambition hegt, der Armut und der Enge der Herkunft zu entkommen. Die ökonomischen Schwierigkeiten des Kontinents erklären sicher zum grossen Teil, warum so viele Afrikaner auswandern wollen. Aber eine isolierte Betrachtung der Wirtschaft wird den Lebensbedingungen der Bevölkerung nicht gerecht. Die Wirtschaft wird erst verständlich im Zusammenspiel mit den sozialen und kulturellen Gegebenheiten, die den Alltag der Menschen 15

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prägen. Zur Veranschaulichung kann man sich einen typischen Quartierladen anschauen, wie man ihn von Dakar bis Daressalam findet. Der Begriff von Eigentum ist weniger strikt als in Europa Die Senegalesen – wie Kunden in vielen anderen afrikanischen Ländern auch – kaufen in ihrer «Boutique» alles in kleinen Portionen ein. Sie lassen sich etwas Kaffee in ein Plastiksäcklein abfüllen, kaufen drei, vier Zuckerwürfel, eine Ration Butter und eine einzelne Zigarette. Man könnte annehmen, das habe mit den begrenzten Mitteln tun, aber diese Erklärung ist unlogisch. Unter dem Strich käme es nämlich billiger, jeweils eine ganze Dose Kaffee oder eine Schachtel Zucker zu kaufen. Der wahre Grund ist, dass Horten in Afrika schwierig ist. Das Päckchen Zigaretten wäre in kurzer Zeit leer, weil sich alle davon bedienen würden. «Es hat ja genug», würde man sagen. In einer typischen senegalesischen Wohnung herrscht ein beständiges Kommen und Gehen. Gastfreundschaft wird grossgeschrieben. Ist gerade Essenszeit, wird auch ein Fremder sofort eingeladen. Umgekehrt sieht der zufällige Besucher nichts Böses dabei, sich von herumliegenden Bonbons, Früchten oder Zigaretten zu bedienen. Das kann so weit gehen, dass das Fahrrad im Hinterhof immer mal wieder verschwindet, weil ein Gast oder ein Wächter gerade irgendwohin fahren musste. «Es wurde ja momentan nicht gebraucht», wird dann zur Verteidigung vorgebracht. Wer viel hat – und seien es nur Zuckerwürfel –, zeigt, dass er mehr besitzt, als er zum unmittelbaren Konsum benötigt. Also wird es ihm auch nicht weh tun, wenn am Abend etwas davon fehlt. Der Begriff von Eigentum ist weniger strikt als in Europa.

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Eine Bitte abzuschlagen ist unhöflich Dasselbe mit Kleidern: Wer einen Schrank voller Hosen und Hemden hat, kann ohne Weiteres ein Stück für ein paar Tage entbehren, lautet die Logik. Insbesondere unter Verwandten wird die Garderobe oft als Gemeingut betrachtet. Das Ausleihen kann länger dauern, bis zum Nimmerwiedersehen. Aber wer in so einem Fall «Diebstahl» schreit, macht sich lächerlich. Im besten Fall wird man vor der Inbesitznahme gefragt. Ein Besucher sagt: «Oh, dieser Wecker gefällt mir. Ich muss morgen früh raus. Kann ich ihn mitnehmen?» Man weiss, dass man bei einem Ja den Wecker nie mehr wiedersieht; aber nicht die Frage gilt als unhöflich, sondern ein «Nein» als Antwort. Deshalb wählen Senegalesen dann oft einen Umweg: «Der Wecker gehört meinem Bruder, ich kann ihn nicht weggeben» oder «leider brauche ich ihn morgen früh unbedingt». Hat man sich verabredet und der andere kann nicht kommen, wird er einfach nicht auftauchen – ohne sich zu entschuldigen. Versucht man ihn dann anzurufen, nimmt er das Telefon nicht ab. So kann das tagelang gehen. Der andere hofft einfach, irgendwann sei die Sache vergessen. Das erscheint dem Westler als extrem unhöflich; aber für die Senegalesen wäre es unhöflicher, den Termin zu annullieren. Freundschaft und Finanzielles gehören zusammen Teilen ist im subsaharischen Afrika enorm wichtig. Die Qualität einer Freundschaft bemisst sich an der Bereitschaft zu geben. Eine Freundschaft, die sich nicht auch materiell beweist, ist hohl. Dazu gehören Kredite. Es ist normal, dass man von Bekannten dauernd um Geld angegangen wird. Oft sieht man es nicht wieder. Dafür weiss der Gläubiger, dass der andere in seiner Schuld steht und dass er ihn bei Gelegenheit ebenfalls um einen Dienst bitten kann. Dass man Freundschaft und Finanzielles trennen soll, gilt hier 17

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nicht, und eine Freundschaft wird durch die involvierten Interessen nicht entwertet. Das gilt auch in Liebesdingen. Wer mit einer Frau ins Bett geht, schenkt ihr am nächsten Tag etwas. Alles andere wäre unhöflich. Mit Käuflichkeit oder gar Prostitution hat das nichts zu tun. Das Verhältnis zum Schuldenmachen ist anders; dazu gehört, dass man sich selten bedankt. Hat einem ein senegalesischer Freund einen Dienst erwiesen und man sagt Danke, entgegnet er: «Aber wir sind doch zusammen!» Will heissen: Das ist doch selbstverständlich. Ein Dank stellt die Freundschaft infrage, errichtet Distanz. Zudem wird mit einem Dankeschön die Schuld beglichen, man ist dann quitt. Das ist für Schweizer wichtig, man steht nicht gerne in der Schuld von jemandem. In Senegal ist es umgekehrt. Es ist gut, wenn einem Leute etwas schulden; man weiss dann, dass sie einem in der Stunde der Not die Hilfe nicht verwehren können. Das Ideal ist nicht Autonomie, sondern in ein Netz von Verbindlichkeiten, Schulden, offenen Rechnungen und gegenseitigen Verpflichtungen eingebunden zu sein. So fühlt man sich sicher. Zudem kann man sich durch Hilfe gegenüber Armen Punkte im Himmel holen. Durch einen Dank hingegen macht der Empfänger das Geschenk zum Tausch: Almosen gegen Dankbarkeit. Generös mit Materiellem, geizig mit Wissen Teilen ist in Afrika wichtig. Das gilt für Geld und Dinge, aber auch für Raum: Die verbreitete Gastfreundschaft bedeutet, den eigenen Raum zu teilen. Hingegen sind Afrikaner oft zurückhaltend im Teilen von Informationen über ihr Privatleben. Das mag erstaunen, da man Afrika mit Offenheit verbindet. Aber direkte Fragen nach Beruf, Zivilstand oder Kindern, die in Europa zur üblichen Konversation gehören, sind eher verpönt. Unter der Extravertiertheit verbirgt sich Misstrauen. Kurz: Während Westler mit ihrem Wissen freigebig umgehen, hingegen mit Dingen und Raum geizig 18

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sind, ist es in Afrika umgekehrt. Vielleicht hat man dort wegen des engen Zusammenlebens ein umso grösseres Bedürfnis nach Gedankenfreiheit: Hat man schon aussen keinen Raum, möchte man sich wenigstens eine innere Privatsphäre erhalten. So sind Antworten auf persönliche Fragen oft vage, ausweichend oder irreführend. Im Westen nimmt man an, die freie Zirkulation des Wissens sei wesentlich für den Fortschritt; im Zeitalter der sozialen Netzwerke hat sich diese Offenheit auch im Privatleben noch intensiviert. In Senegal hingegen kann es passieren, dass man im Sekretariat einer Universität nach der E-Mail-Adresse oder Telefonnummer eines Professors fragt und die Antwort erhält, die sei privat. Vor manchen Ministerien hängen junge Männer herum, die ihre Dienste als «Guide» anbieten. Sie wissen über die Abläufe Bescheid und darüber, wo sich welches Büro befindet. Sogar Informationen, die in Europa als öffentlich gelten, sind hier ein Gut, das verkauft werden kann. Beziehungen ersetzen Versicherungen und Vorsorge Solange Geben und Nehmen unter Freunden mehr oder weniger im Gleichgewicht sind, gibt es keine Probleme. Konfliktträchtig wird es, wenn einer viel reicher ist als der andere oder zumindest diesen Anschein erweckt. Damit sind Weisse in Afrika oft konfrontiert. Expats haben den Eindruck, sie würden von ihren Bekannten, die unaufhörlich etwas von ihnen wollen, ausgebeutet, ja ausgesogen. Sie werden misstrauisch und verschliessen sich, weil ihnen scheint, «Freundschaft» sei gleichbedeutend mit «gib mir». Das hat einerseits damit zu tun, dass Weisse a priori als wohlhabend gelten, und andererseits damit, dass der Kontakt zu Ärmeren meist einfacher ist als derjenige zu Wohlhabenden und finanziell Gleichgestellten. Angehörige der afrikanischen Elite schotten sich oft nach unten ab, gerade weil sie wissen, wie gross die Begehrlichkeiten sind, denen man schlecht ausweichen kann. 19

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Die Wichtigkeit der Solidarität hängt mit dem Mangel an sozialen Einrichtungen und funktionierenden Banken zusammen. Die meisten Afrikaner verfügen weder über eine Krankenkasse noch über sonstige Versicherungen. Arbeitslosengelder und Altersrenten gibt es kaum. Einen Bankkredit zu bekommen ist schwierig. Alle diese Leistungen, die in Europa institutionalisiert sind, übernehmen in Afrika Verwandte und Freunde. Grosszügig zu sein ist nicht nur altruistisch, sondern auch eine Absicherung. Der Generöse kann ebenfalls auf Hilfe zählen, falls er in Not gerät. Wer aus der Solidarität ausschert, wird unter Druck gesetzt Die verbreitete Armut im subsaharischen Afrika ist sowohl Ursache wie auch Folge dieses Systems. Wer arm ist, kann nicht autonom sein. Er kann nicht auf Erspartes zurückgreifen. Sein Kapital ist sein soziales Netz, das er in Anspruch nehmen kann. Aber es ist auch schwierig, der Armut zu entkommen, wenn man das Erwirtschaftete permanent verteilen muss. Man kann so kaum Geldmittel akkumulieren, die man etwa für den Start eines kleinen Business braucht. Im Gegenteil: Wer anhäuft, macht sich des Geizes und des Egoismus verdächtig. Die afrikanische Ethik der Solidarität ist eher sozialistisch als kapitalistisch. Das egalisierende Sicherheitssystem funktioniert «einmittend», aber auf niedrigem Niveau: Niemand verhungert, aber es reüssiert auch keiner so richtig, ausser er hat den Mut oder die Kaltblütigkeit, sich aus den gegenseitigen Verpflichtungen zu verabschieden. Dann setzt er sich allerdings enormem psychologischen und sozialen Druck aus; er weiss, dass ihm von allen Seiten vorwurfsvolle Missgunst entgegenschlägt, und oft gelten Neid und Hexerei als gleichbedeutend. Der «Geizige» muss fürchten, von rachsüchtigen Zukurzgekommenen krank gemacht oder sogar auf okkulte Art getötet zu werden. Der Glaube an Hexerei, also die Vorstellung, dass man jemandem auf unsichtbare und rein psychische Weise schaden kann, ist in weiten 20

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Teilen des subsaharischen Afrika verbreitet. Meist nimmt man an, dass es die gesellschaftlich Schwachen – verwitwete oder kinderlose Frauen, Arme, Alte, Waisenkinder oder Behinderte – sind, die über diese zerstörerische Macht verfügen. Hexerei ist gewissermassen die Waffe der Unterprivilegierten. Und eine Möglichkeit für sie, Druck auf die Bessergestellten auszuüben, ihrer Pflicht zur Verteilung nachzukommen. Diese Sanktionsdrohung ist im Allgemeinen durchaus wirksam: Die Angst vor den Neidern ist in Afrika weitverbreitet, und je reicher und mächtiger jemand ist, umso mehr gibt er für Heiler, Marabouts, Witchdoctors, Féticheurs, Grisgris, Amulette, Rituale und Opfer aus, die ihn schützen sollen. Die Wirtschaft wird in dieser Weltsicht als ein Nullsummenspiel aufgefasst: Es geht um einen Kuchen, der verteilt wird. Wenn einer mehr hat, hat der andere weniger. Jeder Gewinn geht auf Kosten eines anderen und weckt Ressentiment und Missgunst. Eine Vergrösserung des Kuchens, Wachstum, Entwicklung und Win-win-Situationen kommen in dieser Gleichung nicht vor. Gegenseitige Abhängigkeit statt Autonomie Sparen, Kapital anlegen, investieren – das widerspricht den traditionellen sozialen Normen und Zwängen. Die Senegalesen schimpfen zum Beispiel gerne darüber, dass alle Läden den Libanesen gehören, so wie es in Ostafrika meist die Inder sind, die die Shops besitzen. Tatsache ist, dass Afrikaner selbst oft keine Läden eröffnen, weil dann alle Verwandten und Möchtegern-Verwandten herbeiströmen und sagen, komm, gib mir doch einen solchen Ventilator, du hast ja 100 davon hier, das tut dir nicht weh. Sie vergessen, dass er mit dem erwirtschafteten Geld nachher wieder neue Waren einkaufen muss. Das Ideal in diesem Sozialsystem sind nicht Autonomie und Freiheit, sondern gegenseitige Abhängigkeit. Es soll maximale Interdependenz und Kohäsion hergestellt werden. Die Gruppe 21

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steht über dem Individuum: «Ich bin, weil wir sind», lautet das Credo. Typisch in einer afrikanischen Stadt sind all die unfertigen Häuser. Die unverputzten Mauern mit den herausragenden Armierungseisen geben dem Stadtbild etwas Unfertiges und Improvisiertes; man hat den Eindruck einer einzigen, riesigen Baustelle. Oft handelt es sich bei den Gebäuden um Rohbauten; manchmal wird auch ein Stockwerk gebaut, und erst nach Jahren kommt eine zweite Etage darauf, aber ohne definitives Dach, sodass die Möglichkeit für ein weiteres Stockwerk besteht. Die gestaffelte Bauweise hat mit der Finanzierung zu tun. Man spart nicht oder nimmt nicht einen Baukredit auf, um dann das ganze Haus auf einmal fertigzustellen. Sondern man baut jeweils ein bisschen, sobald man wieder etwas Geld beisammenhat. Denn es ist unmöglich, lange zu sparen, ohne etwas davon an Bedürftigere abgeben zu müssen. Umgekehrt ist Geld, das in Land und Gebäude investiert wurde, nicht mehr flüssig, also nicht mehr für andere verfügbar. Man kann dann den Bittstellern mit gutem Gewissen entgegnen: «Ich bin nicht liquid.» Die «Ethik» von Korruption und Vetternwirtschaft Trotz der vielen Vorkehren, die Einkommensunterschiede ausgleichen, gibt es natürlich auch in Afrika Arme und Reiche. Weil für das Fortkommen Connections oft wichtiger sind als Fleiss und Intelligenz, versucht man, Beziehungen zu Bessergestellten herzustellen und zu pflegen. Auch hier geht es um Tausch: Der «Klient» bringt dem «Patron» Respekt und Loyalität entgegen, im Gegenzug erwartet er Unterstützung und Zugang zu Ressourcen wie zum Beispiel einem Job. Zwar kann der dauernde Appell um Hilfe für Wohlhabende belastend sein, dafür bietet die gesellschaftliche Position dem «Patron» Prestige und Gefolgschaft, was zum Beispiel für Politiker elementar ist. 22

