LUCERNE FESTIVAL
Sommer voller Neugier
Sommer voller Neugier
Christian Wildhagen Als Adam und Eva in den berüchtigten Apfel bissen, brachten sie sich und uns um das Schönste, ums Paradies Das Lucerne Festival hat dieser verlorenen Utopie 2023 seine Sommerfestspiele gewidmet Ein Jahr später fragt man in Luzern nun nach dem Motiv:Was hat die ersten Menschen eigentlich dazu getrieben, ihren folgenschweren Regelverstoss zu begehen? War es bloss die verlockende Lust, etwas Verbotenes zu tun? Mag sein, man kennt das ja. Aber das eigentliche Motiv ist universellerer Natur, es treibt unsere Spezies von jeher an, sich auf unbekanntes Terrain zu wagen oder den forschenden Blick, metaphorisch gesprochen, in eine dunkle Höhle zu richten. Es ist das Verlangen, «mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte», so hat es Leonardo da Vinci einmal poetisch formuliert.
Im Deutschen wurde diese ureigentümliche Begierde zur «Neugier» domestiziert Deren vielfältige Spielarten will das Lucerne Festival von Mitte August an einen Monat lang in der Musik ergründen.Tatsächlich war Neugier dort, wie in allen Künsten, immer schon die mächtigste Triebfeder der Kreativität. Nur das, was einmal neu war und buchstäblich unerhört, hat Bestand Die blosse Reproduktion bewährter Muster hingegen verfällt über kurz oder lang dem Vergessen; die Musikgeschichte ist ein unbarmherziger Richter Wir sollten das im Auge haben, wenn wir heute darüber diskutieren, ob künstliche Intelligenz eines Tages Meisterwerke auf dem Niveau eines Beethoven oder Wagner komponieren wird
Sie wird es nie können. Denn ihr fehlt trotz immer perfekteren Stilkopien das entscheidende menschliche Motiv: die Lust am Neuen, die etwa Beethoven dazu inspirierte, Konventionen infrage zu stellen und die Formen zu sprengen; die Wagner veranlasste, die über Jahrhunderte gewachsene Harmonik an ihre Grenzen zu treiben und damit den Weg in die Moderne zu ebnen. Auch heutige Komponistinnen und Komponisten begnügen sich im besten Fall nicht mit Wiederholung; wollen sie vor der Zeit bestehen, muss ihr kreativer Geist wie eh und je nach dem nie Dagewesenen, dem So-noch-nicht-Gesagten streben.
Für die Interpreten, aber auch für die Programmmacher im Bereich der klassischen Musik liegt darin eine gewaltige Verpflichtung Schliesslich gilt es, auch bei altbekannten Werken Blick und Ohr für das seinerzeit Unerhörte zu schärfen, durch frische Lesarten, innovative Zugänge und ungewöhnliche Werkfolgen jenes «Wunderbare» neu erfahrbar zu machen. Als Publikum sollten wiederum wir Hörer die Sinne weit öffnen für den Blick in Leonardos geheimnisvolle Höhle Warum nicht einmal einem weniger bekannten Komponisten lauschen oder einem als sperrig verschrienen Werk? Wir könnten uns einlassen auf gerade erst entstandene Musik oder auf bewährte Lieblingsstücke in neuer Interpretation. Eben darauf wollen wir Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mit diesem NZZ-Schwerpunkt zum Lucerne Festival ein bisschen neugierig machen.
Es ist ein Allerweltsgefühl, doch Neugier kann in der Musik unerwartete Wirkungen haben. Welche davon am diesjährigen Lucerne Festival zu erleben sind, verrät der Intendant Michael Haefliger im Gespräch mit Christian Wildhagen.
Herr Haefliger, das Sommermotto Ihres Festivals ist ein kurioses Wort, zusammengesetzt aus den Begriffen «Neu» und «Gier» Grundsätzlich: Was verstehen Sie darunter?
Es ist tatsächlich genau das: die Gier nach Neuem. Ein oft zunächst noch kaum reflektiertes Gefühl, eine Leidenschaft.Aber schon beginnen die Fragen: Was ist überhaupt neu? Wie kreiert man Neues? Wie verändert man Dinge? Wie stellt man sie vielleicht sogar auf den Kopf? Und ist das, was man für neuartig hält, am Ende wirklich neu? In der Musik wurde diese Frage zu allen Zeiten gestellt, denken Sie nur an die wilden Diskussionen in der Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg, die zum Teil sehr dogmatisch ausgetragen wurden.Aber dahinter steht eine grundsätzliche Debatte, die in allen Künsten und in vielen gesellschaftlichen Bereichen geführt wird.
Und was hat es mit dem seltsamen Bestandteil der Gier auf sich? Das ist das Bedürfnis, nicht im Alten zu verharren, die Furcht, zu traditionell zu sein, zu routiniert Darauf zielt dann ja oft die Kritik ab: Da passiert nichts mehr, da gibt es keine Innovationen. Sich damit auseinanderzusetzen, ist ein zentraler Bestandteil der Debatte
Gilt der Glaube an das Neue noch uneingeschränkt? Oder gibt es inzwischen nicht auch eine immer stärkere Gegenbewegung, Altes und Bewährtes festzuhalten – weil gesellschaftlich so vieles ins Rutschen gekommen ist?
Keine Frage: Die Gesellschaft braucht eine gewisse Stabilität. Viele Menschen haben Angst davor, ihre Sicherheiten zu verlieren. Es geht dabei um soziale Aspekte, um Anstellungsverhältnisse, sogar um kulturelle Werte, die mittlerweile infrage gestellt werden. Man darf diese Sorgen nicht ignorieren. In der Musik geht es aber von jeher darum, das Erreichte weiterzuführen, manchmal auch disruptiv, jedenfalls ohne Angst vor Veränderungen.
Muss ich unbedingt neugierig sein, wenn ich an ein Konzert gehe? Kann ich mich nicht einfach unterhalten und vom Alltag ablenken lassen?
Wie man Musik rezipiert, ist jedem freigestellt. Ich persönlich kann Musik nicht einfach zum Vergnügen hören Ich beginne fast automatisch zu beurteilen: Ist es gut, was ich da höre? Warum gefällt mir eine Interpretation? Kann man das so machen? Mich leitet dabei tatsächlich immer die Neugier Worauf genau? Das kommt auf den Anlass an. Als ich mir neulich in Zürich Roman Haubenstock-Ramatis Kafka-Oper «Amerika» angeschaut habe, ging es beispielsweise zuerst um das Stück selbst, das ja überhaupt erst zwei oder drei Mal aufgeführt wurde. Dann um die musikalische Umsetzung und um die Inszenierung also die Wirkung auf der Bühne Als ich über Ostern im Münchner «Parsifal» war, haben mich besonders die Sänger und das szenische Konzept des Malers Georg Baselitz interessiert, aber auch die Frage der Tempi, denn bei kaum einem anderen Stück gibt es zwischen der längsten und der kürzesten gültigen Interpretation eine Spannweite von 70 Minuten Die schnellste stammt übri-
gens von Pierre Boulez, dem Gründer unserer Festival Academy
Das sind allerdings Schmankerl für Profis und Eingeweihte. Was macht Sie bei Aufführungen von Sinfonien oder Konzerten, die Sie schon Dutzende Male gehört haben, weiterhin neugierig? Wenn es weder eine Premiere noch eine Uraufführung ist, liegt der Fokus ganz klar auf der Interpretation. Ist eine Lesart eigenständig profiliert? Ist sie stimmig? Verfolgt sie vielleicht sogar einen neuartigen Ansatz? Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: Wenn ein so gestandener Dirigent wie Herbert Blomstedt Bruckner dirigiert meint man ungefähr zu wissen, was man bekommt, nämlich eine in jeder Hinsicht ausgewogene Interpretation auf höchstem Niveau Bei solchen Künstlern bin ich neugierig, wie sie es dann im Moment des Konzerts schaffen, nochmals in eine andere Dimension vorzudringen, sodass es ein ganz grosser Abend wird.
Wie viel Vorbildung und Hörerfahrung braucht man, um diesen besonderen Reiz wahrzunehmen?
Es hilft natürlich, wenn man die Musik eines Komponisten vorher schon ein bisschen hört. Man kann auch die Vita lesen hört sich vielleicht noch zwei drei andere Werke an um ein Gespür für den Stil und den Background zu bekommen. Alle diese Informationen und Werkbeispiele sind heutzutage nur einen Mausklick entfernt. Aber wenn es eine wirklich überwältigende Aufführung ist, wirkt grosse Musik auch ohne alles Vorwissen
Wie erreichen Sie dass das Interesse bei den Hörern nicht gleich wieder verfliegt? Neugier ist ein flüchtiges Gefühl. Der Mensch sucht immer die Sensation Also irgendetwas, das es so kein zweites Mal gibt. Deshalb ist man heute in der Kommunikation, gerade im Festivalbetrieb, viel mehr darauf fokussiert, zu sagen warum ein Konzert oder eine Darbietung einzigartig ist oder werden kann. Das ist eine Herausforderung, da sich der klassische Musikbetrieb per se stark über die Vergangenheit definiert und das gängige Repertoire im Tourneebetrieb der Orchester leider arg überschaubar ist Also überlegen wir uns immer wieder: Was ist neu und wie können wir das dem Publikum schmackhaft machen? Immer wichtiger wird dabei digitaler Content auf der Website und auf den Social-MediaKanälen, nicht zuletzt für die Wissensvermittlung, da man heute nicht mehr voraussetzen kann, dass alle sofort wissen, warum ein Werk, eine Interpretin oder ein Programmkonzept besonders hörenswert sind
Trotzdem füllen Sie, streng genommen, alten Wein in neue Schläuche In diesem Jahr eröffnen wir das Festival mit zeitgenössischer Musik, mit einem neuen Werk von Lisa Streich. Da bekommen Sie ganz frischen Wein Mit dieser Uraufführung feiern wir zugleich das 20-jährige Bestehen der Lucerne Festival Academy Dieses Jubiläum steht besonders im Mittelpunkt, denn die Academy ist unser Herzensanliegen. Wir können hier mit hochkarätigen Talenten die zeitgenössische Musik in einer Art und Weise pflegen und auch vorantreiben, wie das sonst nur Spezialfestivals für neue Musik können
Weil sich das Lucerne Festival aber entscheidend über den Kartenverkauf finanziert, haben Sie immer auch viele altbekannte Werke im Programm. Was soll mich da neugierig machen? Das war exemplarisch am Frühjahrsfestival zu erleben: Da haben zwei führende Dirigenten mit dem Lucerne Festival Orchestra Beethoven-Sinfonien aufgeführt. An sich nichts Neues, klar Aber Riccardo Chailly und Pablo Heras-Casado haben diese Musik so unterschiedlich interpretiert, dass noch Tage danach darüber diskutiert wurde, wer denn der Bessere gewesen sei. Bei uns daheim hing deswegen beinahe der Haussegen schief, auch Sie haben ja in der NZZ mitdiskutiert. Für mich ist das der ideale Fall, wie ein Festival selbst bei Standardwerken Interesse wecken kann: indem man die Besten der Besten bittet, sich mit diesen unerschöpflichen Meisterwerken neu auseinanderzusetzen.
Sie bürden damit die Aufgabe, die Menschen immer aufs Neue für klassische Werke zu begeistern, den Interpreten auf Heisst das, nicht nur das Publikum muss neugierig sein, sondern auch jeder einzelne Musiker, jeder Dirigent sollte sich sein Berufsleben lang die Neugier bewahren?
«Bei einer überwältigenden Aufführung wirkt grosse Musik auch ohne Vorwissen.»
Das hoffe ich, ja. Neugier ist auch ein Gegenmittel gegen die Routine In Luzern wiederholen wir deshalb beim Festivalorchester keine Programme mehr Auch in der übrigen Agenda gleicht nie ein Konzerttag dem anderen. Als Festival müssen wir da einen exklusiveren Anspruch haben als Veranstalter von Tournee- oder Abo-Konzerten, die zwangsläufig mehrmals erklingen. Dennoch dürften die Spitzenmusiker des Festivalorchesters selbst bei Mahlers 7. Sinfonie, mit der Sie eröffnen, nicht mehr neugierig sein auf den Notentext. Der ist teuflisch schwer doch den haben sie eingeübt und wahrscheinlich schon mit mehreren Dirigenten gespielt. Was ermöglicht ihnen trotzdem einen frischen Zugang? Da geht es zunächst entscheidend um die Ideen und Impulse, die der Dirigent dem Orchester vermittelt: Wie fasst der Mann oder die Frau am Pult das Werk auf? Kann ich mich damit identifizieren? Gefällt mir das? Dann geht es ebenso um das Zusammenspiel im Ensemble: Wie funktioniert es in der Gruppe, kann ich mich selbst voll einbringen und so weiter Das ist eine andere Art von Neugier als die, die ich habe wenn ich ein komplett neues Werk erarbeiten muss also etwa die Uraufführung von Lisa Streich. Eine Metaform der Neugier.
Glauben Sie, das Publikum spürt, wenn Interpreten selbst neugierig sind? Ist Neugier ansteckend?
Absolut! Gerade bei Uraufführungen, wenn ein Werk erstmals öffentlich erklingt, kann man dieses Mitfiebern vor und auf der Bühne spüren Aber auch bei Künstlern und Ensembles, die ihr Festivaldebüt im KKL geben. Oder bei Konzerten, die bereits durch die beteiligten Interpreten oder die äusseren Umstände eine besondere Aura besitzen, etwa die Aufführung einer Chorsinfonie von Mahler Als Claudio Abbado früher noch Programme mit dem Festivalorchester mehrmals dirigiert hatte, war der Vergleich aufschlussreich: Die Konzerte waren nie gleich, die Spannung –aber auch die Anspannung – war beim ersten Abend grösser; dafür war der zweite Abend technisch fast immer noch sicherer, ohne dass man schon von Routine reden konnte In solchen Fällen ver-
spüren Musiker vermutlich selbst eine gewisse Neugier, wie sich ein Konzertprogramm entwickelt.
Und welche Rolle spielt sie bei Komponisten? Ich kann mir Mozart leicht als wissbegierigen, experimentierfreudigen Menschen vorstellen, Bruckner dagegen weniger Irre ich mich? Mozart hatte halt diese Leichtigkeit des Schreibens In anderer Form gibt es das heute bei Wolfgang Rihm, bei dem jedes Werk eine Expedition ins Offene ist, eine Art komponierte Welterkundung Bei Bruckner, bei Beethoven und vielen anderen spürt man mehr das Ringen mit dem Material, auch Unsicherheiten und gelegentlich Unzufriedenheit. Aber das entspringt ja immer der Suche nach dem Eigentlichen und dem Eigenen. Das ist noch eine Form von Neugier: die Suche nach sich selbst.
War der epochale Übertritt in die Atonalität, den Arnold Schönberg um 1910 fast parallel zum Aufkommen der abstrakten Malerei vollzog, ebenfalls ein Akt der Neugier? Schönberg selbst hat es als Notwendigkeit dargestellt Wir spielen anlässlich seines 150. Geburtstags und zum Abschluss des Sommerfestivals die «Gurre-Lieder» Die gelten eigentlich als Hauptwerk seines frühen tonalen Schaffens im Geiste der Spätromantik; die irrsinnig aufwendige Orchestrierung wurde aber erst nach dem Aufbruch ins Neue fertiggestellt Und man hört das: wie er immer fortschrittlicher wird, sich immer weiter vorwagt. Da wird der Übergang in die Moderne organisch zelebriert.
Eine neugierige Frage zum Schluss: Sie hören Ende 2025 auf eigenen Wunsch als Intendant in Luzern auf – was darf man für Ihre letzte Saison erwarten? Da müssen Sie sich noch etwas gedulden. Aber für mich persönlich kann ich sagen, ich verstehe die Rolle des Intendanten ein bisschen so wie die des Wanderers in Wagners «Ring»: Er ist eine Zeit dabei und dann wieder weg Er kommt nie dauerhaft irgendwo an, das Festival geht weiter Wir werden über das Erreichte nachdenken, aber auch nach vorne schauen. Im Sinne einer Öffnung wie bei einem Doppelpunkt: Das ist der Duktus für das Finale
In diesem Sommer feiert die Lucerne Festival Academy ihr zwanzigjähriges Bestehen. Doch ausruhen kann sich diese Talentschmiede auf dem Erreichten nicht. Aber das wollte sie noch nie.
MARCO FREI
Vom Aphoristiker Thom Renzie
stammt der schlaue Spruch, wonach Visionen das «Archiv der Zukunft» seien. «Vision heisst, dass die Zukunft der Gegenwart ihre Visitenkarte in die Hand drückt», präzisierte Renzie Auf die Lucerne Festival Academy trifft das zu. Was da geboren wurde, ist in dieser Form singulär: Seit zwanzig Jahren werden hier junge Nachwuchskräfte Dirigenten und Komponisten in der Musik des 20. und 21 Jahrhunderts unterwiesen. Kein anderes führendes Festival leistet sich in derartigem Umfang eine solche Talentschmiede Ein Blick zurück und voraus
Die Geburt einer Vision
Pierre Boulez musste nicht lange überzeugt werden.Für ihn war sofort klar,dass mit der Lucerne Festival Academy etwas Grosses entstehen könnte Der bedeutende Komponist und Dirigent ist bereits in seinen späten Siebzigern, als er vom Luzerner Intendanten Michael Haefliger angesprochen wird. Haefliger hat einen besonderen Trumpf in der Hand, und das ist Claudio Abbado Abbado und Boulez schätzen einander und sind befreundet, mehr noch: Sie sind Seelen- und Geistesverwandte Beide glauben an ein Miteinander, ein Musizieren auf Augenhöhe Eine Akademie für zeitgenössische Musik auf der Grundlage dieser Geisteshaltung erscheint als Entsprechung zu Abbados Arbeit mit dem Lucerne Festival Orchestra (LFO) folgerichtig.
Ein Pilotprojekt wird 2003 durchgeführt, parallel zum offiziellen Start des LFO Mit zwanzig Jungtalenten studiert Boulez kleinbesetzte Werke ein Auch ein «Composer Project» wird im Rahmen des neuen Projekts angesetzt. Aus dem «Composer Project» werden ab 2013 die «Roche Young Commissions» 2004 geht es richtig los mit der Akademie – samt eigenem grossem Orchester, Proben und Sessions in allen Sparten Viele illustre Persönlichkeiten mischen fortan mit, nicht zuletzt die jeweiligen «Composer-in-Residence». Besondere Verdienste um die Luzerner Akademie hat nicht zuletzt der im März verstorbene Komponist und Dirigent Péter Eötvös Als Boulez 2016 stirbt, übernimmt Wolfgang Rihm die künstlerische Gesamtleitung der Akademie und der Komponistenausbildung. Aus dem Dreigestirn von Dirigieren, Komponieren und Instrumentalpraxis ist ein einzigartiges Weiter- und Ausbildungsprogramm erwachsen – und ein internationales Netzwerk, von dem die Akademisten profitieren
Weiterentwicklung
Mit der 2019 angekündigten Neuausrichtung des Lucerne Festival wird auch das Profil der Akademie geschärft Die Akademie wie auch alle ihre Aktivitäten, Initiativen und Klangkörper werden in der «Contemporary»-Schiene gebündelt und weiterentwickelt «Come
close and move forward together», lautet fortan das Motto. Hierfür stehen das Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) hervorgegangen aus dem Orchester der Academy, sowie seit 2021 das alljährlich im November stattfindende Forward-Festival Beide sind die Früchte von zwanzig Jahren Aufbauarbeit im Rahmen der Akademie Unter den aktiven und ehemaligen Mitgliedern der Akademie, einem weltweiten Netzwerk von inzwischen 1500 Alumni, startet im Frühjahr 2021 eine Ausschreibung; gleichzeitig wird ein 18-köpfiges Kuratorenteam berufen. Gemeinsam stemmt man das erste Forward-Festival, unter der Leitung von Felix Heri und Mark Sattler vom Lucerne Festival vor Ort Mit den «Contemporary Leaders» wird überdies eine Gruppe von ehemaligen Akademisten ausgewählt, die alljährlich im Sommer beim Coaching sowie bei der Vermittlung und Betreuung der Akademisten helfen. Das Ergebnis spricht für sich: Schon in seinem ersten Jahr wird das LFCO zu den Donaueschinger Musiktagen eingeladen, dem traditionsreichsten Podium für zeitgenössische Musik.
Eine ertragreiche Kooperation
In diesem Sommer feiert auch die Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA) ihr 20-jähriges Jubiläum Auch diese Einrichtung ist singulär Jedenfalls hat kein anderer Klangkörper der zeitgenössischen Musik seine Ausbildungsund Vermittlungsaktivitäten derart institutionalisiert wie das 1980 in Frankfurt am Main gegründete Ensemble Modern: nämlich in Gestalt eines eingetragenen Vereins. Er wurde 2003 gegründet und ist wirtschaftlich unabhängig Seit drei Jahren kooperieren die IEMA und die Luzerner Akademie miteinander
Für beide Seiten ist dies eine Winwin-Situation, nicht zuletzt für den Musiknachwuchs Die Frankfurter Studierenden reisen als IEMA-Ensemble nach Luzern und stellen dort den Klangkörper für das «Composer Seminar» von Wolfgang Rihm und Dieter Ammann Für die IEMAGeschäftsführerin Christiane Engelbrecht ist dies eine «zusätzliche Kompetenzvermittlung», weil schöpferische Entstehungsprozesse hautnah miterlebt werden.Auch beim Luzerner «Conducting Program» bekommen die Frankfurter Studierenden wertvolle Eindrücke vermittelt und können sich weiter vernetzen. Zudem präsentieren sie sich am Lucerne Festival mit einem eigenen Konzert im Rahmen der beliebten 40min-Reihe
Eine Jury des Ensemble Modern wählt ausserdem unter den am Composer-Seminar erarbeiteten Stücken vier oder fünf Werke aus, die dann in Frankfurt nochmals aufgeführt werden: vom Ensemble Modern, im Rahmen seiner renommierten «Happy New Ears»-Konzerts Für die jungen Komponisten bedeutet dies einen «Ritterschlag» durch ein weltweit führendes Spezial-Ensemble für neue Musik. Diese erfreuliche Kooperation soll auch nach Auslaufen einer dreijährigen Förderung durch eine Stiftung fortgeführt werden.
Erfolgsgeschichten
Viele bekannte Persönlichkeiten sind durch die Luzerner Schule gegangen. Dazu zählen Dirigenten wie Pablo Heras-Casado, Kevin John Edusei, Johanna Malangré, Verena Schwarz oder Mariano Chiacchiarini. Erst im vorigen Jahr machte Heras-Casado Furore als er bei den Bayreuther WagnerFestspielen mit «Parsifal» debütierte Seine hellhörige, glasklare, farbenreich
entschlackte Lesart machte auch deutlich, wie sehr ihn sein Luzerner Lehrmeister Pierre Boulez geprägt hat. Etliche Ensembles haben sich in Luzern gegründet, so 2005 das Jack Quartet. Helmut Lachenmann war auf die Musiker aufmerksam geworden und hatte sie für Luzern empfohlen. Hier nahmen sie an einem Meisterkurs mit Walter Levin vom LaSalle String Quartet teil und blieben nach dem Ende der Akademie als feste Formation zusammen. Übrigens hat auch die Karriere des bekannten Trompeters Simon Höfele hier ihren Ursprung, er mischt im Jubeljahr genauso mit Unter den Absolventen sticht nicht zuletzt Lisa Streich heraus: Neben Beat Furrer ist sie in diesem Jahr Composerin-Residence des Festivals Ihre Laufbahn begann in Luzern mit einem ersten grossen Orchesterauftrag, nachdem sie sich 2015 für die «Roche Young Commissions» beworben hatte. Wolfgang Rihm hat sie entdeckt und gefördert Die Akademie war hilfreich, um einen Verlag zu finden und weitere Aufträge zu akquirieren. Zuletzt haben die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko 2023 Streichs «Ishjärta» uraufgeführt. Das Orchesterwerk erklingt auch im Rahmen ihrer Luzerner Residenz.
Bleibende Momente
Eine Spezialität der Academy ist die Pflege von Werken, die man sonst selten oder gar nicht hört, weil sie zu aufwendig sind. Schon deswegen ist die Geschichte der Akademie reich an unvergesslichen Augenblicken. Wo sonst erlebt man etwa Mathias Spahlingers hochkomplexes Schlüsselwerk «passage/ paysage» von 1988/90? Im vorigen Jahr hat es der Residenz-Komponist Enno Poppe dirigiert. Bereits 2005 dirigierte
Pierre Boulez zu seinem 80 Geburtstag die Orchesterfassung seiner «Notations I-IV + VII»:Wie der Grandseigneur der Avantgarde mit den Jungtalenten arbeitete das war eine Sternstunde. Und die vollständige Aufführung von Friedrich Cerhas «Spiegel I-IV» im Jahr 2017 klingt bis heute genauso nach wie die zweimalige Einstudierung von Stockhausens «Gruppen» für drei Orchester in den Jahren 2007 und 2018 Im Jahr 2007 war Péter Eötvös Residenz-Komponist in Luzern, und in diesem Rahmen wurde sein Violinkonzert «Seven» uraufgeführt. Unvergessen die Aufführung 2018 von Stockhausens «Inori» unter Eötvös, wofür auch eigens Tänzer ausgebildet wurden. Zu den überwältigenden Aha-Erlebnissen zählt zudem die Schweizer Erstaufführung des Orchesterwerks «Sub-Kontur» von Rihm vor zwei Jahren unter Sylvain Cambreling Mit der hochexpressiven Ausdrucksdichte hatte Rihm in den 1970er Jahren die Gemüter erhitzt.
Weichenstellungen
Ende 2025 steht am Lucerne Festival ein Intendantenwechsel an. Gut zu wissen, dass der Fortbestand der hauseigenen Institutionen, darunter das Festivalorchester und die Academy, klar zum Stellenprofil gehört. Noch besser zu hören, dass Sebastian Nordmann, der designierte Nachfolger Michael Haefligers, die Akademie nicht nur wertschätzt, sondern deren Entwicklung vorantreiben möchte Eine zentrale Aufgabe wird dabei sein, die Relevanz und Sichtbarkeit der Akademie stetig zu steigern. Auch die internationalen Gastspiele des Lucerne Festival Contemporary Orchestra liessen sich weiter ausbauen. Auch das Ausbildungsprogramm selbst steht vor Weichenstellungen Eine reine Metier-Ausbildung für Instrumentalisten, Komponisten und Dirigenten scheint jedenfalls nicht mehr zeitgemäss Als die Akademie vor zwanzig Jahren gegründet wurde, war die Pflege der Moderne und der Einsatz für die Gegenwartsmusik eine Selbstverständlichkeit. Heute muss die Akademie dieses Anliegen verteidigen und selbstbewusst kommunizieren. Denn der gesellschaftliche Konsens, dass jede Zeit ihre eigene Kunst braucht, scheint zu wanken. Gleichzeitig wird an den Schulen der Kreativ- und Musikunterricht weiter reduziert. Auch hier muss die Akademie gegensteuern Es gibt bereits Education-Angebote für Schulen und Kindergärten, etwa am Forward-Festival; nötig scheint aber eine Intensivierung und Verstetigung dieser Angebote Hierzu braucht es ein ähnlich breit aufgestelltes Netzwerk, wie es die Akademie mit Hochschulen und Konservatorien bereits unterhält Überdies sollten auch die Akademisten gezielt in Musikvermittlung geschult werden. Mit anderen Worten: Die Lucerne Festival Academy muss in den kommenden Jahren das Publikum von morgen im Blick haben.
Das Lucerne Festival Orchestra arbeitet in diesem Sommer gleich mit drei sehr unterschiedlichen Dirigenten zusammen: mit Riccardo Chailly, Klaus Mäkelä und Yannick Nézet-Séguin. Und wenn es sein muss, spielt es sogar ohne.
WOLFGANG STÄHR
Neugier, die über bestimmte Grenzen hinausgetrieben wird, erfüllt den Tatbestand der Indiskretion, sie gilt in vielen Fällen als verpönt. Als Entdeckerfreude aber kommt diese grenzüberschreitende Form der Neugier mitunter einem Lebenselixier gleich. Als Riccardo Chailly in seiner Kindheit eine Mahler-Sinfonie hörte, die Erste, war das Leben danach für ihn nicht mehr dasselbe: «Nach diesem einschneidenden Hörerlebnis überfiel mich eine unstillbare Neugier: Ich wollte alles von diesem Komponisten wissen, wer er war, woher er kam, was er sonst noch komponiert hatte Aber damals, in den frühen 1960er Jahren, gab es nur wenige Platteneinspielungen seiner Werke, geschweige denn Biografien.»
Der Mangel stachelte seinen Forscherdrang und seine Sehnsucht nach Mahlers Musik nur umso stärker an: Er suchte und fand historische Aufnahmen mit Oskar Fried, Bruno Walter, Willem Mengelberg oder Jascha Horenstein; konnte in seiner Heimatstadt Mailand aber auch Gastspiele der Wiener Philharmoniker mit Leonard Bernstein erleben: «Unvergesslich ist für mich die Erinnerung an die Siebte.» Dass sich diese frühe Leidenschaft zur künstlerischen Berufung klärte, verdankt Chailly seiner Zeit als Assistent bei Claudio Abbado an der Mailänder Scala: «Abbado war für mich ein Lehrmeister sondergleichen. Eine solche Klasse, dazu eine Treue zum Notentext und Eleganz bei der Verwandlung von Noten in Klänge habe ich selten erlebt. Und dabei büsste seine Darbietung nichts an Expressivität und dramatischer Intensität ein.» Chailly zählt seinen Landsmann und Lehrer denn auch «zu den grössten Mahler-Interpreten». Der rettende Einfall
Seit 2016 leitet Chailly das Lucerne Festival Orchestra (LFO). Seine Ära als Chefdirigent eröffnete er mit Mahlers Achter
und beschloss damit zugleich den Sinfonienzyklus, den Abbado, der Gründer des LFO, unvollendet gelassen hatte Das war ein wunderbares Symbol der Nachfolge – und gleichzeitig Ausdruck von Dankbarkeit und Anhänglichkeit. Es beflügelte aber auch eine andere Art Neugier: nämlich danach wie die Geschichte weitergeht. «Im Laufe der Zeit ist mir klar geworden», verrät Chailly, «dass alle Mahler-Sinfonien zusammen eine umfassende Einheit bilden, bei der man in einer Sinfonie immer schon die Saat der nächsten finden kann.Vielleicht liegt gerade darin der Schlüssel zur Interpretation der Anfänge, die so unterschiedlich sind wie eigentlich nur bei Beethoven.» Mahler habe gewusst, «wie sehr der Charakter einer ganzen Sinfonie von ihrem Anfang bestimmt wird». Zur festlichen Eröffnung des diesjährigen «Neugier»-Festivals am 16 August dirigiert Chailly Mahlers 7. Sinfonie, deren Anfang den Komponisten schier zur Verzweiflung trieb. Bis ihm der rettende Einfall bei einer Bootsfahrt kam: ein Geschenk nicht des Himmels, sondern des Wassers. Mahler war aus Wien zu seiner Familie an den Wörthersee gereist, quälte sich dort «bis zum Trüb-
sinn» mit seinen Entwürfen – doch umsonst Nach wenigen Tagen schon nahm er Reissaus und floh in die Dolomiten: «Dort derselbe Tanz, und endlich gab ich es auf, und fuhr nach Haus mit der Überzeugung, dass der Sommer verloren sein würde.» Mahler kehrte in sein Feriendomizil am Wörthersee zurück er bestieg ein Boot, das ihn zu seiner Sommervilla bringen sollte, und da geschah es: «Beim ersten Ruderschlag fiel mir das Thema (oder mehr der Rhythmus und die Art) der Einleitung zum 1. Satze ein – und in vier Wochen war 1., 3. und 5. Satz fix und fertig!» Chailly erzählt, er habe einmal eine Probe zur Siebten mit dieser Vorgeschichte begonnen und damals die Musikerinnen und Musiker gebeten, die Geste des Ruderschlags nachzuahmen.
Jung-Genies
Zu den Paradoxien des Musiklebens gehört, dass ein Komponist extrem populär, sein Schaffen aber weithin unbekannt sein kann. So etwa Sergei Rachmaninow, dessen Klaviersonaten, Préludes oder Études-tableaux erst in jüngerer Zeit als eine seismografische, phantastische und abgründige Kunst entdeckt und in ihrer Modernität verstanden werden. Riccardo Chailly bewundert ihn nicht allein für seine hinreissenden Melodien, er schwärmt vor allem für Rachmaninows harmonische Originalität: «Man braucht nur drei Akkorde zu hören und erkennt sofort seine schöpferische Genialität, man taucht quasi ein in ein neues Klanguniversum.» In Luzern, nur eine Bootspartie entfernt von Rachmaninows Villa Senar in Hertenstein, erfüllt sich Chailly seit 2019 den Traum einer Gesamtaufführung der Sinfonien und der Klavierkonzerte des russischen Emigranten. Am 20. August wird er mit dem Lucerne Festival Orchestra an einem einzigen Abend ein ganzes Menschenleben nachzeichnen. Einerseits setzt er Rachmaninows frühestes erhaltenes
Mäkelä wird am 17August sein Debüt mit dem LFO geben und neben Schumanns Zweiter Mendelssohns dunkelromantische «Hebriden»-Ouvertüre und Edvard Griegs Klavierkonzert dirigieren, mit Griegs Landsmann Leif Ove Andsnes als Solisten. In Norwegen kennt sich Mäkelä aus er leitet seit 2020 das Philharmonische Orchester von Oslo Obendrein ist er seit 2021 Chef des Orchestre de Paris. Und in ein paar Jahren wird er sowohl Chefdirigent des ConcertgebouworkestAmsterdam und Musikdirektor des Chicago Symphony Orchestra sein. Auf der Suche nach seinem Erfolgsgeheimnis erkennt man in dem erst 28 Jahre alten Shootingstar einen sympathisch kollegialen Künstlertypus: «Am liebsten habe ich es, wenn so eine Art Pingpong entsteht. Ich mache einen Vorschlag, die Musikerinnen und Musiker nehmen ihn auf und geben mir etwas zurück, und dann bin ich wieder dran Das ist ein wunderschönes Spiel. Und man sollte nicht so viel erklären. Je weniger man spricht und je mehr man zeigt, desto besser.»
Orchesterwerk, das Scherzo in d-Moll des Vierzehnjährigen, und dazu den einzigen Satz einer im Übrigen «verschollenen» Jugendsinfonie auf das Programm; andererseits die «Sinfonischen Tänze», Rachmaninows Opus ultimum aus dem amerikanischen Exil, sein Vermächtnis und Glaubensbekenntnis «Dank sei Gott», schrieb er ans Ende der Partitur So jung wie der Komponist des d-Moll-Scherzos war auch der russische Pianist Alexander Malofeev, als ihn Chailly zum ersten Mal erlebte – «und ich war verblüfft von seinem Talent. Denn er ist mehr als ein blosses Wunderkind: Obwohl sehr jung besitzt er nicht nur technische Meisterschaft, sondern musikalische Reife.» Bereits vor fünf Jahren ging Malofeev mit dem Lucerne Festival Orchestra auf Tournee Jetzt wird er in Luzern Rachmaninows 1. Klavierkonzert spielen, eine Komposition aus dem Jahr 1891, die Rachmaninow jedoch 1917 umarbeitete mitten im revolutionär bewegten Oktober «ohne mich um das Geknatter der Maschinengewehre zu kümmern» Wenige Wochen später jedoch verliess er Russland – eine Reise ohne Wiederkehr.
Pingpong-Musizieren
Ausserdem stehen beim Lucerne Festival Orchestra in diesem Sommer zwei Werke aus dem Hause Schumann auf den Pulten: Roberts C-Dur-Sinfonie und Claras a-Moll-Konzert. Mit ihren psychologischen Wechselfällen, der eigensinnigen Mischung aus exzentrischen, spleenigen, barockisierenden und träumerischen Momenten bleibt Roberts Sinfonie ein unerschöpfliches Faszinosum, buchstäblich eine Lebensaufgabe. Aber gerade darin liegt das Abenteuer der Neugier: «Stellen Sie sich das vor: Jeden Tag an den grössten Meisterwerken feilen, in denen man immer wieder etwas Neues entdecken kann. Das macht das Leben doch wahnsinnig reich, gibt ihm Tiefe», begeistert sich der finnische Dirigent Klaus Mäkelä
Lauter junge, neugierige Leute: heute Alexander Malofeev, Klaus Mäkelä, einst Rachmaninow – und Clara Schumann, seinerzeit noch Clara Wieck, die ihr ganzes Leben vor sich hatte, als sie mit vierzehn Jahren ihr Klavierkonzert zu schreiben begann «Es ist schade, dass Clara nicht mehr komponiert hat. Dennoch hat sie quasi meinen Job erfunden», bedankt sich die italienische Virtuosin Beatrice Rana bei ihrer legendären Vorgängerin. «Sie war Konzertpianistin, als eine solche Karriere für Frauen eigentlich noch undenkbar war.» Rana hat Clara Schumanns Konzert bereits bei den Berliner Philharmonikern gespielt und mit dem Chamber Orchestra of Europe aufgenommen – immer zusammen mit Yannick Nézet-Séguin. «Leider fielen diese avantgardistischen Frauen in der damaligen Gesellschaft aus dem Rahmen», bedauert der kanadische Dirigent, «aber glücklicherweise haben sie Mut bewiesen und sich nicht unterkriegen lassen.» Und Beatrice Rana weiss jetzt aus eigener Erfahrung, dass Claras Konzert sogar noch schwieriger zu spielen ist als das ihres späteren Mannes Robert: «Es ist richtig schwer! Man merkt sofort, dass es von jemandem komponiert wurde, der die Klaviatur völlig mühelos beherrschte Und ich finde dass Claras starke Persönlichkeit in ihrem Konzert durchscheint, das Klavier ist allgegenwärtig.» Rana und Nézet-Séguin werden dieses Klavierwunderwerk am 24 August erstmals mit dem LFO aufführen.
Mit und ohne Dirigenten Dann folgt, nach einer Pause von einem halben Jahrhundert (musikhistorisch gesprochen), Anton Bruckners 7. Sinfonie «Ich liebe alle seine Sinfonien, aber die Siebte ist bestimmt die beliebteste Sie hat eine sehr menschliche Seite», bekennt Nézet-Séguin. «Alles fliesst permanent ineinander: Kirche, Stadt und Land. Es geht um den betenden Menschen ebenso wie um den klagenden, liebenden, auch um den, der lebt und atmet, der frohlockt und tanzt.» Yannick Nézet-Séguin, Musikdirektor in Philadelphia und an der New Yorker Metropolitan Opera, dirigiert das LFO bereits seit 2019 als regelmässiger Gast. Und gehört zu seinen glühendsten Bewunderern:«Jeder freut sich,dabei sein zu dürfen, Musik machen zu können, ohne all die üblichen Zwänge Die Orchestermitglieder vermitteln das Gefühl, dass diese Wochen in Luzern die wichtigsten ihres Lebens sind Phantastisch ist nicht zuletzt ihre Lust auf Entdeckungen, also die Dinge einmal ganz anders machen zu wollen als es sonst üblich ist.»
Wenn es sein muss, kann das LFO sogar ganz ohne Dirigenten auskommen: In einer Matinee am 25 August spielt das Orchester Vivaldis «Le quattro stagioni» mit seinen beiden alternierenden Konzertmeistern Gregory Ahss und Raphael Christ als Solisten. Der venezianische ViolinvirtuoseAntonioVivaldi wagte sich mit Vergnügen an musikalische Experimente, er ging bis an die Grenzen, um herauszufinden, was eine Violine und ein Orchester alles erzählen,malen,imitieren, vorstellen und nachmachen können. Er schrieb die unberechenbarsten Konzerte zwischen Himmel und Erde, eine ebenso noble wie burleske Musik. Sie bleibt der Inbegriff der Neugier – für alle Zeiten und Jahreszeiten
Smetanas «Moldau» ist weltberühmt, aber bloss eine Episode im viel grösseren Zyklus «Mein Vaterland». Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker machen neugierig auf die sonst verschwiegenen fünf Kapitel.
THOMAS SCHACHER
Wer als kulturinteressierter Tourist nach Prag reist, kommt nicht darum herum, auch den Burghügel Vyšehrad im Süden der tschechischen Hauptstadt zu besuchen. Auf dem Felsen an der Moldau residierten gemäss der Legende die ersten böhmischen Herrscher, vor allem die sagenumwobene Libuše, die Stammmutter der Přemysliden-Dynastie. Von der mittelalterlichen Festung ist heute fast nichts mehr zu sehen Das Ziel der meisten Touristen ist aber der im 19 Jahrhundert errichtete Prominentenfriedhof Er dient über sechshundert Persönlichkeiten als letzte Ruhestätte, unter anderen für Antonín Dvořák und Bedřich Smetana.
«Vyšehrad» heisst auch die erste der sechs sinfonischen Dichtungen in Smetanas Zyklus «Má vlast» («Mein Vaterland»). Der Komponist verknüpft die Erinnerung an die mittelalterliche Burg mit einem Thema, das gleich zu Beginn vorgestellt wird und sich anschliessend in verschiedenen Varianten durch den ganzen Satz zieht. Das Vyšehrad-Thema dient ausserdem als Klammer für den ganzen Zyklus: In der «Moldau» erklingt es genau an der Stelle, an welcher der Fluss an der Burgruine vorbeizieht. Und in «Blaník» bildet es den triumphalen Abschluss des Zyklus Erfassen kann man diese Zusammenhänge allerdings nur in einer Gesamtaufführung des Zyklus – ausserhalb Tschechiens heute ein seltenes Vergnügen.
Durch und durch patriotisch Smetana hatte nicht von Anfang an einen sechsteiligen Zyklus im Sinn. Nachdem er zwischen 1872 und 1875 die ersten vier Tondichtungen abgeschlossen hatte, nämlich «Vyšehrad», «Die Moldau», «Šárka» und «Aus Böh-
Smetana kämpft mit den Mitteln der Musik für die tschechische Sache.
mens Hain und Flur», gab er der Tetralogie den Namen «Vlast» («Vaterland») 1878 fügte er «Tábor» und 1879 «Blaník» hinzu und änderte den Namen für die Drucklegung in «Má vlast» («Mein Vaterland»). Die persönliche Identifizierung des Komponisten mit dem Sujet stand offensichtlich im Zusammenhang mit den beiden neuen Stücken. Die Uraufführung des sechsteiligen Zyklus fand am 5. November 1882 in Prag statt. Von der Thematik her gliedern sich die sechs Werke in drei Gruppen: «Die Moldau» und «Aus Böhmens Hain und Flur» schildern Landschaften In «Vyšehrad» und «Šárka» geht es um Mythen aus der nationalen Vorgeschichte. «Tábor» und «Blaník» stehen im Zusammenhang mit der hussitischen Reforma-
Kurz vor seiner Eröffnung gibt das Lucerne Festival wieder führenden Jugendorchestern aus Europa eine Bühne. Oksana Lyniv und das Youth Symphony Orchestra of Ukraine spielen ein bewegendes Requiem für einen gefallenen Dichter.
CORINA KOLBE
Ein junger, bärtiger Mann in Militärkluft sitzt im Wald auf einer Bank, vor sich ein aufgeklapptes Buch. In seinem allerletzten Facebook-Eintrag lud der ukrainische Poet Maxim Krivtsov seine Followers zu einem Spiel ein: Sie nannten ihm beliebige Seitenzahlen, und er postete Fotos von Versen aus seinem Gedichtband. Doch nur wenige Tage später starb Krivtsov im russischen Artilleriefeuer an der Front in der Region Charkiw. Sein Schicksal inspirierte den aus Lwiw stammenden Komponisten
Jewgeni Orkin zu dem «Requiem für einen Dichter», das jetzt am Lucerne Festival vom Youth Symphony Orchestra of Ukraine und dem Bariton Andrei Bondarenko unter der Leitung von Oksana Lyniv uraufgeführt wird. Krivtsov der sich freiwillig fürs Militär meldete galt als vielversprechendes Talent, seine «Gedichte aus dem Schützenloch» wurden 2023 von PEN Ukraine ausgezeichnet.
Kunst als Spiegel der Zeit
«Als Dirigentin arbeite ich intensiv mit ukrainischen Komponisten aus der jüngeren Generation zusammen», sagt
Oksana Lyniv «Oft initiiere ich neue Werke zu Texten von Lyrikern und Schriftstellern, die im Krieg umgekommen sind.» Mit ihrem Jugendsinfonieorchester und zwei Kinderchören stellte sie etwa im vergangenen Jahr in Brüssel Orkins Kantate «Daddy’s Book» vor, die an den von Russen ermordeten Schriftsteller Wolodymyr Wakulenko erinnert. Die Leiche des alleinerziehenden Vaters eines behinderten Sohnes wurde schliesslich in einem Massengrab bei Isjum gefunden. Für die sinfonische Dichtung «Odessa Rhapsody», die Lyniv gewidmet ist, erhielt Orkin 2023 in Berlin den Europäischen Kompositionspreis «Mir geht es immer darum, durch die Kunst zu reflektieren, in welch einer Zeit wir leben», meint Lyniv «Der Krieg zerstört.Wir sagen immer, das soll sich nie mehr wiederholen, aber leider wiederholt es sich doch Nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen Teilen der Welt Davon will ich als Künstlerin persönlich Zeugnis ablegen.»
Das Youth Symphony Orchestra of Ukraine, das vor acht Jahren von Lyniv gegründet wurde, spielt in Luzern ausserdem Edward Elgars melancholisches Cellokonzert Als Solist ist hier Uladzimir Sinkevich zu erleben ein Mitglied der Berliner Philharmoniker Elgar
tion Weil die Rezeption den Fokus seit langem auf «Die Moldau» richtet und die übrigen Teile, insbesondere die letzten beiden, selten aufgeführt werden, wird der Zyklus auch 142 Jahre nach seiner Uraufführung immer noch vorwiegend als musikalische Landschaftsmalerei eines «böhmischen Musikanten» wahrgenommen. In Wirklichkeit ist «Mein Vaterland» ein durch und durch patriotisches Werk
Ein tschechischer Patriot ist Smetana nicht von Anfang an. Er wächst in einem deutschsprachigen Elternhaus auf, Tschechisch lernt er erst später Politisch sensibilisiert wird er durch seinen Jugendfreund Karel Havlíček Borovský Unter seinem Einfluss nimmt Smetana im Revolutionsjahr 1848 am Pra-
stand seinerzeit gleichfalls unter dem Eindruck eines verheerenden Krieges Als er 1919 das Cellokonzert, sein letztes grosses Werk, vollendete, waren die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg noch frisch. Einen Gegenpol zur Düsternis bildet zum Schluss Robert Schumanns lebensfrohe «Frühlingssinfonie» –sozusagen als Zeichen der Hoffnung auf bessere Zeiten
Das erste und bisher einzige Jugendorchester der Ukraine, dem Nachwuchsmusiker aus allen Landesteilen angehören, gastierte vor zwei Jahren erstmals am Lucerne Festival. Auf vielen internationalen Bühnen stellt der nach dem Vorbild des deutschen Bundesjugendorchesters geformte Klangkörper unter Beweis, dass selbst Gewalt und Zerstörung die Kunst nicht zum Schweigen bringen können
Brexit und blaue Flecken
Vor dem offiziellen Eröffnungsabend mit dem Lucerne Festival Orchestra und seinem Chef Riccardo Chailly betritt nach den Ukrainern auch das European Union Youth Orchestra die Bühne des grossen Konzertsaals im KKL. Am Pult steht Gianandrea Noseda, den Zürchern bestens bekannt als Generalmusikdirektor des hiesigen Opernhauses Als Solist kehrt der Cellist Nicolas Altstaedt zurück. Das grenzüberschreitende Orchester, dem junge Musiker aus allen 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union angehören, spiegelt eindrücklich die politische Geschichte der Staatengemeinschaft wider.
1976 auf Beschluss des Europaparlaments ins Leben gerufen, setzte es sich zunächst aus Nachwuchstalenten aus den Ländern der Europäischen Gemeinschaft zusammen. Claudio Abbado, der vor zehn Jahren verstorbene Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra, prägte das europäische Jugendorchester seit dessen Antritts-
ger Pfingstaufstand teil, einer Revolte tschechischer Nationalisten gegen die Herrschaft der Habsburger Zu einem politischen Revoluzzer wird er dennoch nicht Aber ab 1861, nach seiner Rückkehr aus dem selbst gewählten Exil in Göteborg, kämpft er mit den Mitteln der Musik für die tschechische Sache: nämlich als Opernkomponist und seit 1866 als erster Kapellmeister des Prager Interimstheaters, des ersten nationalen Opernhauses
Missverstandenes Hauptwerk
Im Zyklus «Mein Vaterland», dem sinfonischen Hauptwerk Smetanas, zeigen sich, ausser bei «Vyšehrad», auch in weiteren Teilen national-patriotische Ele-
tournee 1978 Die Gründung und sukzessive Erweiterung der EU hat das Profil des EUYO immer weiter verändert Die Briten, einst Mitglieder der ersten Stunde sind dagegen seit dem Vollzug des Brexits nicht mehr dabei. Der Sitz des Orchesters wurde von London nach Ferrara und schliesslich nach Grafenegg in Niederösterreich verlegt.
mente. In «Šárka» lockt die Amazonenkönigin Šárka den böhmischen Ritter Ctirad in eine Falle und tötet ihn, nachdem er hineingetappt ist, erbarmungslos. «Tábor», benannt nach dem gleichnamigen südböhmischen Städtchen stellt mit martialischen Mitteln den Kampf der Taboriten, des radikalsten Flügels der hussitischen Freiheitsbewegung, dar «Blaník» spinnt diesen Faden, ins Utopische gewendet, weiter: In diesen Berg haben sich die letzten hussitischen Streiter zurückgezogen. Eines Tages, wenn das Vaterland in höchster Not wäre, würden sie unter der Führung des Fürsten Wenzel von Böhmen wieder erwachen und die Heimat befreien. Mit einer ähnlichen Vision endet übrigens auch Smetanas Oper «Libuše»: Die böhmische Fürstin blickt in die Zukunft und sagt die politische Entwicklung mit ihren Siegen und Niederlagen voraus «Meine geliebte tschechische Nation» singt Libuše am Schluss, «wird nicht untergehen, sie wird die Schreckenshöllen ruhmreich überstehen!» Werke wie «Mein Vaterland» und «Libuše» haben wesentlich dazu beigetragen, dass Smetana nach seinem Tod zum «Vater der tschechischen Nationalmusik» emporstilisiert wurde. Während im Ausland der sechzehn Jahre jüngere Antonín Dvořák der berühmteste Komponist des Landes ist, geniesst Smetana in seiner Heimat bis heute die höchste Verehrung. Das Festival «Prager Frühling», das alljährlich am 12 Mai, dem Todestag des Komponisten, beginnt, wird traditionell mit einer Aufführung von «Mein Vaterland» eröffnet. Anlässlich von Smetanas 200. Geburtstag in diesem Jahr fiel die Ehre den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Kirill Petrenko zu Am 29. August ist das Gespann mit dem vollständigen Zyklus erstmals am Lucerne Festival zu hören.
Am Anfang des Konzerts in Luzern steht Musik der Gegenwart, nämlich das 2020 komponierte Stück «Fate Now Conquers» von Carlos Simon. Der Amerikaner liess sich dazu von Beethovens 7. Sinfonie anregen. Der fliessenden harmonischen Struktur des zweiten Satzes hat er groovende Bläserklänge und stürmische Arpeggi der Streicher hinzugefügt. In Benjamin Brittens unterhaltsamem Lehrstück «The Young Person’s Guide to the Orchestra» präsentieren sich die unterschiedlichen Instrumentengruppen nacheinander dem Publikum: erst die Holzbläser, dann das Blech, die Streicher und zuletzt das Schlagwerk. Voller Ironie steckt Richard Strauss’ Tondichtung «Don Quixote», in der sich alles um die Abenteuer des skurrilen Helden aus dem berühmten Roman von Miguel de Cervantes dreht. Das Solocello übernimmt hier den Part des Möchtegernritters, der sich in seiner eigenen Fantasiewelt verliert, zur Zielscheibe des Spotts wird und reichlich blaue Flecken kassiert.
Lisa Batiashvili und Sheku Kanneh-Mason sind in diesem Jahr die «artistes étoiles» am Lucerne Festival. Zwei Streicher – und längst mehr als aufgehende Stars. Eine Spurensuche am Sternenhimmel.
Sternkundig: die Geigerin Lisa Batiashvili. PD Mit Wunderkind-Vergangenheit: der Cellist Sheku Kanneh-Mason. OLLIE ALI
DOROTHEA WALCHSHÄUSL
Was Musikfestivals mit Himmelskunde zu tun haben? Mehr als man meint Schliesslich geben klug konzipierte Festspielprogramme ihrem Publikum im besten Fall eine Orientierung am musikalischen Himmelszelt und weisen ihm den Weg zu den Sternen. Zum Beispiel zu Sheku Kanneh-Mason und Lisa Batiashvili, den zwei «artistes étoiles», die in diesem Sommer in Luzern noch ein wenig heller leuchten und mit gleich mehreren Konzerten intensiver zu erleben sein werden. Um zu ergründen, was die beiden Musikerpersönlichkeiten ausmacht, lohnt ein Blick durchs Teleskop Denn der Cellist und die Geigerin – obschon beide Streicher – stehen an ganz unterschiedlichen Positionen am Firmament. Sheku Kanneh-Mason ist im Klassikbetrieb das, was man einen Senkrechtstarter nennt, Wunderkind-Vergangenheit inklusive Schon als Neunjähriger hat er sein Cello-Studium an der Royal Academy of Music in London begonnen, mit 17 gewann er den BBC Young Musician of the Year Award. Weithin sichtbar erstrahlte sein Stern spätestens 2018 als der Cellist medienwirksam bei der Hochzeit von Prinz Harry und Meghan spielte In ebendiesem Jahr war er auch zum ersten Mal am Lucerne Festival zu Gast, damals trat er mit seiner Schwester im Duo auf Erlebt man Kanneh-Mason am Cello, so scheint er mit seinem Instrument zu tanzen, tief versunken im Klang und mit natürlicher Hingabe an die Musik, die er als «endlose, unsagbar weite und tiefe Welt» empfindet In seinem Spiel begibt er sich mit intuitivem Gestus ganz hinein in diesen Kosmos, wandelt scheinbar ohne Kraftanstrengung durch die Register und erschafft Interpretationen von natürlicher Sinnlichkeit Vier Konzerte wird der inzwischen 25 Jahre alte Künstler beim Festival gestalten. In ihnen möchte er «eine möglichst grosse Bandbreite zeigen» von dem, was ihn als Cellist ausmacht und erfüllt Es sind musikalische Begegnungen wie jene mit dem Gitarristen Plínio Fernandes, mit dem Kanneh-Mason einen Duoabend mit Werken von Heitor Villa-Lobos bis Astor Piazolla geben wird – eine laut
Kanneh-Mason ausgesprochen «intime Kombination», bei der «die Instrumente zusammen zu singen» beginnen. Auch mit dem Pianisten Harry Baker verbindet Kanneh-Mason eine klangvolle Freundschaft, deren Reiz im gemeinsamen Erobern neuer Welten liegt Davon zeugt das ungewöhnliche Konzertprogramm «Bach and Beyond», in dem Jazz auf Klassik trifft und verschiedene Kompositionen mit Bezug zum Werk Bachs um improvisatorische Elemente ergänzt werden. «Das Konzert ist inspiriert von der Idee, wie Bach einst selbst gearbeitet haben mag», sagt der Cellist. Das freie Improvisieren und Imaginieren von Musik sind für ihn wesentliche Bestandteile seiner künstlerischen Auseinandersetzung «Die Vorstellungskraft ist beim Spielen eines Werks das Allerwichtigste» sagt Kanneh-Mason, und das physische Erarbeiten sei nur ein kleiner Teil des Interpretationsprozesses Das Stück dann mit dem Publikum zu teilen, nachdem er es derart intensiv ergründet hat, ist für Kanneh-Mason «das Schönste». Die Zuhörer seien in diesem Moment ein wesentlicher Teil der Musik selbst. «Ich fühle die Energie der Menschen im Saal und es gibt da diese unsichtbare Verbindung zwischen dem Musiker und den Zuhörern.» Diese wird auch bei seiner Interpretation der Cello-Solo-Konzerte von Antonín Dvorák und Dmitri Schostakowitsch zu spüren sein Gerade von Letzterem war KannehMason «besessen als Teenager», derart kraftvoll und fesselnd sei das Werk
Klingende Beziehung
Musizieren war bei Kanneh-Mason schon immer eine Familienangelegenheit Aufgewachsen ist er als Sohn eines Arztes und einer Lektorin mit sechs Geschwistern, die alle früh ein Instrument erlernten – als drittes von sieben Kindern fand Kanneh-Mason bald zum Cello. Neun Personen also unter einem Dach – wie kann man sich das vorstellen? «Sehr lebendig, laut und chaotisch immer wieder», sagt Kanneh-Mason, dabei aber auch «extrem inspirierend» «Meine Eltern und meine Geschwister haben wunderbare Persönlichkeiten und
bei allen Streiterein, die es natürlich gab zwischen uns Kindern, war da auch viel Harmonie zu erleben». Die Familienbande tragen ihn bis heute und sind eng verknüpft mit Klängen «Ich habe von Beginn an erlebt, wie beglückend es ist, Musik miteinander zu teilen», sagt Kanneh-Mason, und dieses Glück sucht er bei jedem Konzert aufs Neue.
Lisa Batiashvili, der zweite auserwählte Stern am Himmel des Lucerne Festival in diesem Jahr erlebte die Musik von Beginn an in ähnlicher Weise: als klingende Beziehung Sollte man zur Kindheit der beiden Künstler einen Soundtrack wählen, er käme definitiv aus dem Bereich der Kammermusik.
«Wenn ich spiele, versuche ich, das Publikum zu mir nach vorne zu holen.»
Lisa Batiashvili
Während Sheku Kanneh-Mason mit seinen Geschwistern gemeinsam musizierte, lauschte Lisa Batiashvili ihrem Vater bei dessen Proben mit seinem Streichquartett und nahm alsbald selbst die Geige in die Hand.
Geboren in Georgien, zog sie mit ihrer Familie 1991 angesichts des heraufziehenden Bürgerkriegs nach Deutschland. Mit 12 Jahren begann sie ein Studium an der Hamburger Musikhochschule bei Mark Lubotsky, zwei Jahre später wechselte sie 1993 zur Geigenlehrerlegende Ana Chumachenco nach München. In Luzern war Lisa Batiashvili wie auch Sheku Kanneh-Mason zum ersten Mal 2018 Schon damals führte sie Tschaikowskys Violinkonzert auf, nun kehrt sie damit zum Festival zurück. Obwohl das Grosswerk eines der meistgespielten und mitunter auch abgespielten Stücke der Geigenliteratur ist, ist es für Batiashvili ein «relativ frisches
Wenngleich Lisa Batiashvili schon viele Jahrzehnte in Deutschland lebt, ist Georgien bis heute ihre «emotionale Heimat», zu der sie auf vielen Ebenen eine enge Verbindung spürt – «durch meine Kindheit, die Menschen dort und natürlich die Musik» welche die vielleicht beste Visitenkarte des Landes sei. Auch die politischen Entwicklungen in ihrem Geburtsland haben die Künstlerin früh beschäftigt. «Ich habe die Wende sehr intensiv miterlebt, das hat
«Ich fühle die Energie der Menschen im Saal.»
