Sandra Walser: Auf Nordlandfahrt. 1896 von Hamburg nach Spitzbergen.

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120 Jahre später stösst die Historikerin Sandra Walser auf Wielands Erinnerungsstücke. Ihr sorgfältig recherchiertes und prächtig bebildertes Buch lädt ein zu einer lustvollen Entdeckungsreise entlang der legendären Hurtigruten-Strecke und weiter Richtung Eismeer. Mit ansteckender Begeisterung führt sie in eine Zeit, in der der (Arktis-)Tourismus noch jung und wild war und weisse Flecken auf der Landkarte Anlass gaben zu grossen Geschichten.

Sandra Walser

Auf Nordlandfahrt

Im Sommer 1896 steuert ein kleines Dampfschiff von Hamburg aus den Rand der damals bekannten Welt an: Spitzbergen. Die 52 Gäste an Bord gehören zu den ersten Polartouristen und -touristinnen überhaupt. Mit dabei ist der junge Schweizer Künstler Hans Beat Wieland, der eigentlich so gar nicht in die illustre Gesellschaft passt. Ihm liegt wenig an Champagner, Frack und Dekolleté. Sein Interesse gilt der Erkundung der Landschaft, in der er viele Parallelen zu seiner Heimat entdeckt – wandernd, malend, schreibend.

Sandra Walser

Auf Nordlandfahrt

ISBN 978-3-03810-367-7

9 783038

103677

www.nzz-libro.ch

1896 von Hamburg nach Spitzbergen

NZZ Libro


90° N

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DER SEESACK AUF NORDLANDFAHRT –  EINE REISE DURCH RAUM UND ZEIT

Leinen los! Die Heimat in der Ferne Es stinkt zum Himmel Ein Feenland mit Kanten Ohne Halt bis 90° Nord Am Rad der Zeit gedreht Viele Grüsse Im Mondschatten Fest vertäut

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PORTRÄTS UND DETAILS ZUR FAHRT Hans Beat Wieland, Maler seiner Zeit Wilhelm Bade, Begründer der Polartouristik Spitzbergen, Inselwelt im Eismeer Die Reiseroute Die Reisegruppe

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ANHANG Anmerkungen Quellen- und Literaturverzeichnis Bildnachweis Dank Die Autorin

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DER SEESACK


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In jeder Richtung lag Süden. Ratlos blickte ich um mich. Nichts bot meinen Augen Halt. Vor mir erstreckte sich eine endlose weisse Fläche: die dünne Haut der Arktis – Schnee und Eis, getragen von einem vier Kilometer tiefen Ozean. Ich stand am Nordpol und empfand nichts. Bis ich mich genau darüber zu ärgern begann. Da war ich nun also, auf 90° Nord, mit einer kleinen Wut im Bauch. Ganz anders hatte ich mir diesen Moment vorgestellt: Seltsam berührt würde ich sein, ein Gefühl tiefster Ehrfurcht überkäme mich – schliesslich hatten im 19. und frühen 20. Jahrhundert unzählige Entdecker versucht, dieses scheinbar uneinnehmbare geografische Phantom zu erobern. Manche verlo­ren dabei ihr Leben, so etwa Salomon August Andrée, dessen Ex­ pedition im Sommer 1897 die wohl tollkühnste ihrer Zeit war. Zusammen mit zwei Begleitern hatte der Schwede die Bezwingung des Pols nämlich auf dem Luftweg in Angriff genommen ... in einem Gasballon! Zur kleinen Wut im Bauch gesellte sich auch eine Art Scham. Mein GPS registrierte «90° 00,000' N» am 14. Juli 2017. An genau diesem Tag, 120 Jahre früher, sahen sich Andrée und seine Gefährten gezwungen, auf dem Packeis notzulanden, rund 350 Kilometer von der nächsten Landmasse entfernt. Unzureichend ausgerüstet, kämpften sich die Männer in der Folge drei Monate lang zu Fuss durch die Eiswüste – dem Tod entgegen. Als ich da stand, wo Andrée nie hinkommen sollte, drückte mir jemand ein Glas Sekt in die Hand: Ich hatte den Nordpol als Begleiterin einer Touristengruppe erreicht, ohne jegliche Strapazen, an Bord eines nuklear betriebenen Eisbrechers mit 72 000 PS.

Von der Eisscholle auf den Salondampfer: Wilhelm Bade In 14 Tagen zum nördlichsten Punkt der Erde (und auch wieder zurück): Das ist nur ein Produkt, das auf Polarreisen spezialisierte Veranstalter heute in ihrem Portfolio führen. Die Endlichkeit des ewigen Eises ist uns bewusst geworden, und – ein eigentliches Paradox – sogenannte Expeditionskreuzfahrten in die fragilen Gegenden der Arktis und der Antarktis boomen. Gälte es zu definieren, wann und wo der Polartourismus geboren wurde, wäre das wohl 1896 im hocharktischen Archipel Spitzbergen1 gewesen, der ungefähr auf halber Strecke zwischen dem norwegischen Festland und dem Nordpol liegt. Vieles ereignete sich damals, in den Sommermonaten, nahezu zeitgleich im noch unbesiedelten, am Rand der bekann-


ten Welt gelegenen Niemandsland. Die Vesteraalens Dampskibs­selskab, eine Vorläuferin der bekannten norwegischen Reederei Hurtigruten, lancierte die erste Linienverbindung zwischen dem Festland und Spitzbergen. Dort, wo sich heute der Hauptort Longyearbyen befindet, errichtete sie sogar ein kleines Hotel. Vor allem aber kreuzte der Touristendampfer Erling Jarl im Gebiet, der mit 52 gut betuchten Gästen2 an Bord aus Hamburg gekommen war. Die in vielfacher Hinsicht visionäre Nordlandfahrt,3 um die sich dieses Buch im Kern dreht, hatte der Wismarer Wilhelm Bade organisiert – einer, der die Arktis liebte, obwohl er ihre Tücken aus eigener Erfah­ rung kannte. 1869/70 hatte er als Zweiter Steuermann an der Zweiten Deutschen Nordpolarexpedition teilgenommen. Sein Schiff, die Hansa, war vor Nordostgrönland in die Zangen des Packeises geraten und sank, wobei sich die 14-köpfige Mannschaft gerade noch rechtzeitig auf einer Eisscholle einrichten konnte. Diese driftete dann während über 200 Tagen 1200 Seemeilen in Richtung Süden und schrumpfte dabei auf wenige Quadratmeter zusammen. Erst kurz vor der endgültigen Katastrophe gelang die Rettung. Mit vielen glänzenden Orden an seiner Brust und den Geschichten zu seinen Abenteuern tingelte Bade danach während fast einer Dekade als Vortragsredner durch die Lande. Er war auch als Kapitän und Inhaber einer Fischhandlung tätig, und irgendwann reifte in ihm die Idee, «sein» Eis zahlenden Passagieren zu zeigen. Nach zwei Vorspielen 1891 und 1893 veranstaltete der umtriebige Polarheld ab 1894 im Jahresrhythmus eine oder zwei touristische Schiffsreisen nach Norwegen und in arktische Gewässer. Sie starteten jeweils in Deutschland und beinhalteten massgeschneiderte Programmpunkte. Als der Pionier 1903 unerwartet starb, führten seine Söhne das Unternehmen noch fünf Jahre weiter.4 Bade war weder der Erste noch der Einzige, der Nordlandfahrten nach Spitzbergen organisierte. Schon für 1881 und 1884 sind zwei ähnliche Reisen anderer Anbieter belegt, und praktisch von Anfang an hatte Bade – in sehr überschaubarem Ausmass – direkte Konkurrenz. Nichtsdestotrotz kann man ihn als Begründer der Polartouristik bezeichnen: Er war der Erste, der Arktis-Schiffsreisen regelmässig veranstaltete, ihren Expeditionscharakter herausstrich, für die Erkundung der polaren Destination mehr als nur eine Stippvisite von zwei oder drei Tagen einplante und auch grossen Wert legte auf die Wissensvermittlung durch Experten. Dieses Gesamtkonzept entpuppte sich als so gut, dass die heutigen Expeditionskreuzfahrten im Grunde genommen immer noch danach funktionieren.