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Denn diese Mechanismen prägen nicht nur die Interaktionen im Alltag, sondern auch das Geschäftsleben und die Politik. Von einem Direktor oder einem Minister wird erwartet, dass er seinen Verwandten und «Klienten» Jobs, Pfründen und Vorteile zuschanzt. Das gilt nicht als unmoralische Vetternwirtschaft, Begünstigung oder Korruption, im Gegenteil. Es wäre unmoralisch, nämlich egoistisch, wenn der «Patron» es nicht tun würde. «Vergiss nicht, woher du kommst», sagt man einem Aufsteiger, der seine Nächsten ignoriert, die es weniger weit gebracht haben als er. Notfalls macht man ihm das Leben zur Hölle, indem man ihm mit Verhexung oder anderen paranormalen Sanktionen droht. Der dankbare Klient kann nämlich durchaus zur Furie werden, wenn er nicht mehr kriegt, was ihm seiner Meinung nach zusteht. Und Politiker können es sich nicht leisten, auf die Solidarität ihres Clans, ihrer Ethnie und ihrer Wählerschaft zu verzichten. Der Groll der Zurückgebliebenen Oft zeigt sich dieses Problem als Stadt-Land-Konflikt: Die «Zurückgebliebenen» im Dorf grollen den Ausgewanderten, weil sie nicht die Rimessen erhalten, die sie eigentlich erwarten. Manchmal machen sie sich dann ebenfalls in die Stadt auf, wo sie sich beim Verwandten, der offenbar Karriere gemacht hat, einquartieren. Viele Bewohner Dakars beklagen sich über all die Verwandten, mit denen sie ihre kleine Wohnung und ihr Salär teilen müssen, das ihnen selbst bescheiden, Menschen vom Land jedoch gewaltig erscheint. Einen Verwandten, mag er noch so unverschämt sein, aus dem Haus zu werfen, ist aber fast unmöglich. Dasselbe gilt für Emigranten, die vielleicht versucht haben, diesem beengenden Sozialsystem zu entkommen. Aber nun sind die Begehrlichkeiten der Verwandten zu Hause noch grösser, weil sie annehmen, der Auswanderer habe es in Europa bestimmt zum Millionär gebracht. 23

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Kurz: Viele Afrikaner leben in einem Widerspruch zwischen den traditionellen Werten von Solidarität und sozialer Umverteilung und der Moderne, wo Individualismus und Leistung zählen. Den afrikanischen Männern und Frauen, die im Folgenden porträtiert werden, ist es auf faszinierende Weise gelungen, das Dilemma in einen kühnen Spagat, den Bruch in einen kreativen Aufbruch zu verwandeln.

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Jeannette Mukendi beim Training im ehemaligen Übungsraum von Muhammed Ali in Kinshasa. (Bild: Helmut Wachter)

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Kongo-Kinshasa

Boxerinnen, freie Frauen und der Dämon der Ledigen

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Eine anständige Frau in Kinshasa heiratet und hat Kinder. Es gibt aber auch Frauen, die sich selbst durchschlagen, wie die Boxerin Jeannette Mukendi. Das ist ein Balanceakt auf dem Hochseil. Kinshasa, 2013 «Kannst du mir nicht mit ein paar Francs aushelfen?», fragt Rosette vor dem Abschied. «Ich habe noch nichts gegessen heute.» Rosette ist nicht irgendwer. Sie ist mehrfache Afrika-Boxmeisterin. Das heisst, sie könnte fast jeden zwischen Dakar und Daressalam k. o. schlagen. Aber hier in Kinshasa, diesem Zehn-Millionen-Dorf im innersten Afrika, muss sie um ein Mittagessen betteln. Auf die Frage, wovon sie eigentlich lebe, antwortet sie: «Je me débrouille.» Sie schlage sich durch. Wie ist Rosette Boxerin geworden in einem Land, in dem eine Frau ohne Ehemann und Kinder traditionellerweise als Schande für ihre Familie gilt? Dafür muss man ins Jahr 1974 zurückblenden. Damals konnte sich Kinshasa vorkommen wie die Hauptstadt der Welt. Dem Diktator Mobutu Sese Seko war es gelungen, Muhammad Ali und George Foreman in die Hauptstadt des damals Zaire genannten Landes zu locken. Das Treffen der beiden Boxgiganten im Tata-Raphaël-Stadion wurde zum Jahrhundertkampf und ging als «Rumble in the Jungle» in die Sportgeschichte ein. Geisterstadt Kinshasa Heute nennt sich Zaire «Demokratische Republik Kongo». Mobutu wurde 1994 von Laurent-Désiré Kabila weggeputscht, der seinerseits 2001 ermordet wurde, worauf sein Sohn Joseph Kabila die Macht übernahm. Bei den unerschöpflichen Bodenschätzen des Landes könnte Kinshasa das Eldorado im Herzen Afrikas sein, 49

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aber statt «Kinshasa la belle» wie ehemals nennen es die Bewohner heute «Kinshasa la poubelle», Müll-Kinshasa. Mit seinen zehn Millionen Einwohnern ist es – nach Lagos – die zweitgrösste Stadt Schwarzafrikas, verfügt jedoch über die Infrastruktur eines Dorfs. Die meiste Zeit herrscht Stromunterbruch. Selbst wer arbeiten wollte, kann nicht. Sogar im Vergnügungsviertel Matonge sitzen die Leute oft im Dunkeln an ihren Tischchen, neben stillen Lautsprechern, vor sich eine Flasche ungekühltes Bier. Die Mädchen aus den Armenvierteln, die aufgeputzt wie Prinzessinnen über den Gehsteig flanieren, sind nur kurz sichtbar, wenn sie vom Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos gestreift werden. Sie müssen aufpassen, dass sie nicht ins stinkende Wasser der Kanäle fallen. Die Strassenlampen sind nicht mehr in Betrieb. Dafür verlaufen auf den ungeteerten Strassen knapp unter der Erde illegal verlegte Kabel. Bei Regen sterben immer wieder Passanten oder in einer Pfütze spielende Kinder an einem Stromschlag. Auch vom Stadion Tata Raphaël ist nur noch ein Skelett übrig. Nachts schlafen Strassenkinder auf den Sitzreihen. Auf der Umzäunung wird Wäsche getrocknet. An der östlichen Seite dampft eine riesige Müllhalde vor sich hin. In den dunklen, verwinkelten Gängen der Ruine haben sich Obdachlose einquartiert, Suppen köcheln auf glühenden Kohlen. Aber in den Katakomben lebt der Geist Muhammad Alis fort. In dessen ehemaliger Garderobe, wo die blaue Farbe in Fetzen von der Mauer hängt und der Boden von Zementstaub und alten Kleidern bedeckt ist, hat sich Judex Tshibanda einquartiert. Jeannette und Rosette boxen Der 53-jährige Judex war früher selbst Boxer. Eines Tages im Jahr 1995 sah er in einem Buch Bilder von boxenden Amerikanerinnen. Das würde er in Kinshasa einführen! Seine Schwergewichts-Kumpel, nicht gerade Frauenrechtler, dachten an einen Sonnenstich. 50

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Aber er zog es durch, und heute ist er Nationaltrainer der kongolesischen Boxerinnen. Sein Star ist Rosette Ndongola. Drei Mal holte sie sich den Afrika-Champion-Titel. Nur letztes Jahr fehlte ihr das Geld, um zur Ausscheidung zu fahren. Rosette kommt allerdings erst später an diesem grauen, schwülen Trainings-Montagnachmittag. Dafür kommt Jeannette Mukendi. «Ich sehe nicht aus wie eine Boxerin, n’est-ce pas?», sagt sie lächelnd. In der Tat: In ihrem rosa Top, mit den roten Finger- und goldenen Zehennägeln in schwarzen Lacksandalen ginge sie glatt als Fernsehmoderatorin durch. Trainiert wird im hohen Kellerraum, wo sich Ali einst für den Kampf der Kämpfe aufwärmte. Spärlich dringt Licht durch die Löcher in der Mauer, drei nackte Glühbirnen hängen von der Decke. Die Sprossenwand weist nur noch wenige Sprossen auf, die meisten wurden als Brennholz verwendet. Der «Ring» wird durch vier Bretter auf dem Betonboden gebildet. Auf die Mauer ist der Name von Judex’ Boxklub gepinselt: «La tête haute de Muhammad Ali». Nachdem sich die schöne Jeannette am Boxsack auf Touren gebracht hat, stellt sich ihr Judex als Sparringpartner zur Verfügung. Und nach wenigen Minuten wird klar, dass man sich von Jeannettes charmantem Äusseren nicht täuschen lassen sollte. Judex muss verdammt aufpassen, Kopfschutz gibt es nicht. Innert Kürze sind beide schweissüberströmt. Jeannette ist Mitte 20. Mit 15 wurde sie schwanger. Der Mann? «Tot», sagt sie. Später wird klar, dass er durchaus noch lebt, aber sich schon so lange aus dem Staub gemacht hat, dass er für sie gestorben ist. Als kurz nach der Geburt der Zwillinge ihre geliebte Tante starb, musste sie irgendwo ihre Wut loswerden, sagt sie. Mit Kollegen spielte sie Volleyball, exzessiv, bis zur Erschöpfung. Das fiel Judex auf, der gleich nebenan mit seinen Boxerinnen trainierte. «Er fragte mich, ob ich mitmache, und so gings los.» Inzwischen holte sie bei Landeswettkämpfen zwei Mal die Silbermedaille.

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«Ist es als Boxerin nicht etwas schwierig, einen Partner zu finden? Haben die Männer nicht Angst?» «Warum? Ich bin schön!», entgegnet sie kokett. «Und diszipliniert. Als Sportlerin schlage ich doch nicht einfach zu!» Wäre ihr Idealmann ebenfalls Boxer? «Nie. Die meisten Boxer sind bescheuert.» Sie legt sich erschöpft auf zwei rostige Metallstühle ohne Lehne. Das Lipgloss glänzt immer noch perfekt. Nach zwei Stunden trifft Rosette ein. Eng anliegendes, geflochtenes Haar, gedrungene, muskulöse Statur, scharf geschnittenes Gesicht, gefährlicher Gangster-Gang – sie könnte als Anführer einer Strassenbande durchgehen. «Früh verwaist», sagt sie. «Als dann noch meine grosse Schwester starb, spielte ich nur noch Fussball, von morgens bis abends.» Sie wurde von Judex entdeckt und in seinen Klub aufgenommen. Mit acht. Als er sie beim ersten Wettkampf mitmachen liess, weigerten sich die anderen, mit dem «Baby» aufzutreten. Judex blieb hart. An diesem Tag stieg die Achtjährige als Einzige aus seinem Camp in den Ring. «Als ich Boxerin wurde, war die ganze Verwandtschaft dagegen», sagt sie. «Jetzt können sie sich vor Stolz kaum mehr halten.» Die «freien Frauen» Spricht man in Kinshasa Leute auf die Boxerinnen an, lautet die lapidare Antwort gemeinhin: «Ah, ce sont des femmes libres.» Der Ausdruck «freie Frauen», im ganzen frankofonen Afrika gebräuchlich, bedeutet, dass Jeannette oder Rosette unverheiratet sind und sich ausserhalb des traditionellen Familienlebens und der herkömmlichen Geschlechterrollen durchschlagen. Im Wörtchen «frei» können Bewunderung, Neid oder Verachtung mitschwingen. Die Ethnologin Jean S. La Fontaine schrieb in ihrer Studie The free women of Kinshasa: «Eine ‹femme libre› hat sich der Kontrolle ihrer Wächter, egal, ob Ehemann oder Verwandte, entzogen. 52

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Sie ist frei von Verwandtschafts- und Clanverpflichtungen, und ihr Leben hängt von der eigenen Intelligenz und Organisation ab. Das Verb échapper (‹entkommen›) wird in diesem Zusammenhang oft verwendet, mit der Implikation, dass eine ‹femme libre› einen positiven Schritt getan hat, um sich selbst von den lästigen Einschränkungen eines traditionellen Lebens zu befreien.» Aber das Hauptproblem in einem Land wie Kongo-Kinshasa ist der Mangel an Arbeitsplätzen mit regelmässigem Salär. Das gilt für Männer und erst recht für Frauen. Das Gesellschaftssystem, das unter solchen Bedingungen entsteht, nennt man Neopatrimonialismus. So wie sich Männer einen einflussreichen «Patron» suchen, unter dessen Schutz sie sich stellen können, so brauchen auch Frauen jemanden, der für sie sorgt. Das ist klassischerweise der Ehemann. Aber auch die ledigen «femmes libres» kommen nicht darum herum, sich einen Ernährer zu suchen. Der Balanceakt besteht darin, sich einerseits versorgen zu lassen, andererseits die Abhängigkeit der klassischen Ehe zu vermeiden. Eine Option lautet, sich nicht auf einen, sondern auf mehrere Männer abzustützen und die verschiedenen Liebhaber, so gut es geht, aneinander vorbeizumanövrieren. Eifersucht schadet nicht zwingend, kann sogar gut fürs «Geschäft» sein, sollte aber nicht so stark werden, dass einer abspringt. Aus westlicher Sicht nähern sich solche Beziehungen der Prostitution. Das ist jedoch insofern irreführend, als man in weiten Teilen Afrikas davon ausgeht, dass sich die Liebe eines Manns zu einer Frau an seiner Grosszügigkeit zeigt. Seiner Freundin nach einer Liebesnacht einen Geldschein zuzustecken, ist nicht anrüchig, sondern gilt als Zeichen der Wertschätzung. Die Eltern werden eine Tochter ermahnen, bei der Partnerwahl nicht nur ihrem Herz zu folgen, sondern auch die materielle Sicherheit im Auge zu behalten. Sucht sie sich einen reichen Mann, handelt sie verantwortungsvoll und moralisch, da sie nicht nur an sich, sondern auch an ihre soziale Verpflichtung gegenüber ihrer Verwandtschaft denkt. Auch La Fontaine schreibt: «In den Augen von Kongolesen 53

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ist ein wesentliches Merkmal der Liebesbeziehung das Geschenk, das die Frau von einem Liebhaber erhält. Zuneigung, ob nun in Männerfreundschaften oder zwischen den Geschlechtern, wird in Geschenken ausgedrückt.» Aber trotz der Normalität dieser «Honorierung» gilt: «Von der Amateurprostitution bis hin zum Bestreiten des Lebensunterhalts aus den Geschenken von Liebhabern ist es zeitlich und logisch ein kurzer Schritt.» Stéphanie, die Prostituierte Die Rollen der gesellschaftskonformen Ehefrau und der «femme libre» sind nicht strikt getrennt. Eine freie Frau kann irgendwann heiraten, und wenn die Ehe in die Brüche geht, lebt sie wieder ein paar Jahre als Freie. Allerdings droht tatsächlich die Sackgasse der Prostitution. Gilt eine Frau irgendwann als schlicht käuflich, ist es schwierig für sie, aus dieser Rolle wieder herauszukommen. Dies ist Stéphanie passiert. Rasch tun sich im Gespräch mit ihr hinter dem charmanten Äussern Abgründe auf. Stéphanie ist jeden Abend im «Cheetah 2» im Bon-Marché-Quartier. Aber erst ab 22 Uhr, damit keine eventuellen Verwandten sie von der Strasse aus sehen könnten. Sex mit ihr kostet rund 20 Dollar plus 15 für ein Zimmer. Stéphanie ist 25. «Wie lange machst du das schon?» «Ich erinnere mich nicht.» Später, bei grilliertem Ziegenfleisch und Mützig-Bier, stellt sich heraus, dass ihr Vater Soldat war; bei den Unruhen von 2007, als es nach den Wahlen zum Clash zwischen Gewinner Joseph Kabila und seinem Rivalen Jean-Pierre Bemba kam, starb er bei einem Schusswechsel. Im allgemeinen Chaos wurde Stéphanie von einem Mann gekidnappt und eine Woche lang vergewaltigt. Nun muss sie für ihre Mutter und ihre Schwestern sorgen. Immerhin konnten sie auf dem Militärcamp wohnen bleiben, aber Kunden kann sie dort nicht herbringen. Mit den fremden Männern gehe sie «à contre54

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cœur» ins Bett, sagt sie. Oft wird sie von Polizisten gedemütigt, sie verlangen von ihr, ohne Präservativ mit ihnen zu schlafen. Sie hofft, dass ein Kunde sie heiratet, aber, sagt sie, «die Chancen werden immer kleiner». Gegen Mitternacht macht sie mit einem Freier in einem Chambre séparée der benachbarten «Riviera»-Disco herum; die Inhaberin will sie hinauswerfen, droht mit der Polizei. Da verliert Stéphanie völlig die Nerven. Ihr Gesicht nimmt einen noch verzweifelteren Ausdruck an. Wild entschlossen, keinen Millimeter zurückzuweichen, schreit sie: «Ich rufe das Militär! Mein Vater war Soldat! Eine ganze Armee wird hier einmarschieren und dein Lokal dem Erdboden gleichmachen!» Gefangen in der Freikirche Den freien Frauen droht auf der einen Seite Prostitution, auf der anderen der Rückfall in patriarchale Kontrolle, zum Beispiel in den «Freikirchen», die wie in ganz Afrika auch in Kinshasa boomen. Mit einer Mischung aus billigem Trost, grandiosen Versprechungen, christlichem Wunder-Hokuspokus und traditionell-afrikanischem Geister- und Besessenheitskult verdrehen diese Sekten ihren Schäfchen die Köpfe und ziehen ihnen die Kongo-Francs aus der Tasche. Da ist zum Beispiel der «Prophet» Tridon KambayiOleko. Seine Eglise des Agneaux, ein rotes Zelt in einem Hinterhof im Lingwala-Quartier von Kinshasa, ist noch wenig bekannt und er freut sich über Neuankömmlinge. Vor ein paar Jahren hatte er eine Vision. Gott sagte ihm, er solle sich um seine Schäfchen kümmern. Tridon nahm das sehr ernst und sehr wörtlich. In der «Lämmer-Kirche» beten die Gläubigen auf allen Vieren, blöken, dann legen sie sich flach auf den Boden und reden in Zungen. Wie meist in diesen Kirchen ist die Mehrzahl der Anwesenden weiblich. Im Fünfminutentakt fallen Frauen in Trance. Dann ist der Prophet sofort zur Stelle, redet rasch und 55

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rhythmisch auf die Entrückte ein, sie verzerrt das Gesicht, verdreht die Augen und fällt ihm schliesslich stöhnend in die Arme. Er legt sie hin, kniet über ihr und beschwört die Dämonen, ihren Körper zu verlassen, während sie sich wimmernd hin und her wälzt. Die «freien Frauen» machen dem Gottesmann grosse Sorgen. Er redet vom Sündenbabel; die Rettung dieser verlorenen Seelen ist ihm ein grosses Anliegen. Immerhin sieht er sie weniger als Sünderinnen, sondern als Opfer. Nach dem Gottesdienst erklärt er die Geschichte der drei Frauen, die er an diesem Tag aus ihrer Besessenheit befreit hat: «Der ersten warf ein Hexer einen Stein an den Kopf. Deshalb hat sie immer Kopfweh. Die zweite verlobt sich immer wieder, aber heiratet nie. Wir nennen das den Dämon der Ledigen. Es handelt sich um einen unsichtbaren Nacht-Ehemann, der keinen anderen ranlässt. Die dritte schliesslich wurde krank wegen eines bösen Onkels, der einen Todesgeist schickte.» Mithilfe Gottes gelang es ihm, alle drei zu retten. Das Paradoxe ist, dass sich viele dieser Priester die «Normalisierung» der freien Frauen auf die Fahne geschrieben haben; aber was passiert, ist, dass diese (leicht-)gläubigen Frauen dann als Groupies der Priester enden. Sie tauschen ihre raffiniert ausbalancierten Abhängigkeiten gegen eine einzige aus, die einer Hypnose ähnelt. Eric, ein Lokaljournalist, der in Kinshasa über die neuen Kirchen schreibt, sagt: «Ist eine Frau erst über die Schwelle getreten, kommt sie nie mehr raus. Mehr und mehr verbringt sie ihre Zeit nur noch in der Kirche. Sie kann an nichts anderes mehr denken. Ihr Mann wird ihr gleichgültig, die Kinder vergisst sie. Überall sieht sie nur noch Dämonen. Sie wird zur Sklavin des Priesters.» Das ist das Problem der freien Frauen: Der Schritt aus der herkömmlichen Abhängigkeit ist stets von der Gefahr begleitet, in noch grössere Abhängigkeit zu führen. Das Leben ist für sie ein Hochseilakt. Allzeit droht der Absturz.

