Bonny Stiftung für die Freiheit (D)

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Freitag, 24. Dezember 2021

Verlagsbeilage

Erfolgreich und liberal – Reformideen für die Schweiz

ILLUSTRATIONEN: PETER GUT

Impulse aus Wissenschaft und Wirtschaft, damit unser Land auch 2030 prosperiert

CH-8021 Zürich  ·  Telefon  +41 44 258 16 98  ·  www.nzzone.ch


2  NZZ-Verlagsbeilage

Reformideen für die Schweiz

ALTERSVORSORGE

AUSSENWIRTSCHAFT

Die Lasten gerecht auf die Generationen verteilen

Weltoffenheit als Grundprinzip

Freitag, 24. Dezember 2021

Freihandel, Klimaschutz, Fachkräftemangel: Die Schweiz braucht neue Impulse, um die grossen Herausforderungen der Globalisierung zu meistern.

Es ist höchste Zeit, den jahrzehntelangen Reformstau in der Altersvorsorge zu überwinden. Gefragt sind nachhaltige, politisch realisierbare Lösungsansätze.

Peter Moser und Tobias Straumann Seite 6

Aymo Brunetti und Heinz Zimmermann Seite 4

BILDUNG UND ARBEITSMARKT

Nachgelagerte Studiengebühren einführen Alle Menschen, die hierzulande eine ­tertiäre Ausbildung absolvieren, sollen für die von ihnen verursachten Kosten stärker als bisher selber aufkommen. Zudem ­mögen sie ihre Studienwahl besser an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ausrichten.

GESUNDHEIT

Mehr Eigenverantwortung in der Krankenversicherung

Stefan C. Wolter und Conny Wunsch

Unser Gesundheitssystem muss dringend reformiert werden. Viel wäre schon gewonnen, wenn Wohlhabende künftig stärker für ihre Krankheitskosten selber aufkommen.

Seite 8

Konstantin Beck und Stefan Felder Seite 10 INFRASTRUKTUR

Ob Verkehr, Energie oder Daten: gefragt ist echte Kostenwahrheit Infrastrukturvorhaben müssen mit einem klaren Preisschild versehen werden, das sämtliche Kosten- und Nutzenaspekte berücksichtigt. Reformen in der Schweiz sind überfällig. Reiner Eichenberger und Markus Saurer Seite 12

ZUKUNFTSFÄHIGKEIT

Politische Institutionen entschlacken Ein schlanker Staat mit effektiven direktdemokratischen Institutionen ist der Schlüssel für eine resiliente, reformfähige Schweiz. Die Vorherrschaft partikularer Interessen gilt es zu brechen. Christoph A. Schaltegger und Mark Schelker Seite 14

Bonny Stiftung für die Freiheit Die parteipolitisch neutrale und steuerbefreite Bonny Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Bern wurde 2013 gegründet und bezweckt die Stärkung der freiheitlichen Werte in der Schweiz. Sie gehört dem Förderkreis der Denk­fabrik ­Avenir Suisse an, hat den Deregulierungs­preis «5vor12» mitinitiiert und unterstützt marktwirtschaftliche und liberale Projekte, unter anderem das «WunschSchloss Thun» des StrategieDialog21 (SD21) und des Swiss Venture Club (SVC), die Initiativen «Youngpreneurs»

in Gymnasien, «Unchain Your Mind» und «Liber-Thé» an Universitäten sowie Publikationen und Bücher im Gesundheits-, Medien-, Sicherheits- oder Energiebereich. Einmal jährlich zeichnet die Bonny Stiftung für die Freiheit eine Persönlichkeit aus, die sich um die Erhaltung der Freiheit verdient gemacht hat. Der seit 2013 jährlich verliehene Preis für die Freiheit ist mit 100 000 Franken ­dotiert und ging 2021 an alt B ­ undesrat Dr. h.c. Kaspar Villiger, «den freisinni-

gen Staatsmann, ehrbaren Kaufmann und liberalen Citoyen der Verhältnismässigkeit». Die bisherigen Preisträger­ innen und Preis­träger sind: Franziska A. Tschudi (2020), Marco Solari (2019), Prof. em. Dr. Peter Gomez (2018), Dr. Gerhard Schwarz (2017), Prof. Dr. Suzette Sandoz (2016), Prof. Dr. Silvio Borner (2015), Moreno Bernasconi und Andreas Thiel (2014) sowie Dr. h.c. Beat Kappeler. Dem Stiftungsrat der Bonny Stiftung für die Freiheit gehören an: Jean-

Impressum Pierre Bonny (Präsident und Stifter), alt ­Nationalrat und ­Wirtschaftskonsulent; Dr. Beat Brechbühl (Vizepräsident), Anwalt und Unternehmer; Gerold Bührer, alt Nationalrat, ehemaliger Präsident economiesuisse und Verwaltungsrat; Etienne Jornod, Verwaltungsratspräsident der NZZ und Executive Chairman von OM Pharma; Dr. h.c. Beat Kappeler, Ökonom, Buchautor und freier Wirtschaftsjournalist. www.bonny-stiftung.ch

Reformideen für die Schweiz ist eine Verlagsbeilage des Unternehmens NZZ in Kooperation mit der Bonny Stiftung für die Freiheit. Inhalt realisiert durch NZZ Content Creation. Verlagsbeilagen werden nicht von der Redaktion produziert, sondern bei NZZone von unserem Dienstleister für journalistisches Storytelling. Projektmanagement NZZ Content Creation: Norman Bandi (Inhalt) und Armin Apadana (Layout); NZZone, c/o Neue Zürcher Zeitung AG, Falkenstrasse 11, Postfach, 8021 Zürich www.nzzone.ch/contentcreation


Reformideen für die Schweiz

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NZZ-Verlagsbeilage

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Impulse aus einer unparteiischen ökonomischen Ideenwerkstatt Was gestern war, muss morgen nicht sein. Damit die Schweiz auch 2030 noch prosperiert, sollte sie zu ihren Erfolgsfaktoren mehr Sorge tragen und ihnen zu neuem Schwung verhelfen. Das Projekt «Liberale Reformideen für die Schweiz 2030» will dazu realistische Vorschläge machen. Von Beat Brechbühl, Peter A. Fischer, Christoph A. Schaltegger und Kaspar Villiger Es stimmt, der Schweiz geht es gut. Nimmt man das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf zum Massstab, so ist dieses bloss in Monaco, Liechtenstein, Luxemburg und Bermuda noch etwas höher als in der Schweiz. Irland folgt gleich. Wobei es kaum Zufall ist, dass die Länder mit der höchsten Wirtschaftsleistung pro Kopf alle klein und sehr exportorientiert sind. Im Wettbewerbsfähigkeitsranking des ­Lausanner Institute for Management Development (IMD) rangiert die Eidgenossenschaft 2021 vor Schweden und Dänemark auf dem ersten Platz. Beim letzten Produktivitätsranking des World Economic Forum (WEF) schaffte es die Schweiz 2019 nach Singapur, den USA, Hongkong und den Niederlanden immerhin noch auf den fünften Platz. Schöne und gut erschlossene Natur, eine intakte Infrastruktur, ein hoher Bildungsstand, kaum Korruption und wenig Kriminalität, ein einigermassen kundenorientierter öffentlicher Sektor und auch das bisher ziemlich verlässliche Gesundheitswesen sorgen für viel Lebensqualität.

Für die Zukunft rüsten Doch was war und ist, muss künftig nicht so bleiben. Wer nur schon stehen bleibt, fällt zurück. Den hohen Wohlstand haben die Menschen in der Schweiz in der Vergangenheit hart und fleissig erwirtschaftet. Frühzeitige Weltoffenheit, Wirtschaftsliberalismus und das föderalistisch-direktdemokratische System, das den Staat und seine Bürokraten im Zaum hielt und für fein austarierten gesellschaftlichen Konsens sorgte, trugen entscheidend dazu bei. Aber ist die Schweiz auch gut gerüstet, um in Zukunft noch zu prosperieren? Diese Frage treibt die Initianten und Mitwirkenden am Projekt ­«Liberale Reformideen für die Schweiz 2030» um. Denn leider mehren sich die Zweifel. 2020 untersuchte das WEF, wie unterschiedliche Staaten gerüstet sind, um aus der CoronaKrise gestärkt hervorzukommen. Nur beim Kriterium «Flexibilität des Arbeitsumfelds» taucht die Schweiz auf dem dritten Platz auf. Bei der Technologieadoption, den digitalen Fähigkeiten und dem rechtlichen Rahmen schafft sie es nicht einmal mehr unter die ersten zehn. Dabei hat gerade die Pandemie gezeigt, wie wichtig eine rasche Adoption neuer Technologien und privates Unternehmertum sind. Wir fürchten, dass die Schweiz ihre traditionellen Stärken erodieren lässt. Freiheit ist auch hierzulande nicht mehr selbstverständlich, wie die in den vergangenen Jahren ungestört wuchernde Regulierungsflut gezeigt hat. Politik und Staat glauben, die marktwirtschaftlichen Kräfte immer stärker eingrenzen und zentral verwalten zu müssen. Ins Korrektiv des föderalen Wettbewerbs ist Sand geraten. Die oft eklatanten Ineffizienzen, die sich dadurch etwa im Gesundheitswesen, in der digitalen Infrastruktur, dem Tourismus, dem Bildungswesen oder auch in der Aussenwirtschaftspolitik manifestieren, werden mit der finanziellen Giesskanne überdeckt. Als Resultat fehlt es breiten Kreisen der Politik und Bevölkerung an Problembewusstsein und Leidensdruck. So dürfte uns der schwierige Entzug vom süssen Gift der Subventio-

nen und Härtefallhilfen noch länger beschäftigen als das Virus selbst. Wachsender Druck grosser Hochsteuerstaaten auf tüchtige kleinere Konkurrenten, stockende Freihandelsverhandlungen, ein sich verschlechternder Zugang zu internationalen Finanzmärkten, die gelähmte Welthandelsorganisation, der Konflikt zwischen den USA und China und schliesslich der Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU illustrieren, wie sehr die exportorientierte Schweiz unter Druck gerät. Aller Emotionen zum Trotz scheint uns klar, dass die Eidgenossenschaft möglichst rasch zu einem konstruktiven Verhältnis mit der EU und ihrem Binnenmarkt zurückfinden muss. Gerade weil diese Herausforderung so offensichtlich wie emotional umstritten ist und weil sich bereits zahlreiche andere Institutionen und kluge Köpfe damit beschäftigen, haben wir sie bewusst ausgeklammert. Stattdessen beschäftigt uns die Frage, was die Schweiz jenseits der Europapolitik tun könnte, um aus eigener Kraft für die Zukunft besser gerüstet zu sein und auch noch 2030 in Wettbewerbsranglisten auf Spitzenplätzen zu rangieren. Dazu gibt es offensichtliche liberale Anliegen wie Regulierungsbremsen oder die Reform der Verrechnungssteuer, die im politischen Betrieb bereits diskutiert werden. Die Wirtschaftsredaktion der «Neuen Zürcher Zeitung» hat sich im vergangenen Sommer gefragt, wieso in vielen Bereichen wie der Agrarpolitik, dem Steuersystem oder den Staatsbe-

Die Initianten

Beat Brechbühl

Peter A. Fischer

Christoph A. Schaltegger

Kaspar Villiger

ist Managing Partner bei der Anwaltskanzlei Kellerhals Carrard und Vizepräsident der Bonny Stiftung für die Freiheit.

ist Chefökonom der «Neuen Zürcher Zeitung» und als solcher zuständig für Wirtschaftspolitisches.

ist Professor und Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik IWP an der Universität Luzern.

ist alt Bundesrat (von 1989 bis 2003) und heute vor allem als engagierter liberaler Publizist tätig.

trieben die Reformwiderstände derart gross sind und was dagegen getan werden könnte. Mit dem vorliegenden Projekt wollten wir aus liberaler und ökonomischer Warte noch etwas weiterdenken.

Stärken stärken Als Initianten haben wir sechs Themengebiete identifiziert, von denen wir glauben, dass sie für die künftige Prosperität unseres Landes zentral sind: das Wissen und die Bildungschancen, die Generationengerechtigkeit beim Älterwerden, das Gesundheitssystem und seine Finanzierung, die Offenheit und Einbindung in die Welt, die Infrastruktur und Klimapolitik sowie die Resilienz und Reformfähigkeit der direktdemokratischen Institutionen. Wir wollten Reformideen und Impulse jenseits des üblichen politischen Hickhacks generieren. Gleichzeitig setzten wir uns zum Ziel, nicht einfach Vorschläge für den Elfenbeinturm zu produzieren, sondern realistische Ideen und Prinzipien. Alles sollte im liberalen Geiste erfolgen, also ohne strikte Vorgaben und zentrale Planung. Für jedes Feld haben wir zwei renommierte, wirtschaftspolitisch erfahrene Ökonominnen und Ökonomen gesucht, die sich gemeinsam über effektive Reformvorschläge Gedanken machen und die bereit sind, diese dann mit im jeweiligen Fachgebiet erfahrenen Vertreterinnen und Vertretern aus Wirtschaft und Gesellschaft zu diskutieren. Bei Letzteren haben wir den Bogen bewusst weit gespannt: von der jungen Start-up-Unternehmerin über eine höhere Kaderangestellte bis zur internationalen Konzernchefin – ideell in der Überzeugung vereint, dass wir durch einen schlanken und effizienten Staat, smarte und verursachergerechte Regulierung sowie technoglogieneutrale und kreative Reformen am besten das Erfolgsmodell Schweiz auch ins Jahr 2030 retten können. Erfreulicherweise haben sich die meisten Angefragten spontan bereiterklärt (völlig unentgeltlich) mitzumachen. Alle Beteiligten haben sich im vergangenen Halbjahr einige Zeit genommen und Gedanken gemacht für eine prosperierende Schweiz von morgen. Die parteipolitisch neutrale Bonny Stiftung für die Freiheit (siehe Kasten auf Seite 2) finanzierte die Publikation des Resultats. Man mag über den einen oder anderen Aspekt mancher Vorschläge unterschiedlicher Meinung sein. Das war auch in lebendigen Diskussionen zwischen den beteiligten Professorinnen und Professoren, den Vertretern aus Wirtschaft und Gesellschaft und uns der Fall. Der Inhalt der verschiedenen Artikel wird ganz liberal von den einzelnen Autoren verantwortet. Entstanden sind dabei so praktische Vorschläge wie die automatische Anbindung des Rentenalters an die Lebenserwartung mit ausgleichenden Stellschrauben, mehr Eigenverantwortung für

Begüterte in der Krankenkasse, Sparen für eine obligatorische Pflegeversicherung, Arbeitsbewilligungen für Fachkräfte aus Drittländern, die hier studiert oder ein Start-up gegründet haben, oder auch der Vorschlag einer nachgelagerten Studienfinanzierung, die der zunehmenden Umverteilung von Arm zu Reich einen Riegel schieben möchte und für mehr Effizienz im Bildungswesen sorgen will. Für genauso wichtig halten wir aber auch, dass das politische System, das Reformen generiert und entscheidend zur relativ hohen Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz beigetragen hat, wieder besser funktioniert. Es sollte sicherstellen, dass die Interessen der breiten, schlecht organisierten Allgemein-

Politik und Staat glauben, die ­marktwirtschaftlichen Kräfte immer stärker ­eingrenzen und zentral verwalten zu müssen.

heit und der Steuerzahler möglichst gut verteidigt werden gegen besser organisierte Partikularinteressen und dem Selbstverwirklichungswillen von Politikern und Verwaltung. Die Regulierungsflut, das Wachstum des Personals und der Ausgaben im öffentlichen Sektor zeigen, dass es damit in letzter Zeit nicht mehr gut bestellt ist. Vorschläge für ein Finanzreferendum, einen neuen Anlauf zur föderalen Entflechtung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten, Gedanken über eine bessere Trennung von Exekutive und Legislative, die Forderung nach mehr echter Kostennutzenwahrheit bei der Infrastruktur und Klimapolitik und der Vorschlag zur Einführung eines Bürgerrats oder einer Gegenvorschlagskommission zielen in diese Richtung. Die Initianten und Mitwirkenden in diesem ­Projekt präsentieren bewusst kein ­abgeschlossenes Reformprogramm und auch kein neues Weissbuch. Aber wir hoffen, dass unsere Gedanken und Vorschläge inspirieren und über die Festtage hinausstrahlen werden. Wir hoffen, dass wir damit einen Beitrag leisten können zu einer liberalen Schweiz, die nicht nur von ihrer vergangenen Leistung zehrt, sondern auch in Zukunft zu den Erfolgreichen g­ ehört.


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ALTERSVORSORGE

Die Lasten gerecht auf die Generationen verteilen Es ist höchste Zeit, den jahrzehntelangen Reformstau in der Altersvorsorge zu überwinden. Gefragt sind nachhaltige, politisch realisierbare Lösungsansätze. Von Aymo Brunetti und Heinz Zimmermann

Die steigende Lebenserwartung und ein jahrzehntelanger Reformstau haben die Schweizer Altersvorsorge in eine gewaltige finanzielle Schieflage gebracht. Nur durch milliardenschwere jährliche Umverteilungen von Jung zu Alt konnte bis jetzt ein finanzieller Kollaps abgewendet werden. Dies widerspricht dem verfassungsmässigen Auftrag einer nachhaltig finanzierten Altersvorsorge und gefährdet zunehmend den Generationenvertrag. Es ist eines der grössten Politikversagen in unserem Lande, dass bis jetzt noch keine nachhaltige Lösung für dieses Problem umgesetzt wurde. Dies wiegt umso schwerer, als – anders als bei ähnlich fundamentalen Herausforderungen wie in der Europa- oder der Klimapolitik – wir das Problem mit zielführenden innenpolitischen Reformen alleine lösen können. Vor diesem Hintergrund ist die vor kurzem eingereichte Renteninitiative, die eine schrittweise Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung vorsieht, eine einmalige Chance. Sie ist aus unserer Sicht die zentrale Reform, um eine generationengerechte Altersvorsorge zu realisieren. Wegen absehbarer Widerstände, die eine zeitnahe Umsetzung gefährden, schlagen wir hier jedoch Anpassungen vor, die den Kerngedanken beibehalten, unserer Ansicht nach aber die politischen Realisierungschancen erhöhen. Diese Überlegungen könnten in einen allfälligen Gegenvorschlag des Parlaments einfliessen. In der 2. Säule empfehlen wir zudem die Einführung gewisser Automatismen und eine minimale Flexibilisierung der Renten. Rasch realisierbare steuerliche Erleichterungen für die Altersarbeit sollten die Hauptreformen politisch erleichtern und komplettieren deshalb ein aus unserer Sicht zielführendes Reformpaket.

Massive Umverteilung von Jung zu Alt Vielen ist nicht bewusst, dass die beiden Hauptpfeiler der Schweizer Alters-

vorsorge schon heute bei weitem nicht mehr nachhaltig finanziert sind. Seit 2014 hat die 1. Säule (AHV) praktisch jedes Jahr mehr Ausgaben als Einnahmen, und schon seit langem fliessen in der 2. Säule (BVG) jedes Jahr substanzielle Gelder von den Erwerbstätigen zu den Rentnern, um die versprochenen Renten zu finanzieren. Noch besorgniserregender ist der Blick in die Zukunft: Ohne Anpassungen werden diese finanziellen Ungleichgewichte massiv ausgedehnt; der AHVFonds etwa wird in den 2030er Jahren leer sein. Dass die Systeme heute über-

Die natürliche ­Lösung ist, dass das Rentenalter ­proportional mit der Erhöhung der ­Lebenserwartung ansteigen muss.

haupt noch aufrecht erhalten werden können, liegt daran, dass die Schweizer Altersvorsorge zu einem sich laufend akzentuierenden Umverteilungssystem von Jung zu Alt mutiert ist. Und das, ohne dass diese Umverteilung geplant oder beabsichtigt gewesen wäre oder dass sie je bewusst demokratisch abgesegnet worden wäre. Mit jedem Jahr, in dem nichts unternommen wird, verstärkt sich diese Umverteilung. Diese Bevorteilung der Älteren zu korrigieren, sollte eigentlich unbestritten die zentrale Priorität jeder grundsätzlichen Reform der Altersvorsorge

Die Autoren

sein. Einerseits aus Gründen der Fairness, andererseits aber auch, weil eine Akzentuierung dieser Umverteilung den Generationenvertrag ernsthaft bedrohen könnte. Zentrale Ursache für diese bedrohliche finanzielle Entwicklung ist, dass im heutigen System etwas Entscheidendes dynamisch ist, nämlich die Lebenserwartung, und etwas anderes, ebenso Entscheidendes, nämlich das Rentenalter, hingegen starr bleibt. Dadurch muss sich die Finanzierungssituation mit jedem zusätzlich gewonnenen Monat an durchschnittlicher Lebenserwartung verschlechtern, weil mehr ausgezahlt, aber nicht mehr einbezahlt wird. Diese Dynamik wird laufend dadurch verschärft, dass auch in den kommenden knapp zehn Jahren noch geburtenstarke Jahrgänge der Babyboomer pensioniert werden.