Sheku Kanneh-Mason
Werk», das sie erst vor zehn Jahren einstudiert hat. «Lange Zeit über fand ich es nahezu unmöglich, hier eine eigene Interpretation zu entwickeln, schliesslich wurde das Stück schon derart oft interpretiert», erzählt Batiashvili. Dann aber fragte Daniel Barenboim an, und sie wagte die Auseinandersetzung. Das Violinkonzert beschreibt die Künstlerin als ausgesprochen «ehrliches und plastisches Stück», das ihrer Empfindung nach oft übertrieben «fast vulgär emotional» dargestellt würde: «mit so viel Schlagobers», dass man davon zwar sehr satt werde, aber auch schnell genug davon habe. Sie selbst wählt einen anderen Zugang, wagt einen intimeren Blick auf das monumentale Stück: Der erste Satz entpuppt sich bei ihr als ausgesprochen klassisch, der zweite Satz gleicht einem innigen Gebet, bevor sich der dritte Satz als folkloristischer Tanz offenbart, der «bewusst das Risiko sucht», wie Batiashvili sagt. Es ist diese emotionale, aber nie pathetische Herangehensweise, die ihre Interpretationen auszeichnet, verbunden mit einem ungemein farbenreichen Ton und dem wachen Geist einer Künstlerin, für die Authentizität an erster Stelle steht. Scharfsinnig, präsent und humorvoll bezieht die Musikerin nicht zuletzt Stellung zu Themen unserer Zeit und wägt als zweifache Mutter genau ab, in welche Projekte sie ihre Energie steckt «Emotionale Heimat» Zwanzig Jahre älter als Sheku KannehMason, ist Lisa Batiashvili an einem Punkt in ihrem Musikerleben angekommen, an dem sie den Klassikbetrieb mit Erfahrung überblickt und gereift zurückkehrt zu Herzenswerken. Das Älterwerden empfindet die Künstlerin als Gnade wie sie sagt, und immer öfter seien die Kollegen auf der Bühne jünger als sie Insbesondere bei den Dirigenten sei das sehr positiv «Mit den Dirigenten der jungen Generation ist eine viel freundschaftlichere Zusammenarbeit möglich als früher, da herrscht viel mehr Leichtigkeit», meint die Geigerin, die beim Lucerne Festival unter anderem mit Lahav Shani das 5.Violinkonzert von Mozart spielen wird.
mich für mein Leben geprägt», sagt Lisa Batiashvili. Ihr grösster Wunsch ist, «dass Georgien unabhängig bleibt» Über die Geschichte ihres Landes zu erzählen und sich als Künstlerin zu positionieren, sieht sie als Verantwortung und als Mission. «Wenn man ein Interesse an der Gesellschaft hat, kann man nicht unpolitisch sein Sich aus allem rauszuhalten, kann dann sehr gefährlich sein», sagt die Musikerin. Gerade erst hat sie zusammen mit den Berliner Philharmonikern im georgischen Dorf Tsinandali ein Europakonzert gespielt und für ein Europa der Vielfalt geworben, während in ihrer Geburtsstadt Demonstranten marschierten und politische Spannungen das Land in Atem halten «Das war ein starkes Statement und ein bewegender Moment für mich» sagt Batiashvili. Schöpfungsmomente
Von Anbiederung oder Gefälligkeit hält die Geigerin wenig, weder im gesellschaftlichen noch im künstlerischen Bereich. Das gilt auch dann, wenn es um die Gewinnung jungen Publikums für die Klassik geht. «Wenn es das Ziel ist, jeden zu erreichen, wird es schnell gefährlich», warnt die Geigerin. Natürlich könne es helfen, mit dem Publikum zu reden oder Konzertprogramme visuell zu ergänzen «Aber wir müssen nicht alles, was wir gelernt haben, deformieren.» Spielentscheidend sei wiederum ein authentisches Auftreten: «Wenn ich das spiele, was mir selbst gefällt, und ich diese Musik ehrlich zeige, dann stimmt es», sagt Batiashvili. Im Zentrum eines Konzerts steht für sie folglich die Kommunikation mit den anderen Musikern und dem Werk selbst, wobei sie sich als Interpretin in einem stetigen Spannungsfeld zwischen Professionalität und gleichzeitiger Spontaneität bewege. «Während ich spiele, versuche ich, das Publikum quasi zu mir nach vorne zu holen», und im schönsten Fall sei es dann so, als würde die Kunst in diesem Augenblick neu erschaffen werden. Es ist dieser Schöpfungsmoment, den Lisa Batiashvili auch bei ihrem dritten Konzert beim Festival heraufbeschwören wird. Zusammen mit ihr werden dann die georgischen Pianisten Giorgi Gigashvili und Tsotne Zedginidze auf der Bühne stehen, zwei Stipendiaten ihrer Stiftung, mit der die Geigerin herausragende Talente ihrer Heimat fördert. «In Georgien erhalten die jungen Künstler keine Unterstützung vom Staat und brauchen Hilfe um ihren Traum verwirklichen zu können», sagt Batiashvili. Mit Gigashvili und Zedginidze hat das Publikum die Chance, zwei «sehr vielseitige und selbständige Musikerpersönlichkeiten» zu erleben, die schon Grosses geleistet hätten.Es sind die noch weitgehend unbekannten Sterne der nächsten Generation die durch Batiashvilis Zutun nun bereits neben ihr am Festivalhimmel erstrahlen.
Neugier – die musikalische Geschichte eines Menschheitsgefühls Ein Essay von Michael Stallknecht.
Zehn Jahre voller Irrfahrten brauchte Odysseus, um nach dem Trojanischen Krieg zu seiner Gattin Penelope zurückzufinden. Wie es mit dem griechischen Helden danach weiterging, lässt sich in Dantes «Göttlicher Komödie» nachlesen: Nicht lange hält es ihn bei seiner Familie und in der Heimat Ithaka. Mit den alten Gefährten besteigt er vielmehr erneut das Schiff für eine weitere, letzte Irrfahrt, «a divenir del mondo esperto / e de li vizi umani e del valore» – frei übersetzt: «um die Welt zu erkunden und die menschlichen Schwächen wie Fähigkeiten» Bereits gealtert so berichtet es Odysseus selbst im 26. Gesang des «Inferno» durchquert man die «Säulen des Herkules» in der Meerenge von Gibraltar – und überschreitet so die Grenzen der damals bekannten Welt. Doch als das Schiff auf den Berg zuhält, auf dem einst Adam und Eva im Paradies gelebt hatten, gerät es in einen Strudel und sinkt Dante selbst starb im Jahr 1321 kurz nach Vollendung der «Divina commedia» Nur ein Jahr später erschien ein lateinisches Traktat, das bis heute vielfach dem französischen Komponisten Philippe de Vitry zugeschrieben wird: über die «Ars nova», die «Neue Kunst» An der Oberfläche geht es darin um eine Frage die uns heute marginal erscheinen mag: ob man eine lange Note nur in drei oder auch in zwei Zeiteinheiten teilen darf Doch für die Menschen der Epoche ging es ums Ganze. Schliesslich repräsentierte die Drei die Trinität, die göttliche Dreieinigkeit, und galt damit als «perfekt», die Zwei hingegen als imperfekt. Die neue, «imperfekte» Musik veranlasste konservative Theoretiker zu Gegentraktaten und liess sogar den
Papst wettern. In der Bulle «Docta sanctorum patrum» von 1324/25 forderte Johannes XXII. die Rückkehr zur alten Einstimmigkeit des gregorianischen Chorals, der allenfalls von einer zweiten, parallel geführten Stimme begleitet werden sollte Doch die Möglichkeiten der Neuen Kunst waren zu verführerisch: Brachte sie doch eine deutlich grössere Unabhängigkeit der Stimmen mit sich. Bald schon erfreuten sich auch Kirchenfürsten an der neuen Vielstimmigkeit:
Zur Papstwahl von Clemens VI im Jahr 1342 komponierte Philippe de Vitry die Motette «Petre Clemens – Lugentium siccentur» Die Ars nova war zum «state of the art» geworden, während der Ars antiqua, der «Alten Kunst», schon im damaligen Sprachgebrauch anhaftete, was wir heute mit dem Begriff «antiquiert» verbinden
Alt und neu
Spätestens seit dieser Zeit ist die Geschichte der europäischen Kunstmusik auch eine der Neugier Und der vergeblichen Versuche, vor den Gefahren des Neuen zu warnen. Dabei löst das Neue das Alte fast nie revolutionär ab, vielmehr verschiebt sich der Geschmack über Jahre, manchmal Jahrzehnte Schon Philippe de Vitry beziehungsweise der anonyme Verfasser des Traktats hatte betont, dass er die «Neue Kunst» selbst eher als Fortschreibung der älteren verstehe Weshalb er Letztere auch nicht abwertend die «Ars antiqua», sondern, neutraler, die «Ars vetus» nennt. Den allzu offenen Bruch verhinderte dabei über die längste Zeit ein relativ stabiles Wechselspiel: das zwischen etablierten Formen und ihrer neuen Ausgestaltung
Neue Formen entstanden relativ selten, neue Musik dafür ständig. Ältere wurden dabei in der Regel vergessen, blieben aber als Vorbild für nachfolgende Komponisten lebendig
Dieses Wechselspiel ereignet sich nicht zuletzt in den Formen selbst: Musikalisches Material wird in der Regel mehrfach wiederholt, aber auch auf neue, unerwartete Weise fortgeführt. Der Sonatenhauptsatz ist ein Paradebeispiel dafür: Was in der Exposition etabliert wird, gerät in der Durchführung in einen Strudel, um in der Reprise erneut bekräftigt zu werden. Zusammengehalten wird die Form dabei massgeblich vom Dur-Moll-tonalen System das seine eigenen Schwergewichte erzeugt, vorübergehende wie dauerhafte Mögen die harmonischen Wogen noch so hoch über dem Schiff zusammenschlagen, am Ende wird es absehbar in der Tonika ankern «Es klang so alt und war doch so neu», sinniert Hans Sachs in den «Meistersingern von Nürnberg» nachdem ihn ein junger Sänger neugierig gemacht hat: In Richard Wagners Oper, uraufgeführt 1868, ist der impulsive Walther von Stolzing in den Kreis der Meistersinger eingebrochen. Während für sie ein neues Lied immer den alten Formen und Regeln folgen muss, geht es Walther darum, den eigenen Gefühlen Ausdruck zu geben In einem langen Prozess der Annäherung lernen dabei beide Seiten voneinander «Wie fang’ ich nach der Regel an?», fragt Walter schliesslich Sachs Die Antwort: «Ihr stellt sie selbst, und folgt ihr dann.» Darin ist eingefangen, was eine ganze Epoche der Musik umtrieb: dass das Wechselspiel zwischen den alten Formen und ihrer jeweils neuen Ausgestaltung erodiert war.
Das Neue ist zum Marketingvorteil geworden, der – wie jeder Markt – die Gier beschleunigt.
Eine Sinfonie, ein Konzert, erst recht eine Oper zu schreiben wurde für Komponisten mit innovativem Talent zunehmend zum Drahtseilakt. An die Stelle des alten Wechselspiels trat ein neues, wenn auch instabileres: das zwischen der Neugier der Komponisten und der Neugier der Öffentlichkeit.Wagner selbst ist dafür das beste Beispiel: Gerade weil er als Revolutionär galt, wurde jedem seiner Werke begierig entgegengefiebert, von Anhängern wie Gegnern gleichermassen. Das Neue war zum Marketingvorteil auf dem bürgerlichen Musikmarkt geworden, der, wie jeder Markt, die Gier beschleunigte.
Damit war die Basis für die Kunstmusik des 20. Jahrhunderts geschaffen, indem die Neugier schliesslich alle Parameter des Komponierens ergreifen sollte Im harmonischen Raum experimentieren Komponisten nun mit zuvor ungebräuchlichen Skalen oder der Überlagerung mehrerer Tonarten. Einzelne Parameter wie der Rhythmus oder die Klangfarbe emanzipieren sich und werden jeweils für sich ausgiebig erkundet. Live erzeugte Klänge werden durch elektronische erweitert, der Tonvorrat aus wohltemperierter Stimmung durch Mikrotöne, die tradierten Spieltechniken auf Instrumenten durch zuvor unvorstellbare.
Doch dabei ist der Neugier auch ein Schatten zugewachsen, der sich ebenfalls schon im 19 Jahrhundert abgezeichnet hatte: Man könnte ihn analog als Altgier bezeichnen. Je mehr lebende Komponisten mit den Formen rangen, desto mehr fand ihre Ausgestaltung durch längst tote Komponisten Eingang in Konzertsäle. Auch diese Entwicklung explodiert im 20 Jahrhun-
ZILLA LEUTENEGGER X DOROTHEA STRAUSS
«Auf Besuch bei mir selbst» –ein Ausstellungsprojekt von Zilla Leutenegger für das Lucerne Festival im KKL.
NORMAN BANDI
Das Motto des diesjährigen Luzerner Festivalsommers lautet «Neugier» – mit über 100 Konzerten in fünf Wochen. Aber nicht nur:Die renommierte Schweizer Künstlerin Zilla Leutenegger hat im Auftrag der bekannten Kuratorin Dorothea Strauss und von Lucerne Festival ein Ausstellungsprojekt mit dem Titel «Auf Besuch bei mir selbst» gestaltet. Das Thema Neugier zieht sich wie ein roter Faden durch Leuteneggers vielfältiges Schaffen. Ihre Zeichnungen, Videoarbeiten, Installationen und Objekte kreisen häufig um den Ursprung von Phantasie Was treibt uns an, neugierig zu sein? Es gibt kein Rezept dafür, doch Leutenegger entwickelt mit ihren Werken magische Resonanzräume, die zum Sehen und Staunen einladen. Mal erzählt sie wundersam absurde Geschichten, mal inszeniert sie scheinbar belanglose Lebenssituationen, die in eine Suche nach dem Sinn des Lebens kippen. Oft mischt sie verschiedene Realitäten, eine Zeichnung auf einer Wand mit dem projizierten Video einer wirklichen Person –Zilla. «Auf diese Weise gelingt es Zilla, dass sich ihre Werke aus dem Kunstkontext geradewegs in unser Leben hineinschleichen», sagt Strauss
dert, unterstützt durch die Entwicklung der Aufzeichnung von Klängen. Je häufiger einzelne Werke dabei bereits auf Tonträgern festgehalten sind, desto neugieriger beziehungsweise altgieriger erkundeten Interpreten auch noch älteres Terrain. Zumal die historisch informierte Aufführungspraxis schon länger verspricht, ältere Werke wie neu klingen zu lassen. Und so lassen sich auch die Kompositionen der Ars nova, sogar der Ars antiqua inzwischen problemlos in vielerlei Einspielungen abrufen.
Systemsprenger
Es war der kämpferische Begriff der «Neuen Musik», der dem Neuen in der Komposition zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch einmal dieselbe Emphase verlieh wie einst der Ars nova Er etablierte sich nicht umsonst zur selben Zeit, als die Neugier über eine entscheidende Grenze hinausdrängte: den Verzicht auf das tonale System. Dass Letzteres auf einen Engpass zusteuerte, war dabei vielen längst bewusst geworden. Entscheidender war auch diesmal die Geste, mit der der Weg in die Atonalität vollzogen wurde, vor allem von Arnold Schönberg, dessen 150. Geburtstag die Musikwelt in diesem Jahr feiert. Seitdem, könnte man sagen, hat die Geschichte der Neukomposition die Säulen des Herkules passiert Dass sich das Schiff damit auf hoher See wiederfand, wurde Schönberg selbst rasch bewusst. Um ihm einen Anker zu geben und die Taue zu sichern, schuf er die Zwölftonmethode, die an die Stelle der Dur-Molltonalen Bindungen treten sollte Doch sie erwies sich als nicht stark genug, um den Kurs dauerhaft zu sichern; ebenso
wenig ihre verschärfte Variante, der Serialismus der Nachkriegszeit, in dem Schönbergs Reihentechnik auf alle musikalischen Parameter ausgeweitet wurde. Er hatte obendrein den Nachteil, dass sich von ihm viele Bootsinsassen allzu eingeengt fühlten.
Seitdem ist die Frage für Komponisten – Komponistinnen zunehmend eingeschlossen – stets dieselbe geblieben: «Wie fang’ ich nach der Regel an?» Die Antwort lautet freilich immer noch und mehr denn je: «Ihr stellt sie selbst .» Dabei gelingt es immer wieder Einzelnen, kraftvolle Strömungen zu erzeugen, die andere mitziehen. Darunter auch solche, die mit neuen Formen der Tonalität experimentieren. Dies sollte man freilich nicht mit dem Versuch verwechseln, einfach wieder vor die Säulen des Herkules zurückzusegeln. Denn das Schiff blieb stets von mehreren Strömungen gleichzeitig erfasst.
Der Lotse geht von Bord
Dass sich über den richtigen Kurs nicht unbedingt Einigkeit erzielen lässt, wird inzwischen gelassen akzeptiert. Es spiegelt sich im Stilpluralismus wider, der bei Festivals für zeitgenössische Musik zu erleben ist, deutet aber auch auf eine gewisse Erschöpfung hin. Der Begriff einer Neuen Musik wird, wenn überhaupt, inzwischen längst nicht mehr mit derselben Emphase verwendet. Nicht nur, weil sich ihr eine Alte Musik mit ebenso grossem A beigesellt hat; sondern auch, weil die Neugier auf ein Teilpublikum beschränkt bleibt Die Gefährten des Odysseus sind älter geworden. Streaming-Portale vereinen Musiken aller Zeiten ohnehin zu einem
einzigen Strom, in dem die Neugier auf das Allerneueste, jüngst Geschaffene nur von eine von vielen ist. Zu streiten scheint man momentan allenfalls darüber, ob es überhaupt eines Lotsen an Bord bedarf Viele Neue-Musik-Festivals stellen klassische Autorenmodelle zunehmend in Frage, häufig treten partizipative oder von Teams entwickelte Formen an ihre Stelle Vielleicht braucht es am Ende nicht einmal mehr ein Schiff. Darauf deuten jedenfalls Entwicklungen hin, die Musik vermehrt ausserhalb von Konzertsälen stattfinden zu lassen, sie nur als einen performativen Aspekt unter vielen zu begreifen und auf Vorstellungen von einem abgeschlossenen Werk ganz zu verzichten. Vor dreissig Jahren komponierte Helmut Lachenmann, den man definitiv zu den Lotsen an Bord unseres imaginären Schiffes rechnen darf, ein Melodram für Sprecher und Instrumentalensemble Es trägt den Titel «… zwei Gefühle – Musik mit Leonardo» Zugrunde liegen ihm Texte von Leonardo da Vinci, in denen dieser ähnliche Naturmetaphern von stürmischem Meer und Wind verwendete wie zweihundert Jahre zuvor Dante in der Begegnung mit Odysseus. «Doch ich irre umher getrieben von meiner brennenden Begierde das grosse Durcheinander der verschiedenen und seltsamen Formen wahrzunehmen, die die sinnreiche Natur hervorgebracht hat.» Am Ende landet das lyrische Ich in einer dunklen Höhle, erfüllt von zwei Gefühlen: Furcht und Verlangen Es sind die beiden Säulen des Herkules zwischen denen die Neugier schon immer manövriert hat
Viele Neue-MusikFestivals stellen klassische Autorenmodelle zunehmend in Frage.
Ein Echoraum für Phantasie In den Vorbereitungsgesprächen zwischen Zilla Leutenegger und Dorothea Strauss wurde rasch klar, wie das Projekt für das Lucerne Festival aussehen könnte: Eine Neugier-Landschaft sollte entstehen. Ein künstlerisch gestaltetes Terrain, ein Echoraum für Phantasie «Auf Besuch bei mir selbst», oder: Wer steckt hinter der Fassade? Im KKL-Foyer ist ein weiterer magischer Resonanzraum entstanden, der am Eröffnungsabend des 16 August der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Er ist im Kontext mit der FriendsLounge noch während des gesamten Sommer-Festivals bis am 15 September zu entdecken. Es lohnt sich doppelt, Konzerte zu besuchen und neugierig zu sein Leuteneggers Echoraum im KKLFoyer ist wie eine Wohnlandschaft gestaltet: Im Zentrum steht ein grosses Wandleporello mit Durchgängen und Fenstern, mit Zeichnungen und Projektionen. Man kann hindurchschlendern, verweilen, reflektieren, sinnieren An diesem Ort werden während des ganzen Festivalsommers zahlreiche Begegnungen, Gespräche und Vorträge stattfinden. Die Besucherinnen und Besucher werden Teil eines erzählerischen Kosmos der um die Neugier kreist.
Mit Präludium in Engelberg Aktuell sind sechs Arbeiten von Zilla Leutenegger – vier neue und zwei neu interpretierte – im Rahmen von «Backstage Engelberg» zu entdecken. Sie sind Teil einer von Dorothea Strauss kuratierten internationalen Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Noch bis am 18 August zeigen 53 Künstlerinnen und Künstler aus 18 Nationen ihre Werke an 21 Stationen in der Zentralschweizer Alpengemeinde «Zilla und ich haben ihren Auftritt in Engelberg zusammen mit demjenigen im KKL Luzern gedacht», sagt Strauss. An beiden Schauplätzen wird mit dem Begriff Neugier gespielt. «Die Verbindung aus einzigartiger Kulisse und künstlerischer Innovation steckt voller Energie Sie regt dazu an, genau hinzusehen, neugierig zu bleiben und miteinander ins Gespräch zu kommen.»
Zilla Leutenegger, 1968 in Zürich geboren, zählt zu den wichtigsten hiesigen Künstlerinnen ihrer Generation und zeigt ihre Werke weltweit. Sie ist in massgeblichen Kunstsammlungen vertreten und wurde letztes Jahr von der NZZ eingeladen, eine Zeitungsausgabe sowie eine limitierte Kunstedition zu gestalten. Sie hat in ihren Werken ein Alter Ego entwickelt, das ihren Namen trägt: Zilla
Preisgekrönte Komponistin, inspirierende Lehrerin, Festivalleiterin: Unsuk Chin ist eine vielseitige Künstlerin.