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Der LGBT-Aktivist Djamil Bangoura in Dakar. (Bild: Katja Müller)

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Senegal

«Wir haben Gott nicht darum gebeten, uns so zu machen»

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Wer in Senegal homosexuell ist, muss sich verstecken und verstellen. Sonst wird er von der Gemeinschaft verstossen und landet vielleicht sogar im Gefängnis. Der Aktivist Djamil Bangoura hat das Coming-out gewagt. Dakar, 2019 Auf dem Flyer, der für den Abend wirbt, deutet nichts darauf hin, in welche Szene sich die Partygäste begeben. Es werden zwei bekannte Musiker und Tänzer angekündigt. Nur Insider wissen, dass sie «dazugehören». Die Soiree findet an einem Juni-Mittwoch in einem bekannten, unverdächtigen Klub statt. Er ist gut gelegen: relativ zentral, aber etwas versteckt hinter einer Brücke, sodass man von der belebten Hauptstrasse aus nicht sieht, wer ein und aus geht. Der Beginn ist auf 22 Uhr festgelegt. Aber vor 23 Uhr laufe nichts, sagt Djamil. Er selbst will vorsichtshalber nur kurz bleiben und dann wieder gehen. In Senegal ist Homosexualität kriminalisiert, so wie in 32 anderen afrikanischen Staaten. Wer sich nicht versteckt oder verstellt, riskiert, verstossen zu werden oder gar ins Gefängnis zu kommen. Aber selbst in Senegal gibt es Partys für Schwule und Lesben. Nur finden sie diskret statt. Echte Männer tragen keine Ohrringe Schliesslich beginnt die Veranstaltung erst nach 1 Uhr nachts. Die Musiker mit ihrer ganzen exzentrischen Entourage tauchen um 2 Uhr auf. «In ihrer Aufmachung getrauen sie sich erst auf die Strasse, wenn sie niemand sieht», sagt Djamil. Es ist wohl kein Zufall, dass auch die Partygäste zusammen mit den Musikern eintreffen, selbst wenn sie nicht zur Truppe gehören. Die Nähe zu den 131

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Künstlern gibt ihnen eine gewisse Narrenfreiheit, man wird sagen, ihre schrägen Outfits gehörten zur Show. Es hat lange gedauert, aber nun kommt rasch Stimmung auf. Laut Djamil gehören etwa zwei Drittel des Publikums zur Communauté. Das heisst, sie sind schwul oder lesbisch. Man spürt, wie glücklich die Partygäste sind, sich für einmal nicht verstellen zu müssen. Sie sind unter sich, mehr oder weniger in Sicherheit. Hier fällt so richtig auf, wie normiert die Geschlechterrollen in Senegal sind. Männer haben den Kopf normalerweise rasiert oder tragen das Haar sehr kurz, im Extremfall tragen sie Rastas. Alle anderen Frisuren sind verpönt. Ist das Haar nur ein paar Zentimeter zu lang, werden Schüler von der Schule verwiesen und dürfen erst wiederkommen, wenn sie beim Coiffeur waren. Auch Ohrringe sind tabu, sie gelten als weiblich. Frauen in Jeans gelten umgekehrt rasch als männlich. Die Klubgäste fielen in Zürich kaum auf, hier wirken sie wie Ausserirdische. Auf der Strasse würden sie zweifellos nach kurzer Zeit angepöbelt oder schlimmer. Verglichen mit einem Schwulenklub in Europa geht es sehr gesittet zu. Getanzt wird kaum und sicher nicht paarweise. Niemand knutscht herum oder hält Händchen. Die Band spielt, die Fans springen johlend vor der Bühne herum. Manchmal gehen ein paar von ihnen zum Sänger hoch, stellen sich kurz zur Schau und steigen wieder herunter. Ein Mann hat sich als Clown verkleidet. Die Frauen sitzen mehrheitlich an ihren Tischchen, nippen an einer Cola oder, wenn es hoch kommt, an einem Energydrink. Aber würde aus irgendeinem Grund die Polizei hereinplatzen, könnte man am nächsten Tag wahrscheinlich in der Zeitung lesen, hier habe eine perverse Orgie stattgefunden. «Warum kann sich nicht jeder um seine eigenen Angelegenheiten kümmern?», fragt einer der Tänzer. «Ich bin so, wie ich bin. Wir haben es nicht selbst gewählt, und wir haben Gott auch nicht darum gebeten, uns so zu machen.»

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Der hohe Preis des Coming-out Djamil Bangoura ist gewissermassen der Repräsentant der senegalesischen Schwulen. Er gründete 2003 die Association Prudence, die sich offiziell der Aids-Prävention unter Homosexuellen verschreibt. Die HIV-Quote in Senegal ist mit 0,5 Prozent relativ tief, beträgt unter Schwulen aber etwa 22 Prozent. De facto ist Djamils Organisation allerdings das Sammelbecken und Sprachrohr für die LGBT-Community schlechthin im Land geworden. Sie umfasst etwa 760 Mitglieder. Entdeckt hat Djamil seine Homosexualität ausgerechnet in der Koranschule. Richtig akzeptieren konnte er sie allerdings erst mit 22, als er Zugang zur LGBT-Szene in der Hauptstadt Dakar fand. Wenig später verliebte er sich in einen Deutschen, sie wurden ein Paar und gründeten ein Rap-Studio. Einige Jahre lang ging das gut, bis sich herumsprach, dass die beiden mehr als nur die Arbeit verband. Es kam zum Eklat, Djamils Partner kehrte nach Deutschland zurück, das Studio wurde geschlossen. «Ich hatte alles verloren», sagt Djamil. «Nach drei Jahren Arbeitslosigkeit konnte ich nicht einmal mehr meine Miete zahlen.» Da lud ihn eine LGBT-Organisation an einen Workshop ein und die Idee entstand, in Senegal etwas Ähnliches zu versuchen. Djamil gründete Prudence. Zum grossen Erstaunen seiner Mitstreiter wurde die Organisation im Jahr 2005 offiziell anerkannt. 2008 wurden jedoch mehrere Prudence-Mitglieder verhaftet. Djamil floh für sechs Monate nach Mali. Dann kehrte er trotz der Warnungen seiner Kollegen nach Dakar zurück. «Ich bin Aktivist», sagt er. «Man kann nicht Aktivist sein und zugleich im Ausland leben. Das wäre wie ein Soldat, der nur in der Kaserne bleibt.» Djamil kennt allerdings viele militante Schwule in Afrika, die keine Wahl hatten und ins Exil fliehen mussten. Er glaubt auch, dass zahlreiche Afrikaner, die in Europa um Asyl ansuchen, Homosexuelle sind, die ihre Orientierung nicht mehr weiter verstecken wollen. Er kennt sogar Schwule in Mauretanien, die sich 133

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absichtlich mit HIV anstecken liessen, um bessere Chancen auf Asyl zu haben. Homosexualität als europäische Krankheit Nach seiner Rückkehr nach Dakar gelang es Djamil, die zerschlagene Organisation wieder aufzubauen. 2016 erhielt er eine Einladung, die LGBT-Gemeinschaft vor der UNO zu vertreten. Zugleich wurde er Präsident von Renapoc, einer Dachorganisation für 14 Vereinigungen im Bereich Aids und vulnerable Bevölkerungsgruppen. Djamil versteckt sich nicht mehr. Er hat die Flucht nach vorne angetreten und ist zu einer bekannten Persönlichkeit geworden. Vielleicht schützt ihn diese Prominenz ein Stück weit. Aber nicht völlig. Als er ein Restaurant im Quartier Yoff-Plage betritt, schaut er sich erst unruhig um. Er hat unter den Gästen ein Mitglied einer islamischen Organisation erspäht, die jede Gelegenheit nutzt, ihm das Leben schwer zu machen. Aber dann entschliesst er sich, «aus Trotz und erst recht» hier zu bleiben. Djamils Alltag ist schwierig. Der Eingang seines Hauses wird durch Wachhunde gesichert. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegt er sich schon lange nicht mehr durch die Stadt, gewisse Quartiere meidet er. Selbst an der Universität herrscht ein homophobes Klima. «In Senegal wie in anderen Ländern des Kontinents behaupten die Leute gerne, es gebe in Afrika gar keine Homosexuellen», sagt Djamil. «Das hindert sie aber nicht daran, Homosexuelle zu bestrafen . . .» Man tue so, als sei Homosexualität eine Art Krankheit, die aus Europa eingeschleppt worden sei. Oft werde auch geleugnet, dass Homosexualität in Senegal verboten sei, bloss weil das Wort im Gesetzbuch nicht vorkomme. «Aber es gibt den Artikel 319, der den sogenannten widernatürlichen Akt mit jemandem des eigenen Geschlechts mit einem bis fünf Jahren Gefängnis bestraft», sagt Djamil. In Wirklichkeit werde das Gesetz ganz willkürlich 134