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Die besonders aufwendig aufgegleiste Fahrt der Erling Jarl im Juli und August 1896 darf als Bades Meisterstück gelten. Sie dauerte 34 Tage, und der Fokus lag auf dem überaus «exo­ti­ schen» Ziel Spitzbergen. Hier sollte seine Kundschaft – es waren 45 Herren und sieben Damen – die beiden unbestrittenen Höhe­ punkte der Reise erleben können: das Vorstossen bis an die Packeisgrenze auf über 80° nördlicher Breite und ein Treffen mit Salomon A. Andrée, der auf der Insel Danskøya gerade seinen Nordpolballon klarmachte (aufgrund ungünstiger Winde jedoch erst ein Jahr später starten konnte). Auch in Bezug auf Norwegen wollte Bade mehr bieten als nur Land und Leute. Etwa war der Besuch der Walfangstation auf Skorøya vorge­ sehen, wo unter anderem der deutsche Kaiser Wilhelm II. ver­ kehrte, und in Vadsø würde man eine totale Sonnenfinsternis bestaunen können, zusammen mit Astronomiegrössen aus aller Welt. Bades Gäste zählen zu den ersten Polartouristen und -touristinnen überhaupt. Wer waren sie? Was erhofften sie sich von der Reise ins (fast) Unbekannte? Wie haben sie das Abenteuer erlebt? Und nicht zuletzt: Was hat das alles mit uns und unserer Gegenwart zu tun? Fragen wie diese führen durch das Buch, das die wegbereitende Fahrt der Erling Jarl und den ereignis­reichen Sommer 1896 wieder aufleben lässt. Thematisch Schlaglichter setzend, lädt es ein auf eine Entdeckungsreise – mitten hinein in eine Zeit, in welcher der (Arktis-)Tourismus noch jung und wild war und weisse Flecken auf der Landkarte Anlass gaben, grosse Geschichten zu schreiben.

Stiller Beobachter: Hans Beat Wieland Als Protagonist fungiert – mehr noch als Wilhelm Bade – der Schweizer Künstler und Bergsteiger Hans Beat Wieland, einer der Passagiere an Bord der Erling Jarl. Er schuf mit Skizzen, Illustrationen, Aquarellen und Ölgemälden die wahrscheinlich erste umfassende Werkgruppe zu Spitzbergen. Mit seiner grossen Passion für die Berge avancierte er später insbesondere in den Alpenländern zu einem überaus populären Landschaftsmaler. Seine bekanntesten Bilder fanden als Druckgrafiken grosse Verbreitung; Letztes Leuchten etwa gehört vermutlich zu den meistreproduzierten Werken der Schweizer Malerei. Nach seinem Tod 1945 geriet Wieland jedoch rasch in Vergessenheit.5 Von Bades Unternehmung erfuhr der damals 29-Jährige durch Zufall, rund eine Woche vor dem «Leinen los!» in Hamburg. Der Gedanke an eine Teilnahme beschäftigte ihn Tag und Nacht. Genügend Geld für die Buchung der kostspieligen


Reise hatte er nicht – aber eine gute Idee: Er verschaffte sich bei der auflagenstarken Illustrirten Zeitung mit Sitz in Leipzig den Auftrag, Spitzbergen und vor allem den Start des Andrée-Ballons zu dokumentieren, und erhielt in der Folge einen Platz zum Spezialpreis. Wieland passte eigentlich so gar nicht in die erlauchte Reisegesellschaft. Ihm lag wenig an Champagner, Frack und Dekolleté. Sein Interesse galt vielmehr der Erkundung der norwegischen und hocharktischen Natur, in der er viele Parallelen zu seiner Heimat entdecken sollte – wandernd, zeichnend und schreibend. Sein Tagebuch gibt Einblick in die feinsinnige und oft auch unterhaltsame Gedankenwelt eines «Berglers», der seiner Zeit weit voraus war. Die Landschaften des hohen Nordens brannten sich tief in seine Seele ein. Ebenso unvergessen blieben einige der Menschen, denen er auf der Reise begegnete. Zu ihnen gehört Wilhelm Bade.

In den Kinderschuhen: Tourismus im 19. Jahrhundert In Inseraten pries er sich zwar als «Nordpolfahrer Capt. Bade»6 an, überliess auf seinen Fahrten den Kapitänsjob aber stets anderen und agierte stattdessen als Reiseleiter. Mit seinem aus­ser­gewöhnlichen Erzähltalent eroberte er die Herzen der Gäste im Sturm. Seine Unternehmungen erfreuten sich grosser Beliebtheit, wenngleich Urlaub, ja überhaupt die Vorstellung von Freizeit, damals dem wohlhabenden Teil der Bevölkerung vorbehalten war. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Reisen um des Reisens willen allmählich zu einem Massenphänomen und Milliardengeschäft, angekurbelt unter anderem durch die rasanten Entwicklungen im Flugverkehr und die Verfügbarkeit erschwinglicher Automobile. Die Fahrt der Erling Jarl fand zu einer Zeit statt, in der das für uns so geläufige Wort «Tourist» gerade erst Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fand.7 Der kommerzialisierte Fremdenverkehr war eine noch relativ junge Erscheinung. Eine tragende Rolle spielte Thomas Cook, der Namensgeber einer der heute weltweit grössten Tourismuskonzerne: Ab 1841 veranstaltete der Engländer Pauschal- und Gruppenreisen. Mit diesen zwei völlig neuartigen – und erfolgreichen – Konzepten ebnete er indirekt auch den Weg für Kreuzfahrten, mehr oder minder luxuriöse Schiffsreisen zum reinen Vergnügen. Noch in den 1880er-Jahren hatte die Aufgabe von Schiffen darin bestanden, Passagiere und Fracht möglichst schnell