Genau drei politische Stellschrauben Wie liesse sich diese Schieflage grundsätzlich korrigieren? Einerseits wird die Finanzierungssituation der Altersvorsorge von für die Politik kaum zielgerichtet beeinflussbaren Faktoren bestimmt, insbesondere von der Geburtenrate, der Immigration und dem Wirtschaftswachstum. So hilfreich eine Verbesserung bei diesen Faktoren aus Sicht der Finanzierungssituation der Altersvorsorge wäre, so wenig lassen sie sich durch die Politik mit konkreten Massnahmen direkt verändern. Andererseits gibt es aber drei Faktoren, die ganz unmittelbar durch politische Entscheidungen getrieben werden: das Rentenalter, die Höhe der Rentenansprüche und die Finanzierung aus Abgaben. Das Rentenalter beeinflusst dabei sowohl die Einnahmen als auch die Ausgaben der Altersvorsorge, während die Rentenansprüche nur die Ausgaben und die Abgaben (Steuern) nur die Einnahmen betreffen. Baut man nach dem Prinzip Hoffnung darauf, dass sich die exogenen Faktoren verbessern – etwa, dass das

Sounding Board Folgende sechs Sparringspartner aus der Praxis sowie Persönlichkeiten aus Wissenschaft oder Zivilgesellschaft haben die Fachautoren thematisch und inhaltlich herausgefordert sowie unterstützt:

Aymo Brunetti

Heinz Zimmermann

(Jahrgang 1963) ist seit 2012 ordentlicher Professor am Departement Volkswirtschaftslehre der Universität Bern. Zudem ist er ebenda geschäftsführender Direktor des Volkswirtschaftlichen Instituts. Zuvor arbeitete er in verschiedenen Funktionen beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), zuletzt als Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik. Auch seit seinem Wechsel an die Universität Bern ist er weiterhin in der wirtschaftspolitischen Beratung tätig, insbesondere im Bereich der Finanzmarktregulierung, wo er in den vergangenen Jahren verschiedene Expertengruppen des Bundes präsidierte.

(Jahrgang 1958) ist seit 2001 Professor für Finanzmarkttheorie an der Universität Basel und seit 1999 Gastdozent an der Universität Bern. Davor hatte er eine Professur an der Universität St. Gallen (HSG) und war Gründungs­direktor des Schweizerischen Instituts für Banken und Finanzen. Sein Forschungsinteresse gilt der empirischen Finanzmarktforschung und derivativen Finanzinstrumenten. Seit über zwei Jahrzehnten ist er im Editorial Board des «Journal of Derivatives». Er ist Ehrenmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Finanzmarktforschung und hat Mandate im Finanzdienstleistungssektor.

Patrick Eugster, Ökonom, Winterthur   Dr. Alexandra Janssen, Unternehmerin und CEO von Ecofin Portfolio ­Solutions, Zürich   Dr. Vera Kupper Staub, Ökonomin, Zürich   Franziska Tschudi, Unternehmerin und CEO, Rapperswil   Salomè Vogt, ­Politikwissenschaftlerin, Zürich   Dr. Veronica Weisser, Ökonomin und Vorsorgeexpertin, Pfäffikon SZ

zukünftige Produktivitätswachstum höher ist – so ist das kein verantwortungsbewusstes Agieren gegen die zunehmende finanzielle Schieflage der Altersvorsorge. Effektive Reformen der Altersvorsorge müssen vielmehr aktiv die drei politisch steuerbaren Faktoren verändern. Die natürliche Lösung des Problems wäre dabei, dass man das starre Element in diesem System dynamisiert. Und das heisst, dass das Rentenalter proportional mit der Erhöhung der Lebenserwartung ansteigen muss.

Hauptreform: Lebensarbeitszeit erhöhen Das zentrale Element unseres Reformvorschlags setzt bei der Volksinitiative «Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge (Renteninitiative)» an, die im Juli 2021 mit rund 145 000 Unterschriften eingereicht wurde. Die Initiative sieht vor, das Rentenalter für beide Geschlechter zunächst schrittweise auf 66 Jahre zu erhöhen und danach an die Lebenserwartung zu koppeln. Eine Umsetzung dieses Vorhabens würde die Nachhaltigkeitsprobleme der Schweizer Altersvorsorge mit einem Schlag substanziell reduzieren. Angesichts der bisherigen politischen Diskussion könnte es allerdings gut sein, dass sich einer zeitnahen Umsetzung dieses Vorhabens politisch grosse Hürden in den Weg stellen. Da das Tempo einer solchen Reform essenziell ist, schlagen wir vor, das Modell der Initiative leicht zu ergänzen, um möglichen Vorbehalten entgegenzutreten. Drei Anpassungen setzen das Grundanliegen um, könnten aber einzeln oder kombiniert helfen, gewisse politische Widerstände abzumildern und eine Verwirklichung zu beschleunigen:   Erstens der Einbau eines DefaultAnsatzes: Die Politik erhält explizit die Möglichkeit, Erhöhungen des Rentenaltes zu reduzieren oder zu vermeiden, wenn sie innerhalb einer vorgegebenen Frist eine alternative Reform realisiert (über Beitragserhöhungen oder Rentenkürzungen), welche die Finanzsituation der Altersvorsorge verbessert. Gelingt das nicht, steigt das Rentenalter. Die Idee dieses Ansatzes ist es, vom «Vollautomatismus» der Initiative wegzukommen, gleichzeitig aber zu garantieren, dass Reformen nicht – wie in den letzten Jahrzehnten – beliebig verschoben werden können. Die Politik erhält während einer vorgegebenen, relativ kurzen Zeit einen gewissen Handlungsspielraum, indem sie eine gemäss der Initiative anstehende Erhöhung des Rentenalters durch entsprechende Anpassungen bei den anderen Stellschrauben (Beitragserhöhungen und Rentenkürzungen) verhindern kann. Parallel dazu stehen derartige alternative Reformen immer unter der Prämisse, dass bei einem Scheitern nicht nichts getan wird, sondern automatisch das Rentenalter nach der vereinbarten Formel steigt. Die Finanzierung der Altersvorsorge passt sich so an die steigende Lebenserwartung in jedem Fall an, aber der Default-Ansatz gibt eine gewisse Flexibilität, auf welche Art und Weise dies geschieht.   Zweitens der Einbau eines einfachen Lebensarbeitszeitelementes: Wer zum Beispiel nach der Ausbildung Stand

heute 44 Jahre voll gearbeitet hat und mindestens 64 Jahre alt ist, kann ohne Einbussen in Pension; auch diese Anzahl Erwerbsjahre wird mit der gleichen Frequenz und im gleichen Ausmass wie das normale Rentenalter an die Lebenserwartung angepasst. Die Idee dieser Ergänzung ist es, mit einem administrativ bewältigbaren Aufwand mehr Rücksicht auf individuelle Berufskarrieren zu legen, als dies bei einem starren, für alle geltenden Rentenalter der Fall wäre. Damit sollen einem politisch machtvollen Gegenargument zur Erhöhung des Rentenalters die Spitzen genommen werden. Mit dem Beispiel von Bauarbeitern wird nämlich oft argumentiert, dass in gewissen Berufen eine Erhöhung des Rentenalters physisch nicht zumutbar sei. Da dieses Argument bei Tätigkeiten relevant ist, in denen die Personen schon früh ins Berufsleben eintreten, kann ein Lebensarbeitszeitmodell hier helfen. Wer mit einem 80- bis 100-Prozent-Pensum eine gewisse, festgelegte Anzahl von Jahren ohne Unterbruch in die Altersvorsorge eingezahlt hat, der kann – wenn er oder sie das möchte – schon ­etwas vor dem ordentlichen Rentenalter pensioniert werden. Für alle ­anderen, also die grosse Mehrheit der Bevölkerung, bliebe das reguläre Pensionsalter bindend. Das ist administrativ deutlich einfacher als ein voll ausgebautes Lebensarbeitszeitmodell, da man nicht für jede Person das individuelle Rentenalter ausrechnen muss. Vielmehr gibt es eine Option (aber keine Verpflichtung), mit dem Nachweis einer bestimmten Zahl von geleisteten Erwerbsjahren sich ohne Einbussen frühzeitig pensionieren zu lassen.   Heftiger politischer Widerstand könnte auch wegen der Angleichung des Rentenalters der Frauen an das der Männer entstehen. Sollte sich die Reform deswegen deutlich zu verzögern drohen, könnte drittens erwogen werden, auf diese Angleichung zu verzichten und vom Bestehenden ausgehend das Rentenalter für beide Geschlechter in gleichen Schritten zu erhöhen. Ein solcher Ansatz wäre vor den Hintergrund der höheren Lebenserwartung der Frauen materiell kaum gerechtfertigt, könnte aber zumindest zu Beginn im Interesse einer rascheren Realisierbarkeit erwogen werden. Diese Ergänzung wäre vor allem dann zu überlegen, wenn die Angleichung des Rentenalters in der 11. AHV-Reform scheitern sollte. Eine Umsetzung der Initiative mit oder ohne die skizzierten Anpassungen wirkt nicht nur bei der 1. Säule, sondern bringt ebenso bei der 2. Säule eine substanzielle Entspannung der Finanzierungssituation. In der 3. Säule bliebe mehr Zeit, die privaten Ersparnisse zu äufnen. Auch in diesem Modell sollte zudem vorgesehen sein, dass man sich einige Jahre früher oder später pensionieren lassen kann, sofern bei dieser individuellen Flexibilisierung die Renten versicherungsmathematisch korrekt angepasst werden.

Zusätzliche Reform für die 2. Säule In der 2. Säule entstehen massive, unbeabsichtigte Umverteilungen, weil wegen der politischen Festlegung der zentralen technischen Parameter notwendige Anpassungen nur zögerlich und viel zu spät


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vorgenommen werden. Diese Reform zielt deshalb auf die automatische Anpassung der beiden zentralen Parameter Mindestumwandlungssatz (UWS) sowie Mindestzinssatz an die Veränderungen der Lebenserwartung und der Kapitalmarktsituation ab. Gleichzeitig sollen mit einer gewissen Flexibilisierung der Rentenansprüche für die Versicherten minimale Wahlmöglichkeiten bei der Anlagestrategie geschaffen werden. Im Vordergrund der Reform steht die Flexibilisierung des UWS. Für den obligatorischen Teil der 2. Säule ist dieser heute gesetzlich festgelegt und hauptverantwortlich für die massive Vermögensumverteilung von Jung zu Alt. Diese Umverteilung steht ganz grundsätzlich im Widerspruch zu einem kapitalgedeckten Vorsorgesystem und könnte durch eine korrekte Berechnung des UWS vermieden werden. Dieser hängt von zwei Faktoren ab: der Lebenserwartung und dem technischen Zinssatz, der für die Diskontierung der zukünftig versprochenen Leistungen herangezogen wird. Für beide Bestimmungsfaktoren gibt es bewährte Bemessungsgrundlagen, welche keine diskretionären Entscheidungen erfordern, sobald der Grad an Sicherheit über die Höhe der auszuschüttenden Renten einmal bestimmt ist. Des Weiteren lässt die heutige Praxis den Vorsorgeeinrichtungen einen zu grossen Spielraum, die angenommene Lebenserwartung und den technischen Zinssatz den aktuellen Gegebenheiten anzupassen, was für zusätzliche Umverteilungseffekte verantwortlich ist. In Bezug auf die Lebenserwartung verfügt man mit den Generationentafeln über aktuariell abgestützte Projektionen zur zukünftigen Lebenserwartung. Die finanzökonomisch adäquate Höhe des technischen Zinssatzes wiederum widerspiegelt die erwartete Rendite auf dem Altersvermögen. Wird, wie im heutigen System, eine fixe Altersrente versprochen, müsste der technische Zinssatz der Verzinsung risikofreier Anlagen mit einer Laufzeit, welche der projizierten Rentendauer

Reformideen für die Schweiz gleichkommt, entsprechen. Dieses Vorgehen ist jedoch unrealistisch: Wie das letzte Jahrzehnt zeigt, sind auch langfristige, risikofreie Zinssätze erheblichen zeitlichen Schwankungen ausgesetzt und können darüber hinaus auf ein Niveau sinken, welche keine hinreichend hohen, sicheren Rentenversprechen erlauben. Die geltende Praxis, als Obergrenze des technischen Zinssatzes nicht den aktuellen risikolosen Zinssatz zu verwenden, sondern eine nach nachvollziehbaren Kriterien ermittelte Renditeerwartung auf einem typischen Pensionskassenvermögen, kann vom Grundsatz her beibehalten werden. Voraussetzung ist aber, dass sowohl die Rentenversprechen wie auch die laufenden Renten gleichmässig an den aktualisierten Wert angepasst werden. Das heutige Problem besteht darin, dass der technische Zinssatz, der eine Renditeerwartung ausweist, als Renditegarantie betrachtet respektive verwendet wird. Renditeerwartungen reflektieren Risikoprämien (abgesehen vom risikolosen Zinssatz) und können nur durch Anlagerisiken verdient werden. Diese lassen sich über gewisse Jahre hinweg glätten, aber nicht vermeiden. Deshalb sind Renten gegenüber den sich ändernden Renditeerwartungen zu flexibilisieren. Einen letzten Bestimmungsfaktor des UWS stellt der Zeitpunkt des Renteneintritts dar. Um der Hauptreform Rechnung zu tragen, muss der UWS dem Rentenalter angepasst werden. Ebenso kann der Mindestzinssatz (MZ) automatisiert und damit entpolitisiert werden. Dieser stellt für die Aktivversicherten eine zum Voraus jährlich festgelegte und damit risikolose Verzinsung dar und ist grundsätzlich auf den am Kapitalmarkt geltenden risikolosen Zinssatz auszurichten. Damit ein Spielraum besteht, durch risikobehaftete Anlagen eine höhere durchschnittliche Rendite zu erreichen, muss der MZ langfristig und in einem zu definierten Umfang unter dem risikolosen Zins angesetzt werden. Gleich-

zeitig muss den Versicherten ein Anspruch auf eine Partizipation an einer guten Anlageperformance garantiert werden, sobald die Pensionskasse freie Mittel verfügbar hat. Dafür müssen die erzielten Renditen, im Unterschied zur heutigen Praxis, in einem definierten Umfang zwingend und gleichmässig an sämtliche Versicherten weitergegeben werden. Wenn Anlagerisiken unvermeidlich sind, müssen für die Versicherten zumindest während der aktiven Beitragsdauer minimale Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Anlagerisikos der Vermögensanlage bestehen – und zwar im BVG wie auch im überobligatorischen Teil der 2. Säule. Deshalb sollen die Vorsorgeeinrichtungen, wie es sich bereits bei den 1e-Plänen bewährt hat, eine Mindestanzahl von Anlagegefässen zur Wahl anbieten, welche sich hinsichtlich Risikoprofil der Vermögensanlagen unterscheiden.

Fehlende Arbeitsplätze? An einer Erhöhung des Rentenalters wird in der Schweiz letztlich kein Weg vorbeiführen und es ist zentral, diesen Schritt möglichst rasch umzusetzen. Nun gibt es aber das in der politischen Diskussion potenziell matchentscheidende Gegenargument, dass die Arbeitsplätze fehlen würden, um Personen über 65 beschäftigen zu können. So plausibel dies klingen mag, so klar muss gesagt werden: Diese Befürchtung ist völlig unbegründet. Letztlich beruht die Befürchtung auf der ökonomischen Fehlüberlegung, dass die Menge an Arbeit irgendwie vorgegeben sei und dass damit die Über-65-Jährigen keine Jobs finden oder sie Jüngeren wegnehmen könnten. Die bisherigen Erfahrungen verdeutlichen, warum diese Überlegung völlig unbegründet ist. Dass die Menge an Arbeit nicht fixiert ist, sieht man daran, dass seit Anfang der 1990er Jahre die Zahl der Erwerbstätigen in der Schweiz von knapp vier Millionen auf

mehr als fünf Millionen angestiegen ist. Dies widerspiegelt die Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten sehr viele zusätzliche Arbeitskräfte auf den Schweizer Arbeitsmarkt kamen, insbesondere wegen der steigenden Frauenerwerbsquote und der substanziellen Nettoimmigration. Gäbe es tatsächlich eine fixe Menge an Arbeit, die auf die Arbeitswilligen verteilt werden müsste, dann hätten beide Entwicklungen bei den Schweizer Männern zu einem starken Rückgang der Erwerbstätigkeit führen müssen. Davon kann keine Rede sein. Die zusätzlichen Arbeitskräfte wurden im Schweizer Arbeitsmarkt einfach dadurch integriert, dass die Anzahl Jobs gewachsen ist. Warum sollte es anders sein, wenn mit einer Erhöhung des Rentenalters zusätzliche Über-65-Jährige auf dem Schweizer Arbeitsmarkt verbleiben werden? Was ist aber an dem ebenso oft gehörten Argument, dass ältere Arbeitslose auf dem Arbeitsmarkt ohnehin kaum eine Chance hätten? Das ist heute schon falsch und wird angesichts der demographischen Entwicklung in Zukunft immer hinfälliger. Betrachtet man die Statistiken, so sieht man, dass die Erwerbstätigenquote der Über-55-Jährigen in der Schweiz in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist und heute eine der höchsten weltweit ist. Ihre Arbeitslosenquote ist signifikant tiefer als im Schweizer Durchschnitt – das gilt auch bei Betrachtung der Erwerbslosenquote, die ausgesteuerte Langzeitarbeitslose miteinbezieht. Generell lässt sich heute feststellen, dass Ältere etwas länger arbeitslos sind, dass aber prozentual gleich viele über-55-jährige wie jüngere Arbeitslose schliesslich wieder einen Job finden. Angesichts derartiger Fakten kann schon heute keine Rede davon sein, dass ältere Arbeitnehmende auf dem Arbeitsmarkt wenig Chancen hätten. Zudem ist eines sicher: Die Chancen der Erwerbslosen jeden Alters werden sich bald noch markant verbessern. In naher Zukunft werden die besonders bevölkerungsstarken Jahrgänge der Babyboomer pensioniert und die nachrückenden Jahrgänge sind deutlich kleiner. Die Unternehmen werden deshalb zunehmend mit einem Arbeitskräftemangel konfrontiert sein. Dazu kommt ein weiterer Vorteil der Erhöhung des Rentenalters für Erwerbstätige: Wiedereinstiegsprobleme einzelner älterer Arbeitsloser haben oft damit zu tun, dass sie als relativ knapp vor der Pensionierung stehend wahrgenommen werden und damit gewisse Unternehmen die Investition einer Einstellung und Einarbeitung scheuen. Fällt aber mit einer Erhöhung und Flexibilisierung des Rentenalters die starre Grenze 65 und wird es damit normal, auch danach noch arbeitstätig zu sein, dann entkräftet das dieses ­Argument deutlich. Funktioniert der Arbeitsmarkt – wie es in der Schweiz mit ihren rekordhohen Erwerbsquoten ohne Zweifel der Fall ist – wird die Beschäftigung auch einer grossen Anzahl Über-65-Jähriger also kein Problem sein.

Ergänzende Reform wegen Altersarbeit Trotz dieser überzeugenden Argumente dürfte die Befürchtung der Benachteiligung älterer Arbeitnehmenden auf dem Arbeitsmarkt das politische Haupthindernis für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit sein. Um dies noch etwas weiter aufzufangen, postulieren wir hier ergänzende, relativ rasch realisierbare Reformansätze. Die Grundidee ist dabei, Anreize zu setzen, um allfällige Vorbehalte gegen die Anstellung von Menschen über 65 Jahren zu mildern. Aus verschiedenen denkbaren Reformen möchten wir dabei die beiden Ansätze besonders hervorheben, die in unserer Einschätzung am ehesten eine Realisierungschance haben:   Steuerreduktion für Personen, die über das Rentenalter hinaus arbeiten: Weil für Einkommen über einem relativ tiefen Freibetrag hinaus die AHV-Beitragspflicht auch nach der Pensionierung gilt, entstehen heute zusätzliche Einnahmen für die Altersvorsorge ohne zusätzliche Ausgaben. Der Effekt einer solchen Steuerreduktion auf die Arbeits-

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QUINTESSENZ

Reformvorschläge für eine generationengerechte Altersvorsorge Finanzielle Stabilisierung der Altersvorsorge durch einen Automatismus, der das gesetzliche Rentenalter an die steigende Lebenserwartung anpasst (analog zur eingereichten Renteninitiative). Drei kombiniert oder einzeln mögliche Anpassungen, um die Erfolgschancen zu er­ höhen: 1. Eine Default-Option räumt der Politik die Möglichkeit ein, eine Stabilisierung mit alternativen Reformen zu beschliessen. Geschieht dies nicht innerhalb einer bestimmten Frist, tritt der Rentenalterautomatismus in Kraft. 2. Ein einfaches Lebensarbeitszeitmodell ermöglicht bei körperlich schweren Berufen eine etwas frühere Pensionierung. 3. Sollte die 11. AHV-Reform scheitern, kann der Automatismus auch unter Beibehaltung eines tieferen Rentenalters für Frauen mit parallelen Erhöhungen für beide Geschlechter eingeführt werden. Reform der 2. Säule durch Einführung von Automatismen für die Anpassung des Mindestumwandlungssatzes und des Mindestzinssatzes und einer minimalen Flexibilisierung der Rentenansprüche durch wähl­bare unterschiedliche Anlage­ strategien. Finanzielle Anreize für Arbeit nach dem Rentenalter durch steuerliche Erleichterungen und/ oder Befreiung von nicht mehr rentenbildender AHV-Beitragspflicht, um (unbegründeten) Befürchtungen der Benachteiligung älterer Arbeitnehmenden entgegenzutreten. Umsetzung wenn möglich zügig, das heisst, schon vor der Realisierung der Hauptreform.

anreize könnte relativ hoch sein, weil Renten- und Arbeitseinkommen für die Steuerschuld addiert werden, was angesichts der progressiven Einkommenssteuern oft zu hohen Grenzsteuersätzen führt. Eine Steuerreduktion erhöht für die älteren Arbeitnehmenden die Anreize, länger zu a­ rbeiten, und macht diese gleichzeitig für die Arbeitgeber attraktiver, weil deren Lohnansprüche wegen der Steuersenkungen tendenziell tiefer sein sollten.   Deutliche Reduktion der AHVBeitragspflicht im Rentenalter: Da die Zahlungen in die AHV über das Pensionsalter hinaus nicht rentenbildend sind, sind sie eine reine Steuer. Eine deutlich über den heutigen Freibetrag hinausgehende Reduktion dieser letztlich schwer zu begründenden Beitragspflicht hätte die gleichen positiven Effekte wie die oben besprochene Steuerreduktion. Im Unterschied dazu brächte sie aber kaum eine direkte Verbesserung der finanziellen Situation der Altersvorsorge.

Auf den Punkt gebracht Wir sollten uns mit einer grundsätzlichen Reform von der aktuellen, völlig nicht-nachhaltigen Politik verabschieden, um den zukünftigen Generationen ein funktionierendes Drei-Säulen-System weitergeben zu können. Mit den hier skizzierten Ansätzen könnte diese Vision realisiert und damit verhindert werden, dass die politische Pattsituation zum Schaden der jüngeren Generationen weiterhin den Status quo zementiert. Ein ausführlicheres Policy Paper mit dem Titel «Das Nachhaltigkeitsproblem der Schweizer Altersvorsorge: Analyse und Ableitung eines realisierbaren Reformpaketes» bildet den ­Hintergrund für diesen Artikel, abrufbar unter https://de.aymobrunetti.ch/policy.


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Reformideen für die Schweiz

Freitag, 24. Dezember 2021

AUSSENWIRTSCHAFT

Weltoffenheit als Grundprinzip Freihandel, Klimaschutz, Fachkräftemangel: Die Schweiz braucht neue Impulse, um die grossen Herausforderungen der Globalisierung zu meistern. Drei Tendenzen zwingen geradezu zum Agieren. Von Peter Moser und Tobias Straumann Die Schweiz gehört zu den grossen Gewinnerinnen der Globalisierung. Ihr Wohlstand beruht zu einem wesentlichen Teil auf dem internationalen Handel und der grenzüberschreitenden Migration. Dabei ist nicht nur der Zugang zu den ausländischen Märkten wichtig. Ebenso entscheidend ist die Offenheit des Landes für Importe. Der Zugang zu Vorleistungen und Produktionstechnologien aus aller Welt begünstigt die Schweizer Exportindustrie und ermöglicht es der Schweiz, eine hohe Wertschöpfung zu erzielen und die staatlichen Aufgaben zu finanzieren. Diese vorteilhafte Stellung ist das Ergebnis einer jahrhundertealten Geschichte. Bereits im Spätmittelalter spezialisierten sich die Voralpengebiete auf den Viehexport, um Getreide und andere wichtige Nahrungsmittel importieren zu können. Im 16. Jahrhundert erhielten die reformierten Städte entscheidende industrielle Impulse durch die eingewanderten protestantischen Flüchtlinge aus Frankreich und Italien. Derweil erhielten die katholischen Orte und Bern durch den Export von Söldnern beträchtliche Einkommen. Im 19. Jahrhundert wurden viele Industriefirmen, die wir heute noch kennen, durch Immigranten und ihre Nachkommen gegründet, etwa Nestlé oder Brown, Boveri & Cie. (heute ABB). Die Öffnung Chinas, Indiens und Osteuropas, die Bildung des EU-Binnenmarkts und die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) haben seit den 1990er Jahren die Exportmöglichkeiten vervielfacht, viele Importgüter verbilligt und die Regeln des internationalen Austauschs stabilisiert. Finanzkrise, Eurokrise und Coronakrise haben zwar die Brüchigkeit der liberalen Weltwirtschaftsordnung schonungslos aufgezeigt, aber selbst unter erschwerten Bedingungen hat sich die Globalisierung insgesamt als Wachstumsmotor erwiesen. Die Wertschöpfung pro Kopf ist heute in der Schweiz um einen Viertel höher als vor 30 Jahren. Die Schweizer Wirtschaft profitiert in hohem Mass von ihrer Einbindung in internationale Wertschöpfungsketten.

Marktöffnung politisch machbar Wie steht es nun um die Zukunft der schweizerischen Aussenwirtschaftspolitik? Wir sind der Überzeugung, dass die Schweiz nach wie vor gut aufgestellt ist. Sie ist auf vielfältige Weise mit den europäischen Nachbarländern verbunden, die den grössten Anteil an der schweizerischen Aussenwirtschaft ausmachen. Nach der Rückweisung des Rahmenabkommens mögen die Beziehungen zur EU gestört sein, aber die gemeinsamen Interessen sind so stark, dass die gegenseitige wirtschaftliche Verflechtung auch in Zukunft eng bleiben wird, wie auch immer die Zukunft des Bilateralismus aussehen wird. Beide Seiten sind aufeinander angewiesen. Die Schweiz verfügt über ein weltweites Netz von Freihandelsabkommen, die fast 80 Prozent des schweizerischen Aussenhandels abdecken. Es fehlen zwar noch wichtige Länder, insbesondere Australien, Indien, die Mercosur-Staaten und die USA, aber es wäre falsch zu glauben, dass der Aussenhandel ohne zusätzliche Freihandelsabkommen nicht vorangekommen wäre. Gerade die Pharma-Exporte in die USA konnten in den letzten Jahren stark zulegen. Die Schweiz hat kaum noch Zölle, im Industriebereich werden sie 2022 sogar ganz verschwinden. Die Schweiz zieht nach wie vor Arbeitskräfte und Kapital an. Dies ist wohl das beste Indiz dafür, dass die Attraktivität des Landes intakt ist. Die

jährliche Zuwanderungsrate gehört zu den höchsten der Welt, wenn wir sie pro Kopf rechnen. In Europa hat nur Luxemburg eine höhere Einwanderungsrate. Der Aufwertungsdruck des Schweizer Frankens zeigt, wie gut verankert die Stabilitätskultur ist. Die Interventionen der Schweizerischen Nationalbank (SNB) zur Abschwächung des Aufwertungsdrucks haben die Bilanz auf rund 1000 Milliarden Franken anwachsen lassen – deutlich mehr als das jährliche Bruttoinlandprodukt (BIP) der letzten Jahre von rund 700 Milliarden Franken. Werden die Devisenreserven langfristig diversifiziert angelegt, sind jährliche Erträge im zweistelligen Milliardenbereich für die Schweiz möglich. Es stimmt zwar, dass die Unterstützung für offene Märkte innenpolitisch immer wieder in Frage gestellt wird. Auf der einen Seite drohen die landwirtschaftlichen Verbände mit einem Veto, wenn ein Freihandelsabkommen mit einer Liberalisierung der Agrarimporte verbunden wird. Auf der anderen Seite verlangt das rot-grüne Lager den Einschluss von ökologischen und sozialen Kriterien beim Abschluss von Handelsverträgen, und selbst wenn diese Kriterien integriert werden, stimmen viele dagegen, weil sie grundsätzlich gegen die Globalisierung eingestellt sind. Das zeigte sich kürzlich bei der Abstimmung über das Freihandelsabkommen mit Indonesien, als nur eine knappe Mehrheit von 51,6 Prozent für das Abkommen stimmte. Das Freihandelsabkommen mit Indonesien hat aber auch gezeigt, dass es durchaus möglich ist, die skeptischen

Die Tendenz zur Internationalisierung der Arbeitsmärkte für Fachkräfte zwingt zu einer ­Verbesserung des Einwanderungs­ regimes gegenüber Drittstaaten.

Gruppen einzubinden. Der Schweizerische Bauernverband und die SP Schweiz sprachen sich für das Abkommen aus, Alliance Sud und Public Eye beschlossen Stimmfreigabe. Von einer kompletten Abwendung vom Freihandel zu sprechen, wäre also falsch. Dasselbe gilt für die Kritik an der Personenfreizügigkeit. 2014, als die Einwanderungsrate einen historischen Rekord erzielte, brachte eine nur sehr knappe Mehrheit ihre Opposition gegen die Personenfreizügigkeit an der Urne zum Ausdruck, während 2020 eine klare Mehrheit gegen eine Aufhebung der Personenfreizügigkeit votierte. Die Öffnung der Märkte verlangt immer wieder eine neue Kalibrierung, weil sie Gewinner und Verlierer hervorbringt, Kosten verursacht und schnelle Veränderungen herbeiführen kann. Die Globalisierung lässt sich nur verteidigen, wenn sie immer wieder neu verhandelt und selektiv gebremst wird.

Konfrontation der Supermächte Angesichts der guten Ausgangslage ist es nicht notwendig, die schweizerische Aussenwirtschaftspolitik völlig neu zu erfinden. Es sind aber drei globale Tendenzen spürbar, die weitere Impulse geradezu erzwingen. Die erste Tendenz ist die zunehmende Infragestellung der liberalen Weltwirtschaftsordnung infolge der Konfrontation zwischen China und den USA. Das schwächte die bisherige regelbasierte Ordnung und führt zu einem zunehmend machtbasierten System. Erste Auswirkungen sind bereits spürbar. So hat Washington Druck auf

die westlichen Länder ausgeübt, wenn sie sich für das 5G-Netz von Huawei entschieden, und es der niederländischen Firma ASML verboten, ihre Lithographiesysteme an die chinesische Halbleiterindustrie zu verkaufen. Das Beispiel illustriert, dass Unternehmen zumindest im Hightech-Bereich unter Druck geraten, ihre Wertschöpfungsketten für Produkte nach China und in die USA zu trennen. Das wird für Schweizer Exportfirmen mit Geschäftstätigkeiten in beiden Märkten zu einer zunehmenden Herausforderung. Erschwerend für die schweizerische Aussenhandelspolitik kommt hinzu, dass die WTO als wichtiger Pfeiler sowohl von den USA als auch durch China stark beschädigt wurde. So haben die USA das Streitschlichtungsverfahren demoliert, und China unterläuft die WTO-Regeln subtil, indem es die dominierenden Staatsunternehmungen bevorzugt und mit dem übermässigen Einfluss auf die Wirtschaftsaktivitäten (zum Beispiel Preiskontrollen, Beihilfen, Justizbeeinflussung und Management von Markttätigkeiten) die Wettbewerbsverhältnisse verzerrt.

Emissionshandel mit Konfliktpotenzial Die zweite Tendenz ist der Einsatz der Handelspolitik zur Durchsetzung von ökologischen und sozialen Zielen. Ein Teil des Wachstums des Welthandels beruht auf dem Einsatz von fossiler Energie mit dem dazugehörenden Ausstoss von CO2 und anderer umweltschädlicher Stoffe und einer teils nicht nachhaltigen Nutzung von Ressourcen (etwa


Reformideen für die Schweiz

Freitag, 24. Dezember 2021

QUINTESSENZ

Reformvorschläge für eine weltoffene Schweiz Die Schweiz setzt beim Marktzugang vermehrt auf plurilaterale Abkommen und stellt ein Beitrittsgesuch zur transpazifischen Freihandelszone CPTPP. Die Schweiz engagiert sich für einen breit abgestützten Klimaklub der Willigen mit einem Grenzausgleichsmechanismus für Nichtmitglieder. Im Wettbewerb um Fachkräfte bietet die Schweiz ausländischen Studienabgängern von Schweizer Hochschulen und Start-up-Gründern eine neue Art von Visa, die zur freien Arbeitsaufnahme berechtigen.

in der Agrarwirtschaft oder beim Abbau von Rohstoffen). Auch können Produkte, die unter Verletzung von Menschenrechten hergestellt werden, in den internationalen Handel eingeschleust werden. Jedoch gibt es auf der Welt unterschiedliche Vorstellungen über diese Ziele und deren Priorisierung, weshalb der Einsatz der Handelspolitik für solche Ziele eine Gratwanderung zwischen berechtigten Anliegen und Protektionismus ist. Das schafft Konfliktpotenzial. Als eine besonders grosse Herausforderung für die liberale Handelsordnung erachten wir die von vielen Ökonomen unterstützte Idee eines Klimaklubs zur Durchsetzung weltweit einheitlicher und ausreichend hoher CO2-Preise. Das Herzstück ist dabei ein Grenzausgleichsmechanismus. Dabei müssten Importeure aus bestimmten energie- und handelsintensiven Sektoren Emissionszertifikate des Bestimmungslandes entsprechend der in der Produktion entstandenen CO2Emissionen erwerben. Die Gefahr ist ­jedoch gross, dass dieser bestechende Vorschlag kostspielige Regulierungen verursacht und weitreichende Handelskonflikte auslöst.

Wettbewerb um die besten Köpfe Die dritte Tendenz ist die Internationalisierung der Arbeitsmärkte für technische Fachkräfte. Die USA sind nach wie vor ein Magnet für Arbeitskräfte, die in der Medizin und in den Ingenieur-, Natur- und technischen Wissenschaften (MINT) Höchstleistungen erbringen, während Europa Mühe hat, die erforderliche Zahl von Spezialisten hervorzubringen und die besten Köpfe zu halten. Dazu wirkt die unvorteilhafte demografische Entwicklung belastend. Die ostasiatischen Länder vermögen zwar wenig ausländische Fachkräfte anzuziehen, aber ihr Bildungssystem ist beim Hervorbringen von Leistungsträgern in den MINT-Fächern deutlich besser. Die Konkurrenz bei der Suche nach Fachkräften dürfte sich weiter verschärfen. Welche Massnahmen sollte die Schweiz ergreifen, um den beschriebenen drei Tendenzen besser gerecht zu werden? Zuallererst ist es entscheidend, dass die Beziehungen zur EU auch in Zukunft eng bleiben. Weil jedoch bei diesem aussenwirtschaftspolitischen Thema bereits zahlreiche Vorschläge vorliegen, die sich grosser Aufmerksamkeit erfreuen, halten wir uns diesbezüglich zurück. Idealerweise gelingt es der Schweiz, eine mehrheits-

fähige Balance zwischen Integration, Rechtssicherheit und Souveränität zu finden. Ob dies gelingen wird, lässt sich zum heutigen Zeitpunkt nicht voraussehen. Gleichzeitig sei aber an dieser Stelle auch daran erinnert, dass Brüssel nach der Ablehnung des EWR-Vertrags im Dezember 1992 kategorisch ausschloss, dass die EU jemals Hand zu bilateralen Verträgen bieten würde. Zehn Jahren später hat die EU genau dies getan. Natürlich ist die Situation heute eine andere. Aber der entscheidende Punkt ist folgender: Es ist sehr schwierig abzuschätzen, wie sich die EU in den nächsten zehn Jahren entwickeln wird und ihr Verhältnis zur Schweiz gestalten will. Wird sie so weit gehen, die bilateralen Verträge sukzessive auslaufen zu lassen? Oder werden sich diejenigen Kräfte durchsetzen, die mit dem Sonderstatus der Schweiz einverstanden sind? Wir wissen es nicht. Wir möchten uns deswegen auf diejenigen Themen konzentrieren, die in der politischen Auseinandersetzung zu kurz kommen, und drei Vorschläge machen, die mit den drei Tendenzen korrespondieren. In Bezug auf den Konflikt zwischen China und den USA ist der Handlungsspielraum der Schweizer Politik beschränkt. Die Auswirkungen dieses Konflikts spüren Unternehmen in der Schweiz bereits heute und diese werden zunehmen. Es ist primär Sache der Firmen, diese Risiken abzuwägen und ihre Geschäftstätigkeiten und insbesondere ihre Wertschöpfungsketten anzupassen. Es ist wahrscheinlich, dass Kunden in China und in den USA vermehrt mit unterschiedlichen Wertschöpfungsketten bedient werden müssen. Aber wie kann die Politik die Unternehmen dabei unterstützen?

Plurilateraler Lösungsansatz Wir plädieren dafür, dass die Schweiz ihre wirtschaftspolitische Ausrichtung noch stärker diversifiziert, um im Konfliktfall weniger verwundbar zu sein. Dazu bietet sich ein Beitritt zum Handelsabkommen Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP) an. Das umfassende plurilaterale Abkommen wurde von den USA initiiert, die dann aber unter Präsident Donald Trump nicht beigetreten sind. Mitglieder des CPTPP sind heute Australien, Brunei, Kanada, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam, die rund 13 Prozent des weltweiten BIP abdecken. Der Bundesrat hat in seiner Antwort auf eine Interpellation im September 2021 dem Beitritt zum CPTPP wegen der erforderlichen Liberalisierung des Agrarhandels eine Absage erteilt. Auch wenn die Schweiz mit vielen Mitgliedern des CPTPP bereits über ein Freihandelsabkommen verfügt und mit andern in Verhandlung ist, liegt ein grosser Vorteil eines Beitritts zu einem solchen plurilateralen Abkommen darin, dass die Ursprungsregeln innerhalb der gesamten Ländergruppe einheitlich und kumulierend angewendet werden. Das trägt den Anforderungen grenzüberschreitender Produktions- und Wertschöpfungsketten besser Rechnung, als dies mittels bilateraler Abkommen möglich ist. Während die Schweiz zögert, hat Grossbritannien bereits Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Aber auch China hat im September 2021 formell ein Beitrittsgesuch gestellt. Bei der Tendenz zum Einsatz der Handelspolitik für ökologische oder soziale Ziele soll die Schweiz gemeinsam mit anderen Ländern eine Katalysatorrolle einnehmen. Vordringlich ist dies bei der Ausgestaltung eines allfälli-

Um die Bepreisung der «Klimagase» wirksam zu ­gestalten, können Grenzausgleichs­ massnahmen eine wichtige Rolle ­spielen. Die Schweiz soll sich dafür einsetzen, dass solche ­Massnahmen ­international ­koordiniert und ­konfliktarm ­eingeführt werden.

gen Klimaklubs. Um die Bepreisung von CO2 und anderer «Klimagase» wirksam zu gestalten, können Grenzausgleichsmassnahmen eine wichtige Rolle spielen. Die Schweiz soll sich dafür einsetzen, dass solche Massnahmen international koordiniert und konfliktarm eingeführt werden und so ausgestaltet sind, dass die bürokratischen Hürden tief gehalten werden können. Ein System zu finden, das diesen Anforderungen genügt, wird nicht einfach sein. Aber ein Engagement der Schweiz lohnt sich. Denn wenn es gelingt, das Welthandelssystem wirksam zu nutzen, um die klimaschädlichen Emissionen zu reduzieren, wird das die politische Unterstützung für ein offenes Welthandelssystem stärken. Die Tendenz zur Internationalisierung der Arbeitsmärkte für Fachkräfte zwingt zu einer Verbesserung des Einwanderungsregimes gegenüber Drittstaaten. Die Personenfreizügigkeit mit den EU- und Efta-Staaten garantiert zwar ein gewisses Angebot an hochqualifizierten Fachkräften. Es muss jedoch befürchtet werden, dass andere EU-Länder mit speziellen Angeboten auftreten, um die Abwanderung ihrer Fachkräfte zu bremsen. Zudem führt die ­demographische Entwicklung in Europa dazu, dass Fachkräfte in Europa zunehmend knapp werden und die Schweiz ihren Fachkräftemangel in der Zukunft immer weniger aus Europa mildern kann. Die Schweiz sollte deshalb vermehrt Spezialisten aus Drittstaaten anziehen. Ein längst fälliger Schritt ist, die ausländischen Studierenden aus Drittstaaten, die an der ETH und an anderen Hochschulen Fächer abschliessen und die für die schweizerische Wirtschaft besonders wichtig sind, zu halten. Darüber hinaus sollte die Schweiz ein Visa-Programm für innovative Jungunternehmerinnen und -unternehmer aus Drittstaaten einführen. Solche Programme kennen bereits zahlreiche Länder. Ein solches Programm würde nicht nur den Transfer von bestehenden Startups vom Ausland in die Schweiz erleichtern, sondern auch die Gründung von Spin-offs der Hochschulen. Das stärkt den Forschungs- und Innovationsstandort Schweiz. Wichtig ist, dass diese Arbeitsbewilligungen von den Kontingenten ausgenommen sind, denn ansonsten bleibt die Wirkung b ­ escheiden. Dies hat der Bundesrat im Oktober 2021 in einer Vernehmlassungsvorlage für ausländische Hochschulabgänge­ rinnen und -abgänger selbst vorgeschlagen. Dieser Mechanismus sollte jedoch auch auf Start-up-Gründer ausgedehnt werden. Unsere drei Vorschläge – der Beitritt zum CPTPP, Engagement für einen weltweit breit abgestützten Klimaklub mit einem Grenzausgleichmechanismus bei möglichst tiefen Abwicklungskosten und eine Vereinfachung der Arbeitsmöglichkeit für ausländische Fachkräfte mit Schweizer Hochschuldiplom und für Start-up-Gründer – dürften auf Skepsis stossen, denn sie erfordern ein klares Bekenntnis zur weltoffenen Schweiz. Gerade dies fällt vielen Stimmbürgerinnen und -bürgern zunehmend schwer, weil sie in der Schule und den Medien nur mit negativen Botschaften konfrontiert werden. Dabei geht vergessen, was wir einleitend festgehalten haben: Nur dank der starken Verflechtung mit der Welt ist die Schweiz ein wohlhabendes Land geworden. Doch die Geschichte zeigt auch, dass durchaus Spielraum für innenpolitische Verhandlungen besteht. Die Schweizer Politik hat immer wieder bewiesen, dass sie die erforderliche Mehrheit für aussenwirtschaftliche Liberalisierungsschritte finden kann. Dies sollte auch in Zukunft möglich sein.

