Lucerne Festival (D)

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«Musik wie eine Explosion in meinem Kopf»

«Dona nobis pacem» heisst das Konzert, das Patricia Kopatchinskaja gemeinsam mit den Lucerne Festival Contemporary Leaders entwickelt – einer der Höhepunkte der vierten Ausgabe von Lucerne Festival Forward vom 15. bis 17. November.

Ein Leben in Frieden ist in vielen Regionen der Erde ein ferner Traum. Wie nah der Krieg als elementare Bedrohung auch an Europa heranrücken kann, hat uns der russische Angriff auf die Ukraine leider wieder ins Bewusstsein gerufen. Welche Rolle können Kunst und Musik in einer Zeit grosser Umbrüche spielen, in der so gut wie nichts mehr sicher zu sein scheint?

Der 47-jährigen Geigerin Patricia Kopatchinskaja ist es ein dringendes Anliegen, Musikwerke aus der Gegenwart in eine direkte Beziehung zum Weltgeschehen zu setzen. Unter dem Eindruck der erbitterten Kämpfe in der Ukraine hat sie für die vierte Ausgabe von Lucerne Festival Forward für den dritten Abend am 17. November ein Konzertprogramm entworfen, dessen Titel «Dona nobis pacem» («Gib uns Frieden») die verzweifelte Hoffnung auf Frieden und Erlösung zum Ausdruck bringt. Zur Seite standen ihr dabei die Lucerne Festival Contemporary Leaders, ausgewählte Musikerinnen und Musiker aus dem weltweiten Academy-Netzwerk des Festivals, die unter der Führung von Gesamtleiter Felix Heri und Dramaturg Mark Sattler gemeinsam die Forward-Programme entwickeln. Das Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) ist während der drei Konzerttage in unterschiedlichen Formationen beteiligt.

KKL-Konzertsaal als eine Art Bunker «Das Konzertprogramm zu ‹Dona nobis pacem› spiegelt die tiefe seelische Erschütterung wider, die der Krieg in der Ukraine in mir ausgelöst hat», bekennt Kopatchinskaja, die aus dem angrenzenden Moldawien stammt. Mit ihrer Familie emigrierte sie 1989 aus der damaligen Sowjetunion in den Westen. «Die Menschen, die dortblieben, mussten mitansehen, wie ihre Hoffnung auf Freiheit, Demokratie und den Schutz von Menschenrechten zerstört wurde.»

Wie lässt sich die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Krieg an einem Ort realisieren, wo nur die Wenigsten eine solch existenzielle Bedrohung bereits hautnah erlebt haben? Kopatchinskaja stellt sich den Konzertsaal des KKL in Luzern als eine Art Bunker vor, in dem Musizierende und Publikum gemeinsam Schutz suchen, während draussen die Welt untergeht. «Welche Musik hört man dort? Welche Klänge können trösten? Ich habe Videoaufnahmen von Kindern gesehen, die in Schutzräumen sangen oder Instrumente spielten. Das hat mich sehr bewegt.»

Der Titel des inszenierten Konzerts, bei dem elektronisch generierte Kriegsgeräusche im Hintergrund ertönen, bezieht sich auf Galina Ustwolskajas «Komposition Nr. 1 Dona nobis pacem» aus den Jahren 1970/71. Die in Petrograd, dem heutigen St. Pe-

tersburg, geborene Komponistin entschied sich für die ungewöhnliche Besetzung Piccoloflöte, Tuba und Klavier. Aus der Kombination des höchsten und des tiefsten Blasinstruments entstehen extreme klangliche Gegensätze. Ustwolskajas Musik wirke «wie eine Explosion in meinem Kopf», sagt die Geigerin. Von einer anderen Gewalterfahrung handelt «Rusty Song» des in Lausanne lebenden Komponisten Blaise Ubaldini. Darin geht es um das Schicksal des französischen Leutnants Henri Herduin, der im Ersten Weltkrieg hingerichtet wurde. In einer völlig aussichtslosen Lage hatte er ohne Befehl von oben den Rückzug seiner Kompanie vom Schlachtfeld im französischen Verdun angeordnet. Bevor die Musik erklingt, wird ein berührender Abschiedsbrief Herduins an seine Frau vorgelesen. In eine «kalte und leere Klangwelt» fügt Ubaldini trostspendende Zitate ein, etwa aus dem bekannten «Wiegenlied» von Franz Schubert.

Gefühle zum Ausdruck bringen

Mit Rassismus, Kolonialismus und dem Leid der Afrodiaspora beschäftigt sich hingegen die Britin Hannah Kendall, deren Eltern aus der früheren britischen Kolonie Guyana kommen. In dem Klagelied «Tuxedo: Dust Bowl #3» bringen Mundharmonikaspieler und Sängerinnen Gefühle von «Trauer, Verlust, Vertreibung und Verzweiflung» zum Ausdruck. Für die schwarze Komponistin ist die Mundharmonika das ideale Instrument, um die Ausbeutung von Arbeitern auf Plantagen klanglich fassbar zu machen.

Der als Sohn palästinensischer Eltern nahe Tel Aviv geborene Samir Odeh-Tamimi, der mit 23 Jahren nach Deutschland zog, erinnert in «Li Sabbrá» an das Massaker, das christliche Milizen 1982 an Hunderten Zivilisten in den Palästinenserlagern Sabbrá und Shatila südlich der libanesischen Hauptstadt Beirut verübten. Die Dramatik der Ereignisse wird in der Duo-Besetzung für Schlagzeug und Saxofon intensiv erfahrbar. Die Stücke des Abends, darunter auch ein neues Auftragswerk für Ensemble der aus Donezk stammenden Komponistin Anna Korsun, werden flankiert von Liedern aus der Ukraine, die der Chor des in Luzern ansässigen ukrainischen Kulturzentrums Prostir zu Gehör bringt.

Bei dem zweiten Festivalkonzert mit dem Titel «Schmerz» am 16. November spielt Patricia Kopatchinskaja das aufwühlende, kontrastreiche Violinkonzert des Amerikaners Michael Hersch, das sie selbst in Auftrag gab und dessen ersten Satz sie 2017 bei Lucerne Festival uraufführte. «Es ist ein Stück, das uns durchaus wehtut», mahnt sie. «Wir werden in eine Wunde hineinschauen. Es ist eine Musik, die einem sofort ins Herz hineingeschnitten wird.»

Klanginstallation «Aluminium Forest» Zu den Höhepunkten des langen Wochenendes für Neue Musik zählt auch die Klanginstallation «Aluminium Forest» der amerikanischen Komponisten Katherine Balch und Ted Moore, die in der Peterskapelle – Luzerns ältester Kirche – kostenlos zu erleben ist. In Workshops in der Woche vor dem Festival können Erwachsene und Kinder selbst solche metallenen Windspiele basteln, die dann der Installation hinzugefügt werden. Inmitten des «Aluminium Forest», der durch Motoren und die Bewegungen der Besucher zum Klingen gebracht wird, ist am 15. November beim ersten Festivalkonzert mit dem Titel «Signale» unter anderem Sofia Gubaidulinas 1974 komponiertes Stück «Quattro» für zwei Trompeten und zwei Posaunen zu hören. In Anna Korsuns Werk «Signals» produzieren vierzehn Performer mit Unterstützung von Megafonen apokalyptisch anmutende Klänge, die sich aus Gesängen, Geräuschen und Textfragmenten zusammensetzen. Nach der Schweizer Erstaufführung von Balchs «Responding to the Waves» feiert ihre «Chamber Music» für Kammerorchester am folgenden Abend im KKL ihre Europapremiere. Und in einer Late Night am Samstagabend verknüpft der afroamerikanische Komponist und Multiinstrumentalist Anthony Braxton in seiner «Composition No. 255» experimentellen Jazz und europäische Avantgarde-Musik. Die Amerikanerin Catherine Lamb bietet den Zuhörern in «line/sha-

dow» eine tranceähnliche, hypnotische Hörerfahrung. Die Musikerinnen und Musiker geniessen bei der Aufführung grosse Freiheiten, denn Lamb gibt in ihrer Partitur kaum verbale Spielanweisungen. Das Publikum sitzt hier gemeinsam mit den Musizierenden auf der Bühne und schaut aus einem gänzlich ungewohnten Blickwinkel in den Saal hinein.

An Gross und Klein richtet sich das Familienkonzert «Tubalirum» am Sonntagmorgen im KKL. Die Kuratoren Rachel Koblyakov, Jack Adler-McKean und Noè Rodrigo Gisbert haben ein Programm mit Werken vom Barock bis zur Gegenwart entworfen, in denen sich die Tuba und die Violine begegnen. Dabei werden zwei Uraufführungen der Komponisten Jonas Achermann und Christoph Johannes Pfändler präsentiert – und so findet man auch hier Neue Musik, die den Zeitgeist widerspiegelt.

Lucerne Festival Forward vom 15. bis 17. November

Konzert 1: «Signale»

Fr. 15.11. | 19.30 Uhr | Peterskapelle Luzern, Kirchensaal | Programm: Gubaidulina | Balch | Moore | Korsun

Konzert 2: «Schmerz»

Sa. 16.11. | 18.30 Uhr | KKL Luzern, Konzertsaal | Programm: Kuwabara | Balch | Hersch

Konzert 3: «Trance» (Late Night)

Sa. 16.11. | 22.00 Uhr | KKL Luzern, Konzertsaal | Programm: Lamb | Braxton

Familienkonzert: «Tubalirum»

So. 17.11. | 11.00 Uhr | KKL Luzern, Clubräume 5 – 8 | Programm: diverse Werke

Konzert 4: «Dona nobis pacem»

So. 17.11. | 18.30 Uhr | KKL Luzern, Konzertsaal | Programm: Fišer | Stankowytsch | Ubaldini | Leontovych | Odeh-Tamimi | Hersch | Korsun | Ustwolskaja | Kendall Tickets und Infos: lucernefestival.ch

Dieser Inhalt wurde von NZZ Content Creation im Auftrag von Lucerne Festival erstellt.

Lucerne Festival Forward geht klanglich und visuell neue Wege, so auch beim Konzert im Planetarium des Verkehrshauses der Schweiz vor zwei Jahren. PETER FISCHLI/LUCERNE FESTIVAL
Geigerin Patricia Kopatchinskaja MARCO BORGGREVE

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