Lucerne Festival (D)

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Gäbe es das Wort «Tausendsassa»nicht schon –für LahavShani1 müssteman es erfinden.Der erst 35-jährigeIsraeli leitet als Nachfolger vonYannik Nézet-Séguin seit2018das Rotterdam Philharmonic Orchestra sowieseit2021das Israel PhilharmonicOrchestra, wo er aufZubin Mehtafolgte. Zudem arbeitet er häufig mitden Münchner Philharmonikern zusammen, als derenChefdirigenterab 2026 wirken wird.Ans Luzerner Gipfeltreffenvon 24 Orchestern ausallerWelt kommtermit zwei Formationen:am 25.August mitden Rotterdamern und der georgischenStargeigerin Lisa Batiashvili, am 12. und 13. September mitden Münchnern. Mitdem Solisten Renaud Capuçon gestaltet er am ersten Abendein modernes Programm rund um das Violinkonzert «L’arbredes songes» vonHenri Dutilleux. Tags darauf übernimmterden Solopart in Johann Sebastian Bachs d-Moll-Klavierkonzert gleich selbst,bevorerins gewaltigeGebirge vonAnton Bruckners 9. Sinfonie einsteigt Lucerne Festival feiertBruckners 200.Geburtstag miteiner ganzenReihe vonherausragenden Konzerten.Dass Shani sich mitden Münchner Philharmonikern die unvollendeteNeunte vornimmt, die der Komponistals «Abschied vomLeben» bezeichnete, ist vonhistorischer Bedeutung: Seit dem19. Jahrhundert bemühtsich diesesOrchester wie kein anderes um die Werkedes österreichischen Solitärs; vorallem aber fand dieUraufführungder Neuntenin ihrer unverfälschtenFassung1932 in München statt.Man darf gespanntsein, wieShani, der in Luzern schon mehrfach begeistert hat, dasWerk angeht.Dass Brucknerfür ihn «die tiefsten Gefühleausspricht, die ein Mensch haben kann», ist schoneinmaleine guteVoraussetzung.

Spiritualität, Innigkeit, religiöse Tiefe: Das sindQualitäten, die auch der Dirigent Yannik Nézet-Séguin2 in Bruckners Werk sieht–neben der kraftvollen, vonder Romantik geprägten Gestaltung der Natur, sei diese nun lieblich, majestätisch oder bedrohlich. Der49-jährigeKanadier,der dasOrchester derMetropolitanOpera in New York, das Philadelphia Orchestra und das kanadische OrchestreMétropolitain leitet, führt mitdem LucerneFestivalOrchestra am 24.August Bruckners 7. Sinfonie auf,die wohl meistgespielte sinfonischeDichtungdes Komponisten. FürNézet-Séguin ist das sogenannte LFO der ideale Klangkörper für dieses Werk, weil Bruckners Tonkunstnachseiner Überzeugungnichtnur hohes technischesKönnen und Einsichtinkomplexe Zusammenhänge,sondernauch Demut erfordert: Bruckner ist zwar monumental, aber nie pompös. Ein Fenster zur unmittelbaren Gegenwart öffnet gleichentagsdas Lucerne Festival ContemporaryOrchestra (LFCO) unterLeitungder deutschenDirigentin Ruth Reinhardt3 (36). Sie ist in Luzern keine Unbekannte:Schon 2019 dirigierte sie im KKL die Uraufführung des Werks «Kurzschluss für Orchester» der estnischen Komponistin MariannaLiik mitmit dem Orchester derLucerne Festival Academy. Als selbständigeDirigentin arbeitet sieseither mitnamhaften Orchestern in Europa und den USAzusammen. Im Zentrum der Matinee am 24. August stehtals Schweizer Erstaufführungdie Orchesterkomposition «Ishjärta» (Eisherz)der 39-jährigen schwedischen Komponistin Lisa Streich –eingerahmtvon Werken Schönbergs, Rihms undBoulez’. Wiedie Wiener Philharmoniker unter Leitungdes Deutschen ChristianThielemann4 (65) «ihren» Bruckner verstehen, ist im KKL am 7. September zu erleben. DergebürtigeBerliner hatals langjährigerChefdirigentder Sächsischen Staatskapelle Dresden, mitder er seit 2011 immer wieder am Lucerne Festival aufgetreten ist, als Leiter der Osterfestspiele Salzburgund als Musikdirektor derBayreuther Festspiele Weltruf erlangt. Diesmal bringt er Bruckners 1. Sinfoniein der spätenWiener Fassung von1890/91 zur Aufführung,die fast einVierteljahrhundert nach der ursprünglichenLinzer Niederschrift von1866entstand. Davor erklingt an diesem Abend Schumanns feingewirktes, mitseinen Kantilenen unmittelbar berührendes Cellokonzert. Solistin istJulia Hagen,die Preisträgerin des diesjährigen «UBS YoungArtistAward». Wenn Bruckner gefeiert wird,dürfen auch die Berliner Philharmoniker unter dem 52-jährigen russisch-österreichischen Dirigenten Kirill Petrenko5 nicht fehlen:Sie intonierenam28. August die 5. Sinfonie; gewaltige, tiefimGlauben Bruckners verwurzelteMusik,die zur Hauptsacheinden Jahren 1873 bis1875 entstand, aber erst 1894 in Graz uraufgeführt wurde Bruckner musste demKon-

LucerneFestivalstehtdiesenSommerunterdemMotto «Neugier». Vom13. August bis 15.September bietet es 131Konzerte.24renommierte Orchesteraus aller Welt reisen an.Ein Blickauf zwei Dirigentinnenund sechs Dirigentenzeigt dieVielfaltdes Angebots

Claudio Abbado hatmit seinen unvergesslichenMahler-Aufführungen bei LucerneFestival eineTraditionbegründet, die vonseinemNachfolger Riccardo Chailly auf hohem Niveau fortgeführt wurde. Hier schliesstdie 55-jährige finnische Dirigentin SusannaMälkki6 mit der Staatskapelle Berlin an,mit der sie in Luzern(undnichtinder Heimatstadt des Orchesters!) ihren Einstandgibt: Mit derAltistin Wiebke Lehmkuhl unddem Tenor Eric Cutler als Solisten bringt sie MahlersZyklus«DasLied vonder Erde» zur Aufführung, denman als eine SinfonieinLiedern bezeichnen könnte:Erberuht auf Nachdichtungenklassischer chinesischer Lyrikund handelt vonLiebe undTrunkenheit, Abschiedund Tod; der sechste undletzteSatz, «Abschied», sprengt mitseinerkomplexen orchestralen Anlage und seiner Dauer vonnahezu einer halben Stunde alleDimensionen des herkömmlichen Lieds. Mahler selbst hatübrigensdieserTondichtung nurdeshalb dieBezeichnung«Sinfonie» verweigert, weil es seineNeunte gewesen wäre underals abergläubischer Mensch fürchtete,sowenig wieBeethovenund Bruckner über diese Zahl hinauszukommen Früh im Œuvreeines anderengrossen Komponistenfiguriert einWerk vonähnlichem Anspruch und Umfang:Arnold Schönbergs 1913 in Wien uraufgeführte «Gurre-Lieder» bildenden Abschlussdes diesjährigenSommer-Festivals.Die Komposition fürSoli, Chor und Orchester hat noch nichts vonder mathematischen Strenge, die manmit demErfinderder Zwölftonmusik verbindet. Vielmehr erinnertsie an dieKunst desSymbolismus und des Jugendstils; sie verrät einen Zug insGigantische, dersogarMahlerund RichardStrauss zu übertreffentrachtet DerAmerikaner Alan Gilbert7 (57) dirigiert am 15.September das NDRElbphilharmonie Orchester, das NDRVokalensemble und denMDR Rundfunkchor sowieden RundfunkchorBerlin: Zweifelloswirdauch er denKonzertsaal desKKL Luzernineine brausende Klangkathedrale verwandeln Tags zuvorzeigt dasBudapestFestival Orchestraunter derLeitung desUngarn IvánFischer8 (73) mitPatriciaKopatchinskaja an der Violine, wiemetrischanspruchsvollund rhythmisch mitreissend «klassische» Musiksein kann:Mit Prokowjews«Ouvertüreüber hebräische Themen»,die ursprünglich fürein Klezmer-Ensemble entstand, dem zweiten Violinkonzertvon Béla Bartók und der 7. Sinfonie vonAntonín Dvořák stehen drei Werkeauf demProgramm, dienicht zuletztdurch ihre tänzerischeVerve faszinieren

Die hier vorgestelltenKonzerte–ein Potpourriaus total131 Darbietungen–zeigen beispielhaft: DerOberbegriff «Neugier», der dem Sommer-Festival während fünf Wochen alsKlammer dient, bezeichnet das Verlangen,Neues zu erleben undzugestalten,inumfassendemSinn. Dabeigehtesnicht zuletzt darum, auch in scheinbar allbekannten Werken im WortsinnUnerhörteszuentdecken.

Einfünfwöchiges Sommer-Festival

Das Sommer-Festival vom13. August bis15. Septemberfeiertzwanzig Jahre LucerneFestivalAcademy und steht unterdem Motto«Neugier». Die schwedischeKomponistin Lisa Streich und derschweizerisch-österreichische Komponist Beat Furrer sind als «composers-in-residence» präsent. Die georgisch-deutsche GeigerinLisaBatiashvili undder britische CellistSheku Kanneh-Mason zeigen ihrvielseitiges Können als «artistes étoiles» in verschiedenen Konzertformaten. Chefdirigent RiccardoChailly dirigiert zwei Abendemit demLucerneFestival Orchestra. Insgesamt stehen während fast fünf Wochen im KKL Luzern mehr als130 Veranstaltungenauf dem Programm.

Tickets und Infos: lucernefestival.ch Zweifelloswerden sieden Konzertsaal desKKL Luzern in eine brausende Klangkathedrale verwandeln.

zert aufgrundeiner schweren Erkrankungfernbleiben –erhat sein Werk also nie gehört. Besondersinteressantwirdessein, wieKirillPetrenko, der 1972 in eine jüdischeFamilie in Omsk geborenwurde und von2013 bis2020Generalmusikdirektorder BayerischenStaatsoper war, tags darauf Smetanas «Má vlast» (Mein Vaterland) interpretiert. Dassechs sinfonischeDichtungen umfassende, 1882 uraufgeführte Werk,dessen zweiter Satz, «Die Moldau», zu den populärsten klassischen Melodien überhauptgehört, umfasst aber nichtnur klangmalerische Musikzur Feier derböhmischen Landschaft,sondern taucht auch tief in die tschechische Geschichts- undSagenwelt hinab

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