Andreas Z'Graggen: Adel in der Schweiz.

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Andreas Z’Graggen

Adel in der Schweiz Wie Herrschaftsfamilien unser Land über Jahrhunderte prägten

NZZ LIBRO



Andreas Z’Graggen

Adel in der Schweiz Wie Herrschaftsfamilien unser Land über Jahrhunderte prägten

MI T BE I T R ÄG E N VO N BA R BA R A F R A N ZE N U N D RU ED I A R NO L D U N D FOTO G R A F I E N VO N V ER A BO H R EN

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Inhalt

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Prolog Geputzte Schuhe

47

Treue, Ehre und Sold Die Eidgenossen in Fremden Diensten

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« Seinem Herren geziemend dienen » Aristokraten, Magistraten, Patrizier – sie regierten die Alte Eidgenossenschaft

57

Von silbernen Flügeln getragen Der unaufhaltsame Aufstieg der Berner Familie von Wattenwyl

13

800 Jahre im selben Haus Über die aargauischen Hallwyl, eine der ältesten Adelsfamilien der Schweiz

67

Interview : Sigmund von Wattenwyl « Heute gibt es Gschwellti und morgen Röschti »

21

Interview : Michael von Hallwyl « . . . eigentlich unwichtig »

71

Über Geld spricht man nicht, man hat es Wie in Basel ein reiches Bürger­patriziat entstand

25

Sie sind immer noch da Zwei altadlige Familien, denen das « Obenbleiben » gelang

77

« Wie’s Gott gefallt, so gfallt’s mir auch » Adel und Kirche waren eng verflochten, auch nach der Reformation

35

Ein König in der Familie Über die Pfyffer, einst die bedeutendsten Luzerner

89

Die Haudegen von Schwyz Über die Reding von Biberegg, stets an allen Fronten dabei

43

Interview : Bernhard Pfyffer-Feer zu Buttisholz « Für den Ludwig kann ich nichts, und das Schloss in Buttisholz habe ich geerbt »

96

Interview : Nikolaus von Reding « Es ging sackgrob zu und her »

101

Auch das Geschäften lag ihnen im blauen Blut Über die Zollikofer und andere noble Unternehmer

111

Aristokraten durch und durch Über die Familie von Diesbach, mächtig in Bern wie in Freiburg

118 Interview : Benoît de Diesbach Belleroche « Flüchtlinge wie die Kosovaren »


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131

Die höchst erstaunlichen de Saussure Heute hätten sie mindestens zwei Nobelpreisträger in der Familie

Ehe, Kloster, gute Werke Der Lebensbereich adliger Frauen

181

Die Kämmerer von Neuenburg Über die de Chambrier, treue Diener ihrer Herren

186 Interview : Jean-François de Chambrier « On a navigé un peu »

191

« Riten, tagen, friden machen » Über die Tagsatzung, wo die eidgenössischen Herren sich zum Regieren trafen

Und jetzt keltern sie halt feinen Wein Was nach 1798 aus den Aristokraten geworden ist

137

« Die Weide biegt sich, aber sie bricht nicht » Über die Salis, ohne die in Graubünden nichts ging

147

Interview : Gaudenz von Salis-Seewis « Ja, nun, man war halt im Krieg »

197

Auch die Eidgenossen hatten Untertanen Gerichtsherrschaften und Vogteien am Beispiel der Urner von Beroldingen

205 Auch im Tod eine Klasse für sich Wie und wo die Aristokraten begraben liegen

151

159

Bürgermeister, Gerichtsherren und Landedelleute Über die Meiss, Zürichs älteste Familie

167

Interview : Florian von Meiss « Wenigstens einen Beitrag geleistet »

171

« Dass solche Waar sich zusammengruppieren muss » Wo man trank und plauderte, Politik und Geschäfte machte

209 Interview : Karl von Habsburg-Lothringen « Es ist mir völlig egal, wie man mich anspricht »

216

Das Schloss, Visitenkarte des Adels Über Burgen, Herrensitze und Schlösser, die nach wie vor Familien aristokratischer Herkunft gehören

222 Epilog Das Schüren der Flamme Ein Rückblick von Georg Segesser von Brunegg auf seine Vorfahren

224 Literaturverzeichnis 230 Bildnachweis 231

Die Autoren

231 Dank


Das Wasserschloss Hallwyl im Aargauer Seetal, fast 900 Jahre lang im Besitz der Familie.

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« . . . eigentlich unwichtig » Im Gespräch mit Michael von Hallwyl

Beinahe 900 Jahre – es gibt wohl kaum eine andere Schweizer Adelsfamilie, die so lange ihre Burg besass wie die Hallwyl. Vielleicht, weil sie es besonders gut verstand, sich an die jeweiligen Umstände anzupassen ? Das mag sein. Wir waren stets treue Gefolgsleute, erst der Lenzburger, dann der Kyburger und hernach der Habsburger. Das mussten wir teuer bezahlen, als die Berner 1415 den Aargau eroberten und die Burg in Brand setzten. Dass wir diese so lange halten konnten, lag möglicherweise auch daran, dass die Familie stets gute Beziehungen zur Bevölkerung pflegte. Wir waren bürgernah und mit den Seetaler Bauern und Handwerkern in ordentlichem Einvernehmen. Trotz Burgbrand hatten sich die Hallwyl offenbar sehr schnell mit den neuen Herren aus Bern arrangiert. Das ist so. Bereits in den Burgunderkriegen finden wir Hans von Hallwyl als Anführer der Berner. Hallwyl heirateten in die Berner Aristokratie, bis heute sind wir Mitglied im Distelzwang, einer Art Zunft der damaligen Führungsschicht. Welche Rolle spielten die Hallwyl in der Alten Eidgenossenschaft ? Wir finden sie in verschiedenen Ämtern und als Gesandte. Hartmann III. von Hallwyl war Delegierter der Berner beim Schmalkaldischen Bund, als es um die Auseinandersetzung der protestantischen deutschen Fürsten mit dem katholischen Kaiser Karl V. ging. Einige Ihrer Vorfahren blieben katholisch. Einer wurde gar Bischof von Konstanz, dem damals grössten deutschen Bistum. Ja, Johann Georg von Hallwyl. Vor Jahren hat man mir den Knauf seines Bischofsstabs geschickt, den man anlässlich einer Ausgrabung gefunden hatte. Im Übrigen waren die Hallwyl, wie das damals so üblich war, vor allem Offiziere in fremden Kriegsdiensten, in Frankreich, Holland, Preussen, Österreich und Russland. Noch mein Grossvater diente in einem sächsischen Regiment.

Mit dem Untergang der Alten Eidgenossenschaft war auch die Zeit der Hallwyl vorbei. 1798 haben wir alle Rechte verloren, wobei ich gleich anfügen möchte, dass die neue Ordnung, die Napoleon der Schweiz gab, ein notwendiges Korrektiv war. Einige pass­ten sich dieser an, wie Hans von Hallwyl, der es im Aargau sogar zum Regierungsrat brachte. Andere versuchten im Ausland ihr Glück, wie mein Vater, der 1925 nach Namibia auswanderte. Was tat er dort ? Er besass eine Farm, ich bin da geboren und aufgewachsen. Es war kein einfaches Leben, dennoch habe ich diese Zeit als Kind sehr genossen. Unsere adlige Herkunft spielte da keine Rolle, mein Vater arbeitete hart auf der Farm, um bestehen zu können. Und wie lange blieben Sie in Namibia ? Bis ich zwölf war. Hernach besuchte ich diverse Schulen in Deutschland, darunter auch Salem, ein sehr konservatives Internat. Wo vor allem Adlige zur Schule gehen. Das war vielleicht einmal so. Aber ich wurde nicht deswegen dorthin geschickt, sondern weil in Salem zu dieser Zeit eine sehr harte und konservative Ausbildung betrieben wurde, wie dies eben der Haltung meines Vaters entsprach, die ich im Übrigen teile. Ein Vorteil lag darin, dass im sportlichen Sinn für mich die Rekrutenschule danach keine besondere Herausforderung mehr war. Sie leben in Deutschland und Portugal, sind aber auch öfters in der Schweiz. Verkehren Sie noch mit der hiesigen Aristokratie, mit der Ihre Familie ja teils eng verbunden ist ? Gelegentlich treffe ich Verwandte in Bern oder gehe in den Distelzwang, aber sonst sind diese Beziehungen nicht zuletzt wegen der Entfernungen eher eingeschränkt. Nach Seengen komme ich hingegen recht oft, schon weil meine Eltern dort im Schlosspark begraben sind. Und in Deutschland, nachdem Sie mit einer von Oppell verheiratet sind ? Ich habe dort viele Freunde und Bekannte aus dem aristokratischen Milieu, aber ebenso viele, wenn nicht mehr, ausserhalb dieser Kreise. In Deutschland – wie in vielen anderen Ländern auch – gibt es eine Aristokratie, der es offenbar ein grosses Bedürfnis ist, sich öffentlich ins Szene zu setzen. Nach Möglichkeit meide ich diese Leute.

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In Deutschland führen Sie den Grafentitel. Woher stammt der ? Über die Herkunft unseres Titels gibt es verschiedene Quellen, wahrscheinlich geht er darauf zurück, dass die Hallwyl im 14. Jahrhundert von den Habsburg-Laufenburg Dinghof, Landgericht und Titel der Grafschaft Fahrwangen erwarben. Nach einer anderen Quelle, die zeitlich näher liegt, wurde der Titel 1671 einem Freiherrn von Hallwyl durch Kaiser Leopold I. verliehen. Dieser Titel ging nach Aussterben der entsprechenden Linie 1799 an die Erbin Franziska Romana. Die heutigen Nachkommen im Ausland dedienen sich dessen noch immer. Was heisst das für Sie, adlig zu sein ? Dass ich gerne auf die Geschichte meiner Familie zurückblicke, aber daraus auch eine gewisse Verpflichtung ableite, ein ordentliches Leben zu führen. Auf jeden Fall bedeutet eine adlige Herkunft in keiner Weise, mehr zu sein als andere. Bedauern Sie es gelegentlich, dass die Zeiten adliger Herrschaft vorbei sind ? Nein. Hingegen dünkt es mich schade, dass die Schweiz zwar eine reiche Adelsgeschichte hat und der Adel, oder sagen wir besser die Aristokratie, in der Alten Eidgenossenschaft auch eine bedeutende Rolle spielte, dass aber darüber in der Öffentlichkeit sehr wenig diskutiert wird.