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ausgelegt. Zwei Männer könnten inhaftiert werden, weil sie händchenhaltend den Strand entlangspazierten. Auch Präservative seien verdächtig. Stösst die Polizei bei einer Razzia auf eine Person, die ein Kondom bei sich trägt und womöglich auch noch Gleitcrème, ist der Fall klar: Ist es eine Frau, gilt sie als Prostituierte, ist es ein Mann, muss er schwul sein. Zur Heirat gezwungen Djamil weiss von 14 Personen, die derzeit wegen Homosexualität im Gefängnis sitzen. Sechs von ihnen sind HIV-positiv, einer wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. Oft werden die «Täter» nicht direkt wegen Homosexualität verurteilt, sondern wegen angeblicher Vergewaltigung oder Verführung Minderjähriger. Gleichgeschlechtlicher Verkehr mit unter 21-Jährigen gilt in Senegal als Pädophilie. Sehr oft werden Homosexuelle zur Heirat gedrängt oder sogar gezwungen, sagt Djamil. Er habe das auch selbst erlebt. Er war ein Einzelkind und die Eltern wollten unbedingt Enkel. Manche sagen, der Grund für die afrikanische Homophobie sei das Fehlen einer staatlichen Altersvorsorge: Man ist auf Kinder und Enkel angewiesen, die dereinst für einen sorgen. Aber auch angesichts der hohen HIV-Quote unter Schwulen sei die Praxis der erzwungenen Verheiratung eine Katastrophe, sagt Djamil. Oft werde so das Virus an die Ehefrau, die gegen Kondome sei, weitergegeben oder im Fall der Polygamie sogar an mehrere Frauen, die es bei der Geburt dann wiederum an die Kinder weitergeben. Es ist schwierig, in Senegal eine offene Debatte über diese Themen zu führen. Die Berichterstattung in den Medien ist polemisch und dramatisierend. Die Berührungsangst beim Thema ist so gross, dass sogar das Wort «Homosexualität» nur in Anführungszeichen verwendet wird. Oft wird berichtet, Schwule seien «enttarnt» worden. Als eine grosse senegalesische Zeitung wieder 135

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einmal über das Thema schrieb, interviewte ihr Reporter auch Djamil Bangoura. Nach der Veröffentlichung des Artikels wurde der Journalist entlassen, weil er angeblich «Propaganda» für Homosexualität machte, indem er einen Schwulen zitierte. Es hiess prompt, er sei selbst schwul. Auch gegen Organisationen wie Prudence wird immer wieder der absurde Vorwurf erhoben, sie würden Homosexualität «propagieren». Manchmal wird die Ansicht vertreten, die senegalesische Gesellschaft sei bis vor etwa 20 Jahren noch relativ tolerant gegenüber Homosexuellen gewesen. «Gorjigen» nannte man Schwule leicht amüsiert, aber ohne Aggression – «Mannfrau». Als Wende wird oft das Jahr 2008 angegeben. Damals veröffentlichte ein senegalesisches Magazin eine Reportage über eine angebliche Hochzeit von zwei Männern, inklusive Fotos. Das Paar wurde verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Ein paar Monate später wurde ein Abendessen mit neun angeblich schwulen Männern gestürmt. Sie wurden zu acht Jahren Gefängnis verdammt. Die Strafe fiel deshalb so hart aus, weil sie Mitglieder einer Anti-Aids-Organisation waren, die als kriminell eingestuft wurde. Später wurden die Männer vom Appellationsgericht freigesprochen. Exhumierte Schwule Manche sind der Meinung, die Toleranz der Senegalesen gegenüber Homosexualität sei erst gekippt, als die LGBT-Gemeinschaft den Schritt an die Öffentlichkeit wagte. Dieselben Leute vertreten die Ansicht, dass Forderungen nach Gleichberechtigung, insbesondere wenn sie aus dem Ausland kommen, kontraproduktiv seien. Denn der Druck bestärke die Leute im Glauben, Homosexualität sei eine westliche Erfindung, gegen die sich Afrika schützen müsse. Djamil ist anderer Meinung. «Nur durch internationalen Druck wird es, wie kürzlich in Botswana, zu einer Entkriminalisierung 136

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der Homosexualität kommen. Denn kein einheimischer Politiker wagt es, sich an diesem Thema die Finger zu verbrennen.» Als sich Frankreichs ehemaliger Präsident Nicolas Sarkozy und der frühere Präsident der USA, Barack Obama, gegen die Verfolgung der Homosexuellen in Senegal aussprachen, hätten konservative Kreise zwar sofort die afrikanische Kultur und den Islam ins Feld geführt und sich gegen die «ideologische Kolonialisierung» empört. Letztlich aber habe die Intervention positive Wirkungen gehabt, meint Djamil. Seit einigen Jahren kommt es vor, dass beerdigte Schwule wieder ausgegraben und ihre Leichen ausserhalb des Friedhofs deponiert werden. Manche Senegalesen glauben, der islamische Friedhof werde durch das Grab eines Homosexuellen entweiht. Was den Islam angeht, hat Djamil eine interessante Ansicht. Im Koran heisst es, jemand könne nur für einen homosexuellen Akt bestraft werden, wenn vier muslimische, männliche Zeugen die Tat mit eigenen Augen gesehen hätten. «Das ist fast unmöglich», sagt er. «Der Prophet wollte mit dieser Bestimmung sagen, dass man sich nicht ins Privatleben anderer einmischen soll.» Die Unfreiheit der ledigen Frauen In einigen afrikanischen Ländern wie Kenia, Nigeria oder Sambia stehen nur homosexuelle Handlungen von Männern unter Strafe, nicht aber jene von Frauen. Laut Djamil herrschte auch in Senegal lange grössere Toleranz gegenüber Lesben. Inzwischen, vor allem unter dem Einfluss der radikalen islamischen Gruppierungen, sei das jedoch nicht mehr so. Da ist zum Beispiel die 22-jährige M., bei der als Jugendliche einmal drei Monate lang eine Freundin wohnte. Als es zu einer lauten Eifersuchtsszene kam, merkte ihre Mutter, was los war. Sie setzte die Tochter auf die Strasse und verweigerte monatelang jeden Kontakt. Schliesslich vermittelte eine befreundete Polizistin, 137