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von A nach B zu bringen. Weil in den stürmischen Wintermonaten aber viele Kabinen leer blieben, suchten die Reedereien nach Lösungen. So veranstaltete 1891 die Hamburg-Amerikanische-Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag, auch HamburgAmerika-Linie) versuchsweise eine Reise zum Selbstzweck in wärmere Gewässer. Rund zwei Monate dauerte die Fahrt der Augusta Victoria von Cuxhaven bis nach Syrien und Ägypten. Sie wurde als «Exkursion» oder «Lustfahrt» betitelt – von «Kreuzfahrt» sollte noch lange niemand sprechen – und schlug an. 1901 stellte die Hapag schliesslich mit der Prinzessin Victoria Luise das erste echte Kreuzfahrtschiff der Welt in Dienst. 1970 fusio­ nierte die Traditionsreederei mit dem Norddeutschen Lloyd und ist seither als Hapag-Lloyd tätig. Wilhelm Bades Nordlandfahrt von 1896 hatte also in doppelter Hinsicht Pioniercharakter: Nicht nur war sie eine der ersten touristischen Polarexpeditionen, sie stand auch ganz am Anfang der Kreuzfahrtgeschichte.

Zwischen Glanz und Elend: Die Belle Époque Dieses Buch taucht ein ins ausgehende 19. Jahrhundert, in die Belle Époque, die ungefähr die drei Jahrzehnte vor 1914 umfasst. Es handelte sich um eine verklärend als «schön» bezeichnete Periode des ungebrochenen Friedens und wirtschaftlichen Aufschwungs in Europa. Vordergründig war sie geprägt vom Triumph des Bürgertums, seiner Lebensweise und Kultur sowie seines auf Wissenschaft und Technik gegründeten Fortschritts­ glaubens. Dahinter verbarg sich jedoch eine von grossen sozi­alen Unterschieden, allgegenwärtigem Nationalismus, Kolonialismus und politischen Auseinandersetzungen beherrschte Gesellschaft. Wenig symbolisiert den Geist der Belle Époque so aus­ sagekräftig wie die damals errichteten Grandhotels in den Alpen. Es waren Prachtbauten mit Prachtumsätzen und zugleich eigentliche Technoparks mit neuartigen Infrastrukturen wie elektrischem Licht, fliessendem Wasser, Zentralheizung und Liftanlagen. Eine internationale Elite genoss behaglich die grandiose Berglandschaft, ja eroberte sie, und zwar nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch im buchstäblichen: Mit lokalen Führern bezwangen vornehme, hauptsächlich aus England stammende «sportsmen» in Erstbesteigungen Berggipfel um Berggipfel. Das Goldene Zeitalter des Alpinismus war angebrochen, das stellvertretend steht für eine viel umfassendere Entwicklung: Auf dem ganzen Globus sollte Unentdecktes entdeckt, Unerobertes erobert werden – eine Art Leitmotiv jener


Zeit, im Kleinen wie im Grossen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, was die grundlegenden Antriebskräfte all jener Expeditionen waren, die auszogen in Richtung der letzten unbekannten Gegenden, die eben zu einem grossen Teil in den Polargebieten lagen. Der Druck des politischen und wissenschaftlichen Establishments war bisweilen gewaltig. In Bezug auf die Stärkung des Tourismus kam auch den Massenmedien eine nicht zu unterschätzende Rolle zu. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts Zeitungen noch vergleichsweise geringe Auflagen hatten, gewannen ab den 1840er-Jahren illustrierte Unterhaltungs- und Familienzeitschriften eine durchaus mit dem Fernsehen oder dem Internet vergleichbare Bedeutung.8 Reportagen über exotische Reiseziele und (Polar-) Expeditionen machten einen wichtigen Bestandteil aus und generierten in den vermögenden Kreisen auch gleich eine Nachfrage nach Abenteuerreisen in ferne Länder. Der sogenannte Reise- und Medienkaiser Wilhelm II. war –  besonders für Deutschland und mit Blick auf die Kreuzfahrten in den Norden – ein zusätzlicher mächtiger Katalysator. Mit seiner Jacht Hohenzollern unternahm er zwischen 1889 und 1914 jeweils in den Sommermonaten öffentlichkeitswirksam inszenierte Norwegenreisen, und wer konnte, wollte auf den Spuren des Monarchen wandeln. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sind mit deutschen Passagierschiffen rund 150 Nordlandfahrten veranstaltet worden, wobei der Kaiser für das Gros der Reisenden die Hauptattraktion gewesen zu sein scheint: Als Seine Majestät 1890 und 1906 früher als geplant zurückkehrte bzw. eine andere Route befuhr als üblich, stornierten so viele Gäste ihre Buchung, dass die Reedereien Fahrten ausfallen lassen mussten.

Im Fokus: Spitzbergen um die Jahrhundert­ wende Mit seiner Idee, eine Norwegen-Schiffsreise mit der Destination Spitzbergen zu kombinieren, wo die Möglichkeit bestand, Polarforscher im Feld zu besuchen, traf der findige Wilhelm Bade den Nerv der Zeit. Seine Unternehmungen dauerten in der Regel rund vier Wochen und kosteten, je nach gewünschtem Komfort, 800 bis 1800 Mark, was das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Arbeiterhaushalts um ein Vielfaches überstieg.9 Man war in angenehm eingerichteten Kabinen untergebracht, das Essen wird als üppig und abwechslungsreich beschrieben. Die Gäste genossen die familiäre Atmosphäre an Bord der vergleichsweise kleinen Schiffe und auch den Umstand, dass Bade

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mit ihnen in einige der noch ungenau oder gar nicht geloteten hocharktischen Buchten hineinfuhr. Spitzbergen war im ausgehenden 19. Jahrhundert im Grossen und Ganzen bekannt, aber – zumindest aus heutiger Sicht – erst rudimentär kartiert. Bis anhin hatten praktisch ausschliesslich Wal- und Robbenfänger sowie Trapper die Inselgruppe angesteuert. Hinzu kamen privat oder staatlich finanzierte Expeditionen, die jedoch meist den Nordpol im Visier hatten. Auch in dieser Hinsicht stellte der Sommer 1896, exakt vier Jahrhunderte nach der offiziellen Entdeckung des Archipels durch den Holländer Willem Barentsz, einen Wendepunkt dar: Praktisch das gesamte «Who is who» der damaligen Polarforschung versammelte sich im Gebiet und betrieb unter anderem wertvolle Vermessungsarbeit. Die Passagiere der Erling Jarl begegneten auf ihrer Reise mehreren dieser Schlüsselfiguren persönlich. Es war ein von gegenseitigem Interesse geprägter Austausch zwischen Polartourismus und -forschung, der sich in solch geballter Form nie mehr wiederholt haben dürfte.