NZZ-Verlagsbeilage

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Die Autoren

Peter Moser (Jahrgang 1962) ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Graubünden (FHGR) mit Sitz in Chur. Von 2011 bis 2015 war er Berater für Wirtschaftspolitik bei Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann. Seine Schwerpunkte in Forschung und Beratung liegen bei den globalen Herausforderungen (zum Beispiel internationale Handelspolitik und europäische Integration) sowie bei ausgewählten Themen der Schweizer Wirtschaftspolitik. So untersucht er zurzeit den Einfluss der digitalen Transformation auf Kompetenzanforderungen in Dienstleistungsberufen und nutzt Echtzeitdaten, um die regionale Konjunkturentwicklung besser zu erfassen.

Tobias Straumann (Jahrgang 1966) ist ordentlicher Professor für Geschichte der Neuzeit und ­Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich und verbrachte Gastsemester an der University of California in Berkeley, der Chinese University of Hong Kong sowie der University of Oxford. Er leitet den Nachdiplomstudiengang «Master of Advanced Studies in Applied History» an der Universität Zürich und schreibt eine vierzehntägliche Wirtschaftskolumne in der «NZZ am Sonntag». Sein neustes Buch, zusammen mit Martin A. Senn, heisst: «Unruhe im Kleinstaat – Der schweizerische Generalstreik im internationalen Vergleich» (Schwabe Verlag, Basel 2021).

Sounding Board Folgende sieben Sparringspartner aus der Praxis sowie Persönlichkeiten aus Wis­ senschaft oder Zivilgesellschaft haben die Fachautoren thematisch und inhaltlich herausgefordert sowie unterstützt:   Heinrich Fischer, Physiker und Verwaltungsrat, Zürich   Dr. Peter A. Fischer, Ökonom, Zürich   PD Dr. Andrea Franc, Historikerin, Basel   Dr. Peter Grünenfelder, Ökonom und Direktor, Zürich   Prof. Dr. Rudolf Minsch, Ökonom, Graubünden   Dr. Zeno Staub, Ökonom und CEO, Zürich   Claudia Wirz, Publizistin, Zug


8  NZZ-Verlagsbeilage

Reformideen für die Schweiz

Freitag, 24. Dezember 2021

BILDUNG UND ARBEITSMARKT

Nachgelagerte Studiengebühren Alle Menschen, die hierzulande eine tertiäre Ausbildung absolvieren, sollen für die von ihnen verursachten Kosten stärker als bisher selber aufkommen. Zudem mögen sie ihre Studienwahl besser an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ausrichten. Von Stefan C. Wolter und Conny Wunsch aufgeteilt. Beides wäre einer Wissensökonomie, wie sie die Schweiz ist, nicht zuträglich. Weniger Mittel pro Studierendem würden die hohe Qualität des tertiären Bildungswesens der Schweiz gefährden. Die direkte Überwälzung der Kosten auf die Bildungsnachfrager würde dagegen Gefahr laufen, Talente aus finanziellen Motiven von einem Studium abzuhalten. Ein Grund, weshalb man in der Schweiz bislang solche Wege nicht beschritten hat, ist zum einen das Vorhandensein ausreichender finanzieller Mittel. Ein anderer ist die gesellschaft­ liche Erwartung, dass jene, die von einer höheren Bildung profitieren, die Kosten später im Erwerbsleben über höhere Steuerbeträge zurückzahlen. Solange sich diese Erwartung erfüllt und die Gesellschaft über eine sogenannte fiskalische Bildungsrendite an den Erträgen dieser Bildungsinvestition partizipiert, ist gegen eine solche nachträgliche Refinanzierung der Bildungskosten nichts einzuwenden. Nun zeigt sich aber, dass sich immer stärk ausbreitende Teilzeitarbeit und die längeren Erwerbsunterbrüche bei sehr gut ausgebildeten Fachkräften diesen Gesellschaftsvertrag ins Wanken bringen. Schon bei Teilzeitpensen von unter 70 Prozent bezahlen tertiär gebildete Personen trotz höherer Löhne im Vergleich zu Personen ohne tertiäre Ausbildung nicht mehr genug zusätzliche Steuern, um die von der Gesellschaft vorgeschossenen Ausbildungskosten zu decken. Personen mit tertiärer Ausbildung und reduziertem Erwerbspensum verschärfen damit nicht nur den Fachkräftemangel, sondern führen auch dazu, dass die Bildungskosten vermehrt von jenen Personen zu tragen sind, die nicht in den Genuss tertiärer Bildung gekommen sind. Es kommt somit zu einer Umverteilung von unten nach oben.

Virtuelle Studienkosten real machen

Wie in anderen industrialisierten Ländern ist auch in der Schweiz in den ­letzten Jahrzehnten der Anteil an Erwerbspersonen, die über einen höheren Bildungsabschluss auf tertiärer Stufe verfügen, stark angestiegen. Dabei zeigen alle verfügbaren Daten, dass das starke Wachstum dieser Abschlüsse, universitärer wie nichtuniversitärer, das heisst von Fachhochschulen, Pädagogischen Hochschulen und der höheren Berufsbildung, weitestgehend einem Bedürfnis des Arbeitsmarktes entspricht. Aufgrund der laufenden technologischen Veränderungen ist davon auszugehen, dass dieser Prozess sich in den nächsten Jahrzehnten unverändert fortsetzen wird. Immer mehr Leute werden sich also länger bilden. Damit einhergehend werden Fragen, die heute vielleicht noch nicht prominent auf der politischen Agenda rangieren, drängender werden und nach Antworten verlangen. Denn die mit der Verlängerung der Ausbildungszeit verbundenen höheren privaten und ­öffentlichen Kosten werden nicht immer automatisch eine lohnende Investition für die Bildungswilligen und die Gesellschaft sein. Bedingungen für die Nachhaltigkeit dieses Wandels sind erstens, dass sich die Bildungsentscheidungen an den Bedürfnissen des Arbeitsmark-

tes ausrichten. Zweitens sollen jene, die von der gesellschaftlichen Investition profitiert haben, diese Ressourcen durch Erwerbsarbeit der Gesellschaft wieder zurückgeben. Nur so wird es die Schweiz schaffen, dem sich verschärfenden Fachkräftemangel aufgrund der ­demografischen Alterung und des technologischen Wandels zu begegnen und die Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung für immer mehr Bildung zu erhalten. Auf diese Herausforderungen zielen die hier vorgeschlagenen Reformideen ab. Dies bedeutet jedoch nicht, dass an anderen Stellen des Bildungswesens oder des Arbeitsmarktes kein Reformbedarf besteht.

Drohende Umverteilung von unten nach oben Die mit einem starken Ausbau der tertiären Stufe des Bildungswesens einhergehenden Bildungskosten haben in praktisch allen betroffenen Ländern Reaktionen ausgelöst, denen sich die Schweiz bislang glücklicherweise entziehen konnte. Entweder wurden die tatsächlichen Bildungskosten direkt und teilweise im vollen Masse über Studiengebühren auf die Bildungsnach­ frager überwälzt oder die vorhandenen Mittel ständig auf mehr Studierende

Die Studierenden würden sich nicht nur mehr Gedanken machen, wie sie die Kosten tief halten, sondern auch, wie sie ein zukünftiges Einkommen durch ihre Studienwahl positiv beeinflussen.

Um eine solche Umverteilung zu ­vermeiden und einen Anreiz für eine verstärkte Beteiligung am Arbeitsmarkt nach der Ausbildung zu geben, schlagen wir vor, nachgelagerte Studiengebühren einzuführen, die nur dann zum Tragen kommen, wenn man nicht schon alleine durch sein hohes Erwerbseinkommen die Rückzahlung garantiert. Ob dies der Fall ist oder nicht, würde wie folgt berechnet: Die gesamten real aufgelaufenen Studienkosten, die nicht durch Studiengebühren gedeckt waren, werden über einen Zeitraum von beispielsweise 20 Jahren in jährlichen Tranchen rückzahlbar. Auf diese Tranchen sollen jedoch die in jedem ­Erwerbsjahr nach Abschluss der tertiären Ausbildung gezahlten Steuern angerechnet werden. Übersteigen die im jeweiligen Jahr gezahlten Steuern den durchschnittlichen Steuerbetrag einer Erwerbsperson mit einem Abschluss auf der Sekundarstufe II mindestens um den Betrag der Tranche der Studienkosten, wäre diese abgegolten. Eine reale Rückzahlung der Studienkosten wäre somit nur in jenen Jahren fällig, in welchen das durch die Erwerbsarbeit g­ enerierte Einkommen die Deckung der Bildungskosten nicht schon gewährleistet hat. Sollten die Steuern diesen Betrag aber nicht überschreiten, würde der durch die Steuern noch nicht abgedeckte Teil der Tranche der Studienkosten auf die Steuerrechnung dieses Jahres aufgeschlagen. Dieses System hätte verschiedene Vorteile, und der Wichtigste wäre sicherlich der Umstand, dass die Mehrheit der Personen, die von einer tertiären Ausbildung profitieren konnten, gar nichts von dieser nach-

gelagerten Studiengebühr spüren würden. Gleichzeitig würde dafür gesorgt, dass möglichst wenige sich ein Studium durch die Gesellschaft finanzieren lassen, ohne nachher genügend dazu beizutragen, die entstandenen Kosten zu kompensieren.

Anreize schaffen grösstmögliche Effizienz Die weiteren Vorteile gegenüber der heute praktizierten Finanzierung tertiärer Ausbildungen wären erstens, dass sich Studierende schon bei der Studienwahl Gedanken darüber machen sollten, wie sie die Studienkosten, die sie allenfalls später einmal zu tragen hätten, möglichst tief halten können. Sei dies durch die Wahl eines «günstigen» Studienfachs oder nur dann eines «teuren» Studienfachs, wenn man auch an die Erwerbsaussichten des damit verbundenen Berufes glaubt oder bereit ist, in diesem einen hohen Arbeitseinsatz zu zeigen. Auch das Studienverhalten selbst dürfte positiv beeinflusst werden, da nun Studienfachwechsel oder eine zu lange Studienzeit finanziell zu ­Buche schlagen würde und sich ent­sprechend zeitliche Investitionen in die Studienfachwahl und das Studium lohnen würden. Die Studierenden würden sich aber nicht nur mehr Gedanken darüber ­machen, wie sie die Studienkosten tief halten könnten, sondern auch, wie sie ein zukünftiges Erwerbseinkommen durch ihre Studienwahl positiv beeinflussen könnten. Sie würden sich also vermehrt Gedanken über die Erwerbsaussichten eines Studienfachs machen müssen, und zwar sowohl in Bezug auf die Möglichkeiten, in einem Beruf erwerbstätig sein zu können, für den ein Studium überhaupt eine Voraussetzung ist, als auch in Bezug auf die Verdienstmöglichkeiten. Es würde aber niemand gezwungen, sich seine tertiäre Ausbildung nur noch nach der ökonomischen Rentabilität auszuwählen. Es wäre lediglich gewährleistet, dass jene, die dieser eine geringere Bedeutung zumessen, die Kosten ihrer Wahl nicht so leicht der Allgemeinheit überwälzen könnten. Da dieses System alle tertiären Ausbildungen umfassen würde, auch jene der höheren Berufsbildung, würden ­damit tendenziell auch die ak­tuellen Konflikte bei der Frage der Finanzierung der unterschiedlichen Aus­ bildungstypen entschärft. In jenen Ausbildungsgängen – wie beispielsweise der höheren Berufsbildung –, bei denen die öffentliche Finanzierung relativ tief und der private Anteil an den Kosten höher ist, würde am Schluss auch weniger auf dem «virtuel­ len» Studienkostenkonto zu liegen kommen. Damit hätten alle tertiären Ausbildungstypen gleich lange Spiesse.

Probleme, Feinsteuerung und Ausnahmen So einfach die Idee auf den ersten Blick auch tönen mag, so vielfältig sind am Schluss die noch zu lösenden Fragen, von denen hier nicht alle aufgelistet werden können. Wie würde man mit Studierenden umgehen, die nach dem Studium das Land verlassen und sich so der Abzahlungspflicht entziehen? Dabei ist ­sicherlich zwischen ausländischen und einheimischen Studierenden zu unterscheiden. Bei Ersteren ist die Wahrscheinlichkeit höher und man müsste sie deshalb stärker von Anfang an mit Studiengebühren belasten. Bei einheimischen Studierenden ist eine Vermeidung dieser Steuer durch Auswanderung schwer zu verhindern. Aber die Steuerschuld würde bestehen bleiben


Reformideen für die Schweiz

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NZZ-Verlagsbeilage

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einführen Die Autoren

Stefan C. Wolter (Jahrgang 1966) ist Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) mit Sitz in ­Aarau und Titularprofessor für Bildungsökonomie an der Universität Bern, wo er seit 2001 auch die Forschungsstelle für Bildungsökonomie leitet. Der habilitierte Ökonom vertritt unter anderem die Schweiz in den ­Bildungsausschüssen der Organisation für wirtschaft­liche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Steuergruppe ­«Gemeinschaftsaufgaben» des Bundes­ ministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) sowie der Kultusministerkonferenz (KMK) in Deutschland.

Conny Wunsch (Jahrgang 1977) ist seit September 2013 Professorin für Arbeitsmarktökonomie an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel. Nach ihrer Promotion an der Universität St. Gallen (HSG) im Jahr 2008 arbeitete sie dort als Postdoktorandin und Assistenzprofessorin für Volkswirtschaftslehre am Schweizerischen Institut für Empirische Wirtschaftsforschung (SEW). Im Jahr 2011 übernahm sie in Teilzeit und ab September 2012 in Vollzeit eine Associate-Professur an der Freien Universität Amsterdam, bevor sie zurück in die Schweiz kam. Vor dem Wechsel in Forschung und Lehre war sie für eine Grossbank in Deutschland tätig.

Sounding Board Folgende sechs Sparringspartner aus der Praxis sowie Persönlichkeiten aus Wissenschaft oder Zivilgesellschaft haben die Fachautoren thematisch und inhaltlich herausgefordert sowie unterstützt:   Dr. Peter A. Fischer, Ökonom, Zürich   Prof. Dr. Lino Guzzella, Maschineningenieur, Zürich   Adrian Krebs; Founder & CEO von gateway.one, Bern   Valérie Müller, Ökonomin, Zürich   Raphael Tobler, Founder & CEO von eduwo, Winterthur   Valentin Vogt, Unternehmer und Verwaltungsrat, Zürich

und würde reaktiviert, käme es zu einer Rückwanderung in die Schweiz. Eine andere Frage wäre, wie man mit einem zu tiefen Erwerbseinkommen umgeht, welches durch Arbeits­losigkeit oder durch eine Babypause entsteht. Hier würde die Zahlungspflicht für die Zeitdauer entfallen, in welcher die P ­ erson bei der Arbeitslosenversicherung registriert ist, und ebenso nach der Geburt eines Kindes für die Dauer, bis man d ­ avon ausgehen kann, dass eine Erwerbstätigkeit wieder möglich sein sollte. L ­ etzteres ­bedingt auch, dass ein gut ausgebautes Kinderbetreuungssystem die Vereinbarkeit von Beruf und Familie garantiert. Schliesslich wäre sicherlich zu berücksichtigen, dass die Einkommen auch nach einer tertiären Ausbildung erst mit fortschreitenden Erwerbsjahren ansteigen und gerade zu Beginn der Erwerbstätigkeit schlechter bezahlte Einstiegsstellen und Praktika angenommen werden müssen. Diese Umstände würden teilweise durch das ebenfalls progressiv ansteigende Profil des Referenzeinkommens ohne tertiäre Ausbildung aufgefangen werden. Gleichzeitig möchte man natürlich durch das Rückzahlungsmodell auch einen Anreiz setzen, nicht allzu lange in Praktika und schlecht bezahlten Einstiegsstellen zu verharren.

und häufig zu spät informiert. Neu sollen den Schülern proaktiv nicht nur frühzeitig Informationen zu den Optionen für tertiäre Studiengänge zur Verfügung gestellt werden, sondern auch Informationen über die benötigten ­Fähigkeiten und Kompetenzen für einen erfolgreichen Abschluss. Diese Informationen sollen mit regelmässigen Standortbestimmungen mittels standardisierter Kompetenztests kombiniert werden. Neben den Informationen über die Studienmöglichkeiten und den Kompetenzanforderungen verschiedener Studienfächer sollten aber auch die mit einem spezifischen Studium oder Beruf verbundenen Arbeitsmarktaussichten thematisiert und darüber informiert werden. Welche Löhne kann man erwarten? Wie gross ist die Chance auf einen unbefristeten und ausbildungs­ adäquaten Vollzeitjob? Wie hoch ist das Risiko, erwerbslos zu sein? Im Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Einführung nachgelagerter Studiengebühren sollte ebenfalls darüber informiert werden, mit welchen Kosten für die ­Studiengänge bei typischen Erwerbsverläufen oder in Abhängigkeit vom gewählten Pensum oder von längeren Erwerbsunterbrechungen zu rechnen ist.

Frühzeitige Entscheidungsbasis verbessern

Passgenauigkeit zwischen Kompetenzen und Präferenzen

Die vorgeschlagenen nachgelagerten Studiengebühren verstärken die finanziellen Konsequenzen der Entscheidungen bei der Ausbildungs- und Berufswahl. Dies würde bedeuten, dass sich angehende Studierende nicht nur stärker mit diesen Fragen auseinandersetzen sollten. Sie sollten auch auf Daten zurückgreifen können, die ihnen einen informierten Entscheid überhaupt erst ermöglichen. Verschiedene Analysen der vergangenen Jahre zeigen, dass angehende Studierende nur unzulänglich über die potenziellen Arbeitsmarktfolgen der Studienfachwahl und des Studienverhaltens informiert sind. Ebenso klaffen ­oftmals Vorstellungen und Realität bezüglich benötigter Kompetenzen und persönlicher Eignung für das gewählte Studium zu stark auseinander. Während eine frühzeitige, proaktive Information in Verbindung mit Standortbestimmungen zum Kompetenzabgleich bei Schülerinnen und Schülern, die sich auf eine berufliche Lehre vorbereiten, bereits seit längerem flächendeckend umgesetzt wird, gibt es für Gymnasiasten derzeit nichts Vergleichbares. Angesichts zunehmender Schwierigkeiten, Lehrstellen zu besetzen, hat man in der beruflichen Grundbildung schon lange erkannt, dass frühzeitige Informationen und Kompetenzabgleiche wichtig sind. Mit Blick auf die zukünftigen Studierenden scheint dagegen die ­Ansicht vorzuherrschen, dass solche Informationen für Bildungsentscheidungen nicht ­relevant sind. Dies ist vor dem Hintergrund hoher Studienabbruchquoten, langer Studiendauern und zu hoher Anteile von Erwerbstätigen mit tertiärer Ausbildung in instabilen Beschäftigungsverhältnissen oder Tätigkeiten, die nicht der Ausbildung entsprechen, kaum nachvollziehbar.

Ziel dieses Vorschlags ist es insbesondere, die Passgenauigkeit zwischen den ­Fähigkeiten der zukünftigen Studierenden, den gewählten tertiären Ausbildungsgängen und den Arbeitsmarktbedürfnissen zu verbessern. Dies soll einerseits Studienabbrüche und Studiengangwechsel reduzieren, welche die Studienzeit verlängern und hohe Kosten verursachen. Andererseits sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, dass durch bessere Entscheidungsgrundlagen die Arbeitsnachfrage angesichts von Fachkräftemangel und sich verändernden Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt besser bedient werden kann. Die Standortbestimmungen sollen darüber hinaus den angehenden Studierenden die Möglichkeit eröffnen, sich entweder frühzeitig mit anderen Ausbildungsgängen zu beschäftigen als jenen, die ohne grössere Reflektion der eigenen Stärken und der Anforderungen im Vordergrund gestanden hätten. Oder sie könnten die noch bis zur Maturität bestehende Zeit so nützen, dass sie Schwächen in ihrem Kompetenzprofil ausgleichen, um bei Studienbeginn möglichst gut vorbereitet zu sein. Der Vorschlag soll heute schon bestehende Angebote der freiwilligen Standortbestimmung und Information vor Studienbeginn ergänzen und den angehenden Studierenden mehr Reaktionszeit einräumen, um ihre Pläne zu realisieren oder allenfalls zu revidieren. Die Gymnasiasten haben weiterhin die freie Wahl, ob und was sie gegebenenfalls studieren möchten und wie sie ihr späteres Berufsleben gestalten. Sie werden ihre Entscheidungen jedoch besser informiert treffen, im Wissen darüber, auf welche Studienanforderungen und welche Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt sie sich einlassen werden.

Studien- und Berufswahlkunde obligatorisch machen Wir schlagen deshalb die Einführung eines obligatorischen Schulfachs «Studien- und Berufswahlkunde» an Gymnasien ab der 9. Klasse (11. Klasse nach neuer Zählweise) vor. Bislang wird hauptsächlich punktuell, unkoordiniert

Neutrale Informationen bereitstellen Damit Qualität, Transparenz und Neu­ tralität bei der ­Informationsvermittlung gewährleistet sind und um grösst­ mögliche Effizienz bei der Umsetzung zu ­erreichen, müssten die vermittelten Informationen von einer hochschul­ externen Stelle zentral aufgearbeitet

Personen mit ­tertiärer Ausbildung und ­reduziertem ­Erwerbspensum ­verschärfen nicht nur den Fachkräfte­ mangel, sondern führen auch dazu, dass die Bildungs­ kosten vermehrt von jenen Personen zu tragen sind, die nicht in den Genuss tertiärer Bildung ­gekommen sind.

und kommuniziert werden. Noch werden allzu häufig solche Informationen von den Bildungsinstitutionen oder Vertretern einzelner Studien­ fächer selbst selektiv positiv dargestellt. ­Dabei sollen die Informationen in vergleichender Form, das heisst für alle möglichen tertiären Ausbildungsgänge, vermittelt werden. Angehende Studierende sollen sich nicht nur über jene Ausbildungsgänge und deren ­Arbeitsmarktperspektiven informieren, die sie interessieren, sondern auch den Horizont für andere Optionen öffnen. Dies ist insbesondere mit Blick auf den Fachkräfte­ mangel wichtig. Ebenfalls sollten die Kompetenzprofile und standardisierten Tests zur Standortbestimmung analog zur beruflichen Grundbildung von einer zentralen Stelle entwickelt und umgesetzt werden. Die wesentlichen Infor­mationen, Kompetenzprofile und Standortbestimmungen sollten zusätzlich in standardisierter Form und fortlaufend aktualisiert in einem digital zugänglichen Tool zur Verfügung gestellt werden. Sie sollten nicht nur Gymnasiasten zugänglich gemacht werden, sondern auch Personen, die über andere Bildungswege eine tertiäre Ausbildung beginnen, beispielsweise an einer Fachhochschule oder Höheren Fachschule.

Die Schweiz darf sich neuen Lösungen nicht verschliessen Bessere Entscheidungsgrundlagen in Verbindung mit einer Beteiligung an den Kosten dieser Entscheidungen können einen wichtigen Betrag dazu leisten, den starken Ausbau des tertiären Bildungswesens finanziell tragbar und effizienter zu machen, ohne in die Freiheit der Studien- und Berufswahl einzugreifen. Gleichzeitig können diese Massnahmen helfen, die Auswirkungen der demografischen Entwicklung und der digitalen Transformation auf den Arbeitsmarkt abzufedern und zu verhindern, dass ärmere Bevölkerungskreise reicheren Mitbürgern schlecht genutzte Bildung finanzieren müssen. Die Schweiz steht wie viele andere Länder auch vor grossen Herausforderungen für das Bildungswesen und den Arbeitsmarkt. Sie darf sich deshalb ­Lösungen, die bisher nicht in Betracht gezogen wurden oder mit grösserem Aufwand in der Umsetzung verbunden sind, nicht verschliessen.

QUINTESSENZ

Reformvorschläge für mehr Bildung mit Fokus auf den Arbeitsmarkt Damit nicht eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet, sollen die Menschen über die Zeit stärker für die ihnen von der Gemeinschaft finanzierten tertiären Bildungskosten aufkommen müssen. Wir schlagen dazu die Einführung von nachgelagerten Studiengebühren vor. Diese sollen sicherstellen, dass alle, die eine tertiäre Ausbildung absolvieren, die von ihnen verursachten und nicht anderweitig in Rechnung gestellten Ausbildungskosten durch ihre gezahlten Steuern decken. Dies würde nur jene betreffen, bei denen dies aufgrund ihrer Einkommen nicht sowieso der Fall ist. Durch die möglichen finanziellen Konsequenzen werden Anreize gesetzt, die Wahl des Ausbildungsgangs, das Studien­ verhalten, die Perspektiven auf den Arbeitsmarkt und das eigene Erwerbsverhalten stärker zu reflektieren.

Damit informierte Entscheide überhaupt erst möglich sind, müssen die angehenden Studierenden die Konsequenzen dieser Entscheidungen kennen, was momentan jedoch nicht der Fall ist. Ein neues obligatorisches Schulfach «Studien- und Berufswahlkunde» mit wiederholten Standortbestimmungen hinsichtlich persönlicher Eignung an Gymnasien soll diese Lücke schliessen und damit die Ungleichbehandlung gegenüber Schülern beheben, die sich auf eine berufliche Lehre vorbereiten und für die solche Angebote bereits flächen­ deckend existieren. Informationen und standardisierte Tests müssen von einer neutralen zentralen Stelle und vergleichend für alle tertiären Ausbildungsgänge zur Verfügung gestellt und allen potenziellen Interessenten für eine tertiäre Ausbildung zugänglich gemacht werden.


10  NZZ-Verlagsbeilage

Reformideen für die Schweiz

Freitag, 24. Dezember 2021

GESUNDHEIT

Mehr Eigenverantwortung in der Krankenversicherung Unser Gesundheitssystem muss dringend reformiert werden. Viel wäre schon gewonnen, wenn Wohlhabende künftig stärker für ihre Krankheitskosten selber aufkommen. Von Konstantin Beck und Stefan Felder

Die Ausgaben im Gesundheitswesen laufen aus dem Ruder. Bei Einführung der obligatorischen Krankenversicherung (OKP) im Jahr 1996 lagen die Pro-Kopf-Kosten des Schweizer Gesundheitswesens bei 5300 Franken. Bis heute haben sie sich um 80 Prozent auf 9600 Franken erhöht. Im Vergleich dazu ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf seit 1996 lediglich um 43 Prozent gestiegen. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP hat sich dementsprechend von 7,1 auf 11,3 Prozent erhöht. Dies ist nach den USA (17,7 Prozent) der zweithöchste Wert aller Industrieländer. Die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen steigt überproportional mit dem Einkommen, nicht nur in der Schweiz und den USA, sondern überall auf der Welt und unabhängig davon, wie stark der Staat jeweils in den Gesundheitsmarkt eingreift. Verantwortlich dafür ist in erster Linie die Einkommensentwicklung: je reicher ein Land, umso höher der Anteil seiner Gesundheitsausgaben am BIP. Hohe Einkommen bedeuten eine hohe Zahlungsbereitschaft für Gesundheit, die ihrerseits das Tempo beim medizinisch-technischen Fortschritt befeuert. Für die USA sind überzeugende makroökonomische Modelle publiziert worden, wonach die Gesundheitsausgaben bis 2050 auf 30 Prozent des BIP ansteigen könnten – der Beitrag der Gesundheit an die Staatsquote betrüge dann 15 Prozentpunkte.

Immer mehr Staat im Gesundheitswesen Mit zunehmendem Wohlstand wäre eigentlich zu erwarten, dass die finanzielle Verantwortung der Einzelnen

für ihre Gesundheitsversorgung zunähme. Tatsächlich ist es gerade umgekehrt. Der staatliche Einfluss auf den Gesundheitssektor, der sich insbesondere im Anteil der staatlichen Gesundheitsfinanzierung zeigt, ist überall angewachsen. Bill Clinton hat 1992 mit den zwei Slogans seines erfolgreichen Wahlkampfs, «It’s the economy stupid» und «Don’t forget health care», die Ursache hierfür angegeben. Wahlen werden mit Konjunkturprogrammen und besonderer Berücksichtigung des Gesundheitssektors gewonnen. Seit der Einführung der OKP in der Schweiz vor 25 Jahren hat der über Steuern und Prämien finanzierte Anteil der Gesundheitsausgaben laufend zu- und die Bedeutung der privaten Zusatzversicherung parallel dazu abgenommen. Der Politik fällt es schwer, den Bürgern Gesundheitsleistungen vorzuenthalten – sie hat die nächsten Wahlen und Volksabstimmungen mit gesundheitspolitischem Inhalt vor Augen. Auch dem Obligatorium in der Krankenversicherung wurde an der Urne zugestimmt. Bund und Kantone haben sicherzustellen, wie es in der Bundesverfassung in Art. 41 heisst, «dass jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält». Die Abdeckung grundlegender Bedürfnisse ist das Kennzeichen jeder Sozialversicherung. Sie funktioniert bei der Alters- und der Invalidenversicherung über die Festlegung eines maximalen Rentenbetrags und in der Unfall- und der Invalidenversicherung über einen straffen Leistungskatalog. Für die OKP verlangt zwar Art. 32 des Gesetzes ebenfalls, dass Leistungen zweckmässig, wirksam und wirtschaftlich sind. Aber es gibt bisher keine Verordnung, die festlegt,

Nachfrageseitig ­entscheidend für das Fehlen eines relevanten Pflegever­ sicherungsmarktes ist das Verhalten des Staates, die ­Menschen am ­Lebensende rundum zu versorgen.

was Wirtschaftlichkeit bedeutet. Dabei schreibt die Bundesverfassung die staatliche Pflicht zur Unterstützung in der Gesundheitsversorgung subsidiär vor, «in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative». Die Realität bietet ein anderes Bild: Seit der Einführung der OKP hat die persönliche Verantwortung im Gesundheitsbereich stetig abgenommen. Die zunehmende staatliche Finanzierung von Gesundheitsausgaben belastet die Budgets von Bund und Kantonen. Der Druck auf den Staat, die OKP zu reformieren, wird steigen, weil an-

dere Aufgaben dringlich werden und gleichzeitig die Nachfrage nach Gesundheitsgütern weiterhin stark steigen wird. Es gibt dann zwei Wege: Entweder schränkt der Staat seine Rationen im Gesundheitsbereich ein, die er bisher im internationalen Vergleich beispiellos grosszügig verteilt hat, und gestaltet die OKP als Basisversorgung um. Damit würde der Zusatzversicherungsbereich erweitert und mit der steigenden Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung künftig zunehmen, während die Deckung in der Basisversicherung konstant bliebe. Oder er stärkt die Eigenverantwortung innerhalb der OKP, ­indem er die gesetzliche Versicherung auf Personen mit geringem Einkommen ­begrenzt, die sich eine private Versicherung nicht leisten können. Unser Reformvorschlag stellt eine Kombination beider Wege dar.

Weniger Versicherungsschutz für Gutsituierte Es geht uns um eine Rekalibrierung von Eigenverantwortung und Subsidiarität. Unstrittig ist es, Haushalten mit geringem Einkommen den Zugang zur einer angemessenen Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Der liberale Staat steht jedoch nicht in der Pflicht, seine wohlhabenden Mitbürger in der Krankenversicherung bereits ab der gesetzlich vorgeschriebenen Mindest­ franchise von 300 Franken abzufedern, wie das heute der Fall ist. Eine richtig verstandene Subsidiarität der Verantwortlichkeiten schliesst diejenigen von der ­ Sozialversicherung aus, die wirtschaftlich problemlos in der Lage sind, selbst vorzusorgen.

Ein vollständiger Ausschluss Gutsituierter aus dem gesetzlichen Krankenversicherungsschutz hätte allerdings zwei unerwünschte Effekte. Wohlhabende mit hohen Krankheitskosten könnten bewusst auf Versicherungsnachfrage verzichten, weil sie im Krankheitsfall mit der erzwungenen Solidarität des Spitals oder des Steuerzahlers rechnen, wie das jetzt in der Langzeitpflege der Fall ist. Obwohl grundsätzlich in der Lage, die Versicherungsprämie zu zahlen, gehen sie das Risiko ein, im andauernden schweren Krankheitsfall die Solidarität der Mitbürger zu erzwingen. Um das zu verhindern, sollte man von den Besserverdienenden verlangen, dass sie ab einer bestimmten im Gesetz festgelegten Schadenhöhe den Nachweis einer (Hochrisiko-)Versicherung erbringen müssen. Damit bleiben die Gutsituierten im Obligatorium, aber die Kostenschwelle wird so hoch angesetzt, dass die Trittbrettfahrer für ungedeckte Behandlungskosten (bis zur gesetzlichen Schwelle) haften. Gleichzeitig stünde es den Reichen frei, eine freiwillige Zusatzversicherung abzuschliessen, um ihre Kostenbeteiligung im obligatorischen Bereich abzudecken. Will man die gutsituierten chronisch Kranken finanziell entlasten, könnte deren Hochrisikoschwelle unter Ausklammerung ihrer jährlich wiederkehrenden hohen Krankheitskosten berechnet werden. Als zweiter Nachteil des Ausschlusses der Gutsituierten könnte es im gesetzlichen Teil der Versicherung zu einem Prämienanstieg kommen, wenn die dort verbleibenden Versicherten im Durchschnitt kränker sind und daher höhere Kosten verursachen. Dies kann allerdings durch eine Risikoausgleichszahlung zwischen den beiden Gruppen korrigiert werden. Erweisen sich die Reichen tatsächlich als bessere Risiken, müssen sie ihren Kostenvorteil als Zuschlag auf ihre Hochrisikoprämie zahlen. Die so vereinnahmten Mittel würden als Quersubvention von der Hochrisikoversicherung an die Grundversicherung überwiesen.

Sinkende Prämien dank gestiegener Eigenverantwortung Der direkte Prämieneffekt einer solchen Zweiteilung der Krankenversicherung hängt von der Höhe der Hochrisikoschwelle ab. Je höher die Schwelle, desto geringer die Prämie für das verbleibende Hochrisiko. Bereits eine Schwelle von 5000 Franken reduzierte die Prämie um ein Drittel, ab einer Schwelle von 10 000 Franken wird die Prämie gar mehr als halbiert. Der Prämieneffekt ist also erheblich. Hinzu kommt ein weiterer, die Prämie senkender Effekt: Im H ­ ochrisikokollektiv sinken die Kosten, verglichen mit der Grundversicherung, zusätzlich, weil die Versicherung nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn die Kosten die Schwelle übersteigen. Es ist nun aber bekannt, dass Individuen, die sich stärker an den Kosten beteiligen müssen, weniger oft zum Arzt gehen und sich weniger Leistungen verordnen lassen. Indem die Hochrisikoversicherten einen relevanten Anteil der Gesundheitskosten aus eigener Tasche zahlen, werden sie die Leistungen der Mediziner stärker hinterfragen und gegebenenfalls nach kostengünstigeren Therapien und ­Generika fragen. Während es sich bisher immer wieder politisch als aussichtlos er-


Freitag, 24. Dezember 2021

wies, den gesetzlichen Leistungskatalog zu entschlacken, eröffnet die Hochrisikovariante neue Wege zur Reduktion des Katalogs auf ein vernünftiges Mass. Indem die effektive Leistungsnachfrage der Gutsituierten statistisch erhoben wird, wird zudem erkennbar, auf welche Leistungen Versicherte verzichten, sobald sie den vollen Preis selber bezahlen. Daraus kann eine Kürzung des gesetzlichen Leistungskatalogs abgeleitet werden. Denn das, was reiche Selbstzahler nicht zu zahlen bereit sind, gehört auch nicht in die Basisversorgung.

Die Autoren

Konstantin Beck (Jahrgang 1962) ist Titularprofessor für Gesundheitsökonomie an der Universität Luzern. Er studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Zürich und habilitierte sich ebenda 2004 mit einer Arbeit zum Risikoausgleich, die vier Reformen im Krankenversicherungsgesetz (KVG) auslöste. Von 1993 bis 2020 war er für die CSS-Versicherung tätig, unter anderem als Leiter Mathematik, verantwortlicher Aktuar und Leiter des CSS-Institut für empirische Gesundheitsökonomie. Als gesundheitspolitischer Berater arbeitet er für Regierungen im In- und Ausland.

Reformideen für die Schweiz

Solidaritätserhalt dank mehr Freiheit und weniger Kosten Die vorgeschlagene Reform verursacht einen minimalen gesetzgeberischen Aufwand. Die Einführung einer Hochrisikoschwelle – was in der OKP einer Erhöhung der Mindestfranchise entspricht –, liegt in der Kompetenz des Bundesrats und bedarf keiner Gesetzesänderung. Auch die Reduktionen der Franchise für chronisch kranke Personen ist im Gesetz bereits angelegt (Art. 64 Abs. 6 lit. b KVG). Die Umsetzung einer freiwilligen Rückversicherung ist in den Art. 62 Abs. 2bis und Art. 64 Abs. 8 konzeptionell ebenfalls schon angedacht, setzt ­allerdings einen entsprechenden Bundesrechtsartikel voraus. Weil das Obligatorium nicht aufgehoben, sondern ­lediglich modifiziert wird, bleiben auch alle anderen Bestimmungen zur Definition der Versicherungspflicht weiterhin gültig. Die skizzierte Reform der OKP ist minimal im Eingriff, aber maximal im Effekt. Sie steigert die Eigenverantwortung der Kreise, die dazu in der Lage sind, senkt gleichzeitig deren Prämien markant, gibt den Versicherten mit ausreichendem Einkommen mehr Entscheidungsspielräume und hinterfragt indirekt unerwünschte Leistungen, die im gesetzlichen Leistungskatalog nur deswegen überleben, weil sie die Versicherten bis jetzt nicht aus eigener Tasche zahlen müssen. Diese Reform bedeutet keinen Sozialabbau. Die obligatorische Deckung bleibt erhalten und die Solidarität zwischen den Versicherten – unabhängig von der gewählten Deckung – unangetastet. Für die Versicherten mit Grundversorgung ändern sich weder Prämie noch Kostenbeteiligung oder Versicherungsschutz, während die Gutsituierten durch die Reform mehr Freiheit, tiefere Prämien, aber auch eine grössere finanzielle Eigenverantwortung erfahren.

Ein besonders drängendes Problem – die Langzeitpflege

Stefan Felder (Jahrgang 1960) ist seit 2011 Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Basel, nach Stationen an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und der Universität von DuisburgEssen. Er war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie sowie der Schweizer Gesellschaft für Gesundheitsökonomie. Für seine Verdienste um das Fach und die Wissenschaft verlieh ihm die Deutsche Gesellschaft 2019 die Gérard-Gäfgen-Medaille. Er ist ein gefragter Gutachter und äussert sich regelmässig in den Medien zu gesundheitspolitischen Themen.

Sounding Board Folgende sieben Sparringspartner aus der Praxis sowie Persönlichkeiten aus Wissenschaft oder Zivilgesellschaft ­haben die Fachautoren thematisch und inhaltlich herausgefordert sowie unterstützt:   Dr. Leo Boos, Zürich   Dr. Jérôme Cosandey, Ökonom, Biel   Franziska Föllmi-Heusi, lic. phil. I, Executive MBA HSG, Schwyz   Dr. Sara Hürlimann, Zahnärztin und Unternehmerin, Zürich   Prof. Dr. Ueli Kieser, Zürich   Felix Schneuwly, Public Affairs bei comparis.ch, Zürich   Dr. Kuno Sommer, Ökonom und ­Verwaltungsrat, Basel

Die Coronapandemie hat die Schweizer Pflegeheime ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Weit über die Hälfe der in den letzten bald zwei Jahren an Covid-19 verstorbenen Menschen lebte im Alters- oder Pflegeheim. Die Wahrscheinlichkeit, im Verlaufe seines Lebens pflegebedürftig zu werden und stationär gepflegt werden zu müssen, ist sehr hoch. Sie liegt bei den Männern bei 20 Prozent und bei den Frauen bei gut 30 Prozent. In Pflegeheimen leben tatsächlich vornehmlich verwitwete Frauen, die nicht selten zuvor ihre Männer in deren letzten Lebensmonaten gepflegt hatten. Die Kosten für Pflege, Betreuung und Pension im Pflegeheim sind hoch, pro Tag liegen sie bei 315 Franken. Pflegebedürftige leben im Durchschnitt 2,4 Jahre im Pflegeheim, bevor sie sterben. Somit ist im Pflegefall mit Kosten von durchschnittlich über einer Viertelmillion Franken zu rechnen. Trotz hoher Eintrittswahrscheinlichkeit ist die Absicherung der Pflegekosten ein klassischer Fall fürs Versicherungsgeschäft – am besten in Kombination mit einer Lebensversicherung. Allein, der Markt für Pflegeversicherungen ist wenig entwickelt. Dafür sind angebots- wie nachfrageseitige Gründe verantwortlich. Für den Versicherer ist das individuelle Pflegerisiko schwer abzuschätzen, so dass er vorsichtig kalkuliert. Dann aber ist seine Prämie zu teuer für gute Risiken, so dass es zu keinem Vertragsabschluss kommt. Nachfrageseitig entscheidend für das Fehlen eines relevanten Pflegeversicherungsmarktes ist allerdings das Verhalten des Staates, die Menschen am Lebensende rundum zu versorgen. Vor allem die heimbedingten Ergänzungsleistungen der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) tragen in erheblichem Umfang zur Finanzierung der Pflegekosten bei. Die Bürger können mit diesen staatlichen Leistungen rechnen, zumal die älteren unter ihnen mit ihrem Stimmverhalten dafür sorgen, dass die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen begrenzt bleibt. Deshalb besteht für den Einzelnen wenig Motivation, eine

Die Einrichtung einer umlagefinanzierten Pflegeversicherung wäre allerdings ­wenig sinnvoll, weil diese wie AHV und obligatorische ­Krankenversicherng primär die junge Generation finanziell belasten würde.

private Pflegeversicherung zu kaufen. Vorteilhafter ist es, auf dem Trittbrett der staatlichen Sozialhilfe mitzufahren. Das Trittbrettfahrerverhalten geht teilweise so weit, dass im Alter Vermögen aufgelöst wird, etwa durch Übertragung von Wohneigentum an die Kinder mit Beibehalten des Nutzniessungsrechts, um im Pflegefall einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen zu erhalten.