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und M. konnte wieder zu Hause einziehen. «Inzwischen akzeptiert meine Mutter meine Veranlagung», sagt M. «Sie findet es zwar nicht toll, aber was soll sie schon machen?» M. hat eine feste Freundin, die sie sehr liebt, wie sie sagt. Sie sieht aus wie ein junger Mann und ist von einer wunderbaren Selbstsicherheit. «Wenn mich jemand blöd anmacht, bezahlt er es teuer», sagt sie lachend und ballt die Faust. Ihre Geschwister wissen allerdings nicht, dass M. lesbisch ist. Sie hat den Vorteil einer festen Anstellung. Das macht sie bis zu einem gewissen Grad von der Familie unabhängig. Schwieriger ist es für B. Sie ist bereits 31 und wohnt ebenfalls noch zu Hause. In Senegal zieht eine Frau normalerweise erst aus, wenn sie heiratet. Auch hat B. kein regelmässiges Einkommen. Die soziale Kontrolle ist gross. Niemals könnte eine Freundin bei ihr übernachten. Wenn sie selbst eine Nacht wegbleibt, gibt es hartnäckige Fragen. Ihre Mutter hat ihr mehrmals gesagt, man flüstere, sie sei lesbisch. B. streitet das immer ab. Trotzdem hat sich ihre grosse Schwester wegen der Gerüchte von ihr abgewandt. Der Druck, endlich zu heiraten und Kinder zu haben, wird von Jahr zu Jahr grösser. B. hütet sich, irgendjemandem ausserhalb der LGBTGemeinschaft ihr Geheimnis zu offenbaren. «Man kann niemandem trauen», sagt sie. Ähnlich sieht es für A. aus. Sie ist 34, Akademikerin, hat eine gute Stelle und muss trotzdem noch bei ihren Eltern wohnen. Vor Kurzem gründete A. eine NGO für homosexuelle Frauen, die allerdings einen ganz unverfänglichen Namen trägt. Es könnte sich einfach um eine der vielen Frauenorganisationen in Senegal handeln. Innerhalb der Familie weiss nur ihr Bruder, dass sie in dieser NGO mit Lesben arbeitet. Erst war er schockiert. Dann meinte er: «Na gut, wenn du diesen Frauen hilfst auszusteigen, ist es in Ordnung.» Auch Lesben werden in Senegal immer wieder verhaftet. Wie bei Schwulen kann es für eine Verdächtigung genügen, dass man nicht dem Geschlechterstereotyp entspricht. «Jemand findet, dass du ein bisschen seltsam, eher wie ein Mann aussiehst, und 138

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setzt das Gerücht in die Welt, du seist vielleicht lesbisch», sagt B. «Am Ende rotten sich ein paar Fanatiker zusammen und du endest im Gefängnis.» Was wünscht sie sich für die Zukunft? «Freiheit», sagt sie. «Dass ich ich selbst sein kann.»

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Über den Autor

(Bild: Katja Müller)

David Signer (*1964), Dr. phil., Studium der Ethnologie, Psychologie und Linguistik in Zürich und Jerusalem. Er war Forschungsassistent und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich, arbeitete im Flüchtlingswesen und unternahm Feldforschungen im Nahen Osten und in Westafrika. Er ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem von Die Ökonomie der Hexerei über traditionelle Glaubensvorstellungen im modernen Westafrika, von Dead End – Erzählungen und von Grenzen erzählen Geschichten – Was Landkarten offenbaren, erschienen 2015 bei NZZ Libro. Er schrieb regelmässig für das Magazin des Tages-Anzeigers, war 2002–2008 Redaktor bei der Weltwoche und 2009–2013 bei der NZZ am Sonntag im Ressort Gesellschaft. Ab März 2013 betreute er im Ressort International der Neuen Zürcher Zeitung das Dossier Afrika, ab 2016 lebte er als NZZ-Afrika-Korrespondent in Dakar, seit Dezember 2020 berichtet er mit Sitz in Chicago über die USA und Kanada.

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Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in Senegal – spürt in seinem neuen Buch den abenteuerlichen, steinigen und oft verblüffenden Lebenswegen 18 afrikanischer Männer

David Signer (*1964), Dr. phil., Studium der Ethnologie,

und Frauen nach, die trotz widrigsten Umständen ihre Ziele

Psychologie und Linguistik in Zürich und Jerusalem. Er

verfolgen. Der Malawier, der schon als Kind in seinem

ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem von Grenzen

Dorf davon träumte zu fliegen und heute eine Pilotenlizenz

erzählen Geschichten (NZZ Libro, 2015). Er schrieb

hat. Der frühere Strassenjunge aus Gambia, der später

regelmässig für das Magazin des Tages-Anzeigers, war

den einzigen Zirkus in Senegal gründet. Der ehemalige

Redaktor bei der Weltwoche und bei der NZZ am Sonntag.

Kindersoldat in Kongo, der eine Organisation gegen den

Ab März 2013 betreute er bei der Neuen Zürcher Zeitung

Einsatz Minderjähriger im Krieg auf die Beine stellt. Die

das Dossier Afrika, 2016–2020 als Afrika-Korrespondent

Frauen in Kinshasa, die gegen alle gesellschaftlichen Normen

aus Dakar. Seit Dezember 2020 berichtet er mit Sitz in

professionell boxen. Oder die Frauen und Männer in Somalia,

Chicago über die USA und Kanada.

die der Tradition trotzen und ihre Töchter nicht beschneiden. Viele Afrikaner leben heute in einem Widerspruch zwischen

Ebenfalls bei NZZ Libro erschienen:

traditionellen Werten und Moderne. Den Porträtierten im Buch ist es gelungen, das Dilemma in einen kühnen Spagat, den Bruch in einen kreativen Aufbruch zu verwandeln.

David Signer (Hrsg.) Grenzen erzählen Geschichten Was Landkarten offenbaren 136 Seiten, 51 Abbildungen, gebunden mit Halbleinen 3. Auflage 2017 ISBN 978-3-03810-270-0

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AFRIKANISCHE AUFBRÜCHE

Der Ethnologe David Signer – bis 2020 als Afrika-

E H C S I N A K I R AF E H C U R B F AU

Aus dem Inhalt Einleitung – Leben in Afrika Aus der ärmlichen Hütte in die Luft (Malawi) Salto mortale am Abgrund (Senegal) Boxerinnen, freie Frauen und der Dämon der Ledigen (Kongo-Kinshasa) Der Blinde hilft dem Lahmen (Kenia) Er möchte den anderen geben, was er selbst nie hatte (Senegal) Odyssee durch die Wüste (Eritrea) «Töte, um nicht getötet zu werden» (Kongo-Kinshasa) Gottlos in Ghana (Ghana) Die Wäscherin am Strassenrand von Dakar (Senegal) Die Vagina zugenäht und vor der Hochzeit aufgeschnitten (Somalia) «Wir haben Gott nicht darum gebeten, uns so zu machen» (Senegal) Ein Kind opfern, um Minister zu werden (Gabun)

DAVID SIGNER

Foto: © Katja Müller

«VERSUCHE ÖGLICHE » DAS UNM

DAVID SIGNER

Nach dem Studium in Europa zurück in die Heimat (Gambia) Die emanzipierten Männer von Atimédodi (Togo) Jahrzehntelanges Warten im Sand (Westsahara) Prostitution als Überlebensstrategie in einer heuchlerischen Gesellschaft (Senegal) Warum in Burkina Faso so viele Hebammen Männer sind (Burkina Faso) Die weiblichen Dandys von Brazzaville (Kongo-Brazzaville)

I S B N 978-3-907291-50-4

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Nachwort – Schreiben über Afrika

783907 291504

www.nzz-libro.ch

02.08.21 18:03


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