In diesem Sommer wird die Komponistin Unsuk Chin zum zweiten Mal nach Luzern reisen, um im Composer-Seminar als Coach auszuhelfen, im Tandem mit ihrem Kollegen Dieter Ammann und als Einspringerin für den erkrankten Wolfgang Rihm. Diesmal will sie länger bleiben, die intensive Zeit mit den Mitstreitern an der Festival Academy voll auskosten. Sie kann und will Rihm nicht ersetzen. Das war von vornherein klar Aber Unsuk Chin, dieser freie Geist, passt wie angegossen in Rihms offenes Konzept Chin gehört zu keiner Schule, keiner Seilschaft Sie hat auch nie eine Professur angenommen an einer Musikhochschule Sie sagt: «Kann ich das überhaupt: andere auf den Weg bringen, Komponist zu werden? In dieser Frage bin ich ein bisschen ambivalent, ich denke mir, ich sollte vielleicht eher davon abraten!» Selbst in den eigenen Meisterklassen, die sie als Composerin-Residence in Seoul gab, habe sie es vermieden, auf herkömmliche Weise zu «unterrichten» Sie lacht und fügt hinzu: «Aber letztes Jahr, in Luzern, da war Unterricht für mich zum ersten Mal eine sehr schöne Erfahrung!»
Ein Ausbund an Schönheit Warum? Weil dieses Composer-Seminar kein starres Curriculum verfolgt, sondern auf Kolloquien und den intensiven Austausch setzt. Wolfgang Rihm hatte auch diesmal wieder, im Vorfeld, gemeinsam mit Dieter Ammann, Bewerbungen aus aller Herren Länder gesichtet und die Teilnehmer bestimmt Es sind in diesem Jahrgang zwölf junge Komponistinnen und Komponisten, vier mehr als sonst, da es im Jubiläumsjahr der Festival Academy neben der Ensemblekomposition eine zusätzliche Sektion für Orchesterwerke gibt. Die Teilnehmer kommen aus China, Chile, Deutschland, Grossbritannien, Korea und den USA. Sie bringen ihre Werke mit, individuelle Musikstile aus verschiedensten Richtungen Unsuk Chin sagt: «Diese Stücke werden gemeinsam diskutiert. Ob sie toll sind oder nicht, ist egal. Alles, was interessante Diskussionen hervorbringt, nützt allen.» So hat sie es selbst schon immer gehalten: Stets hat sie sich für die Musik anderer interessiert. Und hat sich auch ihre Lehrer sehr gezielt selbst ausgesucht. Als zweiundzwanzigjährige Studentin kam Chin dereinst mit einem DAAD-Stipendium in Hamburg an, um bei György Ligeti zu studieren. Heute ist sie 63 und lebt in Berlin Unabhängig, aber erfolgreich – das ist eine selten geglückte Kombination in der klassischen Kunstmusik. Chin schreibt grosse Konzerte und Kantaten, aber auch klei-
Die Komponistin Unsuk Chin wurde durch György Ligeti geprägt, der nur das Eigene und Echte gelten liess. Für ihr Schaffen erhielt sie im Mai den Ernst-von-Siemens-Preis, den inoffiziellen Nobelpreis der Musik. Nun unterrichtet Chin zum zweiten Mal an der Festival Academy in Luzern
nere Klaviersachen und Kammermusiken Jedes ihrer Musikstücke hat eine eigene Physiognomie. Wer eines kennt oder zu kennen glaubt, der wird jedes Mal wieder neu überrascht vom nächsten. Wird überfallen und gefangen genommen. Denn Chins Musik ist ein Ausbund an Schönheit. Wirkt überwältigend, ja, manchmal fast gewaltsam durch ihre poetische Kraft und Kompromisslosigkeit. Inzwischen schreibt Chin all ihre Noten wieder mit der Hand, kalligrafisch filigran und oftmals mit Farbstiften – obgleich sie eine Zeit lang auch am Rechner komponiert hatte, am Elektronischen Studio der TU in Berlin. Seit gut vierzig Jahren lebt und arbeitet sie nun schon in Deutschland, seit 1993 ist sie beim Londoner Musikverlag Boosey & Hawkes unter Vertrag. Ihre Werke sind international präsent, und zurzeit hat ihre Musik, man kann es nicht anders sagen, einen richtigen Lauf Kurz vor Weihnachten brachten die Berliner Philharmoniker eine Box heraus mit allen Solokonzerten und Orchesterwerken, die sie von Unsuk Chin bislang im Programm gehabt haben. Kurz nach Weihnachten gab dann die Ernst-von-Siemens-Musikstiftung mit Sitz in Zug bekannt, dass Chin ihre Preisträgerin ist Dieser Musikpreis gehört mit 250 000 Euro Preisgeld zu den höchstdotierten der Welt
Chin ist die dritte Komponistin und erst die fünfte Frau in einer langen Phalanx berühmter männlicher Preisträger, die damit geehrt wurde
Den eigenen Weg finden
Ligeti ihr erster europäischer Lehrer gehörte auch zum Kreis dieser Auserwählten. Er hat den Preis 1993 be-
kommen als Chin das Studium bei ihm längst wieder beendet und sich vorübergehend auf elektronische Musik verlegt hatte Wenn sie von ihrer Zeit bei György Ligeti erzählt, wird es lustig. Sie hatte ihm geschrieben, aus Seoul, wo sie Klavier studierte und bei Kang Sukhi an der National University auch bereits Komposition Sie hatte Ligetis Musik kennengelernt und fand sie «interessant» Er wiederum interessierte sich für ihre bis dato geschriebenen Partituren und lud sie ein, nach Deutschland zu kommen Als sie eintraf, lobte er sie zunächst – dann aber zerriss er die Noten. Er wetterte gegen die Abhängigkeit von der Darmstädter Avantgarde, die er da herauslas: alles postserielle Kopien! Sie müsse ihren eigenen Weg finden! Ligeti habe recht gehabt, sagt Unsuk Chin heute Sie sei «dankbar und demütig», wenn sie an ihn und all die bisherigen Siemens-Preisträger denke, «von denen viele zu meinen grössten musikalischen ‹Helden› gehörten» Und fügt hinzu, mit der ihr eigenen zarten Ironie: «Und ich hatte mir immer gedacht, ich würde diesen Preis vielleicht auch mal kriegen. Irgendwann, eines Tages, wenn ich alt bin und ihn nicht mehr benötige.»
Üblicherweise wird Chin pauschal als «koreanische Komponistin» verortet oder als «Komponistin aus Südkorea» bezeichnet Das stimmt insofern, als sie dort geboren wurde als Tochter eines Priesters, in kleinen Verhältnissen, die sie bald hinter sich liess Jahrzehnte später ist sie aber, zumindest partiell, nach Asien zurückgekehrt, in einer neuen, ganz anderen Funktion: Chin hat sich dort, was nur wenige wissen, einen hervorragenden Ruf erworben als ideale Künstler-Intendantin. Zuerst eher zufällig mit einer Reihe für zeitgenössische
Musik für das philharmonische Orchester in Seoul. Die weitete sich aus zu Programmen, die von Bach und Scarlatti bis in die Gegenwart reichen. Zurzeit kuratiert sie im südkoreanischen Tongyeong ein grosses Musikfestival, ausserdem noch ein kleineres in Taiwan. Sie macht das gemeinsam mit ihrem Mann, dem Pianisten und Musikveranstalter Maris Othóni, der gerade Intendant des finnischen Rundfunkorchesters geworden ist. «Programme entwerfen», sagt Chin, «das ist ja keine Arbeit. Nur eine Art erweiterter Studiengang Oder vielmehr: Für mich ist das exakt so wie das Komponieren –ich höre viel, mache mir viele Gedanken; und da wird dann etwas daraus Jedenfalls wenn es funktioniert, wenn gute Musiker kommen und das Konzert richtig schön wird Dann stehe ich unter Strom und bin glücklich.»
Die Kosmopolitin
In ihren eigenen Kompositionen sind die koreanischen Wurzeln eher verborgen. Man könne sie, sagte sie jüngst im Interview, ebenso gut als «Berliner Komponistin» bezeichnen. Vorschlag: Ist sie nicht auch eine Traditionalistin im Umgang mit Klängen, Klangfarben, Formen und Texturen? Chin möchte nicht eingeordnet werden, verweist auf ihren eigenen Freiraum, stimmt aber höflich halbwegs zu. Der Vorstand der Berliner Philharmoniker dagegen spricht ex cathedra von einer musikalischen «Kosmopolitin», und auch das trifft zu: Chins «Horizont» schliesst heute «die unterschiedlichsten Kulturen und geistigen Disziplinen ein» Freilich gibt es Spuren in ihrer Musik, gewisse Klangfarben oder auch metrische Elemente, die zurückver-
weisen auf die asiatische Heimat. Der Kopfsatz ihres Cellokonzerts zum Beispiel, komponiert 2009 für Alban Gerhardt und das BBC Scottish Symphony Orchestra, heisst «Aniri», weil darin eine Formel aus dem koreanischen Pansori-Theater versteckt ist: Ein einziger Ton – es ist der erste Ton, den der Solist anstimmt – durchzieht den Satz wie eine Achse. Er taucht immer wieder auf wird umspielt und variiert. Aus diesem Multi-Mono-Ton erwachsen üppig aufblühende Orchesterklänge, heftige Gegensätze brechen auf zwischen Rezitativ und Gesang, Licht und Farben. Am Ende «stirbt» der Ton in einem expressiven Glissando, abwärts Er tritt quasi ab Und das Orchester schreit auf.
Daneben findet sich in Chins Musik, etwa in ihrem ersten Violinkonzert, auch Vertrautes aus der europäischen Musik der Vergangenheit, maskierte Quasizitate, romantische Liedfetzen, Stimmen und Stimmungen. In Bali hat sie sich für Gamelanmusik begeistert, wie einst die Impressionisten. Auch das spiegelt sich in ihrem Werk. Von der frühmittelalterlichen Polyphonie inspiriert ist eine gewisse Lust an kontrapunktischen Exzessen. Und natürlich spielen auch aus der Elektronik in die Instrumente hinüberwuchernde Traum- und Geräuschklänge eine Rolle im Chin-Kosmos Ein Meltingpot ist das alles trotzdem nicht Auch kein Collage-Kino Vielmehr eine neue, freie Welt der Imagination, geschaffen aus allem, was Musik zu bieten hat
Im Wunderland
«Chin has created her own sonic wonderland» schrieb der Kritiker der «Los Angeles Times» als er ein Gastspiel von Chins erster Oper miterlebt hatte: «Alice in Wonderland», nach einem Libretto von David Henry Hwang, frei nach Lewis Carroll. Das Stück wurde 2007 in München uraufgeführt, unter der Leitung von Kent Nagano und in überwältigenden, alles übermalenden Bühnenbildern von Achim Freyer Unterdessen arbeitet Chin in jedem freien Augenblick an ihrer zweiten Oper Die Uraufführung ist bereits angekündigt für Mai 2025 in Hamburg. Sie heisst «Die dunkle Seite des Mondes» Es geht darin um eine wahre Geschichte, nämlich um den genialen Atomphysiker Wolfgang Pauli und um die Zahl 137 die ihm den Verstand raubte, ausserdem um seinen seelenkundigen Schweizer Freund C.G. Jung Bei der Zahl handelt es sich um die Formel der mysteriösen Feinstrukturkonstante Und weil Pauli eine Art «Faust der Moderne» ist, wie Chin sagt, so ist Jung möglicherweise sein Mephisto Das Libretto schreibt die Komponistin diesmal selbst
WOLFGANG STÄHR
Das Lucerne Festival feiert den 200. Geburtstag Anton Bruckners mit führenden Orchestern in Europa. Jedes von ihnen besitzt eine eigene stolze Tradition bei diesem Komponisten.
Ein Bruckner-Jahr? Sticht ins Auge und fällt gar nicht auf: Konzerte mit Bruckners Sinfonien sind niemals alltäglich und doch allgegenwärtig. Anders als seine Hymnen, Responsorien und Offertorien, die nur (Ein-)Geweihte kennen, oder gar Kuriositäten wie der «Abendzauber» für männlichen Summ- und Brummchor mit Jodelterzett und Echo, gehören Anton Bruckners Sinfonien zum Innenleben wie zur Aussendarstellung der reisenden oder residierenden Orchester, und zwar ohne Ausnahme Wer hätte das gedacht? Bruckner selbst gewiss nicht. Zu seinen Lebzeiten musste er um jede Aufführung betteln und bangen und sich bis ins Alter auslachen und anfeinden lassen für seine neun Sinfonien. Strenggenommen sind es elf, sofern man die frühe «Studiensinfonie» und die sogenannte «Nullte» oder «Annullierte» mitrechnet. Und wenn man noch bedenkt, dass die meisten dieser Sinfonien in zeitlich und dramaturgisch stark auseinanderklaffenden Fassungen überliefert sind, wird die Werkzählung zu einer verwirrenden Angelegenheit
Religiosität, Reinheit, Naivität
Am 4. September 1824 kam Anton Bruckner im oberösterreichischen Ansfelden zur Welt Das trifft sich, denn auf den Tag genau zweihundert Jahre später spielt das Gewandhausorchester mit seinem Chefdirigenten Andris Nelsons am Lucerne Festival die 6. Sinfonie des Jubilars Ein gelungenes Timing, denn die Leipziger waren es, die Bruckner, der sich in Wien geradezu verfolgt fühlte den ersten alles entscheidenden Durchbruch bescherten, als sie 1884 seine Siebte zur Uraufführung brachten: «Da stand er nun in seinem bescheidenen Gewande vor der erregten Menge und verbeugte sich hilflos und linkisch einmal über das andere», berichtete damals ein Kritiker
In Luzern musiziert das Gewandhausorchester freilich nicht die heute besonders populäre Siebte, sondern die immer noch etwas weniger geläufige Sechste, mit der sich das Vorurteil wunderbar widerlegen lässt, Bruckner habe immerzu ein und dieselbe Sinfonie geschrieben, eine gleiche der anderen zum Verwechseln. Dabei ist gerade die Sechste besonders ungleich: kürzer, überdrehter, widersprüchlicher als alle ihre Schwesterwerke Bruckner nannte sie wegen ihrer Kühnheiten denn auch «die Keckste»
Andris Nelsons erkennt den Einfluss von Bach oder sogar noch älterer Musik, wenn sein Orchester Bruckner interpretiert: «Sie gehen von diesen frühen Traditionen aus, und Bruckner klingt in vielen Augenblicken fast wie ein Renaissancekomponist. Natürlich kann man ihn auch üppig und schwergewichtig spielen, aber es gibt diese Momente der Religiosität, der Reinheit, der Naivität, da hört er sich an wie ein Meister aus früheren Jahrhunderten. Und die Kunst des Gewandhausorchesters, seine Musik zu spielen, ist einzigartig, unvergleichlich: Sie haben so viel über Bruckner zu sagen.» Bei ihrer Leipziger Premiere im Jahr 1884 stand Bruckners Siebte wiederum im Zentrum eines exklusiv «neudeutschen» Programms zwischen Werken von Franz Liszt und Auszügen aus Wagners «Götterdämmerung» Tatsächlich glauben noch heute manche Kommentatoren, aus dem langsamen Satz der Siebten Siegfrieds Trauermarsch heraushören zu sollen oder das «Rheingold»-Vorspiel in der Coda des Kopfsatzes oder den Walkürenritt im Scherzo Wenn Yannick Nézet-Séguin die 7. Sinfonie mit dem Lucerne Fes-
Historische Karikatur von Otto Böhler: Anton Bruckner, verfolgt von seinen Kritikern. PD
tival Orchestra musiziert (am 24 August), stellt er Bruckner jedoch eine ganz andere Leipziger Legende zur Seite: Clara Schumann, seinerzeit noch Clara Wieck, mit ihrem a-Moll-Klavierkonzert, ein ungewohnter und unerwarteter Einstieg in die nachfolgende musikalische Weihestunde
«In allen Bruckner-Sinfonien gibt es einen religiösen Aspekt – ein mystisches, spirituelles Moment Das spielt eine grosse Rolle», betont Nézet-Séguin. «Aber auch der Mensch, der ganz einfach in Österreich auf dem Land lebt: Die Bäume, die Bäche, die Blumen, die Vögel, der Himmel, die Unwetter – all das vermischt sich auf sehr romantische Art mit den sehr menschlichen Zweifeln Bruckners und seinen Leidenschaften.»
Die Musikerinnen und Musiker des Lucerne Festival Orchestra haben sich buchstäblich gesucht und gefunden. Aber wenn sie Bruckner gerecht werden wollen, müssen sie noch enger zusammenrücken: «Sie müssen die Fähigkeit besitzen», sagt Nézet-Séguin, «sich als Individuen völlig dem grossen Ganzen unterzuordnen. Für mich ist ein Orchester, das Bruckner zu spielen weiss, ein Spitzenorchester, weil es die nötige Demut gegenüber dieser Musik zum Ausdruck bringt. Das ist das Wichtigste Wenn ich bei einem Orchester auf diese Demut treffe, bin ich voller Bewunderung.»
Abstieg in die Geisterwelt
In diesem Luzerner Sommer wird die Siebte noch ein weiteres Mal erkundet, umspielt und ausprobiert: in dem Projekt #freebruckner, einer Rekomposition dieser Sinfonie durch «Stegreif –The Improvising Symphony Orchestra» am 10. September An diesem Abend wird die Originalpartitur von Arrangements und Improvisationen durchzogen, das Orchester um Saxofon, E-Gitarre, Drumset und Gesang erweitert und alles auswendig und frei im Raum vorgeführt, ohne Grenzen zwischen Mitwirken-
den und Publikum. Im Adagio will das «Stegreif»-Ensemble erklärtermassen «psychologische Phasen der Trauer» ergründen und sich mit den «gesellschaftlichen Verlusterfahrungen unserer Zeit» auseinandersetzen: «Das Adagio wird zur komponierten Trauerarbeit für eine (un-)mögliche Zukunft.»
Dass die Geschichte freilich nicht allein aus Verlusten, vielmehr auch aus Erneuerung und manchen Kontinuitäten besteht, beweisen die Berliner Philharmoniker Blickt man zurück auf ihre Chefdirigenten, die seit 1898 Bruckners 5. Sinfonie mit dem Orchester aufgeführt haben, wird einem allein bei der Lektüre
«In allen BrucknerSinfonien gibt es einen religiösen Aspekt – ein mystisches, spirituelles Moment.»
der Namen warm und weh ums Herz: Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Claudio Abbado Und jetzt spielen die Philharmoniker die Sinfonie in Luzern am 28. August mit Kirill Petrenko, dem phänomenalen Nachfolger der genannten Meister und Maestri. Petrenko schreibt die Geschichte nicht einfach nur fort, er wird diese Sinfonie mit radikaler Neugier neu durchleuchten. Bruckner selbst hat seine Fünfte übrigens niemals gehört, jedenfalls nicht mit Orchester. Als das Werk mit bald zwanzigjähriger Verspätung in Graz zur Uraufführung kam, war er bereits zu krank, um die Reise auf sich zu nehmen. Dabei hatte er gerade diese Partitur mit einem Ehrgeiz und einem Anspruch an sich selbst komponiert, strategisch durchdacht vom ersten bis zum letzten Takt, wie kein zweites seiner Werke. Angeblich hat er sie allerdings auch als «phantastische» Sinfonie bezeichnet und hätte damit die anderen die abgründigen, bizarren und grotesken Züge dieser Musik beschworen. Immerhin beginnt sie nicht von ungefähr wie eine «Ombra»-Szene in der Oper, wie ein Abstieg in die Geisterwelt. Das Finale aber gleicht einer Himmelfahrt: Ekstase und Befreiung in einem. «Als ich Bruckner das erste Mal in meiner Jugend hörte hat es mich sofort gepackt», bekennt Christian Thielemann.Während seiner Schulzeit in den 1970er Jahren, im damals noch eingemauerten Westberlin, wurde der Gymnasiast von Bruckners Fünfter regelrecht aus der Bahn geworfen: «Ich kann mich erinnern, wie Karajan in der Berliner Philharmonie die Fünfte dirigierte und ich nach dem Konzert auf den Parkplatz taumelte, ganz benebelt von dem Choral.» Fortan konnte sich Thielemann ein Leben ohne Bruckner gar nicht mehr vorstellen. «Also, der Anton, da denkt man sich, er hatte es faustdick hinter den Ohren» umreisst der Dirigent launig seine Sicht auf den Komponisten «Ich glaube, wenn man dieses Bild eines in
sich kreisenden, fast weltfremden Menschen hat – der war nicht so weltfremd. Ich halte den Bruckner in seiner Art als Persönlichkeit für wesentlich prickelnder, als es so im Allgemeinen rüberkommt. Wenn man manchmal fragt: Welchem Komponisten wärst du gerne begegnet? Da gibt es vielleicht welche, die man gar nicht unbedingt kennen lernen möchte Aber bei Bruckner hätte ich mir gedacht: Wer so ein Innenleben hat, wie würde es wohl sein, wenn man mit ihm ins Wirtshaus gegangen wäre? Was hätte er gesagt?»
Unsterblichkeit prophezeit
Christian Thielemann dirigiert am 7. September Bruckners 1. Sinfonie und die Wiener Philharmoniker, die das Werk 1891 im Grossen Saal des Musikvereins uraufgeführt haben. Allerdings nicht in der ursprünglichen «Linzer», sondern in der endgültigen «Wiener» Fassung «Hofk.[apellmeister] Hans Richter schwärmt unaussprechlich für meine 1. Symphonie» konnte Bruckner überglücklich vermelden. «Er ist mir mit der Partitur davongelaufen, lässt sie abschreiben und führt sie in einem philh. Concerte auf, nachdem er mich weinend abgeküsst und mir die Unsterblichkeit prophezeit hat Ich staune!» Aber noch in ihrer späten «Wiener Fassung» bleibt die Erste der «kecke Besen», wie Bruckner seine Sinfonie liebevoll nannte: die Arbeit eines Komponisten, der völlig anders denkt, komponiert und orchestriert als seine Vorgänger und Zeitgenossen und weder der Beethoven-Epigone war noch der Wagner-Imitator, als den ihn seine Verächter kleinreden wollten. «Er ist halt so eine Persönlichkeit gewesen du musst dich ganz auf ihn einlassen», warnt Thielemann «Aber er macht es einem, wie man weiss, nicht gleich so leicht. Und die ersten Sinfonien, die man nicht gut kennt, um die muss man kämpfen Was es da für Geigenstimmen gibt, die sind ja kriminell: Das ist wirklich der richtige Ausdruck dafür Also: Nummer eins und zwei wollen wir bitte überhaupt nicht unterschätzen.» Und dann kommt das Ende Kurz vor Toresschluss, ehe das Lucerne Festival am letzten Abend den anderen grossen Jubilar feiert, den 150-jährigen Arnold Schönberg, gastieren die Münchner Philharmoniker mit ihrem designierten Chefdirigenten Lahav Shani in Luzern und wagen sich am 13 September an Bruckners Neunte, seine «Unvollendete», die er selbst als «Abschied vom Leben» beschrieben hat. Tatsächlich konnte er das Finale nicht mehr ins Reine bringen, und selbst die unfertigen Manuskripte sind nur fragmentarisch überliefert Weshalb Bruckners letzte d-Moll-Sinfonie mit dem dritten Satz, dem riesigen Adagio, schliesst –oder eben doch nicht schliesst, sich vielmehr ins Unendliche öffnet Also doch kein Ende Schon gar nicht bei den Münchner Philharmonikern, deren Bruckner-Tradition bis ins 19 Jahrhundert zurückreicht und über Bruckner-Entdeckungen, Bruckner-Feste, Bruckner-Zyklen und nicht zuletzt die legendäre Ära mit Sergiu Celibidache bis in die Gegenwart fortwirkt. Die Münchner spielten 1932 die Erstaufführung der 9. Sinfonie in ihrer unverfälschten Originalfassung, und auch ihre allererste Schallplattenaufnahme war wenige Jahre später diesem Werk gewidmet: dem echten Bruckner. Dem wahren Bruckner? «Es gibt kein Richtig oder Falsch», sagt Lahav Shani. «Wir können Bruckner nicht mehr fragen, ob er es so oder anders gemeint hat. Bruckners Musik lässt solche Überlegungen weit hinter sich und spricht die tiefsten Gefühle aus, die ein Mensch haben kann.»
Beat Furrer ist in diesem Jahr «Composer-in-Residence» am Lucerne Festival. Der gebürtige Schweizer gilt als Komponist der leisen Töne, doch im Gespräch mit Marco Frei lässt er durchblicken, wie stark seine subtile Musik mit zeitkritischen Anliegen verbunden ist.
Er ist neu- und wissbegierig Als Komponist vermag Beat Furrer stets zu überraschen oder gar zu irritieren, weil er sich nie ausruht auf dem Bewährtem. Mit dem von ihm initiierten Klangforum Wien setzt der Österreicher schweizerischer Herkunft, der Anfang Dezember siebzig wird, zudem Massstäbe in der Pflege zeitgenössischer Musik Sein eigenes Schaffen steht exemplarisch für das, was Daniel Ender in einer lesenswerten Studie 2014 Furrers «Metamorphosen des Klangs» genannt hat.
Herr Furrer stört es Sie, als «Komponist des Leisen» zu gelten?
Nein, auch wenn es natürlich eine Verkürzung meiner Arbeit ist. Das entspringt klischeehaften Vorstellungen, zumal im Laufe eines Lebens auch das Schaffen um vielerlei Facetten bereichert wird. In meiner Musik gibt es ja durchaus auch das Schreien. Das Laute ist für mich eine klangliche Qualität die mich genauso fasziniert. Umgekehrt ist das Leise eine Klangqualität, die nicht unbedingt Innerlichkeit oder Resignation bedeuten muss
Wird das Leise gemeinhin mit dieser Semantik verbunden?
Jedenfalls könnte man das so interpretieren, wenn andere Facetten ausgeklammert werden. Der «Komponist des Leisen» kann genauso bedeuten, dass man nicht mit Schlagworten um sich greift. Das kann ich für mich sehr gut akzeptieren. Ich denke aber, dass die Kategorie des Leisen auch als Weltabgewandtheit missverstanden werden kann Da möchte ich nicht mit einverstanden sein.
Warum?
Weil ich als Komponist durchaus informiert und beteiligt bin an dem, was um mich herum passiert – sei es politisch oder in allen möglichen Formen gesellschaftlicher Kommunikation Mir ist wichtig, dass ein Komponist nicht wahrgenommen wird als ein versponnener Elfenbeinturmbewohner. Das bin ich nicht.
Mit dieser Haltung rückt sich Furrer in einem Zusammenhang mit anderen berühmten «Komponisten des Leisen» – allen voran Luigi Nono, Helmut Lachenmann und Salvatore Sciarrino Auch sie arbeiten mit Reduktion und Fragmentierung, erschaffen stille, manchmal geräuschhafte «Hörmusiken», die die Wahrnehmung schärfen Gleichzeitig geht es ihnen nie um ein reines «l’art pour l’art» der kritische Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen bleibt hellwach Im Schaffen Furrers bilden musikalische Prozesse, klangliche Aggregatzustände, Zeit und Dauer sowie das Gegeneinander von Subjekt und Welt zentrale Leitlinien. Schon seine literarischen Quellen – von Georg Büchner über Ingeborg Bachmann und Pablo Neruda bis zu Dino Campana – offenbaren, wie sehr Extrem- und Endpunkte des Daseins im Zentrum seiner künstlerischen Reflexionen stehen: existenzielle Ausgesetztheit, auch Verwüstung und Todesnähe Sein Musiktheater «Begehren» von 2001, das am Lucerne Festival seine Schweizer Erstaufführung erfährt, ergründet den Mythos von Orpheus und Eurydike in den Lesarten von Ovid und Vergil, um ihn mit Reflexionen über Nähe und Distanz von Cesare Pavese und Günter Eich zu konfrontieren
Herr Furrer, was genau verbindet Sie mit geistesverwandten Komponisten wie Nono, Sciarrino oder Lachenmann?
Die von Ihnen genannten Komponisten haben sich nie von der Welt abgewendet Ich glaube, im Gegenteil, dass es auch eine Antriebskraft ist, sich mit dem Schmerzhaften zu beschäftigen das um uns herum passiert. Im künstlerischen Ausdruck äussert sich letztlich immer auch eine politische Haltung Das ist mir sehr wichtig In diesem Sinn war beispielsweise Nono eine wichtige Inspirationsquelle für mich als heranreifenden Komponisten
Inwiefern?
Ich habe Nono noch kennengelernt und öfters getroffen, wenn er zu Besuch in Wien war Für mich war insbesondere der «Prometeo» von 1984/85, seine «Tragödie des Hörens», ein besonderes Erlebnis. Das gilt ähnlich für das kleinbesetzte Musiktheater «Lohengrin» von Sciarrino von 1982/84. Diese absolute Reduktion in der Sprache war damals ein phantastisches Statement.
Was genau war daran «phantastisch»?
In «Lohengrin» geht Sciarrino zurück auf die Klanglichkeiten menschlicher Sprache, und dies verbindet er mit dem Geräuschhaften. Er geht gewissermassen auf einen Nullpunkt der Reduktion zurück und erschafft damit einen klanglichen Raum, der die Wahrnehmung fokussiert auf das Innere Auf diese Weise inspirierend wirkte später auch seine Oper «Luci mie traditrici» von 1996/97 Insofern stört mich die Kategorie des Leisen gar nicht, solange sie eben nicht mit weltabgewandter Haltung verwechselt wird. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass der ganze Reichtum von Klanglichkeiten in meinem Schaffen wahrgenommen wird
Dieser «Reichtum von Klanglichkeiten» ist bei Furrer ein komplexes und bisweilen scheinbar widersprüchliches Wechselspiel, gerade im Hinblick auf das Verhältnis von lauten und lei-
sen Stellen So arbeitet Furrer in seinem Ensemblestück «still» von 1998 mit vehementen, auch aggressiven Ausbrüchen, die den Werktitel vermeintlich konterkarieren. Im Werkkommentar zu «Poemas» für Mezzosopran, Gitarre, Klavier und Marimbafon von 1984 nach Worten von Neruda schreibt Furrer hingegen vom «Schrei des Verlassenen», der auch in einem «intensiven Piano» hörbar werden könne Dabei kommt einem unweigerlich das Bild «Der Schrei» von Edvard Munch in den Sinn: Der Schrei wird auf dem weltberühmten Gemälde durch den weit aufgerissenen Mund der zentralen Figur suggeriert Ob dieser aber auch akustisch hörbar wäre, bleibt offen. Das verzweifelte Entsetzen kann genauso ein stiller Schrei ins Innere sein.
Wofür steht für Sie kompositorisch der Schrei?
Im Schrei tritt plötzlich etwas anderes ein als vorher, eine Kraft, ein Schock Der Schrei interessiert mich schöpferisch als Umschlag, als Wendepunkt, als etwas Chaotisches, das in das Kontrollierte einbricht Er hebt eine formale Ordnung auf ist als chaotisches Element singulär In diesem Sinn kann sich ein Schrei eben auch leise vollziehen und eine innere Spannung in sich tragen: gewissermassen wie ein Klang ohne Körper
Von Ihnen stammt der viel zitierte Ausspruch, wonach jedes Verklingen eines Tones bereits ein Drama sei. Stecken im Leisen also ähnliche dramatische Potenziale wie im Lauten, oder bereuen Sie inzwischen diesen Satz?
Auf der Suche nach einer Sprache, die auch musiktheatralisch wirksam werden kann, ist es für mich immer notwendig gewesen, zu verstehen, dass jeder Klang auch das Verklingen einer Stimme sein kann. Das Drama tritt also auch in Erscheinung als etwas Klangliches, Klin-
«Ich bin als Komponist durchaus informiert und beteiligt an dem, was um mich herum passiert.»
Das Melodische scheint mir seit der 2015 in Hamburg uraufgeführten Oper «La bianca notte» in Ihrem Schaffen deutlicher präsent. War diese Oper ein Wendepunkt?
Interessant, dass Sie das ansprechen: Manche meiner Kollegen haben damals gesagt, diese Oper sei ein riesiger Bruch in meinem Schaffen. So waren teilweise auch zuvor die Reaktionen auf Werke, die die Oper ganz direkt vorbereitet haben und in ihr aufgegangen sind.
Sie meinen «Canti della tenebra» oder das Ensemblewerk «linea dell’orizonte», das in Luzern erklingt?
gendes und nicht nur in der Sprache
In der Geschichte der Oper gibt es genügend Beispiele dafür, wie die Sprache zurücktreten kann auf einzelne Worte, die einen Klang suchen Der Klang kann auf diese Weise einen grossen Bedeutungsraum erfahren Das ist gerade in der italienischen Oper ganz oft der Fall. Der Klang selber kann auch eine Stimme in sich tragen und Sprache zum Ausdruck bringen. Insofern bereue ich diesen Satz überhaupt nicht.
Tatsächlich stellt das Sprachliche im Schaffen Furrers eine wesentliche Kontinuität dar, auch in Instrumentalwerken. Oft finden sich sprachlichkörperliche Bezeichnungen wie «flüsternd», «sprechend», «schreiend»: so in «. cold and calm and moving» von 1992 oder «kaleidoscopic memories» für Kontrabass und Zuspielung von 2016 die in Luzern erklingen. Die Grenzen von Vokal- zu Instrumentalstil sind bei ihm generell auffällig fliessend: Stimme und Klangaktion bilden oft einen geschlossenen Klangkörper.
Herr Furrer, in welchem Verhältnis stehen Stimme und Klang in Ihrer Musik? Unser Gehör ist dazu geschaffen, eine sprechende Stimme zu verstehen, und Musik hat sich immer ganz nah an der Stimme entwickelt. Insofern ist die Auseinandersetzung mit der Sprache, dem Sprechen, dem Klang des Sprechens ganz zentral für mich. Es war auch ein Weg weg vom Denken in Parametern. Die Krux der seriellen wie auch der elektronischen Musik war ja, dass der Klang formalisiert wurde Ich denke, dass das Sprechende und die Sprache es vermögen, die physische Erscheinung eines Klangs als zusätzlichen Aspekt in den Vordergrund zu rücken. Das berührt auch die Frage nach dem Horizontalen und Vertikalen – also der Melodie und der Harmonie
Richtig Ich erinnere mich, wie Wolfgang Rihm 2014 nach der Uraufführung von «Canti della tenebra» in München zu mir kam und sagte, dass es für ihn überhaupt kein Bruch sei.Andere haben das anders wahrgenommen, weil ein Aspekt deutlich in den Hintergrund rückte, der für mich immer wichtig war: nämlich das Geräuschhafte Das hat auch mit dem besonderen Klang der italienischen Sprache zu tun, die ich im Kontext der Oper «La bianca notte» nach Dino Campana erstmals nicht übersetzt habe. Sie ist vokalreich und melodiös, die Sprache eben der Musik. Demgegenüber hört man seither auch in Ihren Instrumentalwerken eine verstärkte Beschäftigung mit dem Melodischen, so etwa im Violinkonzert von 2020.Während Ihrer Luzerner Residenz steht auch eine Uraufführung an. Greift das neue Werk diese Tendenzen auf? Das neue Werk heisst «Lichtung» und ist tatsächlich gar nicht so weit entfernt vom Violinkonzert. Die Besetzungen ähneln sich, in beiden Fällen Orchester mit Akkordeon. Das neue Werk geht von einem körperlosen Klang aus, von einer flimmernden Lichtbrechung, die sich allmählich verdichtet: von unartikulierten, auch flüsternden, kreatürlichen Klängen zum Konkreten Der zweite Teil, ungefähr die Hälfte des Stücks ist von einer kaum wahrnehmbaren Fliessbewegung geprägt, ein grosser Fluss, der in eine Art Separierung von verschiedenen Gestalten mündet – sehr energetisch, bald in Einzelteile ausdifferenziert.
Wir leben gerade in besonders aufgewühlten Zeiten, sehen uns mit den Spätfolgen der Pandemie, mit Kriegen und der inneren Zerrissenheit von Gesellschaften konfrontiert. Ist das Plädoyer für ein bewusstes Hören und Zuhören heute dringender denn je?
Absolut! Es droht etwas abhandenzukommen, nämlich das aufeinander Hören. Das beeinflusst auch die Diskussionskultur Es muss möglich sein, zu argumentieren, ohne in Freund-FeindSchemata eingeordnet zu werden. Seit der Pandemie scheint mir dies sehr gefährdet, und das ist hochpolitisch. Die Auswirkungen sind allenthalben katastrophal.
Wie wirkt das alles auf Ihre Arbeit als Komponist?
Ganz konkret schreibe ich gerade an einer Oper für Zürich, die im März 2025 uraufgeführt wird Sie heisst «Das grosse Feuer» und basiert auf einer Erzählung der Argentinierin Sara Gallardo Es geht um die koloniale Verwüstung einer anderen, indigenen Kultur um koloniale und postkoloniale europäische Ignoranz. Alle Kriege, die wir gegenwärtig erleben, hängen mit einer ähnlichen Ignoranz zusammen. Gleichzeitig scheinen wir erneut der Meinung, dass sich Konflikte nur durch Aufrüstung lösen liessen. Aufrüstung ist wieder ein politisches Argument um Frieden zu sichern Das alles quält mich und treibt mich gleichzeitig an.
Mit der Dostojewski-Oper «Der Doppelgänger» von Lucia Ronchetti setzt das Festival die ertragreiche Kooperation mit dem Luzerner Theater fort Das Textbuch schrieb die Bachmann-Preisträgerin Katja Petrowskaja – und wünschte sich dabei selbst eine Doppelgängerin
ELEONORE BÜNING
Sie wurde in Kiew geboren und lebt in Berlin. Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja spricht besser Russisch als Ukrainisch und kennt sich bestens aus mit Russlands Dichtern und Denkern, schliesslich hat sie einst jahrelang russische Philologie studiert, in Tartu, Stanford und Moskau. Heute schreibt sie ihre Texte meist auf Deutsch, und das sehr erfolgreich: 2013 errang sie den Ingeborg-Bachmann-Preis. Dann in Covid-Zeiten, probierte Petrowskaja etwas Neues Sie verfasste zum ersten Mal ein Opernlibretto: ein Freundschaftsdienst für die italienische Komponistin Lucia Ronchetti. Der gelang, wenn auch widerstrebend. Noch am Abend der umjubelten Uraufführung der Oper «Der Doppelgänger», frei nach Dostojewski, sagte Petrowskaja: «Es gibt so viele phänomenale Opern, die schreckliche Libretti haben!» Zufrieden ist sie nicht mit sich, vermutlich ist sie das nie. Daran können auch die glänzendsten Kritiken nichts ändern, und die gab es reichlich für diese Produktion im Schlosstheater von Schwetzingen. Ab 7. September kann man sich selbst ein Bild machen: Dann ist die Inszenierung von David Hermann mit dem schockierend sprachmächtigen Bühnenbild von Bettina Meyer am Luzerner Theater zu sehen.
Da träumt sich einer gross Wie es zu der Zusammenarbeit zwischen Petrowskaja und Ronchetti kam, das ist eine transeuropäische Story mit Umwegen, die erzählt werden muss Ganz am Anfang stand das Foto einer Frau in Gold: eine Bootsflüchtlingsfrau aus Syrien, aus dem Meer gefischt vor der griechischen Insel Lesbos eingewickelt
in eine Rettungsdecke aus dem ErsteHilfe-Kasten. Ein spanischer Pressefotograf hatte es geschossen, veröffentlicht wurde es in der «New York Times» Petrowskaja sah es und erschrak. Sie schrieb einen Essay darüber: über den kulturhistorischen Mythos, der sich in diesem Bild anlagert, und über die Spur der Verdrängung Der Text hatte den Titel: «Venus ist wieder da» Er endet mit den Worten: «Vielleicht war es nur eine Umstellung der Poesie aber mir schien sich damit das Ende Europas in seinen eigenen Ursprung zu verwandeln.» Als Ronchetti das las, schrieb sie eine E-Mail: Ob Petrowskaja ihr nicht ein Libretto schreiben wolle zu einer Oper? Es wurde der erste gemeinsame Wurf, das Lamento «Lascia ch’io pianga», uraufgeführt 2016 in Stuttgart. Ist zwar noch keine Oper aber schon eine bewährte Form, die an Monteverdi, Händel und die Anfänge der Gattung erinnert Erklärtermassen wollten Petrowskaja und Ronchetti kein Propagandastück zur aktuellen Lage schaffen Dennoch spielen Mittel des Theaters eine starke Rolle in diesem «action concert piece» für Sopran und Klavier. Die Sängerin ist hier Opfer und Ankläger zugleich, der Flügel verwandelt sich in ein Boot, es bleibt offen, ob Rettungsboot oder Nachen des Charon –das geht an die Nieren Der «Doppelgänger» dagegen, das nächste Gemeinschaftswerk, geriet abendfüllend und zu einem politischen Statement. Die Figur des Doppelgängers ist ein Sujet, das seit Gogol als typisch russisch gilt. Oder vielmehr: als spezifisch «petersburgisch» Es handelt sich um eine der der vielen bösartigen Spukgeschichten, die sich in dieser künstlichen, auf dem Reissbrett entstandenen Stadt der Beamten zugetragen haben sollen Dostojewski hat daraus
in seiner Novelle das Protokoll der Zerstörung der Persönlichkeit geschaffen, von innen und von aussen zugleich Da träumt sich ein kleiner Kanzleiangestellter gross und löst sich auf. Seine Identität wird von der Gesellschaft kaltlächelnd zerquetscht. Sein Dasein, er selbst wird zum Fake Die gesamten prekären Lebensumstände dieses jungen Mannes namens Jakow Petrowitsch Goljadkin übernimmt nach und nach ein Fremder der ihm bis aufs Haar ähnelt: Wohnung, Kollegen, Gewohnheiten und Vorhaben, auch alle Pläne und Hoffnungen. Am Ende landet er in einer Anstalt
Eine Übersetzung dieses Plots ins Hier und Heute wäre eine allzu banale Idee – Aktualisierung war denn auch weder von der Komponistin noch von
der Librettistin beabsichtigt. Und mit der vielzitierten «russischen Seele» habe Goljadkins Schicksal, sagt Petrowskaja, auch nicht viel zu tun. Vielmehr gebe es eine jahrhundertelange Tradition der Unterdrückung, ein Sicharrangieren mit Machtverhältnissen in diesem weiten Land. Schon seit Peter dem Grossen, weshalb russische Doppelgängerfiguren sich von Peter Schlemihl und Konsorten, die in der restlichen europäischen Romantik herumspuken grundsätzlich unterschieden
Destillat der Novelle
Dostojewski ist für Petrowskaja eine Art Heimspiel. Allerdings: Jeder, der schreibt, kennt auch das Problem der Überqualifikation: Wer zu viel weiss dem fällt nichts mehr ein. Sie habe sich, erzählt Petrowskaja, viel zu tief eingelassen auf die Sache, habe alle nur greifbaren Übersetzungen der Novelle studiert, sämtliche Analysen gelesen, Bearbeitungen und Verfilmungen der Erzählung inhaliert. Und «irgendwann war ich in einem Zustand, dass ich mir selbst einen Doppelgänger gewünscht habe, der für mich das Libretto vom ‹Doppelgänger› schreiben könnte!» Zum Glück ist sie selbst eine halbe Musikerin, mindestens Sie liebt die Musik, und sie versteht etwas davon, wie Musik gemacht wird. Zudem kennt sie die Gesetze der musikalischen Rhetorik. Als Kind in Kiew hat sie Klavier gelernt, und, was noch wichtiger war: Sie ging dreimal in der Woche zu Chorproben Fast zehn Jahre lang sang Katja Petrowskaja mit im sagenhaften Kinderchor Schedryk von Iryna Mykolayivna Sablina, der Konzertreisen und Auftritte ermöglichte und ein Repertoire von Pergolesi bis zu Olivier Messiaen abdeckte. Dieser Chor habe sie gerettet und geprägt, auch was das Schreiben angeht: «Ich habe erst sehr viel später verstanden, wie viel ich beim Singen mitbekommen habe Jede Formulierung hat einen bestimmten Rhythmus Diese oder jene Phrase, alles ist Geste. Wenn ich ein Adjektiv hinzufüge oder nur einen Artikel vor ein Wort setze, ändert sich der Tonfall, dann muss ich alles umschreiben.» Im Ergebnis ist dieser Entstehungsprozess, mit seinen Mühen und Freuden, dann allerdings unsichtbar geworden. Jedes Wort, jede Geste des knappen Textbuchs, das von Lucia Ronchetti ergänzt wurde mit pittoresk-minimalistischen Klangmalereien, sitzt. Es wirkt wie das Destillat der Novelle, konzentriert. Aber durchsichtig.
Beim «räsonanz»-Stifterkonzert gastiert der Geiger Renaud Capuçon – er ist ein Experte für aussergewöhnliche Programme und für zeitgenössische Musik. Begegnung mit einem Musiker, der mit Hingabe Neugier weckt.
DOROTHEA WALCHSHÄUSL
Ohne Frage, das Programm ist ein Wagnis Auch noch im Jahr 2024, auch angesichts einer aufgeschlossenen Zuhörerschaft. Denn so häufig die Traditionsverbundenheit des klassischen Musikbetriebs beklagt und mehr Offenheit gefordert wird, so oft strotzen die Konzertprogramme am Ende doch wieder vor Altbewährtem. Das «räsonanz»Stifterkonzert macht dagegen Ernst mit dem Luzerner Festivalmotto, es fordert «Neugier» nachdrücklich beim Publikum ein. Denn es will aufgeschlossene Hörer unter anderem, als Schwei-
zer Erstaufführung, mit Michael Seltenreichs «The Prisoner’s Dilemma» vertraut machen, ferner mit Unsuk Chins «Subito con forza» und mit der 1.Sinfonie von Paul Ben-Haim Für Henri Dutilleux’ Violinkonzert «L’arbre des songes» wurde ausserdem der Geiger Renaud Capuçon gewonnen –das ist bei näherer Betrachtung keine Überraschung Capuçon ist nämlich ein Künstler, der solche Herausforderungen sucht und den kaum etwas mehr reizt, als Menschen von dieser seiner Passion zu überzeugen. «Ich will die Menschen glücklich machen», sagt Capuçon. «Aber nicht nur dadurch, dass sie Dinge hören, die sie schon kennen und lieben, sondern auch dadurch, dass sie Dinge entdecken.»
«Mein Körper ist stark»
An einem Tag Anfang April sitzt der Musiker im Café der Oper in Aix-enProvence und rührt in schwarzem Tee mit Zitrone Das Erste, was bei der Begegnung mit dem Künstler ins Auge sticht, sind seine Schnelligkeit und seine mentale Fokussierung Eine knappe halbe
Stunde Zeit hat er nur für unser Gespräch, dann steht der nächste Termin an. Jede Minute scheint durchgetaktet im Alltag dieses umtriebigen Musikers: Auf eine Festivalbesprechung folgt ein Kinderkonzert, auf ein Interview ein Sponsorengespräch, dazwischen übt er für eine Uraufführung und steht abends nicht selten auch noch auf der Bühne und präsentiert inspirierende Interpretationen
Gleichwohl wirkt Capuçon nie gehetzt oder nur halb bei der Sache Er verkörpert die Präsenz im Moment mit wachem Adlerblick, smartem Gestus, rhetorischer Eloquenz und der körperlichen Durchhaltekraft eines Hochleistungssportlers «Mein Körper ist sehr stark», sagt Capuçon, und die Musik verleihe ihm zusätzliche Kraft, all das anzupacken und umzusetzen, was ihm immer aufs Neue an Ideen kommt.
Die Energie nutzt Capuçon als Interpret auf der Bühne, aber ebenso als Leiter des Festival de Pâques in Aix-enProvence und der Sommets Musicaux in Gstaad, als Professor für Violine in Lausanne und als agiler Netzwerker und Kommunikator «Ich wollte immer schon viel mehr, als nur Geige zu spielen» sagt Capuçon, der 1976 in Chambéry auf die Welt kam und schon früh gespürt hat, «welche Macht Musik hat, wie sie beruhigen und trösten, erden und zentrieren kann. Das finde ich bis heute phantastisch», schwärmt Capuçon. Früh fand er als Kind zur Geige, mit 14 begann er am Pariser Konservatorium seine Ausbildung und in den folgenden Jahren nahm er Unterricht bei Koryphäen wie Gérard Poulet, Thomas Brandis und Isaac Stern. Heute umfasst sein Repertoire etliche Jahrhunderte, regelmässig spielt er auch zeitgenössische Kompositionen und Uraufführungen. Erst vor kurzem hat er Thierry Escaichs 2. Violinkonzert uraufgeführt. Mit einem fixen Programm mehrere Jahre auf Tour zu
gehen, das ist für diesen Musiker keine Option. Stattdessen spiegelt sein Konzertkalender ebenjene Vielfalt wider die auch seine Festivalprogramme ausmacht. Und ganz gleich, an welchem Stück er gerade feilt: Er versucht es derart akribisch einzuüben, dass es letztlich «wie ein perfekt geschneiderter Mantel» für ihn wird, den er auf der Bühne überstreifen und den Zuhörern wie angegossen präsentieren kann Dabei reizt es ihn, gerade auch Leute zu erreichen und zu berühren, die bislang kaum in klassischen Konzerten waren. Wenn dann auch einmal nach einem ersten Satz geklatscht wird, stört ihn das wenig – Hauptsache, die Menschen werden in den Bann gezogen von der Energie auf der Bühne «Ich mag die Tatsache, dass es da Leute gibt die kommen und überhaupt nichts wissen und offen sind für das, was passiert. Das liebe ich», sagt der Musiker Denn er weiss, wie wichtig es ist, das Publikum von morgen heranzuziehen. Bei seinen Festivals setzt er deshalb auf aussergewöhnliche und kos-
Hauptsache, die Menschen werden in den Bann gezogen.
tenfreie Zusatzangebote Er organisiert Babykonzerte und spielt in Krankenhäusern veranstaltet Kinderworkshops und pflegt die After-Show-Begegnung mit dem Publikum.
«Musik ist pure Freiheit» So offen er einerseits ist, so scheut er andererseits alles, was vom Kern der Konzerte der Musik, ablenken oder sie gar in eine Richtung lenken könnte Grussworte zum Beispiel, die Sponsoren huldigen und politische Bezüge herstellen, ebenso übergeordnete Mottos bei Festival- oder Konzertprogrammen. «Bloss keine Themen!», sagt Capuçon mit Nachdruck und verzieht das Gesicht. Inhaltlich würden sie nur in den seltensten Fällen funktionieren, weit öfter dienten sie als reines Marketinginstrument. «Musik ist für sich stehend pure Freiheit und emotionaler und stärker als alle Worte», sagt Capuçon. Die Verbindung zwischen Künstler und Publikum, jenes starke Band, das die Musik spinnen kann zwischen Menschen – das ist es was Capuçon fasziniert. Bei seinen eigenen Festivals setzt er sich gern in die letzte Reihe ins Parterre und achtet fein darauf, welche Stimmung im Saal herrscht und ob die Klänge ankommen in den Herzen und Köpfen Steht er selbst auf der Bühne, zelebriert er die Hingabe. «Wenn ich spiele, bin ich komplett ich selbst Dann bin ich transparent – man kann mich durch die Musik sehen, und sie wissen, wer ich bin.»
Kent Nagano setzt mit Concerto Köln und dem Dresdner Festspielorchester die Erkundung von Wagners «Ring des Nibelungen» im Originalklang fort Die historischen Spiel- und Gesangstechniken kommen der «Walküre» besonders zugute
MARCUS STÄBLER
Sie ist eine musikalische Sensation, diese konzertante Aufführung von Richard Wagners «Walküre» – hier darf man das viel strapazierte Wort wirklich einmal guten Gewissens gebrauchen. Anfang Mai hat diese besondere Produktion bereits das Publikum in der Hamburger Elbphilharmonie begeistert, Ende August wird sie nun in derselben Besetzung und unter der Leitung von Kent Nagano am Lucerne Festival zu erleben sein. Und so wie hier hat man das Stück tatsächlich noch nie erlebt: Das Dresdner Festspielorchester und Concerto Köln –für das Projekt zu einem Ensemble vereint – spielen Wagners Musik nämlich im Klanggewand der Entstehungszeit. Und das tönt in vieler Hinsicht anders, als man es gewohnt ist. Die Musikerinnen und Musiker nutzen historische Blasinstrumente sie streichen vorwiegend auf Darmsaiten, spielen auf einem Stimmton von 435 Hertz, also etwas tiefer als die meisten modernen Orchester Das alles verändert den Klang Er ist durchsichtig, lässt den Eigencharakter der Bläser hervortreten und wirkt farbiger, manchmal aber auch rauer Und nicht zuletzt verändert sich die Balance Gerade weil Nagano viele Piano-Schattierungen formt, erscheint das Orchester unter seiner Leitung nicht mehr wie ein instrumentaler Riesenwurm, der die Solisten zu verschlingen droht; vielmehr wie ein Partner, der sich an die Vokalstimmen anschmiegt, der ihre Aussagen bestärkt und kommentiert – und der ihnen ermöglicht, den Fluss der Sprache zu entfalten.
Immer im Flow
«Das ist grossartig», schwärmt die Sopranistin Sarah Wegener, die Darstellerin der Sieglinde in der Produktion. «Wenn alles so ineinandergreift, hat man nie das Gefühl, dass man kämpfen müsste Wir gestalten die Musik gemeinsam mit dem Orchester, so entsteht ein Flow, der alle elektrisiert.» Gerade Wegener demonstriert auf der Bühne eindrücklich, dass, anders als in vielen Wagner-Produktionen, keine Übertitel nötig sind, um den Text der Oper verfolgen zu können. Die gute Verständlichkeit ist das Resultat eines intensiven Coachings.
Bei dem Projekt «The Wagner Cycles», dessen Aufführungen sich bis ins Jahr 2026 erstrecken und am Ende alle vier Teile aus dem «Ring des Nibelungen» umfassen sollen, werden die Sängerinnen und Sänger von einem wissenschaftlichen Expertenteam begleitet und vorbereitet. Zu diesem Team gehört etwa die Linguistin und Phonetikerin Ursula Hirschfeld «Sie hat oft darauf bestanden, dass ich die Wörter deutlicher voneinander trenne, als man es sonst gewohnt ist. Wie bei der Frage ‹Schläfst du, Gast?› im ersten Akt der ‹Walküre›, mit der Sieglinde Siegmund anspricht Da müssen der Endund der Anfangskonsonant, das ‹t› und das ‹d›, klar gegeneinander abgesetzt sein. Damit es nicht verschleift und wie ‹Schläfsdu› klingt.»
Die plastische Textgestaltung verschärfe die Durchschlagskraft, erklärt Wegener «Gerade an dramatischen Stellen, an denen man dazu tendiert, mehr Klang zu geben, ist das eine enorme Hilfe. Indem man den Text deutlicher artikuliert, gewinnt auch die Stimme an Grösse Das ist wirklich spannend.» Natürlich gibt es auch in dieser Version der «Walküre» oft ein breit strömendes Legato das Sarah Wegener mit ihrem sinnlichen Timbre und einer breiten Palette an Nuancen füllt, darunter viele Non-Vibrato-Farben. Aber die Ausdruckspalette umfasst hier auch noch andere Arten der Gestaltung Gesang und dramatische Rede «Als Sieglinde im dritten Aufzug völlig verzweifelt ist und Brünnhilde anfleht, sie zu töten, mit dem Satz ‹Stosse dein Schwert mir ins Herz!›, da werden die beiden letzten Worte ‹ins Herz› nicht mehr gesungen, sondern gerufen», verrät Wegener Diese Erweiterung des sängerischen Ausdrucksspektrums um gesprochene Sprache mag manchen eingefleischten Wagnerianer irritieren. Für den Komponisten selbst war sie jedoch selbstverständlich, wie der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf aus der Expertengruppe der «Wagner Cycles» erklärt. «Es gibt eine Reihe von Aussagen in Wagners eigenen Schriften, aber auch aus seinem Umfeld an denen wir uns orientieren können, wenn wir versuchen, die Rahmenbedingungen sei-
ner Musik zu rekonstruieren.» Eine der zentralen Quellen ist das Lehrwerk «Deutscher Gesangs-Unterricht» von Julius Hey, Wagners gesangspädagogischem Berater, der auch mit dem ersten Darsteller des Siegfried in Bayreuth geprobt hat.
«Der erste Band dieses Lehrwerks beschäftigt sich ausschliesslich damit, eine gute Artikulation der deutschen Sprache zu trainieren. Weil der Gesang seine Intensität, seine Ausdruckskraft und seine Färbung aus der genauen Verwirklichung der Sprache entfalten soll», erläutert Seedorf «In einem Schreiben an König Ludwig II hat Wagner betont dass sich der deutsche Gesang seiner Vorstellung nach als ‹ener-
gisch sprechender Akzent› zu erkennen geben soll – abgesetzt von dem, was er den ‹italienischen langgedehnten Vokalismus› nannte.» Wagner hat sich also besonders deutlich geformte Konsonanten gewünscht in einem Gesang, der «ganz vorzüglich für den dramatischen Vortrag geeignet sein» möge Um dieser Vorstellung in den Aufführungen der «Walküre» möglichst nahe zu kommen, hat das wissenschaftliche Team die damalige Herangehensweise nachgestellt und mit den Sängerinnen und Sängern ebenfalls zunächst intensiv an der Sprache gearbeitet «Meine Aufgabe war es mit ihnen herauszufinden, wie nahe der Gesang an den rednerischen Ausdruck gekop-
pelt ist», so erinnert sich Seedorf. Seedorfs Arbeit und die seiner Kollegen hat in engem Austausch mit Kent Nagano stattgefunden. Ein fruchtbarer Prozess, bei dem die Vorschläge aus der Wissenschaft immer Gehör gefunden hätten «Mich hat das sehr beeindruckt wie offen und neugierig Nagano sich darauf eingelassen hat», betont Seedorf «Man musste ihm argumentativ natürlich etwas anbieten – aber dann hat er gerne Neues ausprobiert.»
Reduzierte Lautstärke
Nagano sei von Anfang an sehr darauf bedacht gewesen, die Singstimmen durchzulassen und nie unter den Orchestermassen zu begraben «Selbst die Fortissimo-Passagen in den Blechbläsern begreift er nicht als Lautstärkebefehl, sondern als Aufforderung zu mehr Intensität.» Dass ein differenzierter Umgang mit der Lautstärke Wagners eigenen Vorstellungen entspreche, lasse sich aus verschiedenen Quellen ableiten, wie Seedorf erklärt. «Wagner hat ja einige Aufführungen seiner Werke selbst geleitet oder deren Einstudierung begleitet. Und wir wissen etwa vom ‹Tristan›, aber auch vom ‹Ring› in Bayreuth, dass er die Dynamik oft reduziert hat, damit der Gesang die erkennbare Hauptstimme bleibt.»
Aus der engen Kooperation von wissenschaftlicher Arbeit und musikalischer Praxis erwächst bei «The Wagner Cycles» auf diese Weise ein ganz eigener Zugang Durch ihn wirken Wagners Dramen wie schon 2023 beim «Rheingold» und jetzt im Fall der «Walküre», sehr viel transparenter, auch intimer und dadurch emotional noch packender Sie entfalten ihre mitreissende Kraft aus der Nahbarkeit, aus dem Reichtum an Nuancen – und weniger aus der schieren Überwältigung, wie man es aus vielen anderen Aufführungen kennt.
Der Sopranistin Sarah Wegener, für die Sieglinde ihre erste grosse WagnerPartie ist, kommt dieser Ansatz sehr entgegen. «Mir ging es schon immer darum, dass man den Text wirklich versteht und möglichst viele Farben findet, um den Ausdruck der Musik zu transportieren Dass das in einer Wagner-Oper auch möglich ist, finde ich genial!»
Das Lucerne Festival erinnert in mehreren Konzerten an den 150. Geburtstag des grossen Revolutionärs der Musik. Dessen Schaffen verschreckt noch heute Teile des Publikums, doch die Abwehr beruht auf einem Missverständnis.
