Dreiklang N° 02

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DREI KLANG


Gemeinschaft, Pluralism ist unser innerstes Wesen. Novalis


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E di t o ri a l

Liebe Leserinnen und Leser, A bg e s p e i c her t

der Mensch ist ein soziales Wesen. Schon im Mutterleib sind wir durch die Nabelschnur mit einem anderen Menschen verbunden. Unsere weitere geistige und emotionale Entwicklung vollzieht sich immer im Kontext mit anderen Menschen. Das Phänomen Kaspar Hauser, die komplette Isolation eines Menschen von seiner restlichen Umwelt, zeigt das auf sinnfällige Art und Weise. Iden­ tität konstituiert sich erst in der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber. Für das Funktionieren menschlichen Zusammen­ lebens steht daher die Festigung der individuellen Persönlichkeit in enger Beziehung zur Rückkopplung an eine Gemeinschaft. Der Kosmos Theater macht das in vielfältiger Art und Weise an­schaulich. In ihm bewegen sich Menschen aus unterschiedlichs­ten Nationen, mit unterschiedlichsten Biografien und unterschied­ lichsten Talenten: Künstler, Techniker, Handwerker, Verwaltungs­ angestellte, Kinder, junge Erwachsene, Senioren. J­ eder bringt seine individuelle Persönlichkeit, seine individuellen Fähigkeiten in den Theaterbetrieb mit ein. Manche haben den Rückhalt eines Kol­lektivs wie Chorsänger, Orchestermusiker, Techniker, manche sind als Einzelkämpfer unterwegs, aber alle vereint doch ein Ziel: ge­ meinsam Theater für andere Menschen zu machen. Der schönste Moment der Gemeinschaftsbildung im Theater ist daher der Abend der Aufführung. Wie selbstverständlich stellt sich Gemeinschaft her, wenn sich 1200 Menschen in Beziehung zum Bühnengesche­ hen setzen. Schließlich braucht jede Gemeinschaft Regeln des Zusammen­ lebens. Die Oper Leipzig hat dafür einen Verhaltenskodex verab­ schiedet. Bei uns hat jedwede Form von Diskriminierung keinen Platz. Was scheinbar selbstverständlich sein sollte, ist heutzu­ tage immer wichtiger geworden, wo die Formen des Zusammen­ lebens der Nationen, der Generationen, der Weltanschauungen, der Lebens-, Partnerschafts- und Familienmodelle immer ausdif­ ferenzierter geworden sind. Auch darüber wollen wir mit Ihnen in unserem neuen Magazin in Dialog treten.

P ROF. U LF SC H I RM E R I N T E N DAN T U N D G E N E RALMU SI K D I R E K TO R

Was wir vor dieser Ausgabe noch nicht wussten … Der deutsche Trachten­ verband umfasst heute noch ca. 2 Millionen ­Mitglieder in ungefähr 2000 Vereinen. CH R IS T IA N G E LTI NG ER

Konfetti gab es schon im alten Rom. Damals ­überschüttete man sich ­anlässlich der Saturnalien mit Rosenblättern. E L ISA B E T H KÜ HNE

Ein Erdgasfeld in der ­Barentssee trägt den ­Namen Schneewittchen. N E L E W IN T ER

Zw i s c h e n s t o pp

Wo wir für diese ­Ausgabe waren

Schuhmacherei der Oper Leipzig


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DR E IKL ANG #02

INHALT 4

Wann ­erleben Sie Gemein­ schaft? Umfrage

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Fusion der ­Welten Chef­choreograf Mario Schröder über »Magnificat« und das Leipziger Ballett

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Von Hexen, Feen und Prinzen 6

Zwischen ­Community und Indi­v idualismus Thomas Krüger, Präsident der Bundes­ zentrale für politische Bildung, über den Zusammenhalt unserer Gesellschaft

Die »Superkräfte« von Märchen

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Auf, neben und hinter der Bühne …

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Wie ein ­großer Spielplatz Sandra Maxheimer erzählt anlässlich der Premiere »Feuerwerk« von ihrer Kindheit im Zirkus

Die Menschen der Oper Leipzig berichten von ihren Momenten der Gemeinschaft.

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In mir singt ein Lied! Maartje de Lint und Janka Große im ­Gespräch über das Musizieren mit Demenz­erkrankten

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Push The Boundaries Der Blick junger Fotografen auf das Thema »Gemeinschaft«

Der Mensch als ­s oziales Wesen Von Außen­seitern und Herdentieren in Richard Wagners »Der fliegende Holländer«

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Von ­böhmischen Dörfern Smetanas »Verkaufte Braut« als ­tschechische Nationaloper

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Stadt, Land, Frust? Tenor Thomas Mohr über Vor- und ­Nachteile des Landlebens


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Die Macht der Maske Wie Madame Pompadour im Karneval Frankreich eroberte

Zugabe 3 1 Angerichtet Unser Rezept zur Premiere

3 8 Unterwegs mit ... Madoka Ishikawa nimmt Sie mit auf ihre Reise durch Europa und ihre japanische Heimat.

4 4 Test Welcher ­Charakter aus ­ Richard Wagners »Der Ring des ­Nibelungen« sind Sie?

4 7 Nachgefragt Sie fragen – wir antworten.

5 0 Ein Blick in die Schuhmacherei der Oper Leipzig

6 6 Schnappschuss 60

Die Räume des Tanzes Die Vernetzung des Leipziger Balletts in der Stadt Leipzig und weltweit

Warum das Leipziger Ballett Wattons trägt.

6 7 Platzhalter Wir fragen – Sie antworten.

6 8 Ohne Worte antwortet Anne-Kathrin Fischer, ­ Sängerin der Musikalischen ­Komödie, auf unsere Fragen.

7 0 Fundstücke Was uns sonst noch alles über den Weg lief. Gewinnen Sie Premierenkarten!

7 2 Impressum

Sich selbst neu erfinden Über den Tänzer, Komponisten und C ­ horeografen Martin Harriague

1. Kostenlose Oper Leipzig App herunterladen.

2. App öffnen und Seiten mit ar-Symbol scannen.

3. Zusatz­material entdecken.

7 1 Detailverliebt 7 2 »Du siehst aus, wie ich mich fühle«

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Digitale Oper ­L eipzig

Fragen? Rufen Sie uns einfach an, täglich von 9:00 – 17:00 Uhr T +49 (0)341 – 12 61 373


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Um frage

Wann erleben Sie Gemeinschaft?

Gemeinschaft bedeutet Zusammen­gehörigkeit. J O N AT H A N N E U M A N N

Ich erlebe ­Gemein­schaft ganz ­klassisch: mit ­Freunden und ­Familie. Da fühle ich mich gut. KATHA RI N A MACH A LI CA

Gemeinschaft ­erlebe ich natürlich mit ­Familie und ­Freunden. Wichtig ist das Gemein­schaftsgefühl aber auch im Beruf, wenn alle an einem Strang ­ziehen und sich aus­ tauschen. Dann arbeitet man auch effektiver. UL R IK E G R Ü N D E L


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Gemeinschaft ­entsteht, wenn alle das ­Gleiche wollen und in eine ä ­ hnliche Richtung ­denken. Das ist etwas sehr Positives. CL A R A S CH E E L J E

Wenn wir die Liebe unserer Herzen ­miteinander teilen. GI DEO N MEO S I D O


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­Gemeinschaft heißt Beteiligung Eine Gesellschaft zwischen Individualismus und Community T E XT: T H OMAS K R Ü G E R IL LU S T R AT IO N E N : S T E FA N M O S E BACH


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Erst seit K ­ urzem steht das Thema »­Gemeinschaft« ­wieder hoch im Kurs. Als das Ego auf dem Vormarsch war, also in den J­ ahren nach der Jahrtausendwende, in denen der homo ­oeconomicus den »Minderleistern« in der Gesellschaft gezeigt hat, wie man aus eigener Kraft und unter harten Wettbewerbsbedingungen erfolgreich wird, war der Begriff der »Gemeinschaft« fast vollständig aus dem Vokabular der kapitalistischen Gesell­schaften des Westens verschwunden. Passend zum Zeitgeist wurden die fraglichen Phänomene, wenn überhaupt, unter dem Anglizismus »­community« verhandelt. In der akademischen Debatte gab es zwar eine nicht sehr lange Phase des intellektuellen Schlagabtauschs zwischen liberalen und sogenannten kommunitari­ schen Theoretikern, Philosophen und Soziologen, vorwiegend aus dem amerikanischen Kontext, die sich um die Grund­lagen der conditio humana und die Frage stritten, unter welchen Bedingungen soziale Gerechtigkeit herzustellen ist. Aber der westliche Kosmopolit blieb doch lange Zeit das Leitbild nicht nur der globalisierten Wirtschaft, sondern auch der Politik in Westeuropa, Amerika und anderen Staaten des globalen Westens. Erst seit Kurzem steht das Thema »Gemeinschaft« wieder hoch im Kurs. Nicht wenige geben heute zu, dass der neoliberale Wind, den sie sich seit der Jahrtausendwende haben um die Ohren wehen lassen, Wünsche nach Bindung, ­Wurzeln und sozialem Miteinander nicht vertreiben konnte. Ist damit die Gesellschaft wieder im Lot? Anscheinend nicht, denn nach den Jahren der Alter­ nativlosigkeit und des politischen Konsenses wird seit jüngster Zeit wieder heftig gestritten. Aus dem vermeintlich gemein­samen Ziel gesellschaftlicher Modernisierung entlang der Ansprüche einer globa­ lisierten Wirtschaft und Kultur gehen heute die unterschiedlichsten und vielfach widersprüchlichen Kräfte hervor. Die Gesellschaft »zerfällt«, so die gän­ gige Formulierung der Medien, in Arme und Reiche, Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, Ossis und Wessis, Linke und Rechte, Minderheiten und Mehrheiten sowie Fluten von Zwischentönen. Auf der Agenda der politischen Bildung, aber auch der vieler Kultureinrichtungen hat das Thema »sozialer Zusammenhalt« nicht erst seit dem Ende der weit­ gehenden politischen Einigkeit einen festen Platz. Sowohl die – meist politischen – Auftraggeber/innen von Bildung als auch die Praktiker/innen an der ­Bildungsfront hängen dabei der Idee an, dass sich so­ziale Gegensätze und auseinanderstrebende gesell­ schaftliche Gruppen mittels Bildung und kultureller Beteiligung nivellieren­­lassen. Wäre man bös­ meinend, könnte man Bildung hier zweckentfremdet

sehen: Nachdem der Karren politisch in den Dreck gefahren wurde, sollen Pädagog/innen und Kultur­ vermittler/innen dort auf Solidarität hinwirken, wo die soziale Realität vom Gegenteil zeugt? Es ist schon fast ein Klischee, darauf zu verweisen, dass auch in den reichen Nationen wie Deutschland jedes fünfte Kind arm ist, um hier das Mindeste zu sagen. Es wäre zynisch, die Frage der sozialen Asymmetrie nur über die Möglichkeiten der Bildung zu avisieren. Gesell­ schaftlicher Zusammenhalt und soziale Gerechtig­ keit stehen in einem engen Zusammenhang. Gerade eine Gesellschaft wie die deutsche, in der die Demo­ kratiezufriedenheit traditionell nicht unerheblich von wirtschaftlichem Wohlstand abhängt, muss die soziale Frage in Zukunft wieder stärker politisch verhandeln. Interessanterweise haben sich die gesell­ schaftlichen Konflikte in den letzten Jahren deut­ lich weniger entlang der Verteilungsfrage formuliert. Es ging nur selten um Vermögenssteuern, Erbschafts­ steuern, Kapitalertragssteuern oder Umverteilung. Tatsächlich sind die Gegenstände, die in den Konflik­ ten zur Sprache kommen, klar kultureller Natur: Gestritten wird um Werte, Herkünfte, Identitäten, ­ Zu­gehörigkeiten, Traditionen, Religionen. Begriffe wie Volk oder Heimat, die lange als historisch kontami­ niert galten, tauchen wieder vermehrt in den Debat­ ten auf. Vielen fällt es mittlerweile schwer, sich in der eigenen Gesellschaft zu orientieren. Bis vor Kurzem sah es »nur« so aus, als wären die politischen, wirt­ schaftlichen und ökologischen Probleme zu kom­ plex, um sie als Normalbürger noch zu verstehen oder gar an ihrer Lösung beteiligt zu werden, was im Begriff »Repräsentationskrise« seinen Ausdruck findet. Heute weiß man kaum noch, wie das (politische) Gegenüber tickt. Wer steckt hinter den »Gelbwesten« in Frankreich? Wer marschiert bei Pegida mit? Sind das radikale Extremisten oder Bürger/innen aus der gesellschaftlichen Mitte? Handelt es sich um normale demokratische Auseinandersetzungen oder müssen wir uns langsam mit dem Gedanken an ­Straßenkämpfe anfreunden? In sozialwissenschaft­ lichen Analysen wurde herausgearbeitet, dass wir es heute in der Hauptsache mit zwei Typen von Konflikt­ partnern zu tun haben, die sich beide über kulturelle Strategien Gestalt verleihen. Der Soziologe Andreas Reckwitz bezeichnet sie als Kosmopoliten oder Hyper­ individualisten auf der einen Seite und Kommu­ni­taristen bzw. Kulturessenzialisten auf der anderen Seite. Sie verfolgen entsprechend der spätmodernen ­ Anforderungen jeweils das Ziel, ihre kulturelle Beson­ derheit und Einzigartigkeit herauszupräparieren.


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Kann oder soll eine ­ Gesellschaft ­Gemeinschaft sein?


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Erfahrungen von ­Fremdheit, ­Verschiedenheit, ­Unvereinbarkeit sind das Salz in der Suppe einer Gesellschaft.

Den Antagonisten ist gemeinsam, dass sie auf kultu­ rellen Märkten um den Wert kultureller Güter, um die richtige Lebensweise streiten. Während sich die Kosmopoliten als Individualisten auf dem Weg zur Selbstverwirklichung formieren, Zuwanderung als Bereicherung werten und die Angebote der globalen Kreativwirtschaft als Ausweitung ihrer Spielräume betrachten, imaginieren sich Kommunitaristen als Communitys mit geschlossener Außengrenze, spe­ zifischer Geschichte, einzigartigem Erbe, singulärer Identität und Tradition. Für wertvoll gehalten werden hier Glaubenssätze, Symbole, die Leidensgeschichte einer Herkunftsgemeinschaft, während nach außen konsequent Abwertung betrieben wird: »die eigene, überlegene Nation gegen die fremden (Nationa­ lismus), die eigene Religion gegen die Ungläubigen (Fundamentalismus), das Volk gegen die kosmo­ politischen Eliten (Rechtspopulismus)«1. Was hat es mit der Attraktivität dieser neuen Gemeinschaften auf sich? Was ist eigentlich eine Gemeinschaft und kann oder soll eine Gesellschaft Gemeinschaft sein? Auf diese Fragen gibt es regalfüllende wissenschaft­ liche Antworten. Erstsemester der Sozio­logie be­ schäf­tigen sich mit den diesbezüglichen Grundlegun­ gen von Ferdinand Tönnies aus dem Jahr 1887, von dem ausgehend sich die Geschichte der Modernisie­ rung seit der Aufklärung als eine Geschichte der Loslösung von Menschen aus gemeinschaftlichen Zusammenhängen lesen lässt. Wichtig für unser Thema erscheint mir die Unterscheidung, dass es für Gemeinschaften wesentlich ist, Ideen, Vorstellun­ gen oder »Kultur« zu teilen (und damit auch nicht unerheblichen Konformitätsdruck auf ihre Mitglie­ der auszuüben). Moderne demokratische Gesellschaf­ ten zeichnen sich demgegenüber dadurch aus, dass sie die gegensätzlichsten Interessen und auch wider­ strebende Kräfte integrieren können. Für sie gilt, was die Philosophin Hannah Arendt schon für die antiken Demokratien herausgearbeitet hatte: Der Sinn von Politik ist Freiheit! Benedict Anderson de­finierte in den 80er Jahren die Nation als eine

»imagined community«, also eine Gemeinschaft, die nicht face-to-face erlebt werden kann, sondern nur auf der Grundlage der Vorstellung der Einzelnen existiert. Das impliziert einerseits, dass Gesellschaft in ihrer Ganzheit für einzelne Mitglieder nicht erfahr­ bar ist, sondern vermittelt werden muss. Anderer­ seits verweist der Gedanke auf den Umstand, dass auch eine Massengesellschaft von 80 Millionen ­Einwohnern eine geteilte Idee, einen gemeinsamen »Grundkonsens« braucht. Über das Fehlen solcher Idee in Deutschland wurde seit dem Ende der Nach­ kriegszeit vielfach geklagt. Mit mehr oder weniger Erfolg wurde beispielsweise das Grundgesetz als möglicher Ansatzpunkt für das gemeinsame Wir vorgeschlagen. Dem Problem der fehlenden Idee stehen mindestens zwei weitere Probleme zur Seite: Zum einen ist die Vorstellung des gemeinsamen Wir noch immer oder sogar wieder stärker mit dem Gedanken der Nation aus dem 19. Jahrhundert ver­ bunden, womit sie sich von der Wirklichkeit fern­ hält, zum anderen reicht die Idee allein nicht aus – Demokratie ist zwingend darauf angewiesen, dass ihr die Bürgerinnen und Bürger Substanz einhauchen und sie auch aktiv unterstützen. Folgt man den jüngs­ ten Ausführungen des Politikwissenschaftlers ­Herfried Münkler laufen wir Gefahr, dass Teile der Bevölkerung das Gegenteil beabsichtigen: Sie kehren der Demokratie den Rücken, weil sie mit deren Performanz nicht zufrieden sind oder »ihnen die Bereitschaft fehlt, die Mühen und Lasten der Auf­ rechterhaltung einer demokratischen Ordnung auf sich zu nehmen«. Münkler verweist auf den französischen Schriftsteller Etienne de la Boétie und den von ihm im 16. Jahrhundert geprägten Begriff der »servitude volontaire«, der freiwilligen Knechtschaft, in die sich diejenigen begeben, für die politische Beteiligung eine Last ist.2 Den Demokratieverweigerern stehen die Populisten gegenüber, die den Begriff »demokra­ tisch« zum »Zentralelement einer Strategie« ­machen, »mit der antipluralistisch-autoritäre Vorstellungen in die Demokratie eingeschmuggelt werden«3.


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Es ist zugegebenermaßen schwer, vor diesem Hinter­ grund berechtigte Kritik an den Verhältnissen zu üben. Dazu gehören auch die Verletzungen, die aus den kolonialen Praktiken westlicher Provenienz in der Transformationsphase nach 1990 in Ostdeutsch­ land resultieren. Es ging dabei nicht nur um kultu­ relle Enteignung, sondern immer auch um Eigentum und Machtpositionen. Beispiele dafür sind die fehlende Anerkennung von Berufsabschlüssen oder die Diskussion um »Rückgabe vor Entschädigung«. Inte­ressanterweise kommen die Auseinandersetzungen über diese Phase nach der Deutschen Vereinigung zu einem Zeitpunkt hoch, zu dem sie Gefahr laufen, als Teil einer demokratiefeindlichen Stimmung wahr­ genommen zu werden, dabei handelt es sich doch um Kontroversen, die von der Demokratie in besonderer Weise geschützt werden. Ich rechne diese Probleme auch weniger der Demokratie, als dem Kapitalismus und neoliberalen Egoismus von Westdeutschen zu. Demokratie muss solche Konflikte konstruktiv ver­arbeiten können. Was eine Demokratie des 21. Jahr­ hunderts nicht leisten kann und auch nicht leisten sollte, sind Zugeständnisse an Gruppen von Bürger/ innen, die sich Differenzerfahrungen versperren wollen und auf Vielfalt mit Ausgrenzung reagieren. Die gemeinsame Idee von Deutschland kann auf dem Selbstbewusstsein gründen, nicht nur selbstkritisch Vergangenheit aufzuarbeiten, ohne sich zu schonen, sondern auch positiv mit Differenz, Vielfalt, Pluralis­ mus und Unvereinbarkeiten umzugehen. Es gehört einiges dazu, sich einer Welt von Unberechenbar­ keiten und Undurchschaubarkeiten zu stellen. Gerade die Kultureinrichtungen in Deutschland tragen zur Zeit sehr viel dazu bei, das Politische kulturell zu verhandeln und dabei Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, die sich andernorts nicht begeg­ nen. Erfahrungen von Fremdheit, Verschiedenheit, Unvereinbarkeit sind das Salz in der Suppe einer Gesellschaft mit wertvollem Kulturerbe, lebendiger Streitkultur und offener Zukunft.

Aus al l e r We l t

DA N KA R L S T R Ö M TENOR G R ÜS S T AU S H E L S IN K I

NORA LENTNER S O PR A N G R ÜS S T AU S M A N N H E IM

1 Andreas Reckwitz: Zwischen Hyper­kultur und Kulturessenzialismus, in: Online Dossier »Rechtspopulismus« der B ­ undeszentrale für politische ­ Bildung 2017, www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/ 240826/zwischen-hyperkultur-und-kultur­essenzialismus 2 Herfried Münkler: Demokratie gibt es nur ganz – oder gar nicht, in: die zeit, Nr. 1 vom 27. Dezember 2018, S. 10 3 ebenda

ZU R P E RSON

Thomas Krüger ist seit Juli 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Schon seit 1995 ist er Präsident des Deut­ schen Kinderhilfswerkes. Außerdem ist er zweiter stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Jugendmedienschutz und Mitglied des Kuratoriums für den ­Geschichtswettbewerb des Bundespräsiden­ ten. Von 1991 bis 1994 war er Senator für Jugend und Familie in Berlin, anschließend von 1994 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages.

JA N A M M A N N & CUS CH J U NG M U S ICA L DA RS T E L L E R & R EG I S S EU R G R ÜS S E N AUS F R IE D R ICH S HAF EN


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Push The Boundaries Fotografien von Alexander Pannier, Philip Markert, Kristina Jurotschkin, Timur Yüksel, Lars-Ole Bastar, Melanie Schindler, Michael Dikta Kooperation der Oper Leipzig mit der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Die Auswahl der Fotografien wurde vom lehrenden Künstlerkollektiv »Jochen Schmith« begleitet.


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»… damit ich Neues ­ denken kann. « Über Gemeinschaft, Vertrauen und ­ kulturelle Brückenschläge INTERVI EW: ELI SA BETH KÜ H N E


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Am Theater existieren die unterschied­lichsten ­Kollektive. Zwei davon kommen für den ­Ballettabend »­Magnificat« ­zusammen, um ­gemeinschaftlich Kunst e­ ntstehen zu l­ assen: das ­Leipziger B ­ allett und der Chor der Oper ­Leipzig. dreiklang sprach aus diesem Anlass mit Ballett­direktor und C ­ hef­­choreograf Mario Schröder über die­­ Ge­­­mein­­schaft im ­Ensemble, Vertrauen und ­kulturelle Brückenschläge. Herr Schröder, was verbinden Sie per­ sönlich mit dem Begriff Gemeinschaft? Gemeinschaft erlebe ich natürlich ganz stark mit dem Leipziger Ballett. Damit meine ich nicht nur die Tänzer, sondern den gesamten Apparat, ich behandle das wie einen Körper. Uns alle verbindet die Kunst und das Bedürfnis, für L ­ eipzig ­etwas Neues entstehen zu lassen. Als Ge­meinschaft sehe ich aber auch unser ­Gesellschaftssystem. Wir leben an einem Ort, der die Chance bietet, Kultur zu betreiben und weiterzugeben. Ich glaube, damit können wir Gemeinschaft prägen, können Kommunikator sein und viel­ leicht sogar Dinge anstoßen. Wie muss man sich in der Ballett­ company das Spannungsfeld von der ­eigenen Individualität des ­ Tänzers und der Erfahrung der Gruppe vorstellen? Jeder Tänzer bringt seine Individualität mit ein – das passiert ganz automatisch, wenn er hier nach Leipzig kommt und in die Gruppe des Leipziger Balletts in­ volviert wird. Jeder Künstler bringt seine eigene Geschichte mit und hat eine ganz eigene Form zu kommunizieren. Aber wir alle können davon nur profitieren. Diese Vielschichtigkeit und ­kulturellen Farben sind eine Chance, unseren Raum, unser Denken groß zu machen. Es muss jedoch auch die Bereitschaft da sein, Zusammen­ arbeit auf diese Art und Weise zu b ­ etreiben, und dafür ist Vertrauen n ­ ötig. Unsere Arbeit kann man nicht machen, wenn man nicht ein gegenseitiges Vertrauen zuein­ ander entwickelt. Wie kann so ein Vertrauen in der Gruppe entstehen? Einerseits über private Situationen, die die Tänzer untereinander herstellen. ­Andererseits über die Arbeit, beispiels­ weise im gemeinsamen Weg, eine Premiere zu erarbeiten. Und schließlich im

Moment des Präsentierens bei den Vorstel­ lungen auf der Bühne. Damit identifi­ zieren sich die Tänzer. Aber Identifikation muss man sich auch erarbeiten. Unser Studio ist dafür prädestiniert, weil dort tag­ täglich eine sehr zerbrechliche, intime Situation hergestellt wird. Wir lassen dort etwas entstehen, was sehr intensiv ist, vor ­allem wenn es um Emotionen, um see­ lische Vorgänge oder um gesellschafts­ politische Entwicklungen geht. Darüber wird die funktionale Kommunikation ­gestartet, aber auch die persönliche. All das ist besonders wichtig im Fühlen und ­Vorantreiben einer Gemeinschaft. Unsere Kunst ist also in gewisser Weise über­ haupt erst gemeinschaftsbildend. Für Ihr neues Ballett »Magnificat« arbeiten Sie nun zum wiederholten Mal mit dem Chor der Oper Leipzig zusammen. Warum greifen Sie für Ihre Arbeiten so gern auf Chormusik zurück? Zunächst einmal gibt es einfach viele wunderbare Chor- und Gesangswerke, die einen ganz anderen Kosmos entste­ hen lassen können als beispielsweise ein ­sinfonisches Werk. Die sind vielleicht nicht für das Ballett geschrieben, aber der Tanz ist in der Lage, die Wahrnehmung dieser Musik zu verändern und ihr ­Inneres hörbar zu machen. Es ist ja ein Unter­ schied, ob ich eine Komposition im Kon­ zertsaal oder in der Kirche höre und selbst dabei ganz zurückgenommen bin, oder ob ich diese Musik verkörperlicht auf der Bühne erlebe. Der Tanz bietet eine ganz andere Möglichkeit, die Besucher emotional zu aktivieren. Bei Nachgesprä­ chen mit dem Publikum wurde mir in der Vergangenheit – gerade bei Produktio­ nen mit dem Chor wie »Lobgesang« oder dem »Mozart Requiem« – häufig bestätigt, dass unsere Besucher die Musik im Zusammenhang mit der Szene und dem Tanz völlig anders wahrnehmen.

Außerdem ist die Zusammenarbeit mit dem Chor für das Leipziger Ballett auch eine tolle Chance, mit dem Musik­ repertoire anders umzugehen, als man es ­vielleicht von Kompanien in a­ nderen ­Städten ­gewohnt ist. Hier in Leipzig gibt es die mu­sikalische Qualität, die für ­ solche Projekte notwendig ist. Mit ­unserem Chor und dem Gewandhaus­ orchester haben wir Hochkaräter, die ihre ganz e­ igenen Ideen mit in die Inter­ pretation hineinbringen können. Nach der »Johannes-Passion« setzen Sie sich in »Magnificat« erneut spe­ ziell mit dem Werk Johann Sebastian Bachs auseinander. Worin besteht für Sie der Reiz dieser Musik? Ich glaube, dass Bach durch seine Zeitlosig­ keit eine identifikatorische Ebene in sich trägt. Diese Identifikation ist geprägt durch die Kultur und Historie Europas. Nach meinem Empfinden ist Bach in seinen mu­sikalischen Strukturen sogar sehr deutsch. Bachs Kompositionen – und dazu gehört sein »Magnificat« im Besonderen – sind für mich voller Hoffnung und dabei gleich­ zeitig stark reflektierend. Das spiegelt sich in den christlichen Themen, die die Grundlage seiner Musik bilden: sei es der Weg Jesu oder der Glaube an sich. Aber selbst, wenn man von dieser ­Thematik ­absieht, hat sein Werk für mich eine un­glaubliche Intensität, wenn es um ­Hoffnung geht. Im Vordergrund des »­Magnificat« steht der Lobgesang Marias. Die c­ hrist­liche Botschaft, die d ­ arin enthalten ist, ­erscheint mir gesell­schaftspolitisch aber aktueller denn je: »Er übet Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres H ­ erzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen. Die Hungri­ gen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.«


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Dietrich B ­ onhoeffer sah im »Magni­ ficat« »ein hartes, starkes, unerbitt­ liches Lied von stürzenden Thronen und gede­m ütigten Herren dieser Welt «. Wie interpretieren Sie dieses Werk? Für mich geht es darin um die Hoffnung auf einen Neuanfang. Wenn Bach davon spricht, die Herrschenden zu stürzen, dann ist das nicht der Aufruf zu einer Re­vo­lution. Ganz im Gegenteil: Darin teilt sich die Hoffnung mit, dass wir durch gemeinschaftliche Veränderung einen Neuanfang starten können. Darin besitzt die Musik für mich tatsächlich einen ­größeren gesellschaftlichen Aspekt: Wie können wir als Gesellschaft, als Gemein­ schaft einen Neuanfang wagen? Da ­findet fast so etwas wie eine Entpersonali­ sierung statt. Sie kombinieren Bachs »­Magnificat« mit Auszügen aus Giovanni ­Battista Pergolesis »Stabat mater«, dem Klage­ gesang Marias am Kreuz Jesu. ­Warum fiel die Wahl auf dieses Stück? Im Gegensatz zur gesellschaftspolitischen Dimension des »Magnificats« verhan­ delt Pergolesis »Stabat mater« einen see­ lischen Zustand, also einen Kosmos, der nur den Moment beschreibt. Das ist ein persönlicher Blick auf die Dinge. Es geht um Trauer, um Vergänglichkeit, das Ver­ lieren eines geliebten Menschen, des ­eigenen Sohnes. Ich empfinde das »Stabat mater« fast wie ein Zwiegespräch, eine intime Unterhaltung über den Tod und das Leben. Natürlich schwingt da auch die Hoffnung mit, dass es eventuell eine ­Wiedergeburt gibt. Aber das ist alles sehr personalisiert. Außer den Werken Bachs und ­Pergolesis findet noch eine ganz ­andere Musik Eingang in den Ballett­ abend: Mit dem M ­ usiker Ravi ­ Srinivasan und seiner Band »­Indigo Masala« ver­­knüpfen Sie in »­Magni­ficat« die ­europäische ­Mu­siktradition mit den ­Klängen ­Indiens. Wie kam es zu ­dieser Idee? Die indische Musik koppelt sich stark von den europäischen Hörgewohnheiten ab. Sie ist rhythmisch weitaus komple­ xer und arbeitet viel mit I­ mprovisationen. Ravi Srinivasan bringt als Musiker ge­ nau diese Flexibilität, die in der indischen ­Musik steckt. Er spielt Tablas, singt gleichzeitig, kann eine indische Flöte und sogar Naturlaute mit dem Mund imitie­ ren. Hinzu kommt ein In­strumentarium wie die Sitar, die ja sehr typisch für die klassische indische Musik ist, und ein

Akkordeon. Wir erhoffen uns, dass ­dadurch akustische Räume entstehen, die für uns ungewohnt sind. Dieser Aspekt des Ungewohnten ist für mich auch ein Reiz im Umgang mit Bach und P ­ ergolesi. Gerade in der Kombination dieser ver­ schiedenen Musikkulturen liegt eine Chance, vor allem wenn wir über g­ esell­schaftliche Vorgänge nachdenken: Themen wie Intoleranz oder Konkur­ renzdenken bestimmen unsere Welt. Die Musik kann uns aber auf einen Weg mitnehmen, auf dem wir diese Gedan­ ken formulieren und für uns persönlich übersetzen können. Die unterschied­ lichen Musikcharaktere geben uns die ­Möglichkeit, in Räume einzutauchen, in denen wir uns heimisch fühlen, aber auch in fremde Räume vorzustoßen, uns von außen zu betrachten und zu reflektieren. Vielleicht mag es dem einen oder anderen Hörer provozierend er­ scheinen, aber genau diese Reibung lässt mich Vertrautes neu hören und Bekann­ tes im Fremden entdecken. Ich muss meine ­eigenen Strukturen in Frage stellen, damit ich Neues denken kann. Gibt es auch einen Moment, in dem diese Welten musikalisch verschmelzen? Unbedingt! Eine solche Fusion der Welten ist mir aus gesellschaftlicher Sicht sehr wichtig. Ganz im Sinne von Bach und der Hoffnung auf einen Neuanfang stelle ich mir die Frage: Was ist unser Wunsch­ denken von der Welt? Ich bin gespannt, wie dieses Experiment ausgeht. Auf alle Fälle wird es uns bereichern – uns als Gemeinschaft.

I n d i e n tr i f f t Eur o p a

Magnificat Mario Schröder L E IT UN G

Musikalische Leitung Christoph Gedschold / Felix Bender Choreografie Mario Schröder Bühne, Kostüme Paul Zoller Choreinstudierung Thomas Eitler-de Lint Dramaturgie Thilo Reinhardt, Elisabeth Kühne B ES E TZ UN G

Leipziger Ballett Chor der Oper Leipzig Indigo Masala Gewandhausorchester G ESA N G S S O L IS T E N

Sopran 1 Steffi Lehmann Sopran 2 Susanne Krumbiegel / Wallis Giunta / Sandra Maxheimer Alt Marie Henriette Reinhold Tenor Sven Hjörleifsson / ­Martin Petzold Bass Dirk Schmidt PR E M IE R E

09. Feb. 2019, Opernhaus AUF F Ü H R U N G E N

16. & 22. Feb. / 08., 29. & 31. Mär. / 14. Jun. 2019 alle Vorstellungen mit ­Ein­führung 45 Min. vor ­Vorstellungsbeginn; Publikums­gespräche im Anschluss (außer Premiere) W E R K S TAT T

29. Jan. 2019, 18:30

S c h o n g e w us s t?

Mario Schröder

Pflanzen, die mit ­Musik von Bach und indischer Musik ­beschallt werden, ent­ wickeln sich laut einer Versuchsreihe aus dem Jahr 1968 besonders prächtig und neigen sich bis zu sechzig Grad der Musikquelle zu.


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Gott ist S ­ chwingung Ein Sitarist erklärt die ­P rinzipien der klassischen indischen Musik T E XT: YO G E N D R A

Indien, aufstrebende Atommacht mit eigenem Raumfahrtpro­ gramm, größte Demokratie der Welt, Softwaregigant, Land von Bollywood, Yoga und Ayurveda, hat auch eine eigene klassische Kunstmusiktradition. Sie ist wie die ­Musik von Bach tief in einer spirituellen Tradition verwurzelt. Aber statt vielstimmiger Chorund Orchesterwerke in temperierter Stimmung hat die indische Klassik eine raffiniert verfeinerte modale Melodik und zyklische Rhythmik hervorgebracht, in der solistisch hoch virtuos impro­ visiert wird. Ihre uralten Wurzeln hat sie in der Rezitation heili­ ger vedischer Texte. Nada Brahma – Gott ist Schwingung – ist eine zentrale Vorstellung altindischer Philosophie. Das N ­ atya Shastra, die rund 2000 Jahre alte Grundlage indischer Kunsttheorie, sieht den Kosmos als Tanz feinster Schwingungen, was die moderne Physik eindrucksvoll bestätigt. Auch Musik ist Schwingung, und so kann der Mensch im Musik-Erleben unmittelbar seines Einge­ bundenseins in das Gewebe des Kosmos gewahr werden. Raga und Tala, Melodie und Rhythmus, sind die Seele und das Herz der klassischen indischen Musik. Ragas sind melodische Strukturen, die auf eine bestimmte seelische Wirkung abzielen – bildlich gesprochen sollen sie den Geist färben. Jeder der weit über 100 bekannten Ragas ist formal präzis definiert: Eine auf­ steigende und eine absteigende Tonbewegung, geradlinig oder im Zickzack, mit Tönen, die nackt bleiben oder verziert werden, zum Verweilen einladen oder nur kurz anklingen, hoch oder tief into­ niert werden, charakteristische Sequenzen bilden oder ­immer neu kombiniert werden. All das gibt für jeden Raga eine einzigartige Ordnung, ähnlich wie Vokabeln und Grammatik einer Sprache. Damit diese Ordnung sich entfalten kann, muss aber die Sprache gesprochen bzw. der Raga gespielt werden. Erst in d ­ ieser Entfal­ tung wird der Raga als konkrete Erscheinungsform lebendig. Jeder Raga hat außerdem eine besondere seelische Stimmung, Farbe, Energie. Die gilt es zu erspüren. Viele Ragas sind dadurch assozi­iert mit Tageszeiten, Jahreszeiten oder Gottheiten. Solche Asso­ziatio­nen helfen, Türen zu inneren Erlebnisräumen zu ö ­ ffnen. Die Magie eines Ragas besteht letztlich darin, nur mit abstrakten Tönen unser Innerstes zu berühren, dort eine Quelle subtiler Freude zum Fließen zu bringen und uns an einen Ort t­ iefen Friedens zu führen. Tala bedeutet wörtlich Klatschen und bezeichnet die ­rhythmische Ebene, den lebendigen Pulsschlag, in dem sich der Raga entfaltet. Talas sind kreisförmig – Anfang und Ende fallen zusammen, so dass die Bewegung im Prinzip ewig weitergeht. Besondere Bedeu­ tung hat dabei die Eins, der erste Schlag, an dem Anfang und Ende ineinander fallen. Um diese Eins dreht sich die Musik, entfernt

sich mitunter scheinbar von ihr, bis dann die Musiker wieder genau an diesem Punkt zusammenkommen. Jeder Tala hat eine feste Zahl gleichmäßiger Pulse, meist zwischen sechs und sech­ zehn, gegliedert in 2er-, 3er- und 4er-Gruppen. Und jeder Puls­ schlag hat eine bestimmte Klangfarbe. Das Zusammenspiel von mathematischer Klarheit und klangsinnlicher Farbigkeit gibt dem Tala eine betörende Qualität, er groovt. Die Langhalslaute Sitar gilt mit ihrem sirrenden Klang oft als In­ begriff indischer Musik. Auf zwei bis vier Melodiesaiten ­lassen sich durch Abdrücken und seitliches Ziehen alle Feinheiten ge­sanglicher Intonation artikulieren. Drei bis vier Rhythmus­saiten halten den unverzichtbaren Bordunklang präsent. Und elf bis drei­ zehn Resonanzsaiten sorgen für einen eingebauten Hall­effekt. Der schillernde Obertonreichtum der Sitar entsteht durch raffiniert gewölbte Brückenoberflächen. Die Tabla mit ihrer Kombination aus zwei kleinen Handpauken klingt manchmal fast wie eine ganze Percussiongruppe. Die kleinere Pauke aus schwerem Holz gibt glockenklare gestimmte Töne und geräuschhafte Schläge her. Die größere bauchige Pauke aus verchromtem K ­ upfer sorgt für die Bässe, deren Tonhöhe sich erstaunlich flexibel modulieren lässt. Ihren Klang verdankt die Tabla einer schwarzen Masse aus Reis­ paste und Eisenspänen auf den Fellen. »Masala« heißen in Indien wohlschmeckende Gewürzmischun­ gen. Verschiedene Zutaten so zu mischen, dass daraus etwas ganz Neues entsteht, ist die Grundidee von »Indigo Masala«. Seit der Gründung 2005 spielt das Trio ausschließlich eigene Stücke. Prä­ gendster Einfluss war dabei zunächst die klassische indische Musik; auch dort gibt es keine scharfe Trennung zwischen Kom­ ponist und Interpret. Von dieser Basis aus hat »Indigo Masala« klassisch indische Spielideen neu vermessen und Ausflüge in zahlreiche andere Stilistiken unternommen. Im Lauf der Jahre haben die Künstler dabei eine ganz eigene, pulsierend sinnliche und hoch virtuose Klangwelt geschaffen – leidenschaftlich, ener­ giegeladen, feinfühlig, meditativ, humorvoll und von überschäu­ mender Spielfreude. Acoustic Raga Chamber Jazz.

Z U R PE RS O N

Yogendra studierte 25 Jahre bei bedeutenden ­Meistern der nordindischen Raga-Musik. Seit den 80er Jahren gibt er Konzerte als Sitarist mit klassischen Ragas und experimentellen Spielweisen. Er ist als Komponist und Performer von Theater-, ­Meditations- und Tanz­ musik tätig und lehrt und publiziert über i­ ndische Musik. Yogendra ist Sitarist der Band »­Indigo Masala«.


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DR E IKL ANG #02

Gemeinsam ins Märchenland Über die verbindende Macht von Märchen wie »Schneewittchen« T EXT: N E L E W IN T E R

Wer kennt sie nicht aus seiner Kindheit – die Geschichten von Märchen den Weg für ein menschliches Miteinander über Gene­ sprechenden Tieren, Hexen, Feen, Prinzessinnen und Prinzen? rationengrenzen hinweg. Aber nicht nur zwischen Generationen, Märchen gehören zu den tiefsten und nachhaltigsten Eindrü­ sondern auch über kulturelle Grenzen hinweg können Märchen cken, die ein Mensch je erfährt. Für Kinder sind sie häufig die Brücken schlagen. So veranstaltet zum Beispiel die Organisation erste Berührung mit Literatur, an die sie sich mitunter ihr ganzes »märchenland – Deutsches Zentrum für Märchenkultur« unter Leben lang erinnern. Oft ist es die Stimme der Eltern oder Groß­ dem Motto »Märchen überwinden Grenzen« regelmäßig narra­ eltern, durch die das Kind beim Vorlesen die zauberhaften Welten tive Märchenpantomimen in Flüchtlingsunterkünften in Berlin, kennenlernt. Dadurch entsteht eine ganz besondere Verbindung, bei denen die Kinder trotz sprachlicher Barrieren die Geschich­ ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Denn diese unbekannten Wel­ ten gemeinsam erleben können. Das Zentrum veranstaltet auch ten hat man schließlich gemeinsam erkundet, hat zusammen mit­ andere Aktionen, die die Kommunikation und Integration durch gefiebert und sich vielleicht noch über das Erlebte ausgetauscht. Märchen fördern, zum Beispiel im Rahmen des Sächsischen Mär­ Märchen entstammen der mündlichen Tradition und wurden ur­ chenfestivals, das zuletzt 2017 stattfand. Die Sammlung der Brüder sprünglich durch freies Erzählen der Geschichten weitergegeben. Grimm ist mittlerweile in mehr als 150 Sprachen und Dialekte Erst im 19. Jahrhundert begann in Deutschland das intensive Sam­- übersetzt worden. Es ist davon auszugehen, dass diese Märchen meln und Aufschreiben der Volksmär­ in allen Ländern der Erde bekannt sind. chen. Die bekanntesten Märchensam­mIn »Schneewittchen«, einem der bekan­nler im deutschsprachigen Raum sind testen Märchen der Grimms, geht es die Brüder­­Jacob und Wilhelm Grimm, um das Erwachsenwerden eines Kindes, deren »Kinder- und Hausmärchen« bis um das Loslösen von der Familie und heute in den ­meisten Bücherregalen zu das Eintreten in neue Gemeinschaften, finden sind. Heute werden M ­ ärchen wie die freundschaftliche Beziehung also vorrangig nicht mehr aus dem Ge­mit den Zwergen und die romantische dächtnis weitererzählt, son­dern gelesen Beziehung mit dem Prinzen. Das Kind oder vorgele­sen. Doch ganz in Verges­ Schnee­wittchen stirbt und erwacht als senheit ist die hohe Kunst des Mär­ erwachsene Frau. Märchen wie »Schnee­ chenerzählens nicht geraten. In soge­ wittchen« wurden immer wieder neu be­nannten Märchen­erzählerschulen, von arbeitet und verändert. Man denke nur denen es in Deutschland eine Handvoll an den bekannten Disney-­Film von 1937. Jacob Grimm gibt, kann diese selten gewordene Fer­ Doch »Schneewittchen« ist nicht nur in tigkeit erlernt werden. Als professio­ Deutschland, sondern so oder so ähnlich neller Märchenerzähler können die Absolventen dann in Schulen in zahlreichen anderen Kulturen überliefert. Denn auch in den und Kindergärten oder bei verschiedenen Veranstaltungen Jung Volksmärchen weit entfernter Länder finden sich immer wie­ und Alt mit ihren Geschichten begeistern. Gerade durch das ge­ der Parallelen zu deutschen Märchen. Die Geschichte ist in ganz meinsame Erleben der Märchen in der Gruppe und nicht alleine Europa belegt, aber auch in Afrika, in der arabischen Welt, im Kau­ mit einem Lesebuch entfalten die Märchen ihre besondere Kraft. kasus und der Türkei, vereinzelt auch bei Jakuten und Mongolen. In einer Welt, in der ein Mensch oft als isolierter Leistungsträger, Märchen haben auf der ganzen Welt die gleichen oder ähnliche als Einzelkämpfer wahrgenommen wird, zeigen Märchen Wege Inhalte: Ihre Essenz sind überall menschliche Urerfahrungen. auf, um Gemeinschaft herzustellen und ein Gefühl von Zusam­ Und genau das macht ihre starke verbindende Kraft aus, die alle mengehörigkeit zu schaffen. Doch Märchen haben noch ganz Grenzen überwindet. Marius Felix Langes Kinderoper »Schnee­ andere »Superkräfte«: Das wiederholte und gekonnte Erzählen wittchen«, die im März an der Oper Leipzig Premiere feiert, be­ bekannter Märchen, zum Beispiel durch professionelle Märchen­ wegt sich recht dicht am Grimm’schen Märchen. Lange greift erzähler, hat einen positiven Einfluss auf Menschen mit Demenz. dabei aber auf humorvolle Weise aktuelle Themen wie Schön­ Märchen schließen wie von Zauberhand die Tür zum Langzeitge­ heitswahn auf und verpackt die Geschichte in kindgerechte und dächtnis der Erkrankten auf und ermöglichen so eine kurzzeitige dennoch anspruchsvolle Musik. Verbesserung des Syndroms. Aber auch die Pflegekräfte und An­ gehörigen profitieren von dem gemeinsamen Erlebnis. So ebnen

Was ­haben wir denn ­Gemeinsameres als unsere ­Sprache und Literatur?


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A n g e r i c h te t

Schneewittchentorte empfohlen von Magdalena Hinterdobler zur Premiere der Kinderoper »Schneewittchen«

Z UTAT E N FÜR DEN T E I G

100 g weiche Margarine 150 g Zucker 1 Päckchen Vanillezucker 3 Eier 200 g Mehl 1/2 Päckchen Backpulver ca. 70 ml Milch 2 el Kakao 1 großes Glas Sauerkirschen FÜR DAS TOP P I N G

500 g Speisequark 1/4 l Sahne 1 Päckchen Vanillezucker 2 el Puderzucker 1 Päckchen Tortenguss 2 el Zucker 250 ml Kirschsaft

F ÜR E IN E 2 6   CM F O R M

Aus Margarine, Zucker, Vanillezucker, Eiern, Mehl, Backpulver und Milch einen Rührteig herstellen. Die Hälfte des Teiges in eine Springform streichen, die andere Hälfte mit dem K ­ akao verrühren und ebenfalls in die Springform geben. Sauer­ kirschen ohne Saft darauf verteilen. 45 Minuten bei 175 Grad ­backen. Anschließend den Kuchen gut auskühlen lassen. Für das Topping Sahne mit Vanillezucker steifschlagen und vor­ sichtig unter den Quark heben. Mit 2 el Puderzucker verrühren. Kuchen in einem Tortenring einfassen und die Quark-SahneMasse darauf streichen. 1 Päckchen farblosen Tortenguss mit 1/4 l Kirschsaft verrühren und unter ständigem Rühren aufkochen lassen. Heißen Torten­ guss löffelweise auf der Quarkmasse verteilen. Die Schnee­ wittchentorte kühlstellen, anschließend vorsichtig den Torten­ ring entfernen und servieren.

D IE BÄCK ERI N

Die Sopranistin Magdalena ­Hinterdobler stammt aus ­Straubing in Nieder­bayern. An der Oper ­Leipzig ist sie seit 2014/15­ ­festes Ensemblemitglied. 2018 / 19 u. a. ­Ortlinde in »Die ­Walküre«, ­Wog­linde in »Das Rheingold« und »Götter­ dämmerung«, Ännchen im »Freischütz«, Gretel in »­Hänsel und Gretel« und »Knusper, ­k nusper, knäuschen …«, ­Pamina in »Die Zauber­flöte«, Liù in »­Turandot«, Waldelfe in »Rusalka«, Anna in »­Nabucco«. In der Musi­kali­ schen Komödie ­Bettina in »­Casanova«. Neu: Susanna in »Die Hochzeit des ­Figaro«, Titelpartie in »Schneewittchen«, Marie in »Die verkaufte Braut«, 4. Magd in »Elektra«, Musetta in »La Bohème«. D IE PR E M I ERE

»Schneewittchen« ab dem 9. Mär. 2019 im Opernhaus


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DR E IKL ANG #02

Das Gefühl von Gemeinschaft … im Dialog

R O N A LD R U D ROFF B ÜHN EN MEI S TER A N DE R OP E R LE I P ZI G

Gemeinsam mit meiner Frau, die als freischaffende Bühnen- und Kostüm­ bildnerin tätig ist, lebe ich im monopol ­Leipzig. »Leben, Kunst und gutes Karma« zu vereinen, das ist das Ziel dieses außer­ gewöhnlichen Wohnmodells. Man darf sich das nicht wie eine Kommune vorstel­ len. Das monopol ist ein Areal auf dem Gelände der alten Reichs-MonopolVer­waltung für Branntwein, wo Künstler sich in Ateliers einmieten können. Es ist ein Ort, wo Kunst und Leben eine natür­ liche Gemeinschaft eingehen. Gemein­ schaft wird im monopol groß geschrieben, sei es im künstlerischen, sei es im sozia­len Bereich. Natürlich kann jeder für sich selbst entscheiden, wie viel Nähe er zulassen möchte. Ich finde es sehr inspirierend, mit interessanten ­Persönlichkeiten in einen Dialog über Kunst zu treten und möchte das Leben im monopol nicht mehr missen.

auf der Bühne Gemeinschaft lässt sich in vielfältigen Formen leben, in der Familie, in Gesellschaft, Politik und Arbeit. Schließlich ist auch das Theater ein Zusammenspiel unter­ schiedlicher Menschen, die an einer gemein­ samen Idee arbeiten. Wir haben Mitarbeiter­ innen und ­Mitarbeiter danach befragt, in ­welchen ­Momenten sie besonders das ­Gefühl von ­Gemeinschaft erfahren.

A N D R E AS R A IN E R E N S E M B L E M ITG L IE D A N D E R ­M U S IKA L IS CH E N KO M Ö D IE

Die Musikalische Komödie ist für uns nicht nur ein Arbeitsplatz, wir sind im Ensemble zu großen Teilen auch sehr gute Freunde. Dadurch entstehen manch­ mal ganz besondere Abende, an denen wir selbst ­richtig viel Spaß haben. Wichtig ist uns, dass es keine Unterschiede zwi­ schen Solist, Chorsänger, Tänzer, Masken­ bildner, Orchestermusiker oder Bühnen­ arbeiter gibt. Vor allem in Krisenzeiten zeigt sich diese besondere Stärke der MuKo, zum Beispiel als wir zum wieder­ holten Male vor einer möglichen Schlie­ ßung standen. Wir haben die ganze Stadt mobilisieren können, um das zu verhin­ dern, und so darf ich nun selbst erleben, wie das Haus nach all der Zeit renoviert wird. Schließlich habe ich sogar meine Lebenspartnerin an der Musikalischen Komödie kennengelernt. Und es ist keines­ falls so, dass wir eine eingeschworene ­Gemeinschaft sind, in die niemand hinein­ kommen kann. Auch Gäste fühlen sich bei uns immer pudelwohl, weil sie sofort in die Gemeinschaft integriert werden. Natür­lich ist es sehr traurig, wenn ver­ diente Kollegen aus dem Betrieb in Rente gehen oder nicht verlängert werden. Aber sie bleiben doch immer Teil der großen MuKo-Familie.


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Mus i k al i s c he Mär c h e n s tu nd e

auf Reisen

an Festtagen

Schnee­ wittchen Marius Felix Lange L E IT U N G

Musikalische Leitung Giedrė Šlekyte˙ Inszenierung Patrick Rohbeck Bühne, Kostüme Alexander Mudlagk Dramaturgie Nele Winter B ES E TZ U NG

KS MA RT I N P E TZOLD EN S EMBL E MI TG LI E D AN D E R O P E R LE I P ZI G

Gemeinschaft bedeutet für mich sehr viel, nicht nur in der Familie, sondern auch im jetzigen beruflichen Umfeld vor und hinter der Bühne. Schon früher, als ­Thomaner, spürte ich die Gemeinschaft in den wöchentlichen Motetten und im Zusammenleben im Alumnat. Später emp­fand ich als Evangelist bei langen R ­ eisen mit dem Gewandhausorchester und den Thomanern durch Asien den tiefen Geist, der uns als Bach-Botschafter zusammen­ schweißte, als eine innere ­Stär­kung. Ganz im Sinne des großen Meisters: soli deo

gloria.

D IA N A SA N D U TÄ N Z E R IN IM L E IPZ IG E R BA L L E T T

Mit 14 Jahren bin ich von meiner Familie in Bukarest weggegangen, um in Wien an der Ballettakademie der Wiener Staats­ oper zu studieren. Um meine professio­ nelle Karriere zu intensivieren, ging ich diesen Schritt. Dank der heutigen Medien ist es ja leicht, Kontakt mit meiner Fami­ lie zu halten. Man ist aber trotzdem von Anfang an auf sich selbst angewiesen. Aufgrund der Arbeitszeiten verbringe ich viel Zeit mit meinen Kollegen, welche ­inzwischen zu einem festen und verläss­ lichen Freundeskreis geworden sind. In der Company herrscht eine schöne familiäre Atmosphäre. Das hilft vor allem an Festen wie Weihnachten: Kurz vor dem Heiligen Abend findet eine große Weihnachtsfeier unseres gesamten Balletts statt, die immer ein schöner Abend mit Secret SantaGeschenken und leckerem Essen wird. Am Heiligen Abend direkt feiere ich mit ­m einen engsten Freunden. Da kommen Gerichte und Traditionen aus verschie­ denen Ländern zusammen. Allerdings war das Weihnachtsfest 2018 ganz beson­ders für mich. Nach sechs Jahren habe ich das erste Mal wieder mit meinen Eltern gefeiert.

Die Königin Clothilde Sandra Janke Spiegel Martin Petzold Schneewittchen Magdalena Hinterdobler Jäger / Zwerg Kwarz Stephan Klemm Der Prinz / 1. Hofschranz Sven Hjörleifsson Der fahrende Händler / Zwerg Klopp Franz Xaver Schlecht Passantin 1 / Tier 2 / Zwerg Schnitzerle Sandra Maxheimer 2. Hofschranz / Zwerg Adi Jonathan Michie / Martin Häßler Passantin 2 / Tier 1 / Zwerg Klecks Bianca Tognocchi Passant / Tier 3 / Zwerg Edi Dan Karlström / Alvara Zambrano Zwerg Ursli Sejong Chang Gewandhausorchester PR E M IE R E

09. Mär. 2019, Opernhaus AUF F Ü H R U NG EN

15. Mär. (11:00 & 19:00) / 08. & 09. Mai / 02. Jun. 2019 alle Vorstellungen mit Einführung 45 Min. vor Vorstellungsbeginn W E R K S TAT T

05. Mär 2019, 18:00


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DR E IKL ANG #02

In mir singt ein Lied! Singen befreit die Seele IN T E RV IE W: CH R IS T IA N G E LT IN G E R


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Ein Schlüsselerlebnis hat die holländische Sängerin Maartje de Lint während eines Konzerts mit dem Thema Demenz in Verbindung gebracht. Seitdem engagiert sie sich aktiv für Menschen mit Demenz und hat mit wissenschaftlicher Unterstützung Mitsing­konzerte für Demenzerkrankte und deren Angehörige entwickelt. Seit der Spielzeit 2017/18 bietet die Oper Leipzig in Kooperation mit dem Verein »SelbstBestimmt Leben e.V.« diese Konzerte auch in Leipzig an. dreiklang sprach mit Maartje de Lint und Janka Große vom Verein »Selbst­ Bestimmt Leben«. Seit über zehn Jahren gibt es in ­Leipzig den Verein »SelbstBestimmt Leben e.V.« Was sind die zentralen ­Säulen Ihrer Arbeit? janka große Unser Verein s­ trukturiert sich im Wesentlichen in vier große Be­ reiche. Zunächst bieten wir Beratung zum Umgang mit der Erkrankung und zu Unterstützungsmöglichkeiten. Als zwei­tes führen wir Angehörigen­schu­ lungen durch. Das sind von den Pflege­ kassen finanzierte Schulungen, die jeder mit­machen kann. Da geht es neben ganz praktischen Dingen wie der konkre­ ten Pflege und der Kommunikation mit Menschen mit Demenz u. a. um rechtliche Aspekte, aber auch um die Frage nach dem Verlauf der Krankheit bis hin zum Lebensende. Der dritte Bereich sind klas­ sische Selbsthilfegruppen für ­Angehörige und der vierte Bereich die häusliche ­Betreuung durch Ehrenamtliche. Ist das Thema Demenz nach wie vor ein Tabu-Thema in unserer Gesellschaft? janka große Ich höre oft, dass es die Nach­barn nicht erfahren sollen. Manchmal ­sollen es nicht mal die Kinder wissen, weil man sie vielleicht schützen möchte. Ich merke aber, dass sich die Menschen mehr und mehr öffnen, je länger sie mit uns zu tun haben, und ihre Krankheit anneh­ men und nicht mehr verstecken. Das liegt sicherlich daran, dass wir ihnen zu­ nächst einmal eine Schutzzone bieten, in der Erkrankte und Angehörige mit ihren Ängsten ernst genommen werden.

Wie gelingt es Ihnen, den Menschen, die zu Ihren Konzerten kommen, das Gefühl von Sicherheit zu geben? maartje de lint Für mich ist das eine zen­ trale Voraussetzung meiner Arbeit. Wenn die Menschen zu unseren Konzerten kom­ men, sollen sie erst einmal ankommen, sich wohlfühlen. Menschen mit Demenz brauchen aus meiner Erfahrung sehr klare Strukturen, in denen sie sich bewe­ gen. Das gibt ihnen Sicherheit. Die Gäste haben oft schon einen anstrengenden Tag hinter sich mit Aufstehen, Körperpflege, Frühstück, also mit Dingen, die uns ganz gewöhnlich erscheinen, die aber mit dieser Krankheit zu täglichen Herausforde­ rungen werden. Da tut es erst einmal gut, sich hinzusetzen, einen Kaffee angeboten zu bekommen und einfach mal durch­ zu­atmen. Wenn wir dann ins Gespräch kommen, ist das ein guter Icebreaker, ­bevor wir in den Stuhlkreis wechseln und ­beginnen, gemeinsam zu Musizieren. Welchen Einfluss hat das Singen auf Menschen mit Demenz? maartje de lint Das Klanggedächtnis ist derjenige Teil des Gehirns, der am Längs­ ten aktiv ist. Zugleich ist es sehr eng ver­ knüpft mit dem Zentrum unserer Emo­ tionen. Wenn wir also Musik machen, werden Emotionen in uns frei. Das kann Freude und Lust, aber auch Trauer und Schmerz sein. In jedem Fall wird aber Spannung abgebaut. Und das kann man unmittelbar spüren, wenn man in die ­Gesichter der Menschen schaut.


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DR E IKL ANG #02

Hier geht es nicht um Perfektion, hier geht es um die Seele. Maartje de Lint

janka große Mindestens genauso wich­ tig wie das gemeinsame Singen ist aber auch, dass die Menschen hier andere betroffene Familien treffen, mit denen sie sich austauschen können. Dass die Loca­ tion dafür die Oper ist, also ein Ort, mit dem viele Menschen positive Erinne­ rungen verbin­den, ist ein großes Zeichen von Wertschätzung. Vor jedem Konzert gibt es eine Art ­Aktivierungsphase. Sie singen solis­ tisch ein Lied und machen die Runde. Ich war zunächst einmal etwas irri­ tiert, wie nahe Sie dabei den Menschen kommen. Sie streicheln ihnen über die Wange, knien sich singend vor sie hin oder umarmen sie. Welche Rolle spielt dabei die Körpersprache in Ihrer Arbeit? maartje de lint Für mich ist diese erste Runde auch der Moment, wo ich ver­ suche, mit den Gästen buchstäblich auf Tuchfühlung zu gehen. Ich merke dann, wo Verspannungen liegen, vor allem durch den Blick und die Körpersprache der Menschen. Ich versuche zu spüren, wie sehr sich jeder Einzelne öffnen kann und will und kann daher besser auf die Bedürfnisse des Einzelnen eingehen. janka große Wir machen auch die Er­ fahrung, dass die Möglichkeit, nonverbal zu kommunizieren, immer wichtiger wird, je weniger sich Menschen sprachlich mitteilen können. Menschen mit Demenz brauchen dann Kontaktaufnahme und emotionale Verbindung durch Berührung und körperliche Zuwendung. Ist es dabei nicht auch wichtig, sich persönlich abzugrenzen? janka große Natürlich braucht man eine professionelle Reflexion, wenn man in so einem Bereich engagiert ist. Dafür gibt

es auch Supervision für unsere Ehrenamt­ lichen. Demenz kann jeden treffen, aber die Krankheit des anderen ist nicht meine Krankheit. Da muss man bei aller Hilfs­ bereitschaft klar unterscheiden. Wie hat die künstlerische Arbeit mit Demenzerkrankten Ihr persönliches Leben verändert? maartje de lint Die Arbeit mit und für Demenzerkrankte ist für mich wahnsinnig erfüllend. Ich kann die Wirkung direkt von den Gesichtern der Menschen ablesen. Das hat eine Qualität, wie man sie im ­Sängeralltag nur selten so unmittelbar er­lebt. Als Sängerin habe ich einen viel ­intuitiveren Zugang zu meiner Stimme ge­funden. Hier geht es nicht um Perfek­ tion, hier geht es um die Seele. Anderen Menschen ein Lied zu schenken, ist das Schönste, was es gibt. Das wird mir jetzt viel bewusster, wenn ich im Konzert eine »Johannes-Passion« singe. Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen? maartje de lint Ich fände es gut, wenn das Thema Demenz noch stärker wissen­ schaftlich erforscht wird. Dabei wäre es aus meiner Perspektive ganz entschei­ dend, dass man sich auf den gesunden Teil des Gehirns fokussiert. Was kann der demente Mensch mit dem gesunden Teil seines Gehirns schaffen und wie kann man diesen Teil möglichst lange erhalten. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Sin­ gen einen wichtigen Beitrag dazu leistet. janka große Ich wünsche mir noch viele vergleichbare Angebote für Menschen mit Demenz in den unterschiedlichsten Disziplinen. Die Teilhabe am öffentli­ chen Leben ist für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen lebensnotwendig.

T E R M IN E

30. Mär. / 27. Apr. / 25. Mai 2019 10 Uhr, Konzertfoyer Opernhaus IN F O R M AT IO N E N & A N M E L D UNG

SelbstBestimmt Leben Leipzig und Umgebung e. V. Büttnerstr. 22, 04103 Leipzig t +49 341 2433 0566 info@sbl-leipzig.de www.demenzberatung-leipzig.de

S c h o n g e w us s t?

Das aktive Musizieren verringert laut einer Studie das Risiko einer Demenzerkrankung um 70 Prozent. Noch effektiver sind Tanzen und Schachspielen.


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Liebe Frau de Lint, nach meinen Beobachtungen waren die beiden Mit­ singkonzerte für meinen Mann das Nachhaltigste seit Langem. Besonders deutlich war das im Konzert am 27. ­Oktober. Zu Hause und vor Beginn schien er an dem Tag in seiner eigenen Welt versunken zu sein. Durch Sprache und Aufmunterungen war es mir nicht möglich, ihn für seine Umwelt aufmerksam zu machen. Der Blick fixierte nicht, war unbeteiligt und meist starr. Mit Beginn der Musik, Ihres Gesangs und Ihrer Zuwendung änderte sich das ganz langsam. Der Blick wurde bewuss­ ter, Sie wurden fixiert, die Mimik wurde weicher. Er hörte – so interpretiere ich es bei genauer Beobachtung – gut zu und ab dem 5. Lied (Rennsteiglied) schien es, dass er hier und da einige Töne mitsang. Bis zum Schluss des Konzertes war er dann aufmerksam, der Blick war wach und er schien sich sehr gut zu fühlen. Erstaunlich war, wie nachhaltig das Konzert für ihn war, denn zu Hause war er während des restlichen Tages wach, aufgelegt zum »Gespräch« und sogar zum L ­ achen. Das Sich-Wohlfühlen schien also anzuhalten. Am nächs­ ten Tag war er sehr gut lenkbar, wach und auch zum »Sprechen« und Lachen aufgelegt. Ob das noch eine Folge des Konzerts war, werden wir nicht wissen. Ich inter­ pretiere aber, dass vielleicht im Ansatz noch ein kleiner Rest der Musik in ihm »nachsang«. Dr. Britta Will


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DR E IKL ANG #02

Z U GABE

Unterwegs mit

Madoka Ishikawa Wir strahlen mit der Sonne um die Wette!

Leipzig 0 1 . 0 7. 2 0 1 8

Unsere letzte Show von »toot!«. Die Aufführungen im Schauspielhaus sind immer etwas Besonderes. Die Musik wird nicht live gespielt und die Bühne ist viel kleiner. Ohne Orchestergraben sind wir Tänzer viel näher am Publikum dran.

Während der Theaterferien reise ich durch die Welt.

Nächster Halt: Barcelona!

Barcelona 1 0. 0 7. 20 1 8

Markranstädt

Die Sagrada Familia ist das ­Wahrzeichen der Stadt. Mich fasziniert der Blick hinunter von den riesigen Türmen. Seit über 100 Jahren ist diese Kathedrale in ständiger Entwicklung. Beim Tanzen ist es ­ähnlich. Man entwickelt sich von Tag zu Tag ein Stück weiter!

22. 06. 2018

Ausspannen und die Sonne genießen – das perfekte Feierabendprogramm nach einem anstrengenden Trainingstag. Im Sommer gehen wir oft gemeinsam nach den Proben an den See. Den Kulkwitzer See finde ich mit seinem klaren Wasser wunderbar!

Clash of Cultures Mallorca 0 8 . 0 7. 2 0 1 8

Mein Koffer ist vollgepackt mit Sommerkleidern und Sandalen. Leipzig lasse ich während der Theaterferien hinter mir und reise durch die Welt. Erste Station: Mallorca. Ich genieße es sehr, durch die kleinen historischen Gassen zu schlendern und nehme mir Zeit für einen ausgiebigen Schaufensterbummel.


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Paris

27. 1 0. 2 0 1 8

16 . 07. 2 018

Meine Garderobe vor der Premiere von »Beethoven/Ravel« – eine Flut von toi toi toi-Geschenken und Karten, die wir uns gegenseitig vor jeder Premiere schenken. Das macht mich glücklich und motiviert mich vor der Vorstellung!

Gemeinsam mit meiner Mutter habe ich in Paris einen richtigen Clash of Cultures ­genossen – bei einem Fotoshooting vor dem Eiffelturm im traditionellen japanischen Gewand, dem Kimono.

0 8 . 0 9. 2 0 1 8

Ich liebe es, zu kochen ! Wenn ich nach den Proben nicht zu müde bin, koche ich jeden Tag frisch für mich. Ich kann mich dabei wunderbar entspannen – und natürlich ist es wichtig, um gesund und fit zu bleiben!

Yes! We did it!

Yamaguchi, Japan 2 5 . 07. 2 018

Japan ist meine Heimat, in Yamaguchi wurde ich geboren. Dort gibt es einen ­t raditionellen Schrein, den ich gern be­suche. Ein ganz besonderer Geist ist an ­diesem Ort zu spüren.

Die neue Spielzeit beginnt!

1 5 . 1 0. 20 1 8

Meine tägliche Arbeit: Spitzenschuhe ­nähen! Wenn wir eine Produktion haben, in der wir auf Spitze tanzen, muss ich die Schuhe jeden Tag präparieren. Also wirklich: jeden tag! Das ist sehr wichtig, um gut und gesund tanzen zu können. Viel wichtiger als essen oder schlafen !!!

27. 1 0. 2 0 1 8

Glückliche Gesichter nach der Premiere!

Z UR PE RS O N

Leipzig 04. 09. 2 018

Unsere erste Premiere ist »Beethoven / ­Ravel« im Oktober. Die Tutus tragen wir beim Proben, um uns an das Tanzen mit diesen Röcken zu gewöhnen.

2 0. 1 0. 20 1 8

Am Wochenende ist bei mir »Cheat Day« – da backe ich für mein Leben gerne Süßes und genieße es!

Madoka Ishikawa wurde in Yamaguchi/ Japan geboren. Ihre Ausbildung erhielt sie an der Kazuko Sugihara Ballet School und an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper. Direkt im Anschluss wurde sie Mitglied der angeschlossenen J­ unior Company. Mit Beginn der Spielzeit 2014/15 begann sie ihr Engagement beim Leipziger Ballett. Solistisch ist sie in »Rachmaninow«, als Pechmarie in »Frau Holle« in »Die Märchen der Gebrüder Grimm« und als Clara bzw. Zucker­fee in »Der Nussknacker« zu sehen.


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DR E IKL ANG #02

Von Außen­ seitern und Herden­ tieren Eine Studie über den Menschen als soziales Wesen in Richard Wagners »­F liegendem Holländer« T E XT: E L ISA B E T H KÜH N E


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Es ist eine Konstellation, der wir so oder in ähnli­ cher Form jederzeit und überall begegnen könnten: Eine junge Frau sitzt abseits der Gruppe, ist in sich versunken. Sie beteiligt sich nicht an der Arbeit der anderen, verweigert sich selbst deren Gesprächs­ themen. Sie ist anders, eine Außenseiterin – und wird ver­spottet. So lernen wir Senta in Richard ­Wagners romantischer Oper »Der fliegende H ­ olländer« kennen. Während die Mädchen um sie herum, angetrieben von Anführerin Mary, voll und ganz in ihren Spinn­ arbeiten aufgehen, träumt Senta sich an die Seite ­jenes mysteriösen fliegenden Holländers, den sie aus alten Balladen und Gemälden kennt. Anlass genug für die Spinnerinnen in hämisches Gelächter aus­ zu­brechen: »Sie ist verliebt! Ei, ei!« Und auch noch verliebt in ein Bild, eine Legende – die Frage, wer hier eigentlich spinnt, ist für die Mädchen aus Sentas Dorfgemeinschaft damit schnell beantwortet. Einig sprechen sie ihr Urteil über Senta: Die gehört nicht zu uns! Doch was macht einen Menschen eigentlich zum Außenseiter und was lässt ihn Teil einer Gemeinschaft werden? Und wie verhält sich die Gemeinschaft gegenüber dem Individuum und umgekehrt?

Jeder Mensch ist Einzelwesen und soziales Wesen ­zugleich. Als Individuum (in-dividuum = ungeteilt) ist er einzigartig, besitzt unverwechselbare Eigen­ schaften, eine eigene Existenz. Und doch wird jeder von uns auch in eine Welt verschiedenster gemein­ schaftlicher und gesellschaftlicher Bezüge und Bin­ dungen hineingeboren – der Mensch als Herdentier. Schon ­Aristoteles beschrieb den Menschen als »zoon ­politikon«, als ein Wesen, das sich um die Belange der Gemeinschaft kümmert, da er auf sie angewiesen ist. Wir gruppieren uns, sei es als Familie, als Freun­ deskreis, als Arbeitskollegium oder, wie im Falle ­Sentas, als Dorfgemeinschaft. Und doch ist gerade dieses Bedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit ein para­doxes Phänomen: Denn in der Gruppe tendieren wir dazu, unsere ganz persönlichen Eigenschaften in den Hintergrund zu drängen, uns als Teil von etwas Größerem zu betrachten und uns selbst weniger indi­viduell wahrzunehmen. Es entsteht eine s­ oziale ­Identität. Eine solche Gruppenmentalität wirkt ­jedoch auch kollektiv normierend und fordert vom Indi­vi­duum die Anpassung an das herausgebildete Ver­hal­tensmuster. Konformität, wie Richard W ­ agner sie uns mit dem Chor der Spinnerinnen in exempla­­­ rischer Art und Weise vorführt, ist das Ergebnis ­dieses Prozesses.


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DR E IKL ANG #02

­Akzeptierter Teil einer Gruppe zu sein, ist ein gutes Gefühl. Ein Experiment des polnischen Sozialpsychologen Solomon Asch aus den 50er Jahren zeigt, wie weit­ reichend das menschliche Bedürfnis nach Konsens ausgeprägt ist. Asch ließ damals Versuchspersonen gemeinsam mit einer von ihm eingeweihten Gruppe die Länge verschiedener Linien schätzen. Aus drei Linien unterschiedlicher Länge sollte diejenige aus­ gewählt werden, die die gleiche Länge wie eine Referenzlinie hatte – eine eindeutig zu beantwor­ tende Frage, zumindest solange die von Asch vorher in­struierte Gruppe die richtige Antwort gab. Als die Gruppe jedoch absichtlich eine falsche Einschätzung äußerte, stimmten zu einem großen Teil auch die Versuchspersonen dieser offensichtlich v ­ erkehrten Antwort zu. Beeindruckende 75 % der Versuchs­ personen ließen sich von der Gruppe zu mindestens einer falschen Antwort verleiten. Um nicht anzu­ ecken, stimmen wir also eher der Gruppenmeinung zu, als unsere eigene, vielleicht singuläre Meinung zu vertreten. Akzeptierter Teil einer Gruppe zu sein, ist ein gutes Gefühl. Das lässt sich sogar neurobio­ logisch belegen: So fand der Neuroforscher Vasily ­Klucharev heraus, dass das Gehirn von Menschen, die sich Mehrheitspositionen unterordnen, vermehrt das Glückshormon Dopamin produziert. Das Gehirn belohnt also Konformität. Andererseits ­haben Forscher herausgefunden, dass sobald wir einer Gruppen­ meinung widersprechen, die Amygdala aktiviert wird, also der Teil unseres Gehirns, der u. a. für die Angst vor Zurückweisung zuständig ist. Derartige Konfor­ mitätsbestrebungen sind soziologisch gesehen ­sogar durchaus sinnvoll: Konformität ist immerhin ein wichtiges Schmiermittel sozialer Kontakte. Dank ihr werden Konflikte vermieden, das gemeinschaft­ liche Miteinander erleichtert und zum Teil s­ ogar erst ermöglicht. Dass Wagner im Übrigen mit dem Lied der Spinne­ rinnen, das sich wie ein Perpetuum mobile immer im Kreis zu drehen scheint und damit den gleich­ förmigen Rhythmus der körperlichen Bewegung des Spinnens unterstützt, sogar heutige Erkenntnisse zur Gruppenbildung vorwegnimmt, spricht für sein feines psychologisches Gespür. Wissenschaftler sind sich nämlich inzwischen darüber einig, dass syn­ chron ausgeführte Handlungen das Gruppengefühl steigern und die Kooperationsbereitschaft erhöhen. Verantwortlich dafür sind die sogenannten Spie­gel­neuronen. Diese Nervenzellen sind aktiv, wenn

Fremd- und Eigenhandlungen als identisch erkannt werden. Im Augenblick eines solchen Synchronisie­ rens verschwimmt die Grenze zwischen dem Ich und dem Wir. Mehr noch: Sowie Menschen ihre motori­ schen Aktivitäten einander angleichen, synchroni­ sieren sie auch ihre Meinungen. Das gilt für Wagners spinnende Dorfmädchen ebenso wie für im Gleich­ schritt marschierende Soldaten oder singende Fußball­ fans. So haben israelische Forscher beispielsweise beobachtet, dass gemeinsame Sprechchöre in einer Fangemeinde positive Gefühle hervorrufen. Aller­ dings stellten die Wissenschaftler bei der s­ ingenden Testgruppe im Gegensatz zur Vergleichsgruppe auch eine deutlich erhöhte Aggressivität gegenüber den gegnerischen Fans fest. Der Zusammenhalt in der eigenen Gruppe wird also durch synchrone Handlungen gestärkt, gleichzeitig steigt aber die ­Gewaltbereitschaft gegenüber anderen. Gerade vor der Kontrastfolie des Fremden oder Andersartigen, wie Senta es innerhalb der dörflichen Frauengemein­ schaft verkörpert, tritt schließlich die eigene Gruppen­ identität umso deutlicher hervor. Was passiert, wenn sich die Aggressivität einer Gemeinschaft nicht gegen eine Einzelperson, sondern gegen ein ganzes Kollektiv richtet, führt uns Richard Wagner im Aufeinandertreffen der Seeleute Dalands und der Geisterschiffmannschaft des ­fliegenden Hol­ länders vor. Erneut erweist sich Wagner als K ­ enner der menschlichen Psyche, wenn er detailgenau schil­dert, wie die fröhliche Ausgelassenheit beim Fest ­anlässlich der Rückkehr der norwegischen Matrosen zunehmend umschlägt – in Spott und Häme gegen die Besatzung des Holländerschiffes, die sich dem munteren Treiben verweigert. Voll Übermut scherzen die Seeleute immer dreister auf Kosten ihrer Gäste, bis diese mit infernaler Heftigkeit zurückschlagen und es zur gigantischen Konfrontation kommt. Tatsäch­ lich gilt bis heute: Wer Menschenmassen undiffe­ renziert und radikal entgegentritt, provoziert eine ebenso radikale und emotionalisierte Gegen­reaktion. Die Steigerung der gemeinschaftlichen Enthusi­ asmierung bis hin zu unkontrolliert-rauschhaften ­Zuständen, bei denen der Einzelne mit der Menge verschmilzt, seine Kritikfähigkeit verliert und dabei zu Handlungen fähig wird, die er allein eventuell nie begangen hätte, wurde bereits 1895 vom franzö­ sischen Arzt Gustave Le Bon beschrieben. In seinem Standardwerk »Psychologie der Massen« formuliert er die These, dass das Individuum, egal wie kultiviert es sei, in der Menge in einen primitiv-barbarischen Zustand zurückfalle. Und doch gibt es natürlich Menschen, die sich nicht dem Gruppenzwang unterordnen, ihre Identität nicht aufgeben, auch wenn dies bedeutet, Normen und Konventionen der Gesellschaft zu verletzen. Ein solcher Mensch ist Senta. Aber wer ist sie und was machte sie zu dieser Persönlichkeit? Zunächst ein­ mal scheint sie ohne Mutter aufgewachsen zu sein, zumindest wird diese nie erwähnt. Auch ihren Vater Daland sieht Senta nur selten, er fährt zur See und kommt als Bezugsperson kaum in Frage. Allein ihre Amme Mary ist Senta offenbar vertraut. Aus ihren Erzählungen kennt sie die Ballade vom fliegenden


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Holländer, die ihre Einfallskraft so beflügelt. Und doch versucht Mary das fantasiebegabte Mädchen zu normieren, sie einzupassen in die Schar der spinnen­ den Frauen. Sentas sich konturierende Individualität wird von Mary als Gefahr für die Gemeinschaft begriffen. Und tatsächlich wird Sentas abweichendes Verhalten von der Gruppe sanktioniert. Das Mädchen gerät in soziale Isolation, wird zur Außenseiterin. Vielleicht stand ihr deshalb auch Erik so nah, der als Jäger wie sie selbst eine Sonderstellung im Fischer­ dorf einnimmt. Doch auch Erik bleibt letztlich den sozialen und gesellschaftlichen Strukturen seiner Umwelt verhaftet. Umso stärker fasziniert Senta das Bild des fliegenden Holländers. Schon bald erscheint er ihr wirklicher als die soziale und häusliche Realität ihres Lebens, der sie zu entfliehen versucht. In ihm, dem Fremden, dem Heimatlosen, dem A ­ usgestoßenen, spiegelt sie ihr eigenes Schicksal. Als Hoffärtiger suchte er einst den Kräften der Natur zu trotzen und wurde dafür verdammt, mit seinem Geisterschiff auf ewig die Weltmeere zu durchkreuzen. Erlösung kann ihm nur durch die Treue einer Frau zuteilwerden. Eine Aufgabe, zu der sich Senta – vielleicht angesichts ihrer eigenen Erfahrung von gesellschaftlicher ­Entfremdung und Vereinsamung – geradezu ­berufen fühlt. So treffen mit Senta und dem fliegenden Hollän­der zwei von der Gesellschaft Ausgestoßene auf­ einander und finden letztendlich beide Erlösung – ­jedoch erst im Tod, der alle Menschen gleich macht.

Das ­Individuum, egal wie ­kultiviert, fällt in der Menge in einen primitiv-­ barbarischen Zustand zurück.

S e g e l auf , A n k er ho c h!

Der fliegende Holländer Richard Wagner L E IT U N G

Musikalische Leitung Ulf Schirmer / Christoph Gedschold Inszenierung, Bühne Michiel Dijkema Kostüme Jula Reindell Choreinstudierung Thomas Eitler-de Lint Dramaturgie Elisabeth Kühne B ES E TZ U NG

Der Holländer Iain Paterson Senta Christiane Libor Erik Ladislav Elgr Daland Randall Jakobsh Steuermann Sven Hjörleifsson / Dan Karlström Mary Karin Lovelius Chor und Zusatzchor der Oper Leipzig Gewandhausorchester PR E M IE R E

30. Mär. 2019, Opernhaus AUF F Ü H R U NG EN

22. Apr. / 12., 17. & 30. Mai / 10. Jun. 2019 alle Vorstellungen mit Einführung 45 Min. vor Vorstellungsbeginn W E R K S TAT T

21. Mär. 2019, 18:00 KA N T IN E N G ES PRÄCH

12. Mai 2019 im Anschluss an die Vorstellung


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DR E IKL ANG #02

Z U GABE

Te s t

Welcher Ring-­Charakter sind Sie? Sind Sie stark und mutig wie Brünnhilde, mächtig wie Wotan oder ­abenteuerlustig wie S ­ iegfried? ­ Finden Sie in unserem Test heraus, welcher­­Charakter aus ­Richard Wagners »Der Ring des N ­ ibelungen« Sie sind! VON E LI SABE T H KÜH N E U N D N E L E W IN T E R

So verbringe ich meine ­F reizeit am liebsten: Ich wandere gern. (A) Beim Gärtnern. (F) In der Natur oder mit handwerklicher Arbeit. (C) Ich reite gern. (D) Damit, meinem Partner eine Moralpredigt zu halten. (B) Ich poliere meinen Lieblingsring. (E) Hier würde ich am liebsten wohnen: In einer netten kleinen Höhle. (E) Dort, wo Platz für die ganze Familie ist. (B) Ganz im Einklang mit der Natur. (F) In einem prunkvollen Palast. (A) Hauptsache, es gibt einen Kamin. (D) In einer Hütte im Wald. (C) Mein Traumjob wäre: Förster oder Tierpfleger. (C) Orakel. (F) Eine mächtige Position, Chef, Bundeskanzler,­ ­K önig … (A) Goldschmied. (E) First Lady. (B) Reitlehrer oder Führungsposition beim Militär. (D) In der Schule war ich meistens … Schulsprecher. (A) der Außenseiter. (E) der Beste im Sport. (C) aufmüpfig und musste oft nachsitzen. (D) jemand, der einfach alles wusste. (F) moralisch entrüstet. (B)

Mein Lieblingsgetränk:

Als Waffe bevorzuge ich:

Kann man Gold trinken? (E) Met. (A) Schwarztee. Ohne Zucker. (F) Aquavit. (D) Champagner. (B) Naturtrüber Apfelsaft. (C)

Einen Speer. (A) Natürlich die Waffe einer Frau: weibliche Verachtung! (B) Weisheit. (F) Meinen starken Willen. (D) Ein Schwert. (C) Mit Gold kann man doch alles regeln, oder? (E)

Mein perfekter Partner … ist geduldig und verständnisvoll, auf keinen Fall eifersüchtig! (A) ist stark und mutig! (D) ist schwer zu erobern. