Biodiversum
Amurtigeraufgepasst:
JetztkommendieKäfer
Severin Dressen
Zu den Zoo-Stars von morgen könnten Käfer wie der Grauflüglige Erdbock gehören. Oder vielleicht auch die Lord-Howe-Stabheuschrecke: Solche Tiere werden in Zürich künftig neben Amurtigern und Schneeleoparden leben. Sie haben noch nie von ihnen gehört? Das ist kein Wunder, denn Insekten interessieren die Menschen nicht besonders. Und viele merken auch nicht, dass sie verschwinden. Das ist mir neulich wieder aufgefallen, als ich an der Universität Zürich eine Vorlesung hielt. Ich erzählte von sommerlichen Überlandfahrten in meiner Kindheit und all den zerquetschten Insekten, die am Ende dieser Ausflüge an der Windschutzscheibe klebten. Manchmal waren es so viele, dass selbst die Scheibenwischer mit Spritzwasser nicht halfen. Sie vermischten das Insektenmassaker lediglich zu einer gelbgrünen schleimigen Matsche. Die Studierenden schauten mich fragend an und wussten nicht, wovon ich sprach. Denn heute hat man «Glück», wenn während einer Autofahrt noch ein einziges Fluginsekt mit der Scheibe kollidiert. Die insektenlose Autoscheibe lässt sich in Zahlen übersetzen: In den letzten 30 Jahren ist die Biomasse der Fluginsekten um 75 Prozent zurückgegangen. Das ist richtig viel. Eine Art, die einen solch dramatischen Einbruch erlebt, würde auf der Roten Liste unter der Rubrik «vom Aussterben bedroht» geführt. Dumm nur, dass es sich bei den Fluginsekten nicht nur um eine Art handelt, sondern um eine ganze Tiergruppe mit Tausenden von Arten. Wenn der Verlust an Flug-
insekten die Kursentwicklung einer Grossbank wäre, hätte der Bundesrat sie längst per Notrecht vor dem Aussterben gerettet.
Das wäre auch wirklich nötig, denn Insekten sind systemrelevant: Sie sind die Bestäuber, Schädlingskontrolleure und die Müllabfuhr vieler Ökosysteme. 75 Prozent aller Getreidesorten werden durch Fluginsekten bestäubt. Raubinsekten wie Laufkäfer und Wespen fressen andere Insekten, die sonst unsere Feldfrüchte und Wälder angreifen würden. Und Mistkäfer und andere sogenannte Destruenten zersetzen Exkremente und Aas und führen so Nährstoffe wieder dem Kreislauf zu.
In vielen Fällen ist der Mensch direkt verantwortlich für den Rückgang der Insekten: Umweltzerstörungen oder der übermässige Einsatz von Pestiziden lassen sie sterben. Aber auch indirekt können wir ihre Lebensgrundlagen vernichten. Dem Grauflügligen Erdbock zum Beispiel wird seine hochspezialisierte Lebensweise zum Verhängnis. Der Käfer ernährt sich nur von der Aufrechten Trespe. Diese für Magerwiesen typische Grasart geriet durch intensive, düngerreiche Landnutzung unter Druck, Pflanzenschutzmittel tun ihr Übriges. Die Entwicklung des Erdbocks ist dramatisch: minus 90 Prozent in den letzten 20 Jahren.
Wie immer in Krisen gibt es auch Gewinner Der Buchdrucker, besser bekannt als Borkenkäfer, ist ein solcher Wie der Erdbock ist auch er auf eine Pflanzenart fokussiert: auf Fichten, die ökonomisch wichtigsten Bäume der Schweiz. Sie leiden mit ihren
Insekten sind die Underdogs im Artenschutz Ihnen fehlt der JöEffekt oder das politisierende
Potenzial: Sie haben keine Lobby
flachen Wurzeln besonders unter der zunehmenden Trockenheit. Die Bäume verlieren an Widerstandskraft und werden so zu leichter Beute für den Borkenkäfer Dieser hat also eine rosige Zukunft vor sich.
Doch das ist die Ausnahme: Ein paar wenigen Gewinnern stehen zahllose Verlierer gegenüber Nur kümmert das die Menschen kaum. Einerseits bleibt die Gefahr, die sich mit dem Insektensterben anbahnt, für viele abstrakt. Die Aufgaben, die sie im Ökosystem erledigen, sind wenig bekannt. Andererseits bringen wir den Insekten auch keine Sympathie entgegen. Wir sind uns gewöhnt, sie als nervende Eindringlinge zu sehen – kommen sie in unsere Wohnungen, verscheuchen oder zerquetschen wir sie.
Insekten sind die Underdogs im Artenschutz. Dem Grauflügligen Erdbock fehlt der Jö-Effekt des bedrohten Fischotters oder das politisierende Potenzial des Wolfes. Er hat keine Lobby Also brauchen die Insekten eine Charmeoffensive, um sich in die Herzen der Gesellschaft zu krabbeln. Bei uns im Zoo wird es deshalb ab 2025 einen begehbaren Lebensraum für sie geben. Er soll der Forschung und der Nachzucht dienen, aber auch die Begegnung in einer besonderen Umgebung ermöglichen: Zwischen Amurtigern und Schneeleoparden können die Besucherinnen und Besucher sehen, dass Erdböcke oder Stabheuschrecken das Schicksal vieler anderer bedrohter Arten teilen.
Severin Dressen ist Biologe und Direktor des Zoos Zürich
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