Von A nach Z: Eine Reise zwischen zwei Buchdeckeln An den Nordpol zu gelangen war für mich deutlich einfacher, als die Reise der Erling Jarl zu rekonstruieren. Im schönen Erzählband Eisblumen – Begegnungen auf Spitzbergen von Bolette Petri-Sutermeister, die 1979 das Svalbard Museum in Longyearbyen mitbegründete, las ich zum ersten Mal über die Nordlandfahrt von Hans Beat Wieland. Die Autorin erwähnte den Maler, weil er seine letzten 15 Lebens­ jahre in Kriens verbracht hatte – wo sie aufgewachsen war – und weil sie es bemerkenswert fand, dass der «Polarbazillus»10 gleich zwei Menschen aus dieser Zentralschweizer Gemeinde infiziert hatte, wenngleich im Abstand von einigen Jahrzehnten. Petri-Sutermeister hat Andrées Ballonhaus auf Danskøya, das zu Wielands Zeiten gerade erst erbaut worden war, noch erlebt, stand andachtsvoll darin, während zerfetztes Segeltuch lautstark über der Gespensterstation flatterte. 1948 stürzte es während eines Sturms zusammen. Heute sind noch die Fundamente zu sehen, das Gelände ist denkmalgeschützt und darf nur mit einer speziellen Bewilligung betreten werden. Ich wünsche mir seit Jahren, diesen geschichtsträchtigen Ort einmal besuchen zu können. 2016 schien es endlich zu klappen, doch die Anwesenheit eines Eisbären vereitelte den Landgang.


Ja, ich kenne ihn gut, diesen Polarbazillus. Vielleicht deshalb weckte seine Erwähnung und die Krienser Episode, so nebensächlich sie auch zu Papier gebracht worden war, meine Neugier. Ich begann zu recherchieren, und in einem Artikel von 1944 stolperte ich über den Hinweis, dass Wieland ein Reisetagebuch geführt hatte. Wo war es geblieben? Existierte es überhaupt noch? Über mehrere Monate hinweg verfolgte ich verschiedene Spuren. Gerade als ich eigentlich schon aufgegeben hatte, kam der entscheidende Hinweis. Und plötzlich lag es vor mir, als Mäppchen mit losen Blättern, die vor weit über 100 Jahren sporadisch von unterwegs nach Hause geschickt worden waren. Nicht nur das: Es gab auch ein Vortragsmanuskript sowie eine Handvoll Fotos und Aquarelle. Ich stöberte, las und vergass Raum und Zeit. Es folgte eine intensive Phase der akribischen Recherche und des Reisens, mehr in Gedanken als real. Immer wieder kam es zu Rückschlägen, öfter aber zu Erfolgserlebnissen. Ich stiess auf Reisebeschreibungen anderer Teilnehmer, auf weitere Fotos, Skizzen, Illustrationen und Gemälde, auf Eintragungen in Gäste- und Telefonbüchern, auf Postkarten, auf vergangene Leben. Am Schluss waren so viele Quellen beisammen, dass ich eigentlich eine ganze Reihe von Bänden hätte schreiben können. Zwischen diesen zwei Buchdeckeln nun findet sich das Resultat monatelangen Navigierens durch Trouvaillen und faszinierende Geschichten. Ich hoffe, es ist mir, als Kapitänin dieses Unternehmens, gelungen, der Vergangenheit eine Stimme zu geben und im Heute eine Entdeckungsreise von gestern erfahrbar zu machen. Mein Dank gilt dem grossen nautischen Team, das mich auf diesem Abenteuer begleitet und unermüdlich unterstützt hat. Liebe Leserin, lieber Leser, Ihr Seesack ist nun gepackt, steigen Sie ein, bon voyage! Sandra Walser, im Sommer 2018

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AUF NORDLANDFAHRT EINE REISE DURCH RAUM UND ZEIT


53° 33' N Trondheim

Oslo

Bergen

Hamburg 1

Amsterdam

London


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Leinen los!

Es ist Hochsommer, als Hans Beat Wieland eilig seine Wintersachen hervorsucht. Das nötige Kleingeld wird er auch noch «zusammenpumpen»11 müssen, verrät sein Tagebuch ... Ein Tele­gramm hat ihm soeben die Teilnahme an Wilhelm Bades Nordlandfahrt zugesichert – zwei Tage vor der Abreise! Obwohl es in seinem grossen Freundes- und Bekanntenkreis niemanden gibt, der schon in der hohen Arktis gewesen wäre und ihm sagen könnte, was einen dort erwartet, lässt Wieland sich durch die kurze Vorbereitungszeit nicht aus der Ruhe bringen. Neben einem Set vornehmer Kleidung und der «Pelzjacke von Onkel Henri» packt der passionierte Berggänger12 einfach das ein, was er auch auf eine ausgedehnte Alpentour mitnehmen würde: eine Joppe und Hosen aus Wollstoff, zwei Hemden, dicke Socken und Bergstiefel. Ganz daneben liegen könne er damit nicht, denkt er sich. In Nordnorwegen, unterwegs nach Spitzbergen, würde er sich vielleicht noch Aus­rüstung dazukaufen, ein gutes Messer beispielsweise oder einen Südwester, jene Kopfbedeckung, die Seeleute bei schlechtem Wetter tragen. «Donnerwetter, das Leben!», ist in Wielands Aufzeichnungen zu lesen: Am 14. Juli 1896, nachts um 22 Uhr, steht der junge Schweizer «hochklopfenden Herzens» am Tor zur Welt, an den St. Pauli-Landungsbrücken in Hamburg (vgl. detaillierten Reise­verlauf, S. 156 f.). Die Erling Jarl liegt dort vertäut, bereit zum Auslaufen. Wieland ist angetan vom schmucken, 60 Meter

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langen Gefährt, das sonst in Norwegen als Postschiff zwischen Trondheim und Hammerfest unterwegs ist.13 Es erinnert ihn an einen Bodenseedampfer, und er ahnt nicht, wie sehr er unter diesem «kleinen Format» später, auf offener See, noch zu leiden haben wird.