Mit einer kurzen Unterbrechung war das grossartige Wasserschloss Hallwyl stets in Ihrer Familie. 1994 haben Sie es dem Kanton Aargau geschenkt. Wieso ? Schon Wilhelmina, die reiche, mit meinem Onkel verheiratete Schwedin, hatte nach einer umfassenden Renovation des Schlosses und seiner archäologischen Erforschung den ersten Schritt getan, indem sie das in eine Stiftung ein­gebrachte Schloss der Öffentlichkeit zur Verfügung stellte. Zudem übertrug sie wichtige Familiendoku­mente dem Staatsarchiv in Bern und die bedeutendsten Familiengegenstände dem Landesmuseum in Zürich. Doch sowohl die Verpflichtung, dass Schloss öffentlich zu halten, als auch die immer wieder notwendigen Reno­ vationsarbeiten verursachten Kosten, die von der Stiftung nicht mehr zu schultern waren. Nach längerer Zeit des Überlegens schlug ich dem Stiftungsrat vor, das Schloss dem Kanton zu schenken. Über die Entscheidung bin ich sehr froh, denn der Kanton Aargau hat Hallwyl mustergültig restauriert, dem Schloss somit ein dauerhaftes Fortbestehen in vollem Glanz ermöglicht sowie die Dar­ stellung der Familiengeschichte im Schloss als zentralen Punkt sichergestellt. Hat Ihnen dieser Entscheid damals wehgetan ? Ja sehr, das gebe ich offen zu. Sie haben einen Sohn. Was meinte er dazu ? Er hat diesen Entscheid anfänglich nicht verstanden. Er ist natürlich auch Schweizer und hat hier ebenfalls Militärdienst absolviert, aber Christopher lebt in Deutschland und ist viel unterwegs. Man muss vor Ort präsent sein, wenn man ein solches Schloss korrekt betreuen will. Ihr Sohn ist der vorerst letzte Hallwyl. Was, wenn das Geschlecht ausstirbt ? Dann ist das Schicksal, Schicksal der Geschichte. Man hat seinen Teil geleistet, und wenn die Zeit um ist, ist sie um.

Graf Michael von Hallwyl lebt in Andechs am Starnbergersee und in Portugal. Der frühere Bankkaufmann ist verheiratet mit Astrid von Oppell und hat einen Sohn und eine Tochter.

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Im Gespräch mit Michael von Hallwyl

Michael von Hallwyl und sein Sohn Christopher. « Ich finde es schade, dass über die Rolle der Aristokratie in der Alten Eidgenossenschaft so wenig diskutiert wird », sagt Graf Michael.

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« Es ging sackgrob zu und her » Im Gespräch mit Nikolaus von Reding

Ihre Familie nennt sich Reding von Biberegg, ein Weiler bei Rothenthurm. Was war dort ? Laut alten Katastern eine Burg, wo heute die Redingkapelle und das Pfrundhaus stehen, beide nach wie vor im Besitz unserer Familie. Vielleicht waren die Reding dort Meier, also Verwalter. In einem Schandgedicht über die Schwyzer aus dem 14. Jahrhundert wird von einem Reding berichtet, der zwei fette Stiere heimführte. Wer sich Stiere oder Ochsen leisten konnte, war nicht arm. War Ital, der Sieger im Alten Zürichkrieg, der erste bedeutende Reding, eine recht blutrünstige Figur ? Nun, vor ihm gab es bereits sechs Reding-Landammänner. Ital Reding war Landammann, Bannerträger und Schiedsrichter unter den Eidgenossen, konnte Lateinisch und hatte ein Siegel, war also jemand. Für die Zürcher war Reding vielleicht ein übler Wüterich, doch wir sehen das etwas anders. Ital Reding war ein weitsichtiger Politiker. Er realisierte, dass Zürich nach Südosten drängte, Richtung March und Höfe, Interessengebiet der Schwyzer. Da es wegen der gemeinsamen Schirmvogtei über das Kloster Einsiedeln und des Erbes der Grafen von Toggenburg Streit gab, führte das schliesslich zum Krieg mit Zürich. Mithilfe der übrigen Eidgenossen siegten die Schwyzer über die Zürcher, und seither gehören March und Höfe zu Schwyz.

Ihre Familie war in Schwyz sehr dominant, mit ihrem Reichtum und all ihren Ämtern. Kam es da nicht zu Konflikten mit der Bevölkerung ? Es gab nicht nur die Reding, da waren auch die Ab Yberg, die Schorno, Nideröst, Betschart et cetera. Doch Streit gab es schon, manchmal ging das sackgrob zu und her. Ende des 18. Jahrhunderts kam es sogar zu einem Aufstand gegen die Reding. Konflikte gab es meist wegen ausstehender Soldzahlungen. Der französische König war pleite, so mussten die Reding das Geld aufbringen, bis sie keines mehr hatten. Einige verarmten deswegen. Manchmal verbot die Landsgemeinde das Anwerben von Söldnern, falls nicht bezahlt werde. Gleichzeitig sagte der König : « Ohne Söldner brauchen wir euch Reding nicht. » Gelegentlich wurde ein Reding verprügelt oder musste fliehen, um dann später wieder zum Landammann gewählt zu werden. Irgendwie hatten sie halt doch Macht, und man brauchte sie auch, weil nicht viele für all die öffentlichen Funktionen infrage kamen. Welchen Titel könnten Sie tragen ? Baron. Nach all den herrlichen Landsitzen rund um Schwyz muss das Geschäft mit den Söldnern ziemlich lukrativ gewesen sein. Man hatte auch andere Einnahmequellen wie Vogteien, Landwirtschaft oder sonstige Geschäfte, etwa Berg­bau. Aber bedeutend war das Söldnerwesen schon. Wichtig war vor allem, eigene Regimenter zu haben. Und die hatten die Reding ? Ja, in Venedig, Savoyen, in Deutschland, in Neapel. Weil der König beider Sizilien später König von Spanien wurde, gab es dort zwei Reding-Regimenter. Sie kämpften sogar mal gegeneinander, auf napoleonischer und auf bour­ bonisch-spanischer Seite, in der Schlacht von Bailén 1808.

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Nikolaus von Reding Biberegg in einem Salon seines Hauses an der Schmiedgasse. Er sagt : « Hier in Schwyz wird man als Reding noch immer etwas anders behandelt. »

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Das Herrenhaus an der Schmiedgasse in Schwyz. Rudolf Reding begann 1610 mit dem Bau. Der italienische Einfluss ist offen­sichtlich. Vielleicht, weil Reding eng mit Florenz verbunden war. Nikolaus von Reding, der jetzige Besitzer, un­terzog das Gebäude mit gros­sem Engagement einer umfassenden Restaurierung.

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Im Gespräch mit Nikolaus von Reding

Zentral aber war vor allem Frankreich ? Obschon wir im Alten Zürichkrieg gegen Österreich waren, kämpften die Reding später für die Habsburger gegen die Türken. Aber Sie haben schon recht, wir waren besonders eng mit Frankreich verflochten. Eine Kriegsgurgel könnte man Landammann Wolf Dietrich nennen. Er nahm an 22 Schlachten teil. Rudolf von Reding, Regimentsoberst und Landammann, wurde 1585 vom französischen König geadelt, ein anderer, Landammann Josef Anton, erwarb in den Cevennen eine Baronie. Es gibt immer noch Leute in einigen Ländern Europas mit dem Namen Reding, aber man weiss nicht immer, ob sie wegen eines Regiments so heissen oder Nachkommen eines Reding sind. Nicht nur für meine Familie, auch für Schwyz und vor allem die armen Bauernsöhne hier war das Soldgeld aus Frankreich wichtig. Aber zu weit ging die Franzosenliebe dann doch nicht. Als mein Grossvater eine fran­ zösische de Bonstetten heiratete und sich sein Schwiegervater einbürgern lassen wollte, musste er das in Solothurn-Rüttenen tun, weil die Schwyzer keinen wollten, der nicht einmal Deutsch verstand. Überdies war es ein Reding, Alois, der in Rothenthurm die Schwyzer 1798 gegen die französischen Revolutionstruppen anführte. Dieser Alois von Reding kämpfte wohl nicht gegen die Franzosen, sondern vor allem gegen die neuen, revolutionären Strömungen, die von Frankreich ausgingen ? Vielleicht, obschon mein Vater immer sagte, der Alois habe eine soziale Ader gehabt. Das war wohl etwas übertrieben, wobei die Reding durchaus gebildete und auf­ geklärte Leute waren. Sie gründeten nach 1800 Bibliotheken und Lesegesellschaften, Schulen und Sparkassen. Gleichzeitig waren sie sehr konservativ und vor allem katholisch. Ein Sohn dieses Alois führte im Sonderbundskrieg Schwyzer an, mein Grossvater, Regierungs- und Ständerat, war ein vehementer Vertreter der KatholischKonservativen Partei.

Welche Reding finden Sie die spannendsten ? Sicher Ital und Rudolf, dann die Krieger Theodor Anton und seine vier Söhne Theodor, Nazar, Alois in Spanien und Rudolf in Frankreich. Er wurde als Hauptmann der königlichen Gardetruppe der Hundertschweizer 1792 in Paris vom Pöbel ermordet. Sicher aussergewöhnlich war Nazar (1806–1865). Er wirkte in praktisch allen Ämtern und wird als politischer Baumeister des Kantons Schwyz bezeichnet. Auch dieser Herr hier an der Wand ist interessant, eben­falls ein Rudolf, ein intelligenter, charmanter Lebemann, einst zu einflussreicher Generalsekretär der SRG und grosser Jäger. Er wurde in Indonesien von einem Waran ge­ fressen. Eine spannende Person war meine Tante Marguerite, die von 1923 bis 1953 als Ordensschwester in China lebte und Schulen und Waisenhäuser gründen half. Erwähnen möchte ich auch Viviane Reding, die bis 2014 in der EU-Kommission sass. Sie ist zwar Luxemburgerin, stammt aber als echte Reding aus Schwyz. Was bedeutet Ihnen Ihr Name ? Ein schöner Name, es macht durchaus Freude, so zu heissen, ist aber auch verpflichtend. Hier in Schwyz wird man als Reding noch immer etwas anders behandelt – man gehört zu den « Mehrbesseren », man erwartet von uns einfach mehr. Vielleicht schaut man uns auch etwas kritischer an. Doch wie auch immer : Meine acht Geschwister und ich wurden zwar ohne jeglichen Dünkel erzogen, aber irgendwie in der Verpflichtung, unserer Herkunft gemäss ein an­ ständiges Leben zu führen.

Nikolaus von Reding Biberegg arbeitete als Zahnarzt im zürcheri­­schen Rüti und lebt heute mit seiner Frau Béatrix im Familienschloss an der Schmiedgasse in Schwyz. Das Paar hat drei Kinder.

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Horace BĂŠnĂŠdict de Saussure als Sujet einer Schweizer 20-Franken-Note. Der Geologe und Metereologe initiierte die Erstbesteigung des Mont Blanc und kletterte hernach gleich selber auf den hĂśchsten Berg Europas.

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Die höchst erstaunlichen de Saussure Heute hätten sie mindestens zwei Nobelpreisträger in der Familie

Auch in der Eidgenossenschaft war Bildung weitgehend ein Privileg der aristokratischen Oberschicht. Man konnte lesen und schreiben, erlernt schon seit dem Spätmittelalter etwa in Klosterschulen. Die Eltern waren sich der Tatsache zunehmend bewusst, dass eine gute schulische Erziehung wichtig ist. Sie beschäftigten für ihre Kinder, vorab für die Buben, Hauslehrer und schickten die jungen Herren auf ausländische Universitäten wie Bologna oder Paris. Nicht zuletzt dank des Militärdiensts für fremde Fürsten oder wegen Handelsreisen ins Ausland konnten Sprachkenntnisse erworben werden. Dank des Solddiensts floss viel Geld in die eidgenössischen Orte, und die wachsenden Verbindungen der führenden Familien in die europäischen Zentren ermöglichten den Import von Archi­tektur- und Kulturwissen, vor allem aus Italien und Frankreich. Damit begannen neue Stilrichtungen die Gesichter der Städte und Ortschaften zu verändern. So verwandelte die Fa­milie Reding den provinziellen « Hauptfläken Schwitz » kurz nach 1600 mit ihren prächtigen, durch den Solddienst finanzierten Herrenhäusern. Dass es nicht stets italienische Formen wie beim RedingHaus an der Schmiedgasse sein mussten, zeigt das « Grosshus » von Landammann Ital Reding. Das spätgotische Palais ist vom süddeutschen Schlossbau beeinflusst. Auch das Zusammentragen und Zurschaustellen von Sammlungen von Büchern, Gemälden und Einrichtungsge­ gen­ständen gehörte zur vornehmen Lebensweise. Die be­ bilderte Liederhandschrift, die Zürichs Patrizierfamilie Manesse schon um 1300 angelegt hatte, ist ein Beispiel solcher Sammlertätigkeit. Man konnte es sich auch leisten, Kuriositäten und Exotika zu sammeln. So hat noch um 1900 der Berner Aristokrat Carl Ludwig von Tscharner eine damals in ganz Europa bekannte Vogelsammlung geschaffen. Seit der Renaissance wurde es für jene, deren Familien sich das leisten konnten, üblich, auf Bildungsreise zu gehen. Sie hiess Le Grand Tour oder Kavalierstour und war so etwas wie der Abschluss der Ausbildung. Meist dauerte sie mehrere Monate, gelegentlich Jahre. Man bereiste kulturell bedeutende Städte, vorab in Italien, besichtigte Denkmäler, lernte fremde Sitten kennen, vertiefte seine Sprachkenntnisse und knüpfte an Fürstenhöfen Kontakte, die einem später dienlich sein konnten. Auch das Sammeln gewisser erotischer Erfahrungen gehörte durchaus zum Programm. Ein solcher Italienreisender, allerdings eher an Klima und Landwirtschaft interessiert, war Karl Viktor von Bonstetten, der seine Beobachtungen in unzähligen Briefen festhielt. Die aristokratischen Geistes- und Naturwissenschafter haben auf verschiedenen Wissensgebieten ausserordentliche

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Leistungen erbracht. So entwickelten in Luzern Franz Xaver von Schumacher und sein Vater Franz Placid, astronomische und meteorologische Forscher, 1764 einen Heissluftballon. Sie beobachteten dessen Aufstieg von ihrem Gut Himmelreich aus. Als ein Ballon abstürzte, wurden weitere Experimente verboten. Fast zeitgleich, 1786, schuf Franz Ludwig Pfyffer von Wyher das erste Landschaftsrelief Europas, das Relief der Urschweiz, ausgestellt im Luzerner Gletschergarten. Eine grosse französische Pension erlaubte Pfyffer ein Leben als Topograf, Zeichner und Erforscher der Alpen. Er unterhielt Kontakte zu Naturwissenschaftern wie Horace Bénédict de Saussure oder etwa dem Genfer Jacques-Barthélemy Micheli du Crest, ebenfalls Politiker und Soldunternehmer und wie Pfyffer an Landvermessung interessiert. Micheli du Crest zeichnete um 1755 ein Alpenpanorama und korrespondierte mit dem Berner Albrecht von Haller. Dieser war ein bedeutender, auf zahlreichen Wissensgebieten forschender Botaniker, Arzt und Dichter. Haller setzte der Schweizer Bergwelt in seinem wortgewaltigen Gedicht Die Alpen ein Denkmal. Etliche Aristokraten betätigten sich als Verleger. Karl Pfyffer, Initiant des Luzerner Löwendenkmals, gründete 1828 den Waldstätter-Boten, eine konservative Publikation. Als Kontrapunkt verlegte sein Verwandter Kasimir Pfyffer, ein liberaler Staatsmann, die Zeitung Der Eidgenoss. Gleich zwei bedeutende Journalisten und Gründer noch heute existierender Zeitschriften und Zeitungen stammen aus der Luzerner Familie von Schumacher : Karl von Schumacher gründete die Weltwoche, und Felix von Schumacher war Mitbegründer des Blick. Wohl keine aristokratische Familie jedoch hat so viele Wissenschafter und Kulturschaffende hervorgebracht wie die de Saussure aus Genf. Ihn haben wahrscheinlich die meisten von uns sogar schon mal in den Händen gehabt, den Naturforscher Horace Bénédict de Saussure. Denn sein Konterfei war das Sujet der schweizerischen 20-FrankenNote, die von 1979 bis 1995 in Umlauf war. Er und sein Urenkel Ferdinand waren die berühmtesten de Saussure, beide gut genug für einen Nobelpreis, hätte er schon damals existiert. Aber es gab noch eine ganze Anzahl weiterer Gelehrter aus dieser Westschweizer Familie. Das Erstaunliche : Aristokraten zwar, aber keine Krieger, kaum jemand in Fremden Diensten, die meisten Wissenschafter, Maler, Schriftsteller, Geistliche, ab und zu ein Politiker, gelegentlich ein Bankier. Die Familie stammt aus Saulxures in Lothringen. Der dortige Herzog, dem die Saussure als Falkner dienten, erhob sie 1503 in den Adelsstand. Doch weil sie Hugenotten waren, genauer : calvinistische Protestanten, wurden sie verfolgt.


Daher emigrierte Antoine de Saussure nach Lausanne, wo er 1556 ins Bürgerrecht aufgenommen wurde. Ein Zweig der Familie blieb in der Waadt, während Elie, der Urenkel von Antoine, sich in Genf niederliess, 1635 Bürger der Stadt wurde und damit die Genfer Linie der Saussure begründete. Den Lausanner de Saussure gehörten in der Waadt verschiedene Gerichtsherrschaften, sie sassen in den Räten oder waren Pfarrer. So etwa César. Er betreute Jean Daniel Abraham Davel auf dem Schafott. Wahrscheinlich kannte er ihn aus seiner Jugendzeit, da Davel aus Morrens stammt, wo die Saussure ein Schloss besassen. Davel tat Dienst im Spanischen Erbfolgekrieg unter dem Savoyer Prinzen Eugen und John Churchill, Herzog von Marlborough. Zurück im Waadtland wurde er Major der dortigen Milizen und lancierte 1723 mit mehreren Hundert Mann einen Aufstand gegen Bern, die Herren der Waadt. Davel, der sich dazu von Gott berufen fühlte, wurde verhaftet und hingerichtet. Ein weiterer César de Saussure trug den Übernamen « der Türke ». Der Grund : Nach einem längeren Englandaufenthalt war er ab 1729 während sechs Jahren in der Türkei, erst als Sekretär des britischen Botschafters, später im Dienst des exilierten Fürsten von Siebenbürgen. Zurück in Lausanne wirkte er in verschiedenen öffentlichen Ämtern. Hippolyte de Saussure war Ingenieur und fertigte als Oberstleutnant der Genietruppen eine Karte des Gotthardmassivs an. Nicolas aus dem Genfer Zweig, Sohn des Bürgermeisters Théodore, sass im politisch wichtigen Rat der Sechzig und veröffentlichte aufgrund von Studien auf seinen Gütern mehrere agronomische Abhandlungen, unter anderen die Manière de provigner la vigne sans engrais. Er war der Vater von Horace Bénédict de Saussure (1740–1799). Dieser, gefördert von seinem Onkel Charles Bonnet und dem Naturforscher und Poeten Albrecht von Haller, stark beeinflusst von Jean-Jacques Rousseau (« Zurück zur Natur »), war bereits im zarten Alter von 22 Jahren Professor für Philosophie an der Akademie von Genf. Horace Bénédict gilt als Begründer der Geologie, war ein berühmter Glaziologe und erforschte die Physik der Atmosphäre. De Saussure bereiste die Westalpen, vorab das Massiv von Chamonix. 1787 war Horace Bénédict auf dem Montblanc. Ein Jahr zuvor war der Berg erstmals bestiegen worden. Initiant war de Saussure, denn der Genfer hatte eine Prämie ausgesetzt für jenen, der den Gipfel als Erster erreichen würde. Anlässlich seiner eigenen Montblanc-Expedition unternahm der Forscher verschiedene geologische sowie barometrische und thermometrische Messungen. Mit seinen Untersuchungen konnte er belegen, dass der Montblanc der höchste