Treiber der Pflegekosten: Babyboomer und Demografie In der Langzeitpflege nimmt mit steigendem Alter das Pflegefallrisiko zu. Aktuell liegen die Ausgaben für stationäre und ambulante Pflegeleistungen bei 16,5 Milliarden Franken oder 20 Prozent der gesamten Ausgaben für Gesundheit. Für 2050 wird mit einer Verdoppelung der Pflegeausgaben gerechnet. Im Unterschied zu anderen Ländern hat die Schweiz bisher keine obligatorische Pflegeversicherung, die die Kosten der Pflege, der Betreuung und eventuell sogar der Pension übernimmt. Die OKP zahlt lediglich 45 Prozent der Pflegekosten, der Kanton über die sogenannte Restfinanzierung 55 Prozent. Der Pflegebedürftige zahlt maximal 20 Prozent des Beitrags des Krankenversicherers und trägt grundsätzlich die Kosten von Betreuung und Pension. Wegen fehlender Versicherungsdeckung und geringer Ersparnisse sind allerdings viele finanziell nicht in der Lage, bei Pflegebedürftigkeit für die damit verbundenen Kosten aufzukommen. Vielmehr sind sie im Pflegefall auf staatliche Unterstützung angewiesen. Einen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation böte ein Versicherungsobligatorium. Die Einrichtung einer umlagefinanzierten Pflegeversicherung wäre dabei allerdings wenig sinnvoll, weil diese wie die AHV und die OKP primär die junge Generation finanziell belasten würde. Eine kapitalgedeckte Pflegeversicherung dagegen ist hinsichtlich ihrer intergenerativen Verteilung neutral. Das ist auch deshalb wichtig, weil für die starken Jahrgänge der Babyboom-Generation, also die heute 55- bis 65-Jährigen jetzt noch Zeit ist, das Kapital für die Finanzierung ihrer künftigen Pflegekosten aufzubauen. Geschieht dies nicht in den nächsten Jahren, zahlen die Jungen über AHVBeiträge und Steuern in 20 bis 30 Jahren die staatlichen Beiträge an die Pflegekosten der Babyboomer. Eine obligatorische Pflegeversicherung spart zwar keine Kosten, ihr Zweck besteht aber darin, die Finanzierung der Pflegekosten so weit wie möglich in die private Verantwortung zu übertragen. Wir schlagen deshalb die Schaffung einer kapitalgedeckten Pflegeversicherung vor, die als obligatorisches individuelles Spar- und Versicherungskonto ausgestaltet wird – im Todesfall nach

Erreichen des 80. Lebensjahres könnte die Police zusätzlich eine Auszahlung von 15 000 Franken vorsehen, falls davor keine Pflegeleistungen in Anspruch genommen worden sind. Damit würde ein Anreiz gesetzt, die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen zu begrenzen. Der Restbetrag auf dem Konto fällt im Todesfall an die Versichertengemeinschaft und reduziert so die Prämien. Den gesamten Restbetrag den Erben zu überlassen, wäre dagegen keine Lösung, weil der Versicherer nicht gleichzeitig für negative Kontostände am Lebensende des Versicherten geradestehen und positive Kontostände auszahlen kann.

Überschlagsrechnung der Pflegeprämie Die fällige Jahresprämie hängt vom Zins, dem Kostenwachstum und der Vertragsdauer ab. Nehmen wir an, Wachstum und Zins seien gleich und das erwartete Todesalter 85 Jahre. Die Vertragsdauer ist dann 50 Jahre, wenn der Vertrag ab dem 35. Altersjahr läuft, und 25 Jahre, falls die Verpflichtung, eine Pflegeversicherung abzuschliessen, erst im 60. Lebensjahr greift. Auf den Monat gerechnet betrüge die Prämie in unserem ­Vorschlag 95 Franken ab Alter 35 und 190 Franken ab Alter 60. Die Pflegeprämie würde eine erhebliche Zusatzbelastung für die Haushalte bedeuten. Der wesentliche Vorteil der vorgeschlagenen Einführung einer obligatorischen Pflegeversicherung liegt darin, dass die tatsächlichen Kosten der Versorgung bei Pflegebedürftigkeit aufgedeckt und jenen übertragen werden, die von den Pflegeleistungen potenziell profitieren. Das Äquivalenzprinzip, wonach derjenige zahlen sollte, der von einer Dienstleistung profitiert, wird dagegen bei der heutigen Finanzierung der Pflege- und Betreuungskosten verletzt. Zudem verwischt die Aufteilung der Pflegekostenvergütung zwischen Versicherern und Kantonen die Verantwortlichkeiten. Da beide nur anteilig zahlen, sind sie wenig geneigt, für eine effiziente Leistungserbringung zu sorgen. Die Versicherungslösung bündelt dagegen die Verantwortung beim Versicherer, der die gesetzlich vorgeschriebene Deckung sicherstellen muss, und überträgt die individuelle Finanzierung an die Versicherten.

Individuelle Prämienverbilligung analog zur OKP Pflegeprämien von mehreren hundert Franken würden die finanzielle Leistungsfähigkeit von vielen Haushalten überfordern. Deshalb sollte eine obligatorische Pflegeversicherung mit individuellen Prämienverbilligungen ergänzt werden, wie sie in der OKP geläufig sind. In der Regel werden diese Subventionen von den Steuerämtern festgesetzt und an die Krankenversicherer überwiesen. Bei der obligatorischen Pflegeversicherung könnte analog verfahren werden. Aktuell fliessen öffentliche Gelder im Umfang von rund 4,3 Milliarden Franken (AHV, Ergänzungsleistungen und Restfinanzierung) in die Finanzierung der Pflege. Bei einer obligatorischen Pflegeversicherung würden diese Gelder eingesetzt, um die Prämien von Haushalten mit geringem Einkommen zu subventionieren.

NZZ-Verlagsbeilage

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Im Parlament wird momentan um eine einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen gerungen. Vorgeschlagen wird, den 55-Prozent-Beitrag der Kantone an die akut­ stationäre Vergütung in pauschale Zahlungen an die Versicherer umzuwandeln, die daraufhin die volle finanzielle Verantwortung bei der Vergütung übernehmen würden. Die Kantone wollen diesem Vorschlag nur zustimmen, falls die Langzeitpflege miteinbezogen wird. Genau dies könnte mit einer obligatorischen Pflegeversicherung erreicht werden. Die Kantone ziehen sich aus der Finanzierung von Gesundheitsleistungen, insbesondere der Pflege, zurück und nutzen das freigewordene Geld zielgerichtet für die individuelle Subventionierung der Kranken- und Pflegeversicherungsprämien. Ein konsequenter Verzicht auf staatliche Objektfinanzierung von Spitälern, Pflegeheimen und Spitex-Organisationen würde die bestehenden Rollenkonflikte von Kantonen und Gemeinden in der Gesundheitsversorgung auflösen. Als Träger einer Pflegeversicherung kommen Krankenversicherer, Lebensversicherer und Pensionskassen in Frage. Zwar sind die Allgemein- wie auch die Zusatzkrankenversicherungen umlagefinanziert, Kapitaldeckung in der Zusatzversicherung ist aber gesetzlich nicht ausgeschlossen. Die Bedeutung der Zusatzversicherungen hat in den letzten 25 Jahren in dem Masse abgenommen, wie der Leistungskatalog in der Grundversicherung deutlich ausgeweitet worden ist. Die Einführung einer obligatorischen kapitalgedeckten Pflegeversicherung böte der privaten Krankenversicherung ein neues Geschäftsmodell, in dem sie sowohl den obligatorischen Teil wie auch Zusatzversicherungen anbieten könnte. Für einen funktionierenden Wettbewerb wäre es wichtig, dass die Versicherten den Versicherer wechseln können.

Kapitaldeckung bei negativen Zinssätzen? Kann es überhaupt sinnvoll sein, in Zeiten negativer Zinssätze eine neue kapitalgedeckte Versicherung einzuführen? Über lange historische Zeiträume lag der langfristige Realzins immer höher als die Wachstumsrate, so dass die gegenwärtige Periode ein vorübergehender Ausnahmezustand sein könnte. In jedem Fall aber herrscht Unsicherheit über die zukünftigen Renditen von Real- versus Humankapital. Daher sollte man aus Vorsichtsgründen in beide «Aktiva» investieren. In dieser Hinsicht ist die Schweiz mit den drei Säulen in der Alterssicherung zwar grundsätzlich gut aufgestellt. Allerdings werden die Regeln des Kapitaldeckungsprinzips in der zweiten Säule momentan erheblich verletzt, indem Renten ausgezahlt werden, die durch Beiträge der jungen Generationen querfinanziert sind. Von einer Umlagefinanzierung profitieren die Nutzniesser bei und kurz nach deren Einführung. Danach kommt man aus dem Umlageverfahren nicht mehr ohne Verlierer zu produzieren heraus, wie die aktuelle Diskussion um die AHV-Reform illustriert. Im Hinblick auf die Babyboom-Generation ist zu fragen: Wann, wenn nicht jetzt, ist es Zeit für eine obligatorische kapitalgedeckte Pflegeversicherung?

QUINTESSENZ

Reformvorschläge für eine gesündere Schweiz Entlastung der obligatorischen Krankenversicherung (OKP), indem (nur) Wohlhabende einen deutlich höheren Teil der Krankheitskosten pro Jahr selber begleichen müssen und statt der Grundversorgung eine spezielle obligatorische Hochrisikoversicherung mit eigener Prämie abschliessen müssen, die für die darüberhinausgehenden Kosten aufkommt. Für die Versicherten mit Grundversorgung ändern sich weder Prämie noch Kostenbeteiligung oder Versicherungsschutz, während die

Gutsituierten durch die Reform mehr Freiheit, tiefere Prämien, aber auch eine grössere finanzielle Eigenverantwortung erfahren. Einführung einer kapitalgedeckten obligatorischen Pflegeversicherung, für die ab dem Alter von 35 oder 60 Jahren eigenständig Kapital angespart werden muss. Sie verhindert gezieltes Trittbrettfahren im Hochrisikofall und stellt sicher, dass alle Pflegebedürftigen bedarfsgerecht versorgt werden können.


12  NZZ-Verlagsbeilage

Reformideen für die Schweiz

INFRASTRUKTUR

Ob Verkehr, Energie oder Daten: gefragt ist echte Kostenwahrheit Infrastrukturvorhaben müssen mit einem klaren Preisschild versehen werden, das sämtliche Kosten- und Nutzenaspekte berücksichtigt. Reformen in der Schweiz sind überfällig. Von Reiner Eichenberger und Markus Saurer

Es gibt keinen Grund, Mobilität und Energie zu ­subventionieren und Nichtnutzern einen grossen Teil der ­Gesamtrechnung aufzubürden.

Der Beitrag der Schweiz zur technischen Lösung der Probleme könnte in vielen Bereichen weit grösser sein als ihr Anteil an den Ursachen dieser Probleme.

Hohe Wettbewerbsfähigkeit und Lebensqualität bedingen gute, günstige, sichere und umweltschonende Mobilität, Energie und Datenaustausch. Dafür bedarf es einer höchst leistungsfähigen und effizienten Infrastruktur. Bisher hatten die schweizerischen politischen Entscheidungsträger dank föderalistischem Wettbewerb, direkter Demokratie und wirksamer Machtteilung durch Direktwahl der lokalen Regierungen wirksame Anreize zu guter Infrastrukturpolitik. Doch dieses Erfolgsmodell ist in Gefahr. Mit der fortschreitenden Binnenverflechtung werden die nationalen Infrastrukturen wichtiger, sie profitieren kaum vom föderalistischen Wettbewerb und der Direktwahl der lokalen Regierungen. Die wachsende internationale Verflechtung bringt grenzüberschreitende Politikkoordination, dabei greifen die schweizerischen Institutionen noch weniger. Zugleich verdeckt der Erfolg der Schweiz viele Probleme. So wirkt der Staat gemessen an der Staatsquote – die Staatsausgaben relativ zum Bruttoinlandprodukt (BIP) – immer noch relativ schlank. Da aber das Schweizer BIP pro Kopf sehr hoch ist, sind die Staatsausgaben pro Kopf in der Schweiz weit höher als in den EU-Ländern. In vielen Bereichen ist deshalb nur das Leistungsniveau hoch, aber das Preis-LeistungsVerhältnis schlecht. Um die Effizienz zu erhalten und wieder zu steigern, braucht es Reformen. In der Theorie ist effiziente Infrastrukturpolitik einfach: Man muss nur die Marktversagen infolge von Externalitäten, Wissensasymmetrien und natürlichen Monopolen identifizieren und heilen – also mit Lenkungsabgaben Kostenwahrheit schaffen. In der Praxis sind aber manche Infrastrukturen und ihre Probleme so neu, dass noch unklar ist, ob der Markt überhaupt versagen wird und was die theoretisch richtige Politik wäre. Beispiele dafür sind etwa Krypto­ währungen, künstliche Intelligenz (KI) oder auch «nur» scheinbar simple Datensicherheit. Bei Verkehr, Energie und Klima ist hingegen längst klar, wo die Marktversagen liegen und was zu tun wäre. Gleichwohl ist die Politik in diesen Bereichen nicht besser. Solange die Probleme noch Mutmassungen und die Märkte wenig entwickelt sind, agieren Behörden und Marktteilnehmer hinter einem Schleier der Ungewissheit, sodass sie sich nur auf allgemeine Prinzipien einigen können. Entsprechend ist die Politik der Schweiz zu Daten und Datensicherheit bisher im internationalen Vergleich liberal im Sinne von minimal-interventionistisch und erfolgreich. Je klarer aber die Pro­ blemlage und die Marktentwicklung werden, desto klarer wird auch, wem welche Politik nützt oder schadet, und desto gewichtiger werden organisierte Interessen und Verteilungskämpfe. So ist in den Bereichen Verkehr und Energie offensichtlich, wie Kostenwahrheit aussähe. Die Nutzer von Mobilität und Energie sollten nicht nur voll für die betrieblichen, sondern ebenso für die ex-

ternen Kosten aufkommen. Es gibt keinen Grund, Mobilität und Energie zu subventionieren und Nichtnutzern einen grossen Teil der Gesamtrechnung aufzubürden. Von der richtigen Lösung sind wir aber weit entfernt.

Diagnose: Kostenscheinwahrheit Alle rufen nach Kostenwahrheit für den motorisierten Individualverkehr. Die Autofahrer sollen nicht nur so wie heute die gesamten Infrastrukturkosten bezahlen, sondern alle von ihnen verursachten externen Kosten durch Umweltschäden, Unfälle, Lärm etc., sogenannte externe Umweltkosten. Gemäss den Schätzungen des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) verursachen der motorisierte individuelle Personenverkehr externe Umweltkosten von 7,3 Milliarden Franken jährlich, der öffentliche Personenverkehr auf der Schiene hingegen nur 0,6 und der Tram- und Busverkehr nur 0,3 Milliarden Franken. Eine gesamtheitliche, wirklich relevante Perspektive führt jedoch zu einem ganz anderen Bild: Die Allgemeinheit leidet nicht nur unter externen Umweltkosten, sondern auch unter der finanziellen Belastung der öffentlichen Haushalte. Und natürlich zählen für eine effizienzorientierte Betrachtung die Kosten pro Leistungseinheit. So betragen auf Basis der ARE-Daten die totalen externen Kosten im motorisierten Individualverkehr 7,3 Rappen pro Personenkilometer, im Bahnverkehr hingegen 24,5 Rappen und für Tram und Bus sogar 50,1 Rappen. Die Politik zur Eindämmung des Privatverkehrs und Förderung des öffentlichen Verkehrs (ÖV) hat also nicht Kostenwahrheit gebracht, sondern nur Kostenscheinwahrheit. Dadurch wurde ein riesiges Effizienzpotenzial verspielt. Mit echter Kostenwahrheit ginge aller Verkehr auf ein optimales Mass zurück und fände in ressourcenschonenderer Weise statt; die Fest- und Offenlegung des expliziten Preises erzwänge den fundierten Diskurs über alle internen und externen Kosten; und Bürger wie Politiker stellten vernünftige Forderungen, wenn die Nutzer die Kosten des Verkehrs selbst voll tragen müssten. Auch in der Klimapolitik müsste endlich Kostenwahrheit durch einen angemessenen Preis für alle Klimagasemissionen geschaffen werden. Gemäss den Analysen von William Nordhaus, der 2018 dafür mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde, wäre ein allgemeiner (ausnahmsloser) Preis für CO2-Emissionen optimal, der zunächst um die 40 Dollar pro Tonne CO2 liegt und im nächsten Jahrzehnt auf 70 Dollar steigt. Dies würde Preisanreize zur Reduktion der Emissionen und zur Entwicklung emissionsarmer Technologien und Energiequellen setzen. Dadurch würden viele der heutigen marktverzerrenden Subventionen und Regulierungen überflüssig. Das CO2-Steueraufkommen sollte für die Reduktion bisheriger,

leistungshemmender Steuern eingesetzt werden. So weit die Theorie. Und was liefert uns die politische Praxis? Illustrativ ist das vom Parlament ausgearbeitete und vom Volk abgelehnte CO2-Gesetz: Es wollte eine CO2-Abgabe mit vielen Ausnahmen insbesondere für Grossemittenten, zusätzliche Subventionen und Regulierungen sowie nur eine teilweise Rückerstattung der Erträge an die Bevölkerung durch Kopfzahlungen statt Steuersatzsenkungen – also nur Kostenscheinwahrheit. Politiker entschuldigen ihre überladenen Vorlagen zumeist damit, dass nur fein austarierte Politikpakete mehrheitsfähig seien. Daran ist zu zweifeln: So würde eine effiziente Klimapolitik à la Nordhaus mit einer einheitlichen CO2-Steuer von 40 Franken pro Tonne für die Schweizer Bürger und Wirtschaft bei den heutigen Emissionen von 37 Millionen Tonnen CO2 eine Belastung von nur 1,5 Milliarden Franken jährlich bedeuten. Dank kompensierenden Steuersenkungen (der Wert entspricht rund 0,5 MehrwertsteuerProzenten) und dem Abbau von Regulierungen und Subventionen, was noch weitere Steuersenkungen ermöglichen würde, wäre diese Politik höchst attraktiv. Das Problem ist nur, dass sie den Bürgern nicht angeboten wird. Offenbar wollen manche Politiker und Verwaltungsabteilungen mit der Klimapolitik lieber ihren Einfluss via Budget, Subventionen und Regulierungen mehren. Dabei unterstützen sie viele gut organisierte Subventions­ profiteure sowie Firmen, denen die Regulierungen ökonomische Renten ­ verschaffen. Angesichts der skizzierten Situation ist es für die Wettbewerbsfähigkeit und Lebensqualität der Schweiz entscheidend, die Schweizer Entscheidungsstrukturen so zu entwickeln, dass die Wahrscheinlichkeit effizienter, am Allgemeinwohl statt an Partikularinteressen orientierter Politik steigt. Dafür sind Reformen auf vier Ebenen notwendig.

Grundsätze für den Diskurs Alle Seiten müssen sich um einen rationalen, öffentlichen Diskurs bemühen. Dabei helfen insbesondere folgende Leitlinien:   Ganzheitliche Sicht: Nachhaltigkeit darf nicht eng auf ökologische Aspekte reduziert werden. Nach den gängigen Definitionen hat sie drei Dimensionen: Gesellschaft, Wirtschaft und Ökologie. So sollten Kosten für die Allgemeinheit durch Belastungen der Umwelt, Subventionen und preistreibende Marktverzerrungen gleich behandelt werden. Genauso sollten in der Klimapolitik Kippeffekte nicht nur im Klima, sondern auch in den von (ineffizienter) Klimapolitik belasteten Volkswirtschaften thematisiert werden.   Kalkül statt Gefühl: In der Infrastrukturpolitik liegen oft nicht nur die Nutzen, sondern auch die Kosten in fer-

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ner Zukunft und damit ausserhalb des Zeithorizonts der wichtigsten Entscheidungsträger. Trotzdem wird regelmässig grösste Dringlichkeit von Massnahmen angemahnt, etwa wegen einer drohenden Krise oder internationalen Drucks. Unter diesen Umständen ist Politik besonders anfällig für gefühlsgetriebene Entscheidungen. Es ist deshalb zen­tral, dass die Antragsteller klar darlegen, welche Aspekte ihrer Vorschläge als Kosten und Nutzen berechnet werden können und wo es nur um Vermutung oder bare Spekulation geht. Nur wenn Politik mit einem klaren Preisschild versehen werden muss, kann eine vernünftige Diskussion über die richtige Beschriftung sowie ein problemorientierter und abwägender statt gefühlsgetriebener und moralisierender öffentlicher Diskurs entstehen.   Gleichbehandlung: Die aktuellen und potenziellen Leistungserbringer müssen gemäss dem Grundsatz der Technologieneutralität gleichbehandelt werden. Kosten-Nutzen-Wahrheit muss für alle gelten, also sowohl für den öffentlichen als auch den privaten Verkehr oder für fossile wie alternative Energien. Genauso müssen die negativen externen Effekte aller Energiequellen identifiziert, beziffert und internalisiert werden.   Nachfrage und Angebot: Markt- und Politikergebnisse werden durch Nachfrage und Angebot bestimmt. Ein Beispiel ist «das Grüne Paradox» (HansWerner Sinn): Die meisten klimapolitischen Massnahmen mindern nur die Nachfrage nach fossilen Energieträgern. Das bleibt aber ohne Wirkung, solange das Angebot an fossiler Energie nicht ebenfalls sinkt. Doch dieses droht sogar noch zu steigen, wenn die Eigentümer der Lagerstätten infolge der Klimapolitik mit zukünftig fallenden Erlösen rechnen müssen.   Qualität statt Quantität: In vielen Bereichen bezieht sich der öffentliche Diskurs auf Mengenaggregate. Vernachlässigt wird dabei, dass die einzelnen Elemente höchst unterschiedlicher Qualität sind. Ein Beispiel ist die Energiepolitik, wo die Bedeutung der Alternativenergien zumeist an ihrem Anteil an den Kilowattstunden gemessen wird statt an ihrem Wertanteil. Da ihre Kilowattstunden aber oft nicht am richtigen Ort und nicht zur richtigen Zeit anfallen, ist ihr Wertanteil weit kleiner als ihr Mengenanteil.   Pro Kopf statt total: Unter den grösseren europäischen Ländern hat die Schweiz das höchste Bevölkerungswachstum. Die Kosten und Nutzen der Infrastrukturentwicklung haben stark mit der Kopfzahl zu tun. Nicht nur die Energie- und die Verkehrsinfrastruktur müssen mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten. Ein schneller Ausbau ist oft nur zu stark steigenden Grenzkosten möglich. Genauso steigen die CO2Reduktionskosten mit dem Bevölkerungswachstum überproportional an. Eine rationale Politik muss solche Zusammenhänge berücksichtigen.