Zum 50. Geburtstag seines Lehrers und Freundes Arnold Schönberg verfasste Alban Berg 1924 einen Artikel für eine Musikzeitschrift mit dem Titel «Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich?» Zu dieser Zeit war Schönberg als Komponist und Lehrer durchaus anerkannt – im Jahr darauf wurde er zum Kompositionsprofessor an der Berliner Akademie der Künste berufen. Dennoch schlug ihm bei Teilen des Publikums noch immer Unverständnis und Ablehnung entgegen. Berg, der seinerseits im Jahr darauf einen überragenden Erfolg mit seiner Oper «Wozzeck» erringen sollte, fühlte sich herausgefordert, seinem verehrten Lehrer in der Öffentlichkeit zu mehr Anerkennung zu verhelfen In seinem Aufsatz versuchte er, anhand des 1. Streichquartetts von Schönberg den «Beweis» zu erbringen, dass diese Musik keineswegs unverständlich ist, sondern ganz im Gegenteil so viel innere Logik und Stringenz besitzt, dass man sie – wenn man sich nur ein wenig mit ihr beschäftigt – auch versteht. Er schwärmte von deren Reichtum an «thematischen, kontrapunktischen und rhythmischen Schönheiten», über deren «unermessliche Fülle von Akkorden und Akkordverbindungen», die nichts anderes seien als «das Resultat einer in der zeitgenössischen Musik ganz aussergewöhnlichen Polyphonie» und einer «noch nicht dagewesenen Beweglichkeit der melodischen Linie»
Saalschlachten
Schönberg selbst war immer wieder überrascht, dass man seinen Werken mit Unverständnis begegnete Er fühlte sich weniger als Umstürzler denn als Teil einer musikalischen Tradition, die er mit seinem Schaffen weiterführte – wenngleich mit anderen, neuartigen Mitteln. In einem Vortrag klagte er einmal: «Ich bin als Konstrukteur verschrien, als Mathematiker als ein Künstler dem es an der Fähigkeit mangelt, zwischen Herz und Hirn zu vermitteln Und selbst jene, die meinen ‹Pelleas und Melisande› gehört haben oder die ‹Verklärte Nacht›, die ja grosse Gefühlsmusiken sind, halten immer noch daran fest, dass ich dieser Mathematiker bin.»
Dieses Vorurteil hält sich bis heute Zu Unrecht. Die 1911 beendeten «Gurre-Lieder», die noch überwiegend dem spätromantischen Klangidiom verpflichtet sind, waren Schönbergs grösstes Erfolgsstück zu dessen Lebzeiten –und sie sind es bis heute Selbst in Wien, wo es eine geradezu erbitterte Feindschaft des Publikums gegen ihn gab, bis hin zu regelrechten Saalschlachten, war die Uraufführung dieses Werks im Jahr 1913 ein grosser Erfolg. Zu dieser Zeit war er ästhetisch freilich längst zu anderen Ufern aufgebrochen. Mit dem 2 Streichquartett, das im vorletzten und im letzten Satz um einen Gesangspart nach Gedichten von Stefan George erweitert wird, verliess Schönberg 1908 endgültig den Bereich der gefestigten Tonalität. An ihre Stelle tritt mehr und mehr eine freitonale Kompositionsweise von grosser Expressivität – noch weit vor der Entwicklung der Zwölftontechnik in der die Abfolge der Töne nach Reihen bestimmt wird Schönberg vollzog auf diese Weise in seiner Musik –seiner Zeit meist voraus – die künstlerischen Strömungen seiner Zeit musikalisch nach: vom Symbolismus über den Expressionismus bis zur Neuen Sachlichkeit. Und er betrat dabei nicht nur harmonisch neue Regionen, sondern er kreierte auch neue Gattungen und Besetzungen. In seinem «Pierrot Lunaire» für Sprechstimme, Klavier, Flöte, Klarinette,Violine und Cello – einem Schlüs-
selwerk der Moderne das sogar von Puccini rezipiert wurde – setzte er 1912 den Sprechgesang in einem klein besetzten Musikstück ein In dem Musikdrama «Die glückliche Hand» von 1913 schuf er eine Einheit aus Farben und Klängen und wollte sogar den damals jungen Film einbeziehen. In den «Fünf Orchesterstücken» op 16 von 1909 erzeugte er maximale Expression durch Verknappung, es sind Miniaturen für grosses Orchester in äusserster Verdichtung –eine wegweisende Innovation. Vor der Erstaufführung äusserte Schönberg: «Ich verspreche mir allerdings kolossal viel davon, insbesondere Klang und Stimmung Nur um das handelt es sich – absolut nicht symphonisch, direkt das Gegenteil davon, keine Architektur, kein Aufbau Bloss ein bunter ununterbrochener Wechsel von Farben, Rhythmen und Stimmungen.» Also eine gewissermassen abstrahierte, ungegenständliche Musik, analog zur Malerei des befreundeten Malers Wassily Kandinsky.
Einer hat es tun müssen
Schönberg war sich seiner besonderen Rolle als Neuerer in der Musik bewusst. Als er im Ersten Weltkrieg von
einem Soldaten gefragt wurde ob er der berühmt-berüchtigte Komponist Arnold Schönberg sei, antwortete er: «Einer hat’s sein müssen, keiner hat’s sein wollen; da hab ich mich halt dazu hergegeben» Manchen Komponisten nach 1945 –allen voran Pierre Boulez – erschienen Schönbergs Werke ganz anders, nämlich als zu romantisch.Tatsächlich steckt viel Spätromantik in Schönbergs Musik Vor allem, wenn es um den Willen zur Expression und Emotion geht. Deshalb kann seine Musik eben sehr wohl auch ohne intellektuelle Anstrengung rezipiert werden: auf der emotionalen Ebene, wenn man sich nur darauf einlässt Eine sehenswerte Ausstellung im Wiener Arnold-Schönberg-Center das den Nachlass des Komponisten besitzt, widmet sich noch bis Februar 2025 genau diesen emotionalen Aspekten in Schönbergs Musik. Der Titel ist sprechend: «Mit Schönberg Liebe hören» Kein Gefühl wird enger mit Musik assoziiert als die Liebe – kaum ein Komponist der frühen Moderne wird öfter mit vermeintlich rational-emotionslosen Klangwelten assoziiert als Arnold Schönberg. Hier möchte das SchönbergCenter mit vertrauten Vorurteilen aufräumen. Die Kuratorin Therese Muxen-
Schönberg war immer wieder überrascht, dass man seinen Werken mit Unverständnis begegnete.
eder hat für die Ausstellung über 100 Objekte, Autografen, Briefe, Fotos und Bilder, die Schönberg im expressionistischen Stil malte, sowie Bühnenbildentwürfe zusammengetragen und zu einem anschaulichen chronologischen Parcours aufbereitet. Durch ihn lässt sich nachvollziehen, wie stark sich das Thema Liebe durch Schönbergs Werke zieht und zu welch höchst unterschiedlichen klanglichen Ergebnissen dies führte –von den frühen, noch an Brahms und Strauss orientierten Liedern über die grossen Orchesterwerke «Gurre-Lieder» und «Pelleas und Melisande» bis zur Oper «Moses und Aron», in der es um das Thema der Gottesliebe geht. Zentral ist dabei nicht zuletzt ein autobiografischer Aspekt, nämlich die zwei Ehen Schönbergs. Seiner ersten Frau Mathilde, der Schwester Alexander Zemlinskys, und seiner zweiten Frau Gertrud hat er mehrere Werke gewidmet; diese sind teilweise tiefgreifend von ihnen inspiriert Dies gipfelte in den expressionistischen Musiktheaterstücken «Erwartung» und «Glückliche Hand», die als Reaktion auf eine verhängnisvolle Affäre Mathildes mit dem Maler Richard Gerstl entstanden Gerstl nahm sich im November 1908 das Leben
Komponierte Psychoanalyse
Das Monodram «Erwartung» von 1909 kreist um die Themen Erinnerung, Hoffnung, Eifersucht und Trauer In einem dämmrigen Wald begibt sich eine Frau auf die geheimnisvolle Suche nach ihrem Geliebten und durchlebt dabei verschiedenste Gefühlsstadien von Angst und Hingabe Schönberg hat dazu eine packende psychologisch vieldeutige Musik komponiert, die ein Schlüsselwerk der musikalischen Avantgarde darstellt. Die Musik erkundet komplexe seelische Zustände, die das Thema Liebe und Treue gewissermassen musik-psychologisch ausdeuten. Dafür entwickelt er wiederum eine ausdifferenzierte musikalische Sprache jenseits tonaler Muster. Wer dem aufgeschlossen lauscht, wird in Schönberg eher einen musikalischen Psychoanalytiker sehen, der die menschlichen Seelenwege so tief durchmass wie sein Zeitgenosse Sigmund Freud. Aber sicher keinen kühlen «Konstrukteur» Schönberg Schüler Anton Webern, ebenfalls als blosser Konstruktivist missverstanden, sagte einmal über die Musik seines Lehrers: «Mit der Theorie kommt man seinen Werken nicht näher. Nur eines ist notwendig: das Herz muss offen stehen.»
Di 20.August
19.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal LucerneFestivalOrchestra|RiccardoChailly Dirigent |AlexanderMalofeev Klavier Rachmaninow
Mi 21.August
17.00Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal DresdnerFestspielorchester|ConcertoKöln| KentNagano Dirigent |Solist*innen WagnerDieWalküre
Sa 24.August
18.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal LucerneFestivalOrchestra|Yannick Nézet-Séguin Dirigent |BeatriceRana Klavier C.Schumann|Bruckner
Mi 28.August
19.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal BerlinerPhilharmoniker| KirillPetrenko Dirigent Bruckner
Fr 30.August
19.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal RoyalConcertgebouwOrchestra| Myung-WhunChung Dirigent | SirAndrásSchiffKlavier Weber|Beethoven|Brahms
So 01.September
18.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal
TheClevelandOrchestra|FranzWelserMöst Dirigent|VíkingurÓlafsson Klavier Schumann|Tschaikowsky
Mi 04.September
19.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal GewandhausorchesterLeipzig| AndrisNelsons Dirigent |DaniilTrifonov Klavier Mozart|Bruckner
Sa 07.September
14.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal LucerneFestivalAcademyContemporary Orchestra(LFCO)|SirGeorgeBenjamin Dirigent |JörgenvanRijen Posaune Benjamin|Berio|Abrahamsen
Sa 07.September
19.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal WienerPhilharmoniker|Christian Thielemann Dirigent |JuliaHagen Violoncello Schumann|Bruckner
So 08.September
19.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal StaatskapelleBerlin|SusannaMälkki Dirigentin|WiebkeLehmkuhl Alt | EricCuttlerTenor Mahler
Mi 11.September
19.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal Tonhalle-OrchesterZürich|PaavoJärvi Dirigent|ShekuKanneh-Mason Violoncello Schostakowitsch|Mahler
Sa 14.September
18.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal BudapestFestivalOrchestra|IvánFischer Dirigent |PatriciaKopatchinskaja Violine Prokofjew|Bartók|Dvořák
So 15.September
18.30Uhr|KKLLuzern,Konzertsaal NDRElbphilharmonieOrchester| NDRVokalensemble|MDR-Rundfunkchor| RundfunkchorBerlin|AlanGilbert Dirigent| Solist*innen SchönbergGurre-Lieder
Di 13.08. 19.30|KSYouthSymphonyOrchestra ofUkraine YouthSymphonyOrchestraofUkraine|OksanaLyniv AndreiBondarenko| UladzimirSinkevich|Orkin,Elgar,Schumann
Mi 14.08. 19.30|KSEuropeanUnionYouth Orchestra EuropeanUnionYouthOrchestra|GianandreaNoseda|NicolasAltstaedt| Simon,Britten,Strauss
Fr16.08
18.30|KSLucerneFestivalOrchestra1 Eröffnung LucerneFestivalOrchestra|RiccardoChailly|Streich,Mahler
18.30|I LakesideSymphony Live-ÜbertragungdesEröffnungskonzerts
Sa 17.08. 15.00|APodiumsdiskussion «20JahreLucerneFestivalAcademy»
18.30|KSLucerneFestivalOrchestra2 LucerneFestivalOrchestra|KlausMäkelä|LeifOveAndsnes| Mendelssohn,Grieg,Schumann
So 18.08. 11.00|KSLucerneFestivalOrchestra3 Solist*innendesLucerneFestivalOrchestra|Schneider,Schnittke, Zbinden,J.S.Bach,Vierne,Mozart
15.30|LSLucerneFestivalAcademy1 «Geburtstagskonzert20JahreLucerneFestivalAcademy»|Rihm,Boulez Streich,Furrer,Žiūkaitė
19.30|KSWest-EasternDivanOrchestra West-EasternDivanOrchestra|DanielBarenboim|Anne-SophieMutter| Brahms,Schönberg
Mo 19.08. 19.30|KSRezitalMaoFujita MaoFujita|Mozart,Séverac,Chopin,Prokofjew,Schumann
Di 20.08. 19.30|KSLucerneFestivalOrchestra4 LucerneFestivalOrchestra|RiccardoChailly|AlexanderMalofeev| Rachmaninow
Mi 21.08. 17.00|KS DieWalküre DresdnerFestspielorchester|ConcertoKöln|KentNagano|Solist*innen| Wagner
Do 22.08. 12.15|LKDebutTjashaGafner TjashaGafner|Tournier,J.S.Bach,Holliger,Haraldsdóttir,Haydn,Renié
19.30|KSLuzernerSinfonieorchester LuzernerSinfonieorchester|MichaelSanderling FrancescoPiemontesi| Beethoven,Schubert
Fr 23.08. 19.30|KSTschechischePhilharmonie TschechischePhilharmonie|JakubHrůša|ShekuKanneh-Mason|Dvořák
Sa 24.08. 11.00|LSLucerneFestival Academy2 LucerneFestivalContemporaryOrchestra(LFCO) RuthReinhardt| Schönberg,Streich,Rihm,Boulez
14.00|E40minOpenAir LondonCentralBrass|Schäbyschigg|EnsembledesLucerneFestival ContemporaryOrchestra(LFCO)
18.30|KSLucerneFestivalOrchestra5 LucerneFestivalOrchestra|YannickNézet-Séguin|BeatriceRana| C.Schumann,Bruckner
21.30|LTShekuKanneh-Mason& PlínioFernandes ShekuKanneh-Mason|PlínioFernandes|Villa-Lobos,Gnattali,Brouwer MarinoArcaro,Piazzolla
So 25.08. 11.00|KSLucerneFestivalOrchestra6 LucerneFestivalOrchestra|GregoryAhss|RaphaelChrist|Vivaldi 14.30|LSComposerSeminar: Abschlusskonzert1—LFCO LucerneFestivalContemporaryOrchestra(LFCO) Teilnehmer*innen desContemporary-ConductingProgram|WerkschaudesComposer SeminarsfürOrchester
18.30|KSRotterdamPhilharmonic Orchestra RotterdamPhilharmonicOrchestra|LahavShani|LisaBatiashvili| Mendelssohn,Mozart,Debussy,Ravel
Mo 26.08. 19.30|KSLisaBatiashvili&Stipendiaten LisaBatiashvili|GiorgiGigashvili|TsotneZedginidze|Schubert,Debussy, Zedginidze,Bardanashvili,Franck
Di 27.08. 12.15|LKDebutMartinJamesBartlett MartinJamesBartlett|Couperin,Rameau,Schumann,Ravel, Liszt,Ginastera
19.30|KSDie12Cellistender BerlinerPhilharmoniker Die12CellistenderBerlinerPhilharmoniker|Mendelssohn,Currier,Bizet Poulenc,Piazzollau.a
Mi 28.08. 19.30|KSBerlinerPhilharmoniker1 BerlinerPhilharmoniker|KirillPetrenko|Bruckner
Do 29.08. 12.15|LKDebutAnnemarieFederle AnnemarieFederle|JunyanChen|Britten,F.Strauss,Liszt,Kirchner,Vignery 19.30|KS BerlinerPhilharmoniker2 BerlinerPhilharmoniker|KirillPetrenko|Smetana
Fr 30.08. 19.30|KSRoyalConcertgebouw Orchestra RoyalConcertgebouwOrchestra|Myung-WhunChung|SirAndrásSchiff| Weber,Beethoven,Brahms Sa 31.08. 11.00|LSComposerSeminar: Abschlusskonzert2— IEMA-Ensemble
InternationaleEnsembleModernAkademie(IEMA-Ensemble2023/24)| Teilnehmer*innendesContemporary-ConductingProgram| WerkschaudesComposerSeminarsfürEnsemble 16.00|LK RezitalShekuKanneh-Mason ShekuKanneh-Mason|HarryBaker|«Bach&Beyond» 19.30|KSLucerneFestivalAcademy3 LucerneFestivalContemporaryOrchestra(LFCO) BeatFurrer| SimonHöfele|Furrer,Streich,Feldman
So 01.09. 11.00|KSRezitalAnnaVinnitskaya AnnaVinnitskaya|Schumann,Mendelssohn,Widmann 13/14.30|LSFamilienkonzert Schlagzeug-Show «DrummingoutoftheBox»
16.00|LT KlangforumWien KlangforumWien|CantandoAdmont|BeatFurrer|Solist*innen|Furrer
18.30|KSTheClevelandOrchestra TheClevelandOrchestra|FranzWelser-Möst|VíkingurÓlafsson| Schumann,Tschaikowsky
Mo 02.09. 19.30|KSSymphonieorchester desBayerischenRundfunks SymphonieorchesterdesBayerischenRundfunks|SirSimonRattle|Mahler
Di 03.09. 12.15|LKDebutTheoPlath TheoPlath|ArisAlexanderBlettenberg|Vladigerov,Debussy,Holliger, Elgar,Schnyder
19.30|KSChineke!Orchestra Chineke!Orchestra LeslieSuganandarajah|KellyHall-Tompkins Coleridge-Taylor,Marsalis,Price Mi 04.09. 19.30|KSGewandhausorchesterLeipzig GewandhausorchesterLeipzig|AndrisNelsons|DaniilTrifonov| Mozart,Bruckner Do 05.09. 12.15|LKDebutIsataKanneh-Mason IsataKanneh-Mason|Haydn,Schumann,Mendelssohn/Rachmaninow, Nielsen,Gubaidulina
19.30|KSOrchestredeParis OrchestredeParis|KlausMäkelä LisaBatiashvili|Tschaikowsky,Berlioz Fr 06.09. 19.30|KSWienerPhilharmoniker1 WienerPhilharmoniker|ChristianThielemann|Mendelssohn,Strauss Sa 07.09. 11.00|HLPortraitBeatFurrer& LisaStreich EnsembleHelix/StudiofürzeitgenössischeMusikderHochschule Luzern—Musik|BeatFurrer|Furrer,Streich
14.30|KS LucerneFestival Academy4
LucerneFestivalContemporaryOrchestra(LFCO)|SirGeorgeBenjamin| JörgenvanRijen|Benjamin,Berio,Abrahamsen
17.00|LT DerDoppelgänger EnsembledesLuzernerTheaters LuzernerSinfonieorchester| TitoCeccherini|Ronchetti
19.30|KSWienerPhilharmoniker2 WienerPhilharmoniker|ChristianThielemann|JuliaHagen| Schumann,Bruckner
So 08.09. 11.00|KSLeaDesandre&Jupiter Ensemble LeaDesandre|JupiterEnsemble ThomasDunford|Vivaldi
13/14.30|LSFamilienkonzert Musiktheater «KrachmitBach»
16.00|HL LucerneFestival Academy5
EnsembledesLucerneFestivalContemporaryOrchestra(LFCO) Teilnehmer*innendesContemporary-ConductingProgram| Song,Saariaho,Seyedi,Kendall
19.30|KSStaatskapelleBerlin StaatskapelleBerlin|SusannaMälkki WiebkeLehmkuhl|EricCutler| Mahler
Mo 09.09. 19.30|KSMahlerChamberOrchestra MahlerChamberOrchestra|AntonelloManacorda|AnnaProhaska| Busoni,Mahler,Dvořák
Di 10.09. 12.15|LKDebutAdelphiQuartet AdelphiQuartet|Haydn,diLasso,GildemannSink,Coult,Britten
18.00|LS Stegreif «#freebruckner»
19.30|KSRezitalRudolfBuchbinder RudolfBuchbinder|Mozart,Beethoven,Chopin
Mi 11.09. 19.30|KSTonhalle-OrchesterZürich Tonhalle-OrchesterZürich|PaavoJärvi|ShekuKanneh-Mason| Schostakowitsch,Mahler
Do 12.09. 12.15|LKDebutMélodieZhao MélodieZhao|Mozart,Liszt,Zhao,Gershwin
19.30|KS räsonanz—Stifterkonzert MünchnerPhilharmoniker|LahavShani|RenaudCapuçon| Chin,Dutilleux,Seltenreich,Ben-Haim
Fr 13.09. 19.30|KSMünchnerPhilharmoniker MünchnerPhilharmoniker|LahavShani|J.S.Bach,Bruckner
Sa14.09 11.00|LSFamilienkonzert BudapestFestivalOrchestra «Ohrenauf:Klassik!»
18.30|KSBudapestFestivalOrchestra BudapestFestivalOrchestra|IvánFischer|PatriciaKopatchinskaja| Prokofjew,Bartók,Dvořák
So 15.09. 18.30|KSGurre-Lieder NDRElbphilharmonieOrchester|NDRVokalensemble|MDR-Rundfunkchor| RundfunkchorBerlin|AlanGilbert|Solist*innen|Schönberg
(Stand:26.06.2024)