Berg Europas ist. Horace Bénédict de Saussure erfand den Elektrometer, verbesserte den Hygrometer und entwickelte den Cyanometer, ein Instrument zur Messung der Intensität der blauen Himmelsfarbe. Alexander von Humboldt benutzte Instrumente von de Saussure auf seinen amerikanischen Expeditionen. Der Philosoph Arthur Schopenhauer schrieb in seiner Dissertation, dass « Saussüre vom Mont Blanc den aufgehenden Mond so gross gesehen haben soll, dass er ihn nicht erkannte und vor Schreck ohnmächtig ward ». Horace Bénédict de Saussure kletterte als Erster auf das Kleine Matterhorn und begründete mit seinen Voyages dans les Alpes die alpine Geologie. Nach ihm benannt sind eine Pflanze der Alpenscharten (Saussurea), das Mineral Saussurit, ein Mondkrater, in Paris die Rue de Saussure, und in Zermatt erinnert ein Gedenkstein an de Saussure als Miterfinder des Alpintourismus. Im Genfer Stadthaus der Familie hängen Bilder, die Horace Bénédict bei der Besteigung des Montblanc zeigen. Auf deren ursprünglicher Version ist er beleibt. Nicht ganz uneitel liess er den Bauch später wegretouchieren. Verheiratet war er mit der Patrizierin Albertine Amélie Boissier, einer Enkelin des Ami Lullin aus der gleichnamigen Genfer Bankiersfamilie, Financiers von Ludwig XIV., der wegen seiner vielen Kriege stets in Geldnot war. Dank dieser Verwandtschaft gelangten die Saussure in den Besitz ihres grossartigen Genfer Altstadtpalais. Es blieb in der Familie bis zum heutigen Tag. Überhaupt waren die Saussure seit dem 17. Jahrhundert eng mit aristokratischen Familien liiert, wie den De la Rive, de Pourtalès, de Diesbach, de Chambrier und von Bonstetten. Die Tochter von Horace Bénédict heiratete einen Neffen von Jacques Necker, Finanzminister des französischen Königs Ludwig XVI. (siehe « Das Weib ist nicht nur dazu da, dem Mann zu gefallen », S. 125). Ihr Bruder Nicolas Théodore war Wissenschafter wie der Vater. Er lehrte als Professor an der Genfer Akademie in den Fächern Mineralogie und Geologie. Berühmt wurde er mit seinem Hauptwerk Recherches chimiques sur la végétation (1804), bedeutend für die Pflanzenphysiologie. Louis Pasteur zitierte verschiedentlich de Saussures Arbeit über die Alkoholgärung. Nicolas Théodore sass mehrmals im Rat von Genf und war wie sein Vater Horace Bénédict Mitglied der 1660 gegründeten Londoner Royal Society, der neben der Académie française wohl berühmtesten Gelehrtengesellschaft. Ein wenig aus der Reihe schlug der Neffe von Albertine, Théodore de Saussure. Er war ein grosser Förderer von Kunst und Literatur. De Saussure präsidierte die Genfer Société des Arts, half bei der Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für die Erhaltung von historischen

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Die höchst erstaunlichen de Saussure

Kunstdenkmälern und leitete 1883 die Gruppe « Moderne Kunst » an der Landesaustellung in Zürich. Théodore de Saussure schrieb historische Dramen, eines unter anderem über Jörg Jenatsch. Verheiratet war Grossrat und Oberst de Saussure mit Adèle Pictet. Schon damals gab es eine enge Beziehung der beiden Genfer Familien de Saussure und Pictet. Théodores Bruder Henri war wieder ganz auf Saussure-Linie. Der Sorbonne-Absolvent und Doktor der Universität Giessen betrieb anlässlich einer mehrjährigen Mittelamerikareise zoologische, geologische, hydrologische und archäologische Studien. Er galt als ein Insektenforscher von Weltruf, spezialisiert auf Hautflügler (unter anderem Bienen, Wespen, Hornissen) und Heuschrecken. 1866 wurde Henri de Saussure Mitglied der von Napoleon gegründeten französischen Ehrenlegion, später Ehrendoktor der Universität Genf. Henri hatte vier Söhne. Alle machten Karriere, jeder auf seine Art. Horace wurde Maler. Ausgebildet an der Kunstakademie Düsseldorf, lebte er in Florenz, Paris, München und schliesslich Genf. De Saussure malte Porträts, Landschaften und Aquarelle. Léopold zog es in die Ferne. 1882 trat er in die französische Marine ein und verliess sie sieben Jahre später als Offizier der Reserve. In der Folge beschäftigte er sich mit der chinesischen Astronomie, worüber Léopold de Saussure in T’oung Pao, der ersten internationalen Zeitschrift für Si­ nologie, Artikel publizierte. Seine Nachkommen leben vornehmlich in Frankreich. René de Saussure war Mathematiker, wurde später Linguist und arbeitete an der Weiterentwicklung der Kunstsprache Esperanto. Er schuf sogar eine Esperanto-Währung, genannt « spesmilo ». Sohn Nummer eins wurde zweifelsohne auch die Nummer eins der de Saussure : Der 1857 geborene Ferdinand gilt zusammen mit seinem Urgrossvater Horace Bénédict als der Wichtigste der Familie und fraglos als einer der international bedeutendsten Sprachwissenschafter. Nach seiner Promotion in Leipzig lehrte Ferdinand de Saussure zuerst an der Pariser École pratique des hautes études, später und bis zu seinem Tod war er Professor für Geschichte und indoeuropäischen Sprachvergleich an der Universität Genf. Er hat die Semiotik, die Lehre von den Zeichen, nachhaltig geprägt, begründete die moderne Linguistik und gilt als Vater des Strukturalismus. Dennoch war de Saussure offensichtlich eher bescheiden und nicht sehr auf seinen Ruhm erpicht. Jedenfalls erschien sein Hauptwerk, der Cours de linguistique générale, worin er eine allgemeine Theorie der Sprache als Zeichensystem entwickelt hatte, erst posthum. Zwei seiner Studenten hatten Mitschriften von Saussures Vorlesungen gesammelt und hernach publiziert. Bereits zu Lebzeiten berühmt

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Ferdinand de Saussure war ein gros­ser Sprach­ wissenschafter. Der bescheidene Genfer Aristokrat begründete die moderne Linguistik und gilt als Vater des Strukturalismus.


Henry William de Saussure war Bür­germeister von Charleston, South Carolina, und Direktor der United States Mint.

wurde Ferdinand de Saussure als Erforscher des Indogermanischen. Er versuchte dieses als gemeinsame Ursprache des Griechischen, des Lateinischen und des altindischen Sanskrit zu rekonstruieren. Dabei postulierte de Saussure die Existenz geschwundener Lautkoeffizienten, einer Art von Kehlkopflauten. Solche wurden vier Jahre nach seinem Tod in der Sprache der längst untergegangenen Hethiter nachgewiesen. Im türkischen Dorf Bogazköy hatte man entsprechend beschriebene Tontafeln entdeckt, die aus der Zeit von 1700 vor Christus stammen. Damit waren die bisher älteste indogermanische Sprache belegt sowie die Erkenntnisse von Ferdinand de Saussure bestätigt. Zu Buch gebracht hatte er diese als 29-jähriger Student in Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes – einem Meisterwerk der Wissenschaftsliteratur. Ferdinand de Saussure verstarb 1913 auf Schloss Vufflens. Dieses immense Waadtländer Château kam über seine Frau Marie Faesch in die Familie. Deren Vater, Jules Faesch, war Ingenieur, der unter anderem Turbinen für das erste Grosskraftwerk der Welt entwickelt hatte (Niagara). Schloss Vufflens gehört nach wie vor der Familie de Saussure. Einer von Ferdinands Söhnen hiess Jacques, arbeitete in Bundesbern in verschiedenen Ämtern und wurde 1952 zum Ritter

des Order of the British Empire ernannt, zum Dank für seine Verdienste während des Zweiten Weltkriegs. Ein anderer Sohn, Raymond, studierte Literatur und Philosophie, später Medizin und Psychologie. In den 1920er-Jahren liess er sich von Sigmund Freud analysieren und schrieb danach das Buch La méthode psychoanalytique, womit er 1922 in Genf promovierte. Er lebte längere Zeit in Paris und New York, dazwischen führte er die psychiatrische Klinik Prangins. Raymond de Saussure war Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse. Jean de Saussure, ein weiterer Sohn des Ferdinand, war anderweitig mit der Seele des Menschen beschäftigt. Geboren in Washington, wirkte er anfänglich als Pfarrer in Edinburgh, dann während des Zweiten Weltkriegs an der Genfer Kathedrale Saint-Pierre. Von der dortigen Kanzel pran­gerte der couragierte de Saussure immer wieder die Judenverfolgung der Nazis an. Der Calvin-Kenner Jean de Saussure war stark in der Ökumene engagiert. Von den Universitäten Debrecen in Ungarn und Saint Andrews in Schottland erhielt er den Ehrendoktortitel. Von Vater Jean stark beeinflusst, lernte Sohn Eric in Genf den Deutschen Roger Schutz kennen, der nach dem Krieg in der Nähe von Cluny in Frankreich den Männerorden Communauté de Taizé gründete, zusammen mit sechs anderen Brüdern. Einer war der Neuenburger Aristokrat Daniel de Montmollin. Anfänglich waren alle Brüder Protestanten, später durften auch Katholiken beitreten, womit Taizé zur ersten ökumenischen Brüdergemeinschaft der Kirchengeschichte wurde. Eric de Saussure, der in Paris und Florenz Kunst studiert hatte, schuf als Frère Eric auch in Taizé Werke, unter anderem einen Fensterzyklus der Versöhnungskirche. Bleiglasfenster von ihm gibt es in Deutschland, der Schweiz und den USA. Zudem malte er Aquarelle sowie Ölbilder und schrieb Kinderbücher. De Saussure gibt es ausser in der Schweiz noch in Frankreich – Hermine war Weltumseglerin, Delphine Seyrig, Tochter des Archäologen Henri Seyrig und der Hermine de Saussure, ist Schauspielerin – und in den USA. Diese stammen aus dem Waadtländer Zweig der Familie. Daniel de Saussure, ein prominenter Kaufmann in Charleston, South Carolina, wurde während des Unabhängigkeitskriegs von den Briten gefangen genommen. Seine drei Brüder Louis, Henry und Thomas, alle Offiziere aufseiten der USA, fielen im Krieg. Daniels Sohn Henry William de Saussure war 16 Jahre alt, als er anlässlich der Belagerung von Charleston ebenfalls ins Gefängnis gesteckt wurde. Später studierte er Jurisprudenz an der Universität Princeton und wurde ein engagiertes Mitglied der Federalist Party. Präsident George