In guter Gesellschaft Ganz der exklusiven Reise entsprechend, ist es eine kleine, aber feine Reisegruppe, die sich an Bord versammelt: 52 Passagiere sind es insgesamt: Kaufleute, Industrielle, Ärzte, Wissenschaftler, Juristen, diplomatische Vertreter, ranghohes Militär, ein Apotheker ... (vgl. Passagierliste, S. 158 ff.). Als Kunstmaler, stets knapp bei Kasse, fällt Hans Beat Wieland völlig aus dem Rahmen. Ganz unvorbereitet trifft ihn diese Situation nicht, zumindest verweisen einige Passagen in seinem Tagebuch auf eine vorgängige Auseinandersetzung mit dem Thema.14 Allerdings scheint ihn die fehlende Zugehörigkeit zum gehobenen Stand weniger beschäftigt zu haben als seine generelle Abneigung gegen zur Schau getragenen Reichtum und aufgesetzte Fassaden – das «Unechte», wie er es umschreibt, das er auf der Erling Jarl geballt anzutreffen fürchtete. Es überrascht Wieland schliesslich positiv, dass er neben «vielen Philistern» auch «einige nette Leute» kennenlernt. Am besten versteht sich der 29-Jährige mit zwei ungefähr Gleichaltrigen: dem Berliner Geografen Georg Wegener und dem Essener Rechtsanwalt Victor Niemeyer. Das ebenso naturbegeisterte wie kulturell interessierte Trio unternimmt viele der Ausflüge gemeinsam und trägt auch zu einem abwechslungsreichen Schiffsalltag bei – nicht zuletzt, weil es um ein Spässchen nie verlegen ist. Im Salon tritt es oft «musikalisch-deklamatorisch» auf, mit Klavier, Violine, Gitarre oder Cococello15. Entsprechende Unterstützung gibt es selbst für den Parademarsch, den einmal ein Dutzend jagdbegeisterte Herren mit ihren Gewehren zu Ehren eines mitreisenden Generalmajors veranstalten, angeführt von einem Gast aus Antwerpen, der kurzerhand einen Bergstock zwischen die Beine klemmt und den galoppierenden Adjutanten mimt ... Ein gewisses internationales Flair umweht die Reise: Die Passagiere stammen zwar hauptsächlich aus Deutschland – und Deutsch ist Bordsprache –, aber auch aus Rumänien, Österreich-Ungarn und den Niederlanden, aus Venezuela, Luxemburg, Belgien, der Schweiz und den USA. Viele sind, selbst für heutige Begriffe, weitgereist und haben von wilden Abenteuern in exotischen Ländern zu berichten.


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Abb. 1 und 2: 1896 lässt sich der 29-jährige Hans Beat Wieland im Fotostudio einmal als «Maler» und einmal als «Polarforscher» inszenieren. Bei der Fellbekleidung handelte es sich um ein Kostüm.


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«Die Seekrankheit hat entschieden etwas Demo­kratisches an sich. Sie lässt alle sich gleich schlecht aufführen, ein Genieren gibt’s nicht mehr.»


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Abb. 3: Die Nordlandfahrenden mit ihrem visionären Leiter Wilhelm Bade (oberste Reihe stehend, 1. v. l.) an Bord der Erling Jarl. Von den 41 abgebildeten Personen scheinen einige der Besatzung anzugehören, etwa ist Kapitän Erik Lund erkennbar (oberste Reihe stehend, 4. v. l.). Die Reisegruppe bestand aus 45 Herren und sieben Damen, das heisst, einige Teilnehmende fehlen auf dem Foto, beispielsweise Hans Beat Wieland.


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Strecke machen ist also angesagt. Dies hat zur Folge, dass viel Zeit auf See verbracht wird, die wenigen Ausflüge kurz ausfallen und zu den unwahrscheinlichsten Tages- und Nachtstunden stattfinden – was bei so einigen gar nicht gut ankommt.16 Aber im Grossen und Ganzen hat Bade verschiedentlich das Glück auf seiner Seite. Als er etwa in der norwegischen Küstenstadt Bergen zu einem dreistündigen Landgang lädt, liegt dort gerade die kaiserliche Jacht Hohenzollern vor Anker,17 was bei anderen Reisen als alleiniges Highlight genügt hätte. Und auf der Weiterfahrt passiert man den Polarkreis, der im Sommer gewissermassen den Übergang zum ewigen Tag markiert, symbolträchtig um Mitternacht. Feierlich versammelt sich die Gruppe in der «glühenden Morgenröte» an Deck zu einer dampfenden Punschbowle.18 Auch erreicht das Schiff Danskøya rechtzeitig – doch dazu später mehr. An den langen Seetagen im norwegischen Schärengarten unterhält Bade seine Gäste, von denen ihm viele ein ausgezeichnetes Erzähltalent attestieren, mit bunt ausgeschmückten Anekdoten aus seinem bewegten Seefahrerleben. Ansonsten wird gut und viel gegessen und getrunken, man spielt Schach und Skat, führt burleske Varietétheater auf und gründet eine Bordzeitung, der Wieland («leider», wie er sagt) als Redakteur vorsteht: Der arctische Zonenkicker veröffentlicht Beiträge der Reisenden, etwa Gedichte, die «in guter Anzahl und weniger guter Qualität» einlaufen. «Die Geselligkeit an Bord macht grosse Fortschritte», konstatiert Wieland nach einigen Tagen. Gleichzeitig scheint sich auch eine Kluft aufzutun zwischen den wenigen «Wetterfesten» und den vielen «Eleganten» – zwischen jenen also, die dick eingepackt an Deck ausharren und nicht genug kriegen können von den vorbeiziehenden, immer unwirtlicher werdenden Landschaften, und jenen, die sich von den Nebelschwaden und dem pfeifenden Nordwind ins Schiffsinnere verscheuchen lassen. «Ich glaube, in manchem ist der Gedanke aufgestiegen, er sei für sein teures Geld eigentlich ungeheuer hereingefallen», meint Wieland und fügt etwas schnippisch hinzu, die betreffenden Gäste hätten sich in einem vornehmen norddeutschen Seebad bestimmt wohler gefühlt.

Vom Traumschiff zum locus terribilis Wetterfest und elegant: Diese ungleiche Paarung wird während der ganzen Reise immer wieder zu Reibereien führen. Vermittelnd einzugreifen gelingt einzig der Natur, zumindest zeitweise – dann nämlich, wenn Wind und Wellen dafür sorgen,


dass sich an Bord des kleinen Dampfers praktisch nur noch die gestandenen Seeleute so richtig wohlfühlen. Wieland bringt es auf den Punkt: «Die Seekrankheit hat entschieden etwas Demokratisches an sich. Sie lässt alle sich gleich schlecht aufführen, ein Genieren gibt’s nicht mehr.»19 «Das verdammte Schaukeln» setzt nach rund 24 Stunden Fahrt ein, ohne Vorwarnung, als alle schlafen, mitten in der Nordsee. «Die Folgen – scheusslich: Ich hatte bald gar nichts mehr herzugeben, was mich dem Meer gegenüber in ziemliche Verlegenheit brachte. Ausser mir waren in allen Ecken des Schiffes verschiedene Leute in stiller emsiger Tätigkeit begriffen. Wenn man sich begegnete und einander in die blassen übernächtigten Gesichter schaute, war man sehr mutig und lächelte mit saurem Munde.» Alle leiden, jede und jeder für sich – das schweisst zusammen. Das Gesprächsthema in den Gesellschaftsräumen, die sich nie ganz entvölkern, ist gesetzt. Man diskutiert etwa darüber, ob nun das Rollen oder das Stampfen des Schiffes die objektiv schlimmere Bewegung sei, und kommt nach ein paar Tagen zu einem eindeutigen Konsens: das Stampfen! Bald einmal entwickeln sich Galgenhumor und Schadenfreude zu neuen Disziplinen. Jede Speise wird als «Möwenfreude» begrüsst, und während man sie «unter Todesverachtung» einzunehmen versucht, gibt es ein «allgemeines Hallo und Määäh», wenn sich jemand empfehlen muss – obwohl die meisten selber «kurz vor der Explosion» stehen. Sprichworte wie «Wie gewonnen, so zerronnen» stehen hoch im Kurs. «Alles muss raus, alles, nur der Humor nicht», resümiert Wieland. Manchmal geht buchstäblich alles drunter und drüber. Es ist kaum möglich, sich anzukleiden. Drei Gäste fallen der ganzen Länge nach auf die Nase, einer verletzt sich dabei, ein anderer wird sogar ohnmächtig. Die Suppe landet, kaum ist sie eingeschenkt, im nächsten Moment beim «Vis-à-Vis auf dem Schoss», Besteck und Geschirr fliegen in grossem Bogen über die Tische hinweg. Und als einer der Reisenden behauptet, das Schiff schwanke so stark, dass ihm die Plomben aus den Zähnen gefallen seien, ist sich keiner der Anwesenden so ganz sicher, ob die Äusserung nun im Scherz gemeint ist oder nicht ...

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Abb. 4: Eine Doppelseite aus dem Tagebuch von Hans Beat Wieland. Er hat ursprünglich lose Blätter beschrieben und diese während der Reise, wo immer möglich, nach Hause geschickt. Später hat man sie zu einem Heft gebunden.


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62° 25' N

Trondheim

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Oslo

Bergen

Hamburg


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Die Heimat in der Ferne

«Das verfluchte Vergleichen!», rügt sich Hans Beat Wieland einmal selber – wohl wissend, dass er es immer wieder tun wird. Bekanntes hinzuziehen, um Unbekanntes zu verstehen, liegt nun einmal in der Natur des Menschen. Auf dem Weg ins ewige Eis hangelt sich die Erling Jarl von Hamburg aus zunächst einige Tage mit Kurs Nordost der norwegischen Küste entlang. Als «einsam, furchtbar einsam und ernst» nimmt Wieland die Gegend zwischen Bergen und Trondheim wahr. Negativ zu verstehen ist dies allerdings nicht, ganz im Gegenteil: «Meine eigentliche Lieblingslandschaft», führt er aus. «Sie hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem Gotthard.» Was genau es war, das den jungen Maler dazu bewogen hat, sich in Windeseile und mit einer gehörigen Portion Erfindungsreichtum einen Platz auf dieser Reise zu verschaffen, ist heute schwierig zu eruieren. Fernweh? Abenteuerlust? Pioniergeist? Die Möglichkeit, dem Start einer Expedition beizuwohnen, die Geschichte schreiben würde? Vermutlich von allem ein bisschen. Fest steht, dass sich Wieland in den 1890er-Jahren in einem Umfeld bewegte, in dem der nordische Kulturkreis verstärkt Aufmerksamkeit erhielt. Der gebürtige Basler lebte damals in München, im Deutschen Kaiserreich also, wo gerade eine eigentliche Nordlandeuphorie heranwuchs. Sie war nicht auf spezifische Gesellschaftsschichten beschränkt und wurde massgeblich angekurbelt durch die Reiseaktivitäten Wilhelms II.,

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Abb. 5: Einer von vielen Fjorden, den die Erling Jarl in Norwegen kreuzt, ist der Trondheimsfjorden: «Hügeliges Land, grüne Matten, rote Landhäuser, Heugeruch. Die ganze Gegend könnte ebensogut im Appenzell sein oder im Bernbiet.»

der – trotz aller politischer Ambitionen – ein schwärmerisches Verhältnis zu Skandinavien und dessen Mythenwelt pflegte.20 Diese aussergewöhnlich starke Faszination der Deutschen für den Norden war eingebettet in eine sich europaweit manifestierende, allgemeine Neuentdeckung von Landschaft und Natur, bei der Literatur, Kunst und Musik eine wichtige Rolle spielten. Periphere Gebiete – beispielsweise die Alpen – erfuhren im Zuge dieser Entwicklung eine Aufwertung, die wiederum einherging mit der touristischen Erschliessung dieser Gegenden. Vom stark wachsenden Interesse am Norden zeugt unter anderem, dass 1879 für Norwegen und Schweden (damals eine Union) ein Reiseführer der heute noch bedeutenden Baedeker-Reihe in den Buchhandel kam.21 Die Infrastruktur der dünn besiedelten Gebiete war allerdings noch relativ unterentwickelt. Man könne in Norwegen jetzt ungefähr so reisen wie in der Schweiz vor 50 bis 60 Jahren, äusserte Karl Baedeker junior 1885.22 Obschon sich zwischenzeitlich einiges getan hatte, greift Wieland diesen Umstand elf Jahre später mehrmals auf. Er empfindet die Unterschiede und die damit verbundenen Schwierigkeiten jedoch mehr als befreiend denn als störend – auf alle Fälle nimmt er sie mit Humor. Bei einer Karriolfahrt in Bergen kommt es zu einer Szene, die dies verdeutlicht: «Ich bringe meine paar norwegischen Brocken so gut


als möglich an. Wenn es gar nicht mehr gehen will, spreche ich Schweizerdeutsch, das verstehen die Leute ganz gut. Ich sagte [zum Kutscher]: ‹Du, wir wendt zur schöne Ussicht.› ‹Jo, jo›, entgegnete dieser, ‹Ussicht, Ussicht›, und fuhr mit seinem Arm einen Kreisbogen. Da sage mal einer, das Schweizerische sei nicht international!» Vergleichen, die Heimat in der Ferne finden: Das sind Themen, die Wieland in verschiedenster Hinsicht auf seiner Reise durch den hohen Norden begleiten. Verfolgt man diese Spur, so blitzen, gerade auch zwischen den Zeilen, jene bedeutsamen Augenblicke auf, in denen sich das von der Nordlandfahrt Erhoffte mit dem tatsächlich Erlebten zu decken scheint. Es sind dies die Momente, in denen der «Bergler» die weiten, als wild und zugleich mystisch beschriebenen Landschaften ganz für sich entdecken und begreifen kann. Die Reise mit der Erling Jarl markiert für Wieland den Beginn einer grossen Liebe zu Norwegen. Diese äussert sich etwa darin, dass er im Frühjahr 1900 für seine Familie am Ammersee bei München die «Wielandshütt», wie er sie liebevoll nennt, baut: ein Holzhaus im norwegischen Stil,23 rot gestrichen, mit weissen Fensterrahmen und Türen ... Ungleich intensiver noch als auf Norwegen reagiert Wieland auf die hocharktische Wildnis Spitzbergens, wo Vergleiche mit der Heimat bezeichnenderweise nur noch bedingt zu einem Verstehen beitragen. Und schliesslich zeigt sich, dass als treibendes Motiv für die grosse Reise auch eine Sehnsucht nach dem ganz Ursprünglichen, nach Einsamkeit und Stille mitgeschwungen haben dürfte – vielleicht auch die Sehnsucht nach einem Ort der künstlerischen Inspiration.

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Abb. 6: Unterwegs in der Landschaft, die Wieland stark an die Schweizer Voralpen erinnert: Von Gudvangen aus führt ein Ausflug per Kutsche ins Nærøydalen …


«Einsam, furchtbar einsam und ernst –  meine eigentliche Lieblingslandschaft. Sie hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem Gotthard.»



Abb. 9: Hammerfest ist die letzte Station auf dem europäischen Festland, bevor die Erling Jarl polwärts ins Nordmeer sticht: «Kahle Felsen, kein Baum, kein Strauch, wie im Engadin. Ein Winter mit seiner drei Monate andauernden Nacht (welchem Umstande die Stadt, wie man sagt, ihren Kinderreichtum verdankt) gehört wohl nicht gerade zum Erheiterndsten im Leben. Mensch und Vieh müssen da ihre Ansprüche schon etwas herunterschrauben, denn von einer Kuh zu verlangen, dass sie im Winter statt Heu getrocknete Fischköpfe fresse und dazu noch Milch gebe, ist schon etwas stark.»


Abb. 10: Die Landschaften Spitzbergens ziehen Wieland ganz besonders in den Bann. Die beste Vorstellung davon gelinge einem, sagt er, indem man sich unsere Hochalpen bis zur Schneegrenze ins Meer versenkt denkt, so dass nur die obersten Gipfel und Firnbereiche noch hervorragen.



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Ohne Halt bis 90° Nord

Man hat augenscheinlich mit erheblichem Fremdenverkehr gerechnet. Am kleinen Landungssteg und andernorts im Gelände mahnen Schilder in Deutsch, Englisch, Französisch und Norwegisch: «Rauchen verboten!» Dabei hätte sich, angesichts des grossen Moments, sicher so manch einer der Nordlandfahrenden gerne eine Zigarre angesteckt. Sie haben endlich Fuss gesetzt auf Danskøya; nun kann es nicht mehr lange dauern, bis sie Salomon A. Andrée zu Gesicht bekämen. Die Gruppe ist nur schwierig beisammenzuhalten, so viel gibt es schon vom Ufer aus zu sehen. Allein die Hütte, die ganz in der Nähe steht, ist in diesem Niemandsland eine Attrak­tion.44 Die Aufmerksamkeit zieht aber zunächst eine übermannshohe Maschine auf sich, deren Sinn und Zweck sich den Gästen noch nicht erschliesst. Es führen einige lange Schläuche von ihr weg und hin zu jenem alles überragenden, achteckigen Bau aus Holz, den man schon von der Erling Jarl aus gründlichst studiert hat. Es ist der Hangar, in dem gerade der Polballon bereitgemacht wird. Die Stelle, die sich Andrée und seine Männer 45 einen Monat zuvor zur Errichtung ihres Basislagers ausgesucht haben, ist zweifellos glücklich gewählt. Die gegen Norden geöffnete, tiefe Bucht wird im Süden von mächtigen Bergkegeln umschlossen. Somit zeichnet sie sich nicht nur als perfekter Ankerplatz für ein Schiff aus. Der relative Windschutz ermöglicht

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grundsätzlich auch das verwegene Vorhaben, von hier aus mit einem Ballon aufzusteigen, um den Nordpol zu erobern.

Von der Bezwingung eines Phantoms Julius Payer, der Kommandant einer gescheiterten österrei­ chisch-ungarischen Nordpolexpedition, hatte in den 1870erJahren nach den überstandenen Strapazen im unerbittlichen Packeis geschlussfolgert: «Es wäre ratsam, die Versuche zur Erreichung des Pols von der arktischen Forschung auszuschliessen, bis wir statt ohnmächtiger Fahrzeuge des Meeres die der Lüfte dahin senden könnten.»46 Die ersten Menschen, die 90° N zweifelsfrei erreichten, kamen denn auch tatsächlich nicht auf dem Seeweg, sondern mit einem Luftschiff: Auf ihrer rund 70-stündigen Fahrt von Spitzbergen nach Alaska überquerte die Norge (Norwegen) den nördlichsten Punkt der Erde am 12. Mai 1928.47 Als Expeditionsleiter fungierte der norwegische Entdecker Roald Amundsen, dem nun mit Nordpol, Südpol, Nordwestpassage (an Bord der Gjøa) und Nordostpassage sämtliche grossen polaren Coups gelungen waren.48 In seiner Heimat bereitete man ihm auf diesen Erfolg hin einen frenetischen Empfang. Die Entwicklung der Massenpresse im 19. Jahrhundert hat­te dazu beigetragen, dass die Arktisexpeditionen49 jener Zeit und bis ins 20. Jahrhundert hinein immer auch mediale Ereignisse waren. Im Zentrum standen nicht nur die Akteure, sondern auch das Gebiet, dessen sie sich annahmen. So schien die Region um den Nordpol, die nur ganz wenige tatsächlich kannten, bald einer erstaunlich breiten Öffentlichkeit vertraut.50 Am ausgeprägtesten liess sich dies bei den Briten beobachten, die als Seemacht für eine Vielzahl der polaren Unternehmungen verantwortlich zeichneten. Die Arktis fand im Vereinigten Königreich sogar Aufnahme in den Gesellschaftskalender: Um 1900 kündigte die Times die Nordpolsaison genauso an wie die Henry Royal Regatta oder den Auftakt zur Moorhuhnjagd in Schottland. Aber warum so viel Aufhebens um etwas Unsichtbares und Ungreifbares? Der Nordpol ist ja nichts anderes als der Punkt, an dem die gedachte Rotationsachse unseres Planeten die nördliche Erdoberfläche durchstösst. Doch es ist genau dieses symbolträchtige Bild, das seine Faszination erklärt. Dass sich dieser Unort mitten in einem schwer zugänglichen und lebensfeindlichen Gebiet befindet, verstärkt seine Anziehungskraft nur noch.


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Abb. 20: Das Basislager der Andrée-Expedition auf Danskøya: Bei diesem Ölbild handelt es sich um das bekannteste Spitzbergen-Werk von Hans Beat Wieland. Das angeschnittene Schiff ist die Erling Jarl, das andere die Virgo.


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Der Zeichner als Chronist Nicht nur Andrée, auch Hans Beat Wieland ist dieser Tage ganz in seinem Element. Nur selten sieht man ihn ohne Skizzenblock und Bleistift; schliesslich ist er ja überhaupt nur hier, weil ihn die Illustrirte Zeitung als Zeichner verpflichtet hat. Er soll zur eigentlichen Berichterstattung seines Berliner Mitreisenden Jens Lützen die passenden Illustrationen liefern.56 Wieland kennt zwar das Prozedere, aber dies ist kein Auftrag wie jeder andere: Den Künstler zerreisst es fast, so stark ist er emotional involviert. Am liebsten würde er jedes Detail festhalten. Vielleicht spürt er auch die unausgesprochene Verantwortung, die auf ihm lastet. Er ist der einzige Zeichner, der die Station unmittelbar vor dem Start des Örnen dokumentieren kann – und vielleicht wird er ja tatsächlich auch noch Zeuge des Jahrhundertereignisses selbst! Dass Andrée anbietet, ihm zumindest in Bezug auf die technischen Illustrationen als überprüfende Instanz zur Seite zu stehen, ehrt und beruhigt Wieland gleichermassen. Mit besonderem Interesse widmet er sich zunächst dem Ballonkorb, in dem die drei Polfahrer – neben Andrée sind dies Nils Gustaf Ekholm und Nils Strindberg – auf engstem Raum leben und arbeiten werden. In der Idealvorstellung ist die Reise mit sechs bis 14 Tagen veranschlagt, die Landung sollte in Sibirien oder Alaska erfolgen. Dem Trio geht es nicht nur um einen glorreichen Rekord, sondern auch um Wissenschaft: Man beabsichtigt, die überflogenen Gebiete zu kartografieren, zudem sollen fortlaufend die Meeresströmungen und Eisverhältnisse registriert und meteorologische Messungen angestellt werden. Die Gondel ist von zahlreichen Instrumenten dominiert, es gibt aber auch zwei Liegeplätze inklusive Schlafsäcke aus Rentierfell. Zur Begeisterung Wielands und weiterer Gäste ist Andrée «so liebenswürdig, den anwesenden Zuschauern etwas vorzuschlafen».57 Rund 2,5 Tonnen Material soll der Örnen zusätzlich zu seiner eigenen Last transportieren, darunter Proviant für vier Monate, Waffen, ein Zelt, ein Faltboot und einen Schlitten für den Fall einer Notlandung. Lieber als diese Situation beschwört Andrée aber das Gelingen seiner Mission: Er macht Wieland auf eine bunte, mit der schwedischen Flagge versehene Boje aufmerksam, die zwischen dem vielen Gepäck bereitliegt. Sie ist für den Abwurf der sogenannten Endpost gedacht, jener Nachricht, die der Welt das Erreichen von 90° N verkünden soll.58 Um dem potenziellen Eisdruck standhalten zu können, hat man sie speziell elastisch konstruiert.


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Abb. 21: Der «vatgasapparaten» (Wasserstoffgasapparat) in einer Illustration von Hans Beat Wieland: Hier wird mittels Schwefelsäure und Eisenspänen, die chemisch zu Wasserstoffgas reagieren, die Befüllung des Örnen produziert.

Das persönliche Highlight des Zeichners ist jedoch ein Spiritusapparat, mit dem sich sogar während der Fahrt warme Speisen zubereiten lassen! Um die Gefahr durch offenes Feuer auf ein Minimum zu reduzieren, placiert man das eigens angefertigte Utensil etwa 15 Meter unterhalb des Ballonkorbs. Durch eine geschickte Vorrichtung kann die Flamme dort entzündet und auch wieder gelöscht werden. Die Überwachung von oben geschieht mittels eines kleinen Spiegels. Das Erreichen des Nordpols war bisher im Grunde genommen ein technisches Problem. Andrée nun scheint diesbezüglich bestens gerüstet. «Es ist wunderbar, wie jede Einzelheit am Ballon und an der Gondel genau überlegt und für jede Eventualität der Reise Vorsorge getroffen worden ist», schreibt Wieland. In den Diskussionen, die sich unter den Nordlandreisenden immer wieder entfachen, gibt er sich vom schwedischen Vorstoss überzeugt – allerdings auch, weil er fest damit rechnet, dass «Leute wie Andrée nicht nur einen Schutzengel haben, sondern gleich ein ganzes Dutzend».


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Abb. 22: Zwei von Andrées Massanfertigungen hat Hans Beat Wieland für die Illustrirte Zeitung im Detail dokumentiert: die für die sogenannte Endpost vorgesehene Boje und den Spirituskocher.



Die Autorin

Sandra Walser (* 1976) hat Geschichte und Filmwissenschaft studiert. Sie war als freischaffende Journalistin tätig und arbeitet heute im Kulturmanagement. Seit 2009 ist sie ausserdem als Guide, Referentin für Polargeschichte und Fotografin auf touristisch genutzten Expeditionsschiffen in der Arktis und in der Antarktis unterwegs. Ihre Heimat zu Land ist Zürich.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte biblio­gra­fische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 NZZ Libro, Schwabe AG Lektorat: Laura Simon, Basel Umschlag, Gestaltung, Satz: Kaj Lehmann, Zürich Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried – Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Ver­vielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugs­weiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestim­ mungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestim­ mungen des Urheberrechts.

ISBN 978-3-03810-367-7 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe AG


120 Jahre später stösst die Historikerin Sandra Walser auf Wielands Erinnerungsstücke. Ihr sorgfältig recherchiertes und prächtig bebildertes Buch lädt ein zu einer lustvollen Entdeckungsreise entlang der legendären Hurtigruten-Strecke und weiter Richtung Eismeer. Mit ansteckender Begeisterung führt sie in eine Zeit, in der der (Arktis-)Tourismus noch jung und wild war und weisse Flecken auf der Landkarte Anlass gaben zu grossen Geschichten.

Sandra Walser

Auf Nordlandfahrt

Im Sommer 1896 steuert ein kleines Dampfschiff von Hamburg aus den Rand der damals bekannten Welt an: Spitzbergen. Die 52 Gäste an Bord gehören zu den ersten Polartouristen und -touristinnen überhaupt. Mit dabei ist der junge Schweizer Künstler Hans Beat Wieland, der eigentlich so gar nicht in die illustre Gesellschaft passt. Ihm liegt wenig an Champagner, Frack und Dekolleté. Sein Interesse gilt der Erkundung der Landschaft, in der er viele Parallelen zu seiner Heimat entdeckt – wandernd, malend, schreibend.

Sandra Walser

Auf Nordlandfahrt

ISBN 978-3-03810-367-7

9 783038

103677

www.nzz-libro.ch

1896 von Hamburg nach Spitzbergen

NZZ Libro


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