QUINTESSENZ

Reformvorschläge für eine international herausragende Infrastruktur Infrastrukturvorhaben müssen mit einem eindeutigen Preisschild versehen werden, das die direkten sowie die externen Kosten und Nutzen einbezieht. Externe Kosten sind über optimierte Lenkungsmassnahmen zu internalisieren. Subventionen, die nicht durch externe Nutzen gerechtfertigt sind, führen zu einer Übernutzung der Res­­sourcen und müssen gestrichen werden. Wo die Umsetzung von Kostenwahrheit zu Mehreinnahmen oder Minderausgaben führt, müssen die Mittel durch Steuersenkungen an die Bürger und die Wirtschaft zurückerstattet werden. Jede natürliche oder juristische Person sollte das Recht haben, über die Verwendung ihrer Daten zu bestimmen und von den Nutzern dafür angemessen entschädigt zu werden. Die im internationalen Vergleich überaus strengen Grenzwerte im Mobilfunk könnten durch eine

Abgabe auf Strahlung ersetzt werden. Bei ihrer Bemessung sollte den Kantonen ein erheblicher Spielraum eingeräumt werden. Die Schweiz sollte einen «Grossen Preis» stiften, der weltweit Inventionen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme honoriert. Mit einer «Stiftung Schweiz für die Welt» könnte sie zudem als höchst potente Mäzenin für die Erforschung globaler Probleme auftreten. Eine landesweit vom Volk gewählte Gegenvorschlagskommission sollte von der Politik vorgebrachte Projekte und Gesetze evaluieren und alternative Vorschläge machen können, über die das Volk abzustimmen hätte. Die hier für den Infrastrukturbereich vorgeschlagene Kommission könnte auch mit dem Bürgerrat des Beitrags zu institutionellen Reformen zusammengelegt werden.


Reformideen für die Schweiz

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Fehlertoleranz: Angesichts der vielfältigen Unsicherheiten über die technische, ökonomische und ökologische Zukunft sowie der Fehleranfälligkeit des politischen Prozesses werden sich immer wieder Pläne als falsch erweisen. Das wird dann zum Problem, wenn sie trotzdem weiterverfolgt werden. Es braucht einen offeneren Umgang mit Fehlern: Eigene Fehler sollten schneller eingestanden werden, anderen sollten ihre Fehler leichter verziehen werden, und in unseren Strategien müssen wir das Scheitern als realistische Möglichkeit mitberücksichtigen und frühzeitig Politikalternativen entwickeln.

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teil an den Ursachen dieser Probleme. Neben die traditionellen Forschungskanäle ETH, Universitäten, Nationalfonds und Innosuisse sollte ein «Grosser Preis der Schweiz» für Lösungen gesellschaftlicher Probleme treten. So könnte mit bisherigen Subventionsmitteln ein wirksameres und weltweit besser sichtbares Zeichen gesetzt werden. Naheliegend wäre auch die Gründung einer «Stiftung Schweiz für die Welt», mit der die Schweiz als grosszügige Mäzenin für die Erforschung von Lösungen globaler Probleme auftreten würde.   Offenheit: Angesichts von Globalisierung und Digitalisierung verändern sich nicht nur die Probleme rund um die Infrastruktur, sondern auch die Möglichkeiten, diese zu nutzen. So wie die einheimische Infrastruktur zunehmend durch äussere Einflüsse bedroht wird, kann sie auch über die Landesgrenzen ausstrahlen, etwa indem ausländische Akteure die schweizerische Dateninfrastruktur und -sicherheit oder elektronische Identitäten gegen Entgelt nutzen könnten.

Garantierte Kostenwahrheit Für echte Kostenwahrheit braucht es dreierlei: Erstens müssen die negativen externen Effekte in Produktion und Konsum identifiziert, beziffert und den Verursachern angerechnet werden. Allgemeine Subventionen, die nicht durch positive Externalitäten gerechtfertigt sind, müssen gestrichen werden. Die Anbieter von Leistungen dürfen nur für die wahren Nutzen ihrer Leistungen entschädigt werden. So können auch bisher nicht erfasste Leistungen abgegolten werden. Ein Beispiel sind Daten. Im Sinne der «self sovereign identity» müsste jede Person ein Recht haben, über die Verwendung ihrer Daten zu entscheiden und von den Datennutzern angemessen entschädigt zu werden (was steuerlich zu erfassen wäre). Abweichungen vom Grundsatz der Kostenwahrheit führen zu hohen gesellschaftlichen Kosten. Wenn beispielsweise Elektrizität aus alternativen Quellen subventioniert wird, werden Strommangellagen wahrscheinlicher. Denn sie lassen das Stromangebot in Normalzeiten wachsen und die Preise sinken, wodurch mehr verbrauchsintensive Geräte installiert werden, was dann in Zeiten niedrigen Stromangebots zu einer Verschärfung der Mangellage führt. Eine auf KostenNutzen-Wahrheit bauende Energiepolitik hingegen ist strikt technologieneu­ tral und bedingt eine rationale, unideologische und offene Diskussion über alle Alternativen, also auch über die Verlängerung der Laufzeiten oder den modernen Ersatz von Kernkraftwerken, den Aus- und Neubau von Stauseen und den Bau von Erdgaskraftwerken. Dabei wären alle negativen Externalitäten von traditionellen und alternativen Energieträgern abzugelten. Zweitens muss bei jeder Belastung der Bürger durch Kostenwahrheit, zum Beispiel durch höhere Kosten für Verkehr und Energie, festgelegt werden, wie sie durch die Senkung anderer Steuern und Abgaben entlastet werden. So ist Kostenwahrheit im ÖV für die B ­ ürger inakzeptabel, wenn Zugfahren verteuert, das Geld aber für sie uninteressante Zwecke verwendet wird. Wird hingegen festgelegt, dass der ÖV seine Kosten selbst decken muss, aber dafür die Mehrwertsteuern um 3 Prozentpunkte gesenkt werden, kann die Vorlage durchaus mehrheitsfähig sein. Drittens muss Kostenwahrheit institutionell so umgesetzt werden, dass ungewollte politische Anreizwirkungen ausbleiben. Ein Beispiel ist Kostenwahrheit im Verkehr mittels Road Pricing und Mobility Pricing. Zur Finanzierung der Strasseninfrastruktur ist die Einführung von Road Pricing unabdingbar, da Elektroautos keine Treibstoffabgaben leisten, mit welchen die Finanzierung der Strassen heute schwergewichtig noch erfolgt. Ein Road Pricing, das neben den Strassenkosten auch Umweltexternalitäten und Staukosten internalisiert, droht aber Fehlanreize zu schaffen: Manche Regierungen wären versucht, die Strassenkapazität zu verknappen, um die Einnahmen aus den Staugebühren zu mehren. Falls die Gebühreneinnahmen in den Gemeinden und Städten verblieben, hätten diese Anreize, den Durchgangsverkehr möglichst hoch zu belasten. Wenn aber die Gebühreneinnahmen zum Bund fliessen, wäre dieser versucht, die Gebühren in den grossen Städten überhöht anzusetzen. Road Pricing droht deshalb an der Angst der Bevölkerung vor Ausbeutung zu scheitern. Es ist nur dann attraktiv für die Bürger, wenn völlig klar ist, wer über die Gebührenhöhe entscheidet und wohin die Einnahmen fliessen. Die Regeln sind so auszugestalten, dass keine gegenseitige Ausbeutung droht – etwa indem die Einnahmen an die Wohngemeinden der Fahrzeughalter fliessen. Entschei-

NZZ-Verlagsbeilage

Effiziente Rezepte

dend ist, dass die Regierungen nun endlich diese institutionellen Fragen klären.

Neue Swissness Auch zur Bewältigung neuer Herausforderungen muss die Schweiz auf ihre bewährten Erfolgsrezepte und relativen Stärken setzen. Dazu gehören insbesondere folgende:   Dezentralität und Vielfalt: Viele In­ frastrukturen sind natürliche Monopole und anfällig für Systemversagen etwa

infolge Überkomplexität, Inflexibilität, Terrorismus oder Cyberkriminalität. Die schweizerische Lösung war schon immer: Dezentralisierung. Ein ­Beispiel könnte der ­Telekommunikationsbereich werden. Da wird die Entwicklung des 5G-Netzwerks durch einen extremen Strahlenschutz abgebremst, dessen Einhaltung den teuren Zubau von (zu) ­vielen Antennen erfordern würde, der seinerseits aber durch Bewilligungsprobleme fast gänzlich ausgebremst wird. Um diese institutionelle Paralyse zu überwinden und die Kosten einzudäm-

Die Autoren

men, sollte statt strikter Grenzwerte eine Abgabe auf Strahlungsimmissionen eingeführt und so Kostenwahrheit geschaffen werden. Dabei sollte den Kantonen einen gewisser Spielraum in der Bepreisung zugestanden werden.   Technologischer Fortschritt: Die meisten Probleme der Menschheit wurden und werden auch weiterhin durch technologische Innovation gelöst. Der Beitrag der Schweiz zur technischen Lösung der Probleme könnte in vielen Bereichen weit grösser sein als ihr An-

Sounding Board Folgende fünf Sparringspartner aus der Praxis sowie Persönlichkeiten aus Wissenschaft oder Zivilgesellschaft haben die Fachautoren thematisch und inhaltlich herausgefordert sowie unterstützt:

Reiner Eichenberger

Markus Saurer

(Jahrgang 1961) ist seit 1998 Professor für Theorie der Wirtschafts- und Finanzpolitik an der Universität Freiburg i.Ue. sowie Forschungsdirektor von CREMA – Center of Research in Economics, ­Management and the Arts. Spezialisiert ist er auf die ökonomische Analyse des politischen Prozesses und politischer ­Institutionen. Er ist Mitherausgeber der sozialwissenschaftlichen Fachzeitschrift «Kyklos». Von 2004 bis 2017 war er Mitglied der Eidgenössischen Kommunikationskommission (ComCom).

(Jahrgang 1959) ist seit 2004 selbständiger ökonomischer Berater und Publizist sowie Gründungs- und Vorstandsmitglied des Carnot-Cournot-Netzwerks. Zuvor war er Gründer und Leiter von Plaut Economics, Vizedirektor und Leiter Produktemärkte im Sekretariat der Wettbewerbskommission (Weko), Leiter Ökonomie der Unternehmensentwicklung und Berater des Präsidenten in der Generaldirektion der PTT sowie stellvertretender Sektionschef Planung im Bundesamt für Verkehr.

Marcel Dobler, Unternehmer, Rapperswil   Prof. Dr. Lino Guzzella, Maschineningenieur, Zürich   Dr. Konrad Hummler, Unternehmer und Publizist, St. Gallen   Jeannine Pilloud, Verwaltungsrätin und CEO, Zürich   Prof. Dr. Cornelia Stengel, Rechts­ anwältin, Zürich

Wettbewerb in Markt und Politik, also ein liberales Umfeld, bringt in der Regel effiziente Lösungen hervor – gerade auch betreffend Infrastruktur und deren Regulierung. Effiziente Infrastrukturen nützen der ganz grossen Mehrheit der Bürger. Damit haben sie den Charakter eines öffentlichen Guts und können zumeist nur auf eine schwache Lobby zählen. Auf Partikularinteressen ausgerichtete Politiker hingegen werden ihre Vorschläge weiterhin als gemeinnützig und alternativlos darstellen. Demokratie beruht jedoch darauf, dass die Entscheidungsträger bis hin zu den Stimmbürgern stets zwischen realistischen Alternativen wählen können. Diese Anforderung wird in einem Fall schon wirksam erfüllt: Zu Volksinitiativen kann das Parlament einen Gegenvorschlag machen. Das Rezept des Gegenvorschlags sollte auf parlamentarische Entscheide übertragen werden: Bei Volksabstimmungen sollte dem Volk ein Gegenvorschlag gegen die Vorlage des Parlaments vorgelegt werden können. Doch wer soll diesen Gegenvorschlag ausarbeiten? Die ideale Institution dafür wäre eine volksgewählte Gegenvorschlagskommission. Die Kommissionsmitglieder sollten im Majorzverfahren in einem gesamtschweizerischen Wahlkreis gewählt werden. Sie hätten die Aufgabe, Kritik an den Vorlagen des Parlaments zu äussern und konkrete Gegenvorschläge zu entwickeln. Die Bürger stimmen dann über die Vorschläge des Parlaments und der Gegenvorschlagskommission sowie den Status quo ab. In gewisser Weise wäre diese Kommission eine Weiterentwicklung der kommunalen Rechnungs­ prüfungskommissionen, deren sehr positive Wirkung der Erstautor gemeinsam mit Mark Schelker erforscht hat. Die hier postulierte Gegenvorschlagskommission für Infrastrukturvorhaben und der im ­institutionellen Beitrag von C ­ hristoph A. Schaltegger und Mark Schelker vorgeschlagenen Bürgerrat (siehe Seite 14) sind eng verwandt und könnten zusammengelegt werden. Das skizzierte Wahlverfahren garantiert, dass die Kommission sich e­ ffektiv um die Gesamtinteressen kümmern würde, parteilich breit zusammengesetzt wäre und stets konstruktiv bliebe. Sie würde eine bürgernähere Position als die meisten Parlamentarier vertreten, denn für Lobbyisten lohnte es sich weit weniger, Kommissionsmitglieder als Parlamentarier zu beeinflussen, da erstere ja nichts selbst entscheiden könnten. Die Gegenvorschlagskommission hätte auch einen über Volksinitiativen hinausgehenden Einfluss, weil sie sofort auf schlechte Vorlagen des Parlaments reagieren könnte. Natürlich müsste sie über leistungsfähige Mitarbeiter verfügen und würde durchaus etwas kosten. Wenn sie aber die Politik auch nur ein klein wenig in eine bessere Richtung lenken würde, würde sich der Einsatz schon mehr als lohnen. Damit ist der Erfolg der Gegenvorschlags­ kommission garantiert: Denn nur schon die Möglichkeit, dass sie gute Gegenvorschläge macht, würde das Parlament zu besseren Leistungen antreiben – gerade in der Infrastrukturpolitik.


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Reformideen für die Schweiz

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ZUKUNFTSFÄHIGKEIT

Politische Institutionen entschl Ein schlanker Staat mit effektiven direktdemokratischen Institutionen ist der Schlüssel für eine resiliente, reformfähige Schweiz. Die Vorherrschaft Von Christoph A. Schaltegger und Mark Schelker Der Staat ist der allgegenwärtige, unsichtbare Dritte im Alltag der Bürger. Im Euroraum erreicht die Staatsquote knapp 53 Prozent. Mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung läuft heute über staatliche Kanäle – die entsprechend mitreden wollen, das ist klar. Der Staatsanteil in der Schweiz liegt mit knapp 37 Prozent unter diesem Niveau, erreicht aber im historischen Vergleich ebenfalls sehr hohe Werte. Auf der Finanzierungsseite sticht der starke Anstieg der Verschuldung ins Auge. Die erste Grafik zeigt, dass die Schuldenquoten unserer Nachbarn, ­Griechenlands, Grossbritanniens und den USA in den letzten 20 Jahren stark gestiegen sind. In Frankreich, zum Beispiel, hat sie sich in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt. In Italien lag sie schon vor der Jahrtausendwende weit über 100 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) und hat sich mittlerweile auf 184 Prozent ausgeweitet. Die Schweiz hat sich in dieser Beziehung moderater entwickelt und erreicht heute einen Wert von knapp 46 Prozent – einer der tiefsten Werte in Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die Schuldenbremse und starke Institutionen weisen das Staatswachstum in der Schweiz in die Schranken. Anders sieht es auf der Regulierungsseite aus. Die zweite Grafik zeigt, dass der Bund mit beeindruckender Kadenz reguliert. Alle Lebensbereiche sind von mehr oder weniger eng definierten und sich schnell ändernden Regulierungen durchdrungen. Und die Regulierungsdynamik droht weiter zu eskalieren – sofern nicht institutionelle Vorkehrungen getroffen werden, um ihr Einhalt zu gebieten.

Diagnose: «Verschlammung» der Erfolgsfaktoren Man braucht nicht nach Italien oder Frankreich zu blicken, um sich längst ernsthaft zu fragen: Wie viel Staat braucht eine resiliente und reformfähige Schweiz? Diese Frage kann in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat kaum mit einer eindeutigen Zahl beantwortet werden, so sehr sich dies einzelne auch wünschen mögen. Denn die Grenze zwischen Staatsgewalt und individueller Freiheit ist dauernder Verhandlung unterworfen. Sie beruht auf unterschiedlichen Werturteilen und muss Resultat eines breiten demokratischen Konsenses sein. Aber die Diskussionen sind nur so gut wie die Institutionen, in deren Ordnungsrahmen sie stattfinden. Entscheidend ist deshalb ein kluges Design der staatlichen Institutionen. Allerdings erodieren die institutionellen Erfolgsfaktoren der Eidgenos-

senschaft zunehmend, sie drohen zu «verschlammen». Dies gilt primär für den Föderalismus. Die klassischen Vorteile der Risikodiversifikation und des Schutzes von Minderheiten werden durch zahlreiche Aufgaben in gemeinsamer Verantwortung und Finanzierung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden unterminiert. Das Haftungsprinzip, also die Einheit von Risiko, Kontrolle und Verantwortung, wird immer häufiger durchbrochen. Dies öffnet Partikularinteressen Tür und Tor, ohne dass deren Vertreter Verantwortung zu übernehmen bräuchten. Einflussreiche Vetopositionen verhindern damit permanent Reformen. Die Schweiz sitzt in der «Politikverflechtungsfalle». Ähnliches gilt für die direkten Volksrechte. Die Anreicherung der parlamentarischen Debatte durch ein mögliches Veto des Souveräns wird durch den ­exzessiven Stimmentausch der Volksvertreter unterlaufen. Anstatt präziser Sachabstimmungen werden dem Volk immer häufiger sachübergreifende Pakete zur Abstimmung vorgelegt. Das Ziel der direkten Volksrechte, die Entbündelung von Interessen beziehungsweise die Fokussierung auf das Gesamtinteresse, gerät aus dem Blick. Auch die Stabilität der Exekutive wird zunehmend in Frage gestellt. Die Zauberformel hat der Schweizer Regierung auf Bundesebene über Jahrzehnte eine weitgehend unabhängige Stellung gegenüber dem Parlament gesichert. Die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative funktionierte faktisch wie in einem Präsidialsystem. Das stärkte die Möglichkeit zur strategischen Langfristorientierung und Prioritätensetzung des Bundesrats. Mit den starken Wählerverschiebungen der letzten Jahre hat sich die Situation allerdings verändert. Das Vertrauen in die Stabilität der Zauberformel ist angeschlagen. Damit einher geht eine faktische Machtverschiebung zu Gunsten der Legislative, die als Wahlkörper des Bundesrats fungiert. Die permanente Suche nach situativen Mehrheiten geht zu Lasten der langfristigen ordnungspolitischen Ausrichtung des Bundesrats. Die Schweiz bewegt sich in Richtung einer parlamentarischen Demokratie. Entsprechend kurzfristiger muss der Bundesrat auf die parteipolitischen Vorstellungen reagieren.

Therapie: Revitalisierung der «Checks and Balances» Basierend auf der Diagnose der «Verschlammung» der Schweizer Erfolgsfaktoren präsentieren wir vier Vorschläge zur Revitalisierung der Schweiz. Weil wir die konkreten Probleme der Zu-

Länder-Schuldenquoten (in % des BIP)

kunft heute noch nicht kennen, können unsere Vorschläge nur prozessorientiert sein. Es geht um das kluge Design staatlicher Institutionen. Warum? Staatliche Rahmenbedingungen setzen die Spielregeln und mithin die Anreize für die Politik und lenken damit die politischen Ergebnisse viel effektiver und unabhängig von parteipolitischen Mehrheiten. Das

heisst: Gute Politik ist das Ergebnis guter Rahmenbedingungen und viel weniger der «richtigen» Politiker zur «richtigen» Zeit. Eine Wirtschafts- und Finanzpolitik ist nur erfolgreich, wenn es ihr gelingt, die Vorherrschaft von Partikularinteressen zu brechen. Das geschieht wirksam über starke politische Institutionen. Sie sind in

Regulierungsaktivität auf Bundesebene

Schuldenquote

Föderalismus: Aufgaben teilen und Verantwortung klären

Erlasse

250

800

200

600

150

400

100

200

50

0 1995

2000 Schweiz Deutschland Österreich

2005

2010

Frankreich Grossbritannien USA

2015 Italien Griechenland

QUELLE: ORGANISATION FÜR WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT UND ENTWICKLUNG OECD (2021)

2020

1850

der Schweizer DNA verwurzelt, werden aber zunehmend unterminiert. Wir schlagen deshalb vor, den Föderalismus und die direkte Demokratie zu entschlacken, und einen Bürgerrat als Gegenpol zu den Politikern zu etablieren, die oftmals bloss staatsausgabentreibende Partikularinteressen vertreten. Zur weiteren Stärkung der «Checks and Balances» sichern wir die unabhängige Stellung des Bundesrats gegenüber dem Parlament durch klar getrennte Wahlen ab.

1900

1950

2000

Anzahl geänderter Erlasse pro Stufe in Hierarchie der Normen Anderes Verordnungen und Dekrete Verfassung

Internationale Vereinbarungen Gesetze

QUELLE: LÜCHINGER UND SCHELKER (2016); REGULATION IN SWISS CANTONS: CESIFO WORKING PAPER 5663

Die Kraft des Föderalismus liegt darin, dass er staatliche Leistungen auf der dafür am besten geeigneten Ebene ansiedelt, die Gliedstaaten zueinander in Wettbewerb setzt und Raum für politische Experimente schafft. Innovationen lassen sich in der Regel nicht zentral planen. Die staatlichen Leistungen und die ihnen entsprechenden Steuerquellen sollten dabei nach dem Subsidiaritätsprinzip den unterschiedlichen Staatsebenen zugeordnet werden. Wichtig ist, dass Entscheidung, Bereitstellung und Finanzierung von staatlichen Leistungen in der gleichen Verantwortung verbleiben, also nach dem Prinzip Haftung, Kontrolle und Risiko in einer Hand. Wird dieses Prinzip durchbrochen, verkommt der Föderalismus zum «Schlaf-


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lacken partikularer Interessen gilt es zu brechen.

benteilung: Zentral verantwortete Aufgaben sollten wieder nur jene Bereiche umfassen, bei denen die geografisch-regionale Dimension keine wesentliche Rolle spielt und Skalenerträge und Koordination im Zentrum stehen. Dezentral verantwortete Bereiche haben hingegen eine wichtige räumliche Komponente. Immer dann, wenn die kantonalen Präferenzen und Ausgangslagen strukturell unterschiedlich sind, verfehlen Einheitsmassnahmen lokal ihre gewünschte Wirkung. Bei zeitsensitiven Politikmassnahmen, wie denjenigen während der Coronapandemie, kommen sie für die einen zu früh und für die anderen zu spät. Es gilt, die Strukturen des gewachsenen Föderalismus zu entschlacken, wie dies mit der NFA-Reform von 2004 bereits angestossen wurde. Beispielhaft dafür seien die Fragen der individuellen Prämienverbilligungen (IPV), des regionalen Personenverkehrs (RPV) oder der Ergänzungsleistungen (EL) erwähnt. All diese Aufgaben werden heute im Verbund zwischen Bund und Kantonen organisiert und finanziert, mit den entsprechenden Ineffizienzen und Steuerungsdefiziten. Eine exklusive Zuordnung dieser Aufgaben bei den Kantonen wäre folgerichtig und würde Raum für Politikinnovationen bieten. Dies steht freilich ganz im Kontrast zum Ansatz der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK). Bei vielen Föderalismusproblemen sucht sie Linderung in neuen bürokratischen Koordinationsstrukturen. Es braucht wenig Phantasie, um zu erkennen, dass dieser Ansatz die Politikverflechtung, die Blockade und die Verantwortungslosigkeit weiter zementiert.

Direkte Demokratie: obligatorisches Finanzreferendum

mützen- und Subventionswettbewerb» – der Innovations- und Effizienzanreiz verblasst. Die Coronakrise demaskiert das schon vorher bestehende Kompetenzwirrwarr zwischen den Staatsebenen. Bedeutende Handlungskompetenzen zwischen Bund und Kantonen werden immer stärker vergemeinschaftet und Verantwortlichkeiten zunehmend diffus. Wer übernimmt Verantwortung für welche Massnahmen, verfügt über welche Instrumente und bezahlt wie viel? Das ist heute oft nicht mehr klar und muss bei jedem Problem durch langwierige Abstimmungsprozesse mit den kantonalen Regierungskonferenzen neu austariert werden. Diese Situation führt immer öfters in die institutionalisierte Verantwortungslosigkeit. Was die Trennung von Handlungskompetenz, Risiko und Verantwortung bedeutet, zeigt die Lebenspraxis: Wer das Risiko trägt, aber keine Kompetenzen hat, kann nicht reüssieren. Und im umgekehrten Fall wird zum unverantwortlichen Hasardeur, wer zwar mitentscheiden kann, aber die Verantwortung nicht übernehmen muss. Wer Kompetenzen erhält, muss dafür das Risiko und die finanzielle und politische Verantwortung tragen. Auch hier sind die Regierungskonferenzen oftmals hinderlich. Abhilfe schaffen müsste daher eine Entschlackung mit einer klaren Aufga-

Gute Politik ist das Ergebnis guter Rahmen­ bedingungen und viel weniger der «richtigen» Politiker zur «richtigen» Zeit.

Direkte Demokratie heisst, dass – komplementär zu regelmässigen Wahlen – Sachentscheide durch die Bürger direkt an der Urne gefällt werden können. Während in Wahlen über ganze Bündel von Politikmassnahmen als Parteiprogramme und Politikversprechen abgestimmt wird, erlauben Initiativen und Referenden die Entbündelung der Interessen in einzelne Sachvorlagen. Dies ist zentral, weil Bürger vielschichtige Interessen haben und eine Partei diese kaum adäquat über alle Themen hinweg abbilden kann. Allerdings wird die Entbündelung in Sachentscheiden immer stärker durch das Schnüren umfangreicher Pakete behindert. Beispiele hierfür waren die Gesetzesvorlagen zur Steuerreform und der AHV-Finanzierung (STAF), zur Altersvorsorge 2020 oder jene zum revidierten CO2-Gesetz. Bei Volksinitiativen wird diesen politischen «Kuhhändeln» ein vernünftiger Riegel vorgeschoben, indem das Prinzip der Einheit der Materie gilt. Dieses Prinzip taugt für den parlamentarischen Prozess aber weniger, weil die Bündelung für den tragfähigen Kompromiss gelegentlich notwendig ist. Wenn alle relevanten Interessenvertreter mitverhandeln und einen Kompromiss finden, ist gegen Paketlösungen deshalb wenig einzuwenden. Die Bündelung wird dann problematisch, wenn nicht alle relevanten Interessenvertreter am Verhandlungstisch sitzen. Wenn sich gut organisierte Spezialinteressen allzu einfach auf Kosten der nicht oder nur schlecht organisierten Interessen einigen können, kippen die Vorteile ins Gegenteil. Das ist leider im Politikalltag nur allzu oft der Fall: Die am schlechtesten zu organisierenden Interessen sind jene, die praktisch alle Bürger teilen – das allgemeine Interesse, Ressourcen nicht zu verschwenden.

Die Autoren

Christoph A. Schaltegger

Mark Schelker

(Jahrgang 1972) ist an der Universität Luzern Ordinarius für Politische Ökonomie und Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik IWP. Bis 2008 arbeitete er als Referent von Bundesrat Hans-Rudolf Merz im Eidgenössischen Finanzdepartement. Danach leitete er als Mitglied der Geschäftsleitung den Bereich Finanz- und Steuerpolitik beim Dachverband der Schweizer Wirtschaft. 2009 folgte die Habilitation an der Universität St. Gallen (HSG). Seit 2010 ist er als Professor an der Universität Luzern tätig und lehrt daneben an der Universität St. Gallen zum Thema öffentliche Finanzen.

(Jahrgang 1977) ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Inhaber des Lehrstuhls für Finanzwissenschaft an der Universität Freiburg i.Ue. und Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen (HSG). Vor seinem Wechsel nach Freiburg war er als Assistenzprofessor an der HSG und in der Unternehmensberatung tätig. Er schloss 2006 seine Promotion in Volkswirtschaftslehre ab. Er war Gastforscher an verschiedenen Universitäten (Harvard, Monash, QUT, LMU) und ist assoziierter Forscher am CESifo, SIAWHSG und CREMA. Er forscht zu Themen der Finanzwissenschaft, Wirtschaftspolitik und politischen Ökonomik.

Sounding Board Folgende acht Sparringspartner aus der Praxis sowie Persönlichkeiten aus Wissenschaft oder Zivilgesellschaft haben die Fachautoren thematisch und inhaltlich herausgefordert sowie unterstützt:   Dr. Beat Brechbühl, Anwalt und Unternehmer, Bern

Simon Michel, Unternehmer und CEO, Solothurn   Prof. Dr. Andrea Opel, Konsulentin und Ordinaria für Steuerrecht, Luzern   Matthias Reinhart, Unternehmer und CEO, Zürich

Dr. Peter A. Fischer, Ökonom, Zürich

Dr. René Scheu, Geschäftsführer und Publizist, Zürich

Dr. Katharina Fontana, Redaktorin, Basel

Dr. Gerhard Schwarz, Berater und Publizist, Zürich

Mit dem Gesetzesreferendum kann bereits heute der politische «Kuhhandel» zu Lasten nicht vertretener Mehrheiten limitiert werden. Allerdings besteht keine Referendumsmöglichkeit mit Fokus auf den Budgetprozess. Wir schlagen deshalb die Einführung eines obligatorischen Finanzreferendums vor als Hürde, die die finanzpolitische Dimension einer Vorlage ins Zentrum rückt. Es erlaubt den Bürgern, ihre generellen Finanz- und Effizienzinteressen in der Budgetpolitik von den eigenen Partikularinteressen zu «entbündeln». Das Finanzreferendum ist auf Kantonsebene bereits ein bekanntes Instrument, das den Bürgern laut der einschlägigen Forschung gute Dienste leistet. Die wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass die direkte Entscheidungskompetenz der Bürger zu tieferen Ausgaben, Einnahmen und Defiziten der öffentlichen Hand führt – dies bei zugleich bürgernäherer Politik. Bürger sind in Finanzfragen konservativer als Politiker und Parteien. Das ist nicht verwunderlich, sind doch Bürger immer auch Steuerzahler und Konsumenten, die die vollen Kosten von politischen Entscheidungen letztlich tragen müssen. Es ist wichtig zu betonen, dass Referenden ihre Wirkung nicht erst beim tatsächlichen Gebrauch entfalten. Die Übernutzung des Budgets kann durch das drohende Bürgerveto schon in den Parlamentsverhandlungen gedämpft

werden. Zur Stärkung der Wirkung der Referenden wäre es angezeigt, die im Diskurs untervertretenen allgemeinen Effizienzinteressen in einem Bürgerrat institutionell zu organisieren. Diese Idee entwickeln wir im nachfolgenden Vorschlag.

Bürgerrat: Verankerung der allgemeinen Interessen Das zentrale Problem aller Demokratien besteht darin, dass sich grosse und heterogene Gruppen im Vergleich zu kleinen und homogenen nur schlecht organisieren können. Dies hat Folgen für die öffentliche Debatte. Organisierte Spezialinteressen dominieren den Diskurs mit Argumenten aus ihrem Blickwinkel. Im Gegensatz dazu werden die Konsequenzen einer Vorlage auf die Allgemeinheit kaum vertreten. Informationen zur Wirtschaftlichkeit und Effizienz sind rar. Dieses Informationsdefizit könnte eine unabhängige Institution adressieren, die Projekte evaluiert und deren Ergebnisse frei zur Verfügung stellt, in klare politische Positionen überführt und allenfalls in Gegenvorschlägen vertritt. Modelle zur institutionellen Vertretung allgemeiner Effizienzinteressen gibt es in der Schweiz bereits. In einigen Kantonen wird auf der Gemeindeebene die Evaluation der Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit von PoliFortsetzung auf Seite 16


16  NZZ-Verlagsbeilage Fortsetzung von Seite 15 tikmassnahmen durch gewählte Organe sichergestellt. Je nach Kanton heissen sie Finanz-, Rechnungsprüfungs- oder Geschäftsprüfungskommission, im Weiteren RPK. In einigen Kantonen umfasst ihr Mandat nicht nur die standardisierte Rechnungsprüfung, sondern auch die Evaluation des Budgetentwurfs, aller Politikvorlagen und der implementierten Politikmassnahmen. Die RPK informieren die Bürger nach eigenem Gutdünken und haben die Möglichkeit, sich zu allen Politikvorlagen zu äussern und Gegenanträge zu stellen. Die Möglichkeit, Gegenvorschläge einzubringen, durchbricht die Agendasetzungsmacht der Vertreter von Partikularinteressen.

QUINTESSENZ

Reformvorschläge für eine resiliente Schweiz Entschlackung des Föderalismus durch einen neuen Anlauf zur klaren Trennung von Auf­ gaben und Verantwortlichkeiten von Bund, Kantonen und ­Gemeinden. Konsequente Ausrichtung am Subsidiaritätsprinzip: Zentral werden nur jene Bereiche verwaltet, bei denen die regional-geografische Dimension keine grosse Rolle spielt und es substanzielle Skalenerträge der Zentralisierung gibt. Einführung eines obligatorischen Finanzreferendums auf Bundesebene als Hürde, die die finanzpolitische Dimension einer Vorlage ins Zentrum rückt. Einführung eines von Ver­ waltung und Parlament unabhängigen Bürgerrats, der die Effizienzinteressen der Allgemeinheit vertritt. Der Bürgerrat evaluiert auf Bundesebene Projekte und stellt Ergebnisse frei zur Verfügung. Er überführt diese in klare politische Positionen und vertritt sie allenfalls in Gegenvorschlägen. Trennung der Wahlzyklen und Differenzierung der Amts­ perioden von Bundesrat und Parlament; kürzere Amtsperioden für die Legislative, längere für die Exekutive.

Reformideen für die Schweiz Die Forschungsergebnisse in Zusammenarbeit mit Reiner Eichenberger zum Einfluss von unabhängigen, vom Volk gewählten RPK zeigen, dass deren Analysen, Informationen und Gegenvorschläge einen grossen Einfluss auf die öffentlichen Finanzen haben. Durch die systematische Breitstellung unabhängiger Information zum Einfluss politischer Vorlagen auf die öffentlichen Finanzen werden die wahren Kosten von Massnahmen zugunsten von Partikularinteressen plötzlich für alle sichtbar. In Gemeinden mit stark ausgebautem Prüfund Informationsmandat der RPK liegt die Steuer- und Ausgabenbelastung zwischen 15 und 20 Prozent tiefer als in Gemeinden mit schwachem RPK-Mandat. Um ein Ausweichen der Partikularinteressen in die Regulierungspolitik zu verhindern, sollte in Anlehnung an die Funktionsweise der RPK im Bereich der öffentlichen Finanzen auch die Regulierungsseite miteinbezogen werden. Damit ein Bürgerrat tatsächlich Wirkung entfaltet, ist die institutionelle Ausgestaltung von Bedeutung. Der Rat muss im Unterschied zu Parlament und Regierung eine klare Mission als Advokat der Wirtschaftlichkeit und Effizienz haben. Wie könnte eine optimale Besetzung des Bürgerrats aussehen? Wir stellen uns ein Präsidium mit mehreren Sitzen und einem Sekretariat mit notwendiger Fachexpertise vor. Das Präsidium wäre mit Personen bestückt, die Expertise einbringen, die Führung des Sekretariats übernehmen und gleichzeitig aktiv im politischen Prozess agieren. Ein Mitbestimmungsrecht im Parlament wäre aber ausgeschlossen. Damit sind es weder reine Experten noch reine Politiker, sondern eben – kompetente Bürger. Unser Vorschlag ist kompatibel mit der im Bereich Infrastruktur von Reiner Eichenberger postulierten Gegenvorschlagskommission. Die Evaluation von Infrastrukturvorhaben wäre natürlicherweise Teil der Aufgaben unseres Bürgerrats. Das Wahlverfahren muss eine zu Parlament und Regierung unterschiedliche Selektion der Ratsmitglieder sicherstellen und die Mission auf die finanzielle und wirtschaftliche Effizienz der Politik ausrichten. Beim Design des Wahlmechanismus gibt es etwas Spielraum: Die Volkswahl des Präsidiums in einem gesamtschweizerischen Wahlkreis im Majorzverfahren mit mehreren Sitzen führt bereits wahlmechanisch zu einer unterschiedlichen Selektion von Bürgern. Denkbar wäre auch eine Wahl durch

ein politisches Gremium analog der Schweizerischen Nationalbank (Bankrat und Bundesrat). Im ersten Fall stärkt man die demokratische Anbindung an die Bürger, im zweiten Fall die fachliche Expertise.

Bundesrat: längere Amts­periode und eigener Wahltermin

Exekutiv- und ­Legislativwahlen sollten voneinander getrennt, zeitlich versetzt und für unterschiedlich lange Amtszeiten erfolgen.

Repräsentative Demokratie ist die regelbasierte und regelmässige Zuteilung und Limitierung der staatlichen Macht in den Händen gewählter Politiker. Sie folgt dem klassischen Prinzip der Gewaltenteilung zwischen ­ Legislative, Exe­kutive und Judikative. Die Gewalten arbeiten in Abgrenzung zueinander miteinander: Macht und Gegenmacht, «Checks and Balances». Die Aufgaben der Gewalten sind klar definiert. Die Legislative als gesetzgebende Gewalt hat die Bürgerpräferenzen möglichst gut abzubilden und einzubringen. Einerseits sind es die Interessen der Bevölkerung in der ideologischen Dimension. Sie werden primär durch proportionale Wahlsysteme gewährleistet. Andererseits sind es die kantonalen und damit die regionalen und sprachregionalen Interessen, die auf Bundesebene im Ständerat durch ein stärker mehrheitsorientiertes Wahlsystem eingebracht werden. Die Exekutive verantwortet als ausführende Gewalt die Vorbereitung und Umsetzung von Politikmassnahmen. Sie übernimmt die Aufgaben der strategischen Führung und verantwortet die staatliche Bürokratie. Damit hat die Exekutive nicht nur einen anderen Aufgabenbereich, sondern auch einen anderen Zeithorizont als die Legislative. Während das Parlament für die Präferenzabbildung auch kurzfristige Anliegen gewichten muss, sollte die Exe­kutive mit der strategischen Führungsverantwortung über einen längeren Zeithorizont verfügen. Kurzfristige Orientierung, Optimierung und Kommunikation verhindern dagegen, Vorlagen langfristig auszurichten und konsequent gegenüber dem Parlament und den Bürgern zu vertreten. Das Wahlsystem muss dieser strategischen, umsetzenden Ausrichtung gerecht werden. Auf kantonaler Ebene wird die Exekutive in sitzspezifischen Mehrheitswahlen erkoren. Im Unterschied zu Legislativwahlen im Proporz werden dadurch eher konsensund mehrheitsfähige Politiker gewählt, wobei die ideologischen Ränder selten

Freitag, 24. Dezember 2021

vertreten sind. Dies ist für eine stabile, längerfristige Orientierung und sich an breiten statt an partikularen Interessen ausrichtende Politik erforderlich. Auf Bundeseben hat die durch die Zauberformel vorgegebene Sitzverteilung im Bundesrat diese stabilisierende Funktion über Dekaden garantiert. Doch die Zauberformel ist instabil geworden. Regelmässig wird sie auf Grund der Verschiebungen im Nationalrat angezweifelt. Damit stellt sich die Frage, wie die Bundesratswahl in Zukunft ausgestaltet werden soll. Das höchste Schweizer Exekutivamt darf nicht zum Spielball kurzfristiger Interessenschwankungen in der Legislative werden. Denn es geht gerade nicht um eine weitere Interessenvertretung in Anlehnung an die grosse Parlamentskammer, sondern um eine eigenständige Funktion und Position im Zusammenspiel der Gewalten. Exekutiv- und Legislativwahlen sollten deshalb voneinander getrennt, zeitlich versetzt und für unterschiedlich lange Amtszeiten erfolgen. Die verschiedenen Aufgaben und Zeithorizonte machen es notwendig, dass in eigenen Wahlen getrennt über die vergangene Leistung, die zukünftige Ausrichtung und personelle Besetzung diskutiert und abgestimmt werden kann. Eigenständige Wahlen garantieren die nötige Zeit und Aufmerksamkeit für die politische Diskussion. Beispielsweise könnten konkrete strategische Herausforderungen oder das exzessive Wachstum der Bürokratie, die eigentlich in der Verantwortung der Exekutive stünden, intensiv in Bundesratswahlen diskutiert werden. Auf Seiten der Bürger könnte mit der Trennung der Wahlen auch das Verständnis für die strategische Verantwortung der Exe­kutive geschärft werden. In Kombination mit einem Bürgerrat wäre auch ein Diskurs unter Einbezug der Effizienzinteressen gesichert. Zudem ermöglichen getrennte und damit asynchrone Wahlen die Entkoppelung und Glättung von Wahlzyklen. Im Vergleich zur Exekutive sind kürzere Amtszeiten für die Legislative sinnvoll. Im Parlament geht es darum, Veränderungen der Präferenzen und Strömungen zeitnah aufzunehmen und einfliessen zu lassen. Die kurzfristigere Bindung der Legislative ist damit sehr wohl konsequent. Denkbar wären Amtszeiten von drei oder vier Jahren für Parlaments- und sechs oder acht Jahren für Regierungsmitglieder.

Wir legen Ihnen diese Impulse als Anregung zum Nachdenken unter den Weihnachtsbaum und wünschen Ihnen frohe, inspirierende Festtage und ein glückliches, gesundes Neues Jahr!

Initianten, Autoren und Sounding Board des Projekts «Liberale Reformideen für die Schweiz 2030»


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