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Die höchst erstaunlichen de Saussure

Die Genfer « Salonnière » Albertine Necker-de Saussure setzte sich engagiert mit dem Schicksal der Frauen, die sich unterwerfen mussten, auseinander.

Das Weib ist nicht nur dazu da, dem Mann zu gefallen Albertine, Tochter von Horace Bénédict de Saussure, war für eine Frau der dama­ligen Zeit aussergewöhnlich gebildet. Sie sprach Griechisch und Latein, Englisch, Deutsch, Italienisch und kannte sich aus in Mathematik und Naturwissenschaften. Mit sieben Jahren bereits durfte sie den Herrn Papa auf eine Reise nach Italien begleiten, später nahm er sie mit auf seine geologischen und botanischen Exkur­ sionen. Konsequent wurden die häuslichen Unterrichtszeiten eingehalten. Mit 19 Jah­ren heiratete Albertine den Botaniker und Naturfreund Jacques Necker. Er war ein Neffe des gleichnamigen Genfer Bankiers und Finanzministers des französischen Königs Ludwig XVI. Dessen Tochter Germaine war die legendäre Madame de Staël. Sie und Albertine, gescheite, schöne Frauen, führten je einen Salon, Albertine in Cologny, Germaine im väterlichen Schloss in Coppet, einen aufklärerischen Treff­punkt europäischer Geistesgrössen. Baronin de Staël gilt als Vorläuferin der vergleichenden Literaturwissenschaft, vor allem war sie Schriftstellerin. Ihr wichtigstes Werk heisst Über Deutschland und beeinflusste im 19. Jahrhundert das Deutschlandbild vieler Franzosen. Der Berner Intellektuelle Frei­herr Karl Viktor von Bonstetten, der sich 1803 in Genf niedergelassen hatte und oft in Coppet weilte, war begeistert von Al­ bertine Necker de Saussure. « Ich liebe die

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Necker », schrieb er. Und : Sie habe so viel Verstand wie Germaine, ja verstehe Me­­ ta­­physik und Sprachen gar noch besser. Albertine verfasste, nachdem ihre Kinder erwachsen waren, wegweisende Stu­dien über pädagogische Themen und die Bildung von Frauen, wie L’éducation progressive ou étude du cours de la vie. Die Schriftstel­ lerin setzte sich kritisch mit Rousseau und seinem pädagogischen Hauptwerk Émile ou de l’éducation auseinander. Der Auf­ klärungsphilosoph hatte darin Sophie, die künftige Gattin von Émile zur Tugend, zur Unterwürfigkeit und zur Dienerin des Mannes bestimmt. Die frühe Feministin Albertine schrieb dagegen an : Warum nicht die Frauen «zum vielseitigen, in sich selbst ruhenden Menschen erziehen » ? Ob denn « das Weib [. . .] ausschliesslich da­zu da sei, dem Mann zu gefallen und seine Lebensgefährtin zu sein » ? Für Albertine hatten Frauen einen Wert als eigenständige Wesen, und eine gute Allgemeinbildung sei eine Voraussetzung für ein selbstbe­ stimmtes Leben. Sie forderte daher auch für Frauen eine Ausbildung in Sprachen, Na­turwissenschaften und Kunst. Albertine Necker de Saussure verfasste unter anderem eine Biografie von Germaine de Staël und übersetzte August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur ins Französische. Sie starb 1841.


JACQUES UND IMAN DE SAUSSURE Er wohnt in der Genfer Altstadt, hat zwei Töchter und einen Sohn und ist in zweiter Ehe mit ei­ner muslimischen Libanesin verhei­ratet. Auf die Frage, was denn wohl die vielen protestantischen Pfarrer in der Familie dazu gesagt hätten, meint

Jacques de Saussure : « Die Saussure waren keine sturen Traditionalisten, sondern vor allem Wissenschafter mit einem weiten Horizont, offen für Neues und tolerant. Das galt wohl auch für die Geistlichen in der Familie. »

Jacques de Saussure und seine Frau Iman. Er war Partner und ist jetzt Verwaltungsrat der Bank Pictet, der grössten Privatbank der Schweiz. Frau de Saussure hat einen Masterabschluss in Bio­chemie der American Uni­ versity Beirut. Unter ihrem Mädchen­ namen Iman Makki betreibt sie ein Schmucklabel.

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Die höchst erstaunlichen de Saussure

Washington ernannte ihn 1795 zum Direktor der United States Mint, damals so etwas wie die Nationalbank. De Saussure war Bürgermeister von Charleston und einer der Gründer der späteren University of South Carolina in Columbia. Nach ihm ist das dortige DeSaussure College benannt. Henry William de Saussure war überdies Verleger. Er gründete 1803 die Tageszeitung Charleston Courrier, die es immer noch gibt, als The Post and Courrier. Sein Sohn William Ford de Saussure, Harvard-Absolvent und ebenfalls Bürgermeister (Columbia), wurde 1852 Mitglied des amerikanischen Senats. Die Nachkommen pflegen zu den Schweizer Verwandten einen losen Kontakt. Hierzulande leben noch ein rundes Dutzend de Saussure. Einige stehen im öffentlichen Leben wie etwa Jean-François, seit 2013 Chef des renommierten Schreibgeräteherstellers Caran d’Ache, oder Louis de Saussure. Er ist an der Universität Neuenburg Professor für Linguistik. Was ziemlich verpflich­tend sein dürfte, denn der berühmte Sprachwissenschafter

Ferdinand de Saussure war sein Grossonkel. In der Bankenwelt bestens bekannt ist Jacques de Saussure. Er war, wie be­reits sein Vater, teilhabender Partner der Bank Pictet in Genf. Pictet, gegründet 1805, ist nicht nur die grösste, sondern auch die erfolgreichste Privatbank der Schweiz. Sie ist vor allem im Vermögensverwaltungsgeschäft tätig und verfügt über ein globales Netzwerk von 26 Geschäftsstellen. Pictet beschäftigt über 4000 Mitarbeiter und verwaltet Einlagen von gegen 500 Milliarden Franken. Jacques de Saussure ist seit 1980 dabei, aber aus Altersgründen nicht mehr als Partner, sondern als Verwaltungsrat. Wie sein Bruder Philippe, der Jurist und Mediziner ist, hat auch Jacques de Saussure ein Doppelstudium absolviert, an der ETH als Mathematiker, am MIT in Boston als Betriebswirtschafter. Über die de Saussure sagt er : « Wir alle haben Wurzeln, die tief in die Geschich­te zurückreichen. Man muss sie kennen, um sich selbst zu verstehen. »

Das grossartige Palais der Fami­lie de Saussure liegt mitten in der Alt­stadt von Genf

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Der Urner Josue von Beroldingen, mehrfach Landammann, schrieb ßber seine Pilgerreise nach Jerusalem ein Tagebuch. Vom Habs­ burger Kaiser Karl V. wurde er 1521 in den erblichen Adelsstand erhoben.

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Auch die Eidgenossen hatten Untertanen Gerichtsherrschaften und Vogteien am Beispiel der Urner von Beroldingen

Weil Wilhelm Tell der Obrigkeit nicht die nötige Reverenz erwies, befahl Landvogt Hermann Gessler dem unbotmässigen Urner den weltberühmten Apfelschuss. Seither lernt jeder Schweizer und jede Schweizerin in der Schule, was ein Landvogt ist : ein übler Kerl. Was allerdings den Schweizern vielleicht nicht ausreichend kundgetan wird, ist die Tatsache, dass auch ihre Vorfahren, die Alten Eidgenossen, ihre eigenen Landvögte hatten, Hunderte im Lauf der Jahrhunderte. Und das kam so : Als sich die Habsburger nach der Schlacht bei Sempach, teils unter Druck, teils wegen abflachenden Interesses, aus unserem Gebiet zurückzuziehen begannen, nutzten die Eidgenossen die Gunst der Stunde und begannen damit, ihre eigene Territorialpolitik voranzutreiben. Das heisst, sie eigneten sich, zunehmend mächtiger werdend und flexibel der jeweiligen Situation angepasst, den Besitz der bisherigen adligen Eigner an und schufen sich so eigene Untertanengebiete. Um diese zu verwalten, setzten sie Vögte ein. Einige Einverleibungen betrieb man gemeinsam und nannte sie daher Gemeine Herrschaften. Auch dort wurden Landvögte als Vertreter der Obrigkeit eingesetzt. Gemeinsam war diesen Vögten, dass sie fast durchwegs den Magistratenfamilien angehörten, also der herrschenden Schicht. Besonders erfolgreich beim Ramassieren von Vogteijobs waren die Luzerner und Zürcher Patrizier, vor allem aber die Berner. Das mächtige Bern betrieb nach der Ein­ verleibung der Waadt insgesamt um die 50 Vogteien. Die Gnädigen Herren residierten auf Vogteisitzen – in der Regel ein prächtiges Schloss –, an denen zum Teil noch heute der Berner Bär prangt. Selbst in Landorten wie Uri, das ausser der Leventina kein eigenes Untertanengebiet besass, gelang es mehreren patrizischen Familien, sich in den Gemeinen Herrschaften breitzumachen und dort lukrative, vererbbare Ämter oder Gerichtsherrschaften zu besetzen. Ein gutes Beispiel dafür sind die von Beroldingen. Erstmals erwähnt aus dieser in Seelisberg siedelnden Familie wird 1257 ein Kuno von Beroldingen. Er war Parteigänger der Izzeli-Sippe im Streit gegen die Gruoba. Schiedsrichter in dieser blutigen Urner Fehde war nebenbei bemerkt ein gewisser Graf Rudolf von Habsburg, später der erste deutsche König aus diesem fortan Europas Geschichte prägenden Geschlecht. Die Beroldingen waren damals « Eigenleute » (Leibeigene) der Freiherren von Attinghausen, wurden aber kurz danach durch Schenkung (!) zu « Gotteshausleuten » des Zürcher Klosters Fraumünster. Hernach setzte der 400 Jahre anhaltende Aufstieg der Familie ein. Erst in Uri, später im Tessin und im Thurgau und schliesslich in Österreich und vor allem im Königreich

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Württemberg. Heinrich von Beroldingen war der erste einer ganzen Reihe von Urner Landammännern aus dieser Sippe. Er war es auch, der 1444 nach der verlorenen Schlacht bei St. Jakob an der Birs den Frieden mit den Franzosen aushandelte. Sein Enkel Andreas war der für die Entwicklung der Schweiz wohl bedeutendste von Beroldingen. Der MehrfachLandammann, nach eigener Aussage des Schreibens unkundig, setzte sein ganzes politisches Leben dafür ein, Uri und den Eidgenossen das Tessin zu sichern. « Der Goldene Ritter », wie Andreas von Beroldingen genannt wurde, war Heerführer in den Burgunder- und Schwabenkriegen, aber vor allem der grosse Protagonist der territorialen Sicherung des Zugangs zu den wichtigen oberitalienischen Märkten, wo die Innerschweizer ihre bedeutendsten Exportprodukte, Vieh und Käse, absetzen wollten. Verbandelt über Kardinal Matthäus Schiner mit dem Medici-Papst Julius II. und den spanischen Habsburgern, die sich mit den Franzosen um das Herzogtum Mailand stritten – wichtigster Lehensherr des Tessins –, führte Beroldingen unzählige Kriegszüge südlich des Gotthards an. Ihm verdankte Uri den Erwerb der Landvogtei Leventina, wo Andreas von Beroldingen kurze Zeit selbst als Landvogt tätig war, sowie, zusammen mit den übrigen Urschweizer Ständen, die Herrschaft über Blenio, Riviera und Bellinzona. Zum Dank für seine Dienste liess ihm der Papst 1510 ein Belobigungsschreiben zukommen und verlieh ihm den St. Silvesterorden. Der schillerndste von Beroldingen war Josue, ein Sohn des Andreas. Geboren 1495, focht er bei Marignano, war sechsfacher Urner Landammann und emsiger Parteigänger des Papstes. Beroldingen diente diesem als Chef der päpstlichen Garde in Bologna und wurde vom Pontifex Paul III. zum Römischen Ritter geschlagen. Der Habsburger Kaiser Karl V. erhob Beroldingen 1521 in den erblichen Adelsstand. Josue, Erbauer des Schlösschens Beroldingen auf Seelisberg, betätigte sich überdies als Schriftsteller. Er unternahm eine Pilgerreise nach Jerusalem und schrieb alles auf, was er unterwegs erwähnenswert fand. Einer seiner Söhne transkribierte das Manuskript, das auf verschlungenen Wegen Jahrhunderte später schliesslich in der Bibliothek des Klosters Einsiedeln auftauchte. Der Benediktinerpater Odo Lang verarbeitete es 2009 zum Buch Josue von Beroldingen – Pilgerfahrt zu dem Heiligen Lande 1518, ein faszinierendes Stück Zeitgeschichte. Oberst von Beroldingen war Tagsatzungsdelegierter, Schlichter im Streit zwischen dem Bischof von Basel und den Eidgenossen sowie einer jener Gesandten, als es um das Bündnis mit Kaiser Ferdinand I. ging. Josue war der erste von Beroldingen, der seine Fühler in die Gemeine


Herrschaft Thurgau ausstreckte : Er erwarb 1533 das Schloss Steinegg, was bestens zu seinen Nobilitierungsbemühungen passte. Denn Beroldingen vermählte sich zweimal mit Frauen aus dem alten Adel. Zuerst mit Ursula von Hohenlandenberg und danach mit Anna Katharina von Heidegg. Der 1563 verstorbene Josue von Beroldingen hatte zehn Kinder. Ein Sohn, Sebastian, war Militärunternehmer und diente als Offizier im Schweizerregiment von Tscharner in Frankreich und focht als Oberst mit Rudolf Pfyffer von Altishofen, Bruder des « Schweizerkönigs » Ludwig, in den Hugenottenkriegen für den Franzosenkönig Heinrich IV. Später war von Beroldingen Landeshauptmann von Uri und Bannerherr. Er wirkte unter anderem als Gesandter in Mailand und erhielt die Würde eines Ritters des Ordens vom Goldenen Sporn, dem zweithöchsten Orden der katholischen Kirche (Ordensträger waren unter anderen Mozart und Adenauer, aber auch Mussolini, Casanova und der Kaiser von Persien). Ein anderer Sohn des Josue, Johann Konrad von Beroldingen, Oberst in spanischen Diensten und Landammann von Uri, begründete die Luganer Linie der Familie. Die dortige Vogtei war der jeweilige Tagungsort der Gesandten jener zwölf eidgenössischen Stände, die an den « ennetbirgischen » Gemeinen Herrschaften beteiligt waren. Während der Landvogt immer wieder ein anderer war, liefen die Fäden beim Kanzler zusammen, einer Art Geschäftsführer. Und dieses Kanzleramt okkupierte die Familie von Beroldingen zwischen 1576 und 1798, also bis zum Untergang der Alten Eidgenossenschaft. Die 1691 von Kaiser Leopold I. mit der Baronenwürde ausstaffierten Beroldingen betätigten sich nebenher oder hauptsächlich, je nachdem, weiterhin als Militärunternehmer. Eine besonders interessante Figur war Ritter Karl Konrad von Beroldingen, Oberst der Republik Venedig. Er ver­ schaff­­te sich zu Lehen die Gerichtsherrschaft Magliaso samt zugehörigem Palazzo, wo die Beroldingen bis Ende des 18. Jahrhunderts residierten. Vor allem aber baute Karl Konrad 1687 die herrliche, direkt am Luganersee gelegene Villa Favorita in Castagnola. Sie gehörte viel später dem Industriellen und Kunstsammler Baron Hans Heinrich von ThyssenBornemisza, dessen Tochter im Übrigen mit Karl von Habsburg verheiratet ist, dem Thronprätendenten Österreichs (siehe S. 210). Karl Konrad von Beroldingen war offenbar ein unterhaltsamer Gastgeber. So schwärmte ein Basler Gesandter, dass von Beroldingen während einer Tessiner Tagsatzung die Delegierten « auff zweyer seiner kleinen Schifflenen nacher Castaniolo, ein schöns Lusthaus, [hat] abführen lassen und allda mit Confect und köstlichem Wein wohl tractiert » hat. Die Beroldingen wirkten allerdings nicht bloss in Lugano.

Auch in der Vogtei Mendrisio hatten sie während mehr als 100 Jahren das Kanzleramt inne. Giuseppe Antonio von Berol­dingen, der letzte Kanzler von Mendrisio, war in der Helvetischen Republik Mitglied des Senats, Teil der Legislative, und bemühte sich, die Leventina dem Kanton Uri ein­ zuverleiben. Ein anderer von Beroldingen aus Mendrisio, Sebastiano, sass in der Tessiner Regierung und amtete 1860/61 als Ständerat. Der Favorita-Erbauer und Magliaso-Besitzer Karl Konrad war, wie es scheint, ein echter Schlösser-Fan. Denn er erwarb, wie sein Ahne Josue, auch einen Adelssitz im Thurgau, das imposante Schloss Sonnenberg. Der Hang zum vormals habsburgischen Thurgau war die Folge dessen Eroberung durch die Eidgenossen anno 1460. Neben Zürich waren daran vorab die Innerschweizer Stände beteiligt, weshalb es denn auch meist Herrschaftsfamilien aus diesem Gebiet waren, die die Landvögte stellten. Noch heute prangen ihre Wappen an den Wänden des Tagsatzungssaals im Schloss Frauenfeld. Und weil es überdies im Thurgau eine ganze Reihe von privaten Grund- und Gerichtsherrschaften gab, nutzten Patrizier aus jenen Ständen, die im Besitz der Gemeinen Herrschaft Thurgau waren, die Gelegenheit, um sich solche Kleinst-Reiche zu verschaffen, inklusive einiger Dörfer, Schlösser, Ländereien, Fisch- und Jagdrechten sowie der niederen Gerichtsbarkeit. Einer der Söhne des Josue, der Urner Landammann Johann Peregrin von Beroldingen, war mit einer Dame aus der Familie von Liebenfels verheiratet, die aus finanziellen Gründen ihre Thurgauer Herrschaft Gündelhart verkaufen musste. Käufer war 1622 der Sohn des Peregrin, Hektor von Beroldingen. Dieser Hektor war zuvor durch Heirat in den Besitz der unweit Winterthur gelegenen Gerichtsherrschaft Gachnang gekommen. Als guter Katholik wollte er in seiner protestantisch gewordenen Gemeinde den alten Glauben wieder einführen und liess auf dem Friedhof reformierte Kreuze zerstören. Anlässlich einer neugläubigen Hochzeitsfeier, zu der auch Beroldingen geladen war, gerieten die Gäste, « vom Weine erhitzt », aneinander. Beroldingen ritzte mit seinem Schwert demonstrativ Kreuze in den Boden und beschimpfte die Anwesenden als « lutherische Ketzer », « hundsfüdische Zürcher » und « Kuhschänder », worauf die Reformierten den Junker Hektor und seine Begleiter als « schwarze Schelme » betitelten. Es brach eine wüste Schlägerei aus, der Gerichtsherr wurde verprügelt, sein Schloss und die dazugehörende katholische Kapelle geplündert. Hätten Bern und der französische Botschafter nicht vermittelt, wäre der Konflikt möglicherweise zu einem Religionskrieg zwischen dem protestantischen Zürich und

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Auch die Eidgenossen hatten Untertanen

Im Gasthof « Zum Trauben » in Wein­ felden hielten die Thurgauer Gerichtsherren jeweils ihre Sitzungen ab.

Gerichtsherrschaften Mit dem Ausgreifen der eidgenössischen Orte auf die einst habsburgische, savoyische, mailändische oder sonst altadlige Landschaft bauten sich jene ein Untertanengebiet auf, dessen Verwaltung oder gar Be­sitz bevorzugte Pfründe der neuen Herren wurde. Einerseits waren das Vogteien, andererseits sogenannte Gerichts- oder Twingherrschaften, die oft ebenfalls auf mittelalterliche Vogteien zurückgingen. Diese Gerichtsherrschaften blieben zwar teilweise in der Hand von Klöstern oder altadligen Familien wie den Hallwyl oder Landenberg, zur Hauptsache indes wurden sie zur meist sowohl finanziell wie pres­ tigemässig attraktiven Domäne des neuadligen Patriziats. Die Stadt und ihr Rat waren zwar die entscheidenden Zentren der Politik, dennoch waren die Gerichtsherr­ ensitze auf der Landschaft bei den städtischen Ratsherren begehrt und beliebt. Wie der Winterthurer Historiker Peter Niederhäuser belegt, waren « Gerichtsherrschaften ein Symbol adeligen Ranges, und ihre Bedeutung ging weit über die Rechtssprechung hinaus. Die Kontrolle über ein Gericht, die Herrlichkeit, [der man zu huldigen hatte, ] war nur ein Aspekt von Herrschaft. Vielmehr verbanden sich gerichts-, grund-, kirchen- und leibherrliche Rechte zu ei­nem eindrücklichen Konglomerat von Besitz­ titeln und Privilegien und schufen inner­halb einer Herrschaft ein fein gestricktes Netz von Abhängigkeiten. Das Schloss stand für das Zentrum der Herrschaft, war Ort einer mehr oder weniger stattlichen Eigenwirtschaft wie repräsentativer Sommersitz und drückte so anschaulich den [adligen] Rang des Inhabers aus. » In Anlehnung an den alten Reichsadel begannen sich die nobilitierten Patrizier der in diesem Buch immer wieder erwähnten und nach

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wie vor existierenden Familien oft nach ihrer Herrschaft zu nennen : Sury Büssy, Meiss von Teufen, Segesser von Brunegg, Pfyffer von Altishofen, Diesbach Torny, Blarer von Wartensee, Zollikofer von Altenklingen. Im Thurgau, den die sieben Alten Orte Zürich, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug und Glarus 1460 – später kam noch Bern dazu – den Habsburgern entrissen hatten, war die Situation anders. Die dort bereits existierenden Gerichtsherrschaften gehörten Klöstern wie Reichenau und St. Gallen oder dem Bistum Konstanz, vor allem aber unzähligen privaten Herren. Sie verteidig­ten ihre bisherigen Rechte, Freiheiten und Privilegien und setzten sich anfänglich gegen die eidgenössischen Usurpatoren zur Wehr. Diese waren zwar jetzt Landesher­ren, repräsentiert durch den in Frauenfeld residierenden Landvogt, doch in einem Vertrag von 1509, der im Wesentlichen bis zum Untergang der Alten Eidgenossenschaft hielt, mussten sie die Sonderrechte der Gerichtsherren anerkennen. Diese bildeten einen eigenen Stand und trafen sich einmal jährlich im Gasthof zum Trauben in Weinfelden zu ihrem Gerichtsherrentag. Ihr Vertreter und Gesprächspartner der Eidgenossen war der Landeshauptmann. Im Jahr 1717 zählte der Thurgau 132 Gerichtsherrschaften. Viele gehörten jetzt zunehmend Familien aus jenen Orten, die sich den Thurgau zum Untertanenland gemacht hatten, wie den Reding aus Schwyz, den Pfyffer und Segesser aus Luzern, den Göldli, Hirzel, Muralt und Werdmüller aus Zürich oder den Roll und Beroldin­gen aus Uri. Letztere stellten dreimal den Landeshauptmann. Die beharrende, konservative Haltung des Gerichtsherrenstands bewirkte dessen fortschreitende Erstarrung. 1804 wurde er liquidiert.


CRISTINA VON BEROLDINGEN Gräfin Cristina von Beroldingen leitet das Instituto Cervantes in Athen, eine vom spani­schen Staat finanzierte Institution, ähnlich dem deutschen Goethe-Institut. Frau von Berol­ dingen, Historikerin, ist in Spanien aufgewachsen. Ebenso ihr Bruder Graf Alexander, der auf den Kanarischen Inseln im Immobiliengeschäft tätig ist. Da ihre Eltern aus Deutsch­land stammen, sprechen beide deutsch. Über ihren verstorbenen Vater sagt Cristina von Beroldingen : « Nach dem Krieg war er zwar in

vielen Ländern tätig, doch behielt er stets eine gefühlsmässig enge Be­ziehung zu Uri und Seelisberg. Noch unser Grossvater besass den Schweizer Pass, und Vater hat uns Kindern immer wieder nahegelegt, unsere schweizerische Abstammung nicht zu ver­gessen. Denn es sei wichtig zu wissen, wo man herkommt. » Zu ihrem Besuch auf dem Schloss ihrer Ahnen meinten Cristina und Alexander von Beroldingen : « Es ist ein eigenartiges Gefühl, hier zu sein und seine Wurzeln zu spüren. »

Gräfin Cristina von Beroldingen, im Hintergrund der Urnersee.

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Auch die Eidgenossen hatten Untertanen

Cristina von Beroldingen und ihr Bruder Alexander, gefolgt von seinen Kindern Alejandro und Sylvelin. Diese sind zum ersten Mal im Schlöss­chen Beroldingen zu Besuch und sehr beeindruckt.

Schloss Beroldingen Gelegen im Urnerischen Seelisberg, am alten Säumerweg von Bauen nach Beckenried am Vierwaldstättersee, ist das zauberhafte Schlösschen Beroldingen das Herren­haus mit der wohl spektakulärsten Lage der Schweiz : weit unten der in der Sonne glitzernde Urnersee, umkränzt von dem oft bis weit in den Frühling hinein schneebe­deckten Bergmassiv, während im Rücken der Niederbauen bedrohlich in den Him­mel ragt. Erbaut hat das Haus Mitte des 16. Jahrhunderts der Urner Landammann und Kriegsunternehmer Josue von Beroldingen. In Erinnerung an seine Pilgerfahrt nach Jerusalem liess er seinem Sitz eine Kapelle anfügen, zu Ehren der Heiligen Thomas und Laurentius, geweiht vom Bischof von Konstanz. Möglicherweise verfügten die aus Seelisberg stammenden

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Beroldingen bereits im 13. Jahrhundert am Standort des Schlosses über ein Stein­haus, vielleicht einen Wohnturm. Genaueres weiss man nicht. Das Innere des drei­ stöckigen Gebäudes besteht aus kleinen Räumen von eher bäuerlichem als herrschaftlichem Charakter. Erwähnenswert sind das aus der Zeit stammende Geländer der zweiläufigen Treppe, ein Kachelofen von 1783 sowie das Stübli, wo jeweils der Kaplan nächtigte, der laut einer Anordnung von Josue neunmal im Jahr in der Kapelle die Messe lesen musste. Josues Sohn Sebastian machte das Stammhaus der Familie zum unveräusserlichen Fideikomiss, das heute vom Kanton Uri verwaltet wird. 1780 ist mit Johann Balthasar letztmals ein von Beroldingen als Besitzer des Schlösschens erwähnt.


Vogteien Die Eidgenossen, Städte- wie Länderorte, schufen sich eigene Territorialherrschaften. Besonders erfolgreich waren dabei Bern, Zürich, Luzern, Freiburg, Solothurn und Basel, während die Länderorte sich vor allem an der Regierung der Gemeinen Herrschaften beteiligten. Häufig übernahm man die bestehende Ämterorganisation, doch die Verwaltung wurde jetzt nicht mehr von adligen Lehensleuten, sondern von Landvögten und ihren Kanzlisten wahrgenommen. Der Landvogt war Regent, stellvertretend für den landesherrlichen Stadt- oder Länderort. Er stand der gesamten Verwaltung vor und bestellte die lokalen Beamten, so­weit ihn vorhandene, tradierte Freiheitsrechte von Klöstern, Stiften, Gerichtsherrschaf­ten usw. nicht in seiner Amtsgewalt einschränkten. Dem Landvogt oblag die Rechnungsführung der Vogtei sowie deren Finanzverwaltung, im Wesentlichen das Einziehen von Bussen. Je nachdem, über welche Privilegien eine Vogtei verfügte, war der Landvogt auch Richter in Fällen der nie­ deren und hohen Gerichtsbarkeit (z. B. Todesstrafe) und stand dem Landgericht vor. Weiter war er Kommandant des militärischen

Aufgebots der Landvogtei, Vollstrecker obrigkeitlicher Befehle und richterlicher Verfügungen. Die in der unmittelbaren Umgebung einer Stadt gelegenen Vogteien wurden meist von Amtsleuten verwaltet, die ihren Wohnsitz in der Stadt behielten. In den entfernteren Gebieten hingegen residierten die Landvögte auf Burgen und Schlössern, die auch den Herrschaftsmittelpunkt ihrer Vogtei markierten. Einige wenige Städte und Gegenden, wie etwa Zofingen, Aarau, Lausanne, Sursee, Winterthur oder das Haslital im Kanton Bern, waren direkt dem regierenden Ort unterstellt. Die Vögte entstammten in den Stadt- wie in den Länderorten in der Regel dem Patriziat, also der führenden Schicht. Die Amtszeit eines Vogts war befristet und dauerte zwischen zwei und sechs Jahren. Gewählt wurden die Vögte vom Grossen oder Kleinen Rat eines Orts, also von ihren eigenen Familien oder in den Länderorten von der Landsgemeinde. Doch auch in diesen gaben die patrizischen Herren den Ton an. Des Vogts Entgelt bestand meist aus einem Fixum in Form von Geld und Naturalien. Zudem war er an Bussen, Steuern und sonstigen Abgaben

sowie an der Nutzung dessen beteiligt, was die Landwirtschaft seines Amtssitzes hergab. Je nach Vogtei lagen die Einkünfte aus diesem Amt in den meisten Fällen höher als jene aus irgendwelcher Ratstätigkeit und waren damit auch entsprechend attraktiv. Der Ämterkauf war weitverbreitet. Das gilt auch für das Amt des Landvogts. Offensichtlich eine Win-win-Situation : Staat wie Amtsträger profitierten. Die Last trug das Volk, denn der Vogt musste ja irgendwie das Geld wieder eintreiben, das er für seine Vogtei bezahlt hatte. In vielen Vogteien war allerdings nicht der Vogt der entscheidende Mann, sondern sein Stell­vertreter, der Landschreiber, Kanzler usw. Diese Positionen wurden oft über viele Jahre innerhalb einer Familie vererbt, wie zum Beispiel unter den zugerischen Zur­lauben im Freiamt oder den Urner von Beroldingen in Lugano und Mendrisio.

Die Casa dei Landfogti in Lottigna war seit 1501 Sitz des Landvogts im Bleniotal. Es gehörte Uri, Schwyz und Obwalden gemeinsam. Sowohl an der Hausfassade wie im Innern pran­gen die Wappen der Landvögte.

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Auch die Eidgenossen hatten Untertanen

den katholischen Miteigentümern der Gemeinen Herrschaft Thurgau ausgeartet. Hektor von Beroldingen erhielt eine Ent­schädigung von 2200 Gulden, war aber derart verdrossen, dass er Gachnang kurz danach an das Kloster Einsiedeln verkaufte. Einer seiner Söhne, Johann Peregrin, trug nicht zum Ruhm der Familie Beroldingen bei. Er diente zwar dem Stand Uri als Landammann, doch sein Abgang war höchst skandalös. Der Grund : Johann Peregrin von Beroldingen hatte ein Verhältnis mit einer Magd, brachte sie um und wurde zum Tod verurteilt. Das Kloster Engelberg gewährte ihm Asyl, doch Beroldingen floh nach Frankreich. Seither hatte man nie mehr etwas von ihm gehört. Junker Hektor wie auch die Nachkommen Kaspar Konrad und Sebastian von Beroldingen wirkten jeweils als Landeshauptmann, also gewissermassen als Chef der Thurgauer Gerichtsherren und Verhandlungspartner des Landvogts. Zu­dem besassen sie weiterhin die Gerichtsherrschaft Gündelhart, inklusive prächtigem Schloss, Kirche, Pfarrhaus und Landwirtschaftsbetrieb. Beinahe 250 Jahre lang sassen die Beroldingen auf Gündelhart. Letzter Besitzer war der kinderlose Joseph Ignaz. Nach seinem Tod 1868 verkauften die Erben das Anwesen. Inzwischen hatte der Aufstieg der Beroldingen erst so richtig begonnen. Allerdings nicht in der Schweiz : 1802 starb in Uri die Familie aus, und 1940 verschied mit Antonio aus der Tessiner Linie der letzte noch in der Schweiz lebende von Beroldingen. Der Thurgauer Zweig hingegen expandierte erfolgreich weiter, in Österreich, vor allem aber in Württemberg. Bereits der Enkel des erwähnten Kaspar Konrad von Beroldingen, Freiherr Josef Anton Eusebius, brachte es in Wien zum kaiserlichen Hofrat. Dessen Söhne wiederum taten sich besonders hervor. Franz Cölestin erlangte als geologischer Forscher Bekanntheit. Sein Bruder Josef Anton Siegmund war Domherr in den Fürstbistümern Speyer und Hildesheim, ein Förderer von Literatur und Wissenschaft, und galt als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der katholischen Aufklärung im deutschsprachigen Raum, befreundet mit Goethe und dem Zürcher Johann Caspar Lavater. Domherr von Beroldingen wurde 1784 Präsident der Helvetischen Gesellschaft. Die Schweiz wollte er wieder in das Heilige Römische Reich eingliedern. Ein anderer Bruder des Franz Cölestin und des Josef Anton Siegmund hiess Paul Joseph von Beroldingen. Noch in Gündelhart geboren, wurde er von König Friedrich von Württemberg in den Staatsdienst berufen und zum Gesandten am Wiener Hof ernannt. 1800 wurde Paul Joseph in den Reichs­grafenstand erhoben, weshalb die Familie seither den Grafentitel führt. Wie die meisten ihrer Vorfahren nobilitierten

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Schloss Gündelhart liegt auf dem See­rücken unweit Steckborn. Es gehörte während fast 250 Jahren der Urner Familie von Beroldingen.

sich die von Beroldingen zusätzlich durch Heiraten mit adligen Frauen, mit dem gelegentlichen, wohltuenden Nebeneffekt, dass sie in den Besitz von Burgen und Schlössern, Landwirtschafts- und anderen Betrieben kamen. Paul Joseph zum Beispiel, verehelicht mit einer Freiin von Schwarzach und einer Freiin von Grünstein, kam durch Erbgang in den Besitz von Ratzenried, einem opulenten Schloss in der Nähe von Ravensburg. Sein Sohn Joseph Ignaz, letzter Besitzer von Gündelhart, nahm als württembergischer Offizier am Russlandfeldzug von Napoleon teil, war Gesandter seines Landes in London und St. Petersburg, ehe er 1832 zum württembergischen Aussenminister ernannt wurde. In dieser Funktion pflegte er vor allem die Beziehungen zu Bayern und Österreich, führte die Verhandlungen zum Beitritt Württembergs in den Deutschen Zollverein – wichtiger Meilenstein zur Vereinigung der unzähligen Fürstentümer zum deutschen Kaiserreich – und versuchte im Innern Württembergs die harte Politik Metternichs nach dem Wiener Kongress abzumildern. Josef Ignaz von Beroldingen trat 1848 als Aussenminister zurück. Kinder hatte er keine, doch gibt es noch Beroldingen aus den Zweigen seiner Brüder Clemens und Paul. Sie leben in Oregon und Kalifornien, Paraguay und Spanien. 2016 verstarb in Stuttgart Anna Maria Sibylle von Wrangel, geborene Reichsgräfin von Beroldingen. Sie wollte noch einmal vor ihrem Tod das Stammschloss der Familie in Seelisberg besuchen, für dessen Kapelle sie als Kind eine Altardecke gestickt hatte. Die Decke gibt es noch.


Impressum

Autor und Verlag danken für die freundliche Unterstützung durch :

Ein Teil der Interviews, die in diesem Buch zu lesen sind, wurden für eine Serie über den Schweizer Adel geführt, die 2009 unter dem Titel « Ein einig Volk von Herren und Knechten » in der Weltwoche erschien. Für das Buch wurden die Interviews im Austausch mit den Ge­ sprächspartnern à jour gebracht und ergänzt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lektorat : Corinne Hügli, Richterswil Gestaltungsgrundlagen : Matthias Frei, Zürich, und Urs Stuber, Frauenfeld Umschlag, Gestaltung, Satz : frei — büro für gestaltung gmbh, Zürich Lithografie : Thomas Humm, Matzingen Druck, Einband : Kösel, Altusried-Krugzell

ISBN 978-3-03810-334-9 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe AG

© 2018 NZZ Libro, Schwabe AG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikro­verfilmung oder der Vervielfältigung auf ande­ ren Wegen und der Speicherung in Daten­ verarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestim­ mungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwider­ handlungen unterliegen den Strafbestim­mungen des Urheberrechts.



« Seinem Herren geziemend dienen », fordert der Landfriedensvertrag von 1291, später zum Bundesbrief erhoben. Und so war es auch. Während Hunderten von Jahren dienten die Schweizer ihren Herren – den von Reding und Pfyffer, von Diesbach und von Wattenwyl, von Meiss und von Blarer, von Salis oder Zollikofer. Diese und viele andere aristokrati­ sche Familien beherrschten in der Eidge­ nossenschaft und den ihr zugewandten Orten Politik und Wirtschaft, das kulturelle und gesellschaftliche Leben. Das Land war eben keine Volksrepublik von freien Bauern und Handwerkern, die, wie es die Legende erzählt, ab Morgarten die Habsburger und andere böse Vögte vertrieben hatten. Mit dem Einfall der französischen Revolutionsarmee von 1798 ging dieses Ancien Régime der gnädigen Herren zu Ende. Doch deren Familien gibt es noch, oft leben sie nach wie vor in prächtigen Palais und Schlössern. Davon, aber auch über die Rolle adliger Frauen, von Klöstern als Versorgungsanstalten für überzählige Kinder, erfolgreichen Militärunter­ nehmern in fremden Kriegsdiensten, über Adelstitel und andere Herrschaftssymbole er­ zählt Adel in der Schweiz – in unterhalt­­samen Geschichten, exklusiven Gesprächen und unzähligen Anekdoten. Mit Beiträgen von Barbara Franzen und Ruedi Arnold und Fotografien von Vera Bohren

ISBN 978-3-03810-334-9

www.nzz-libro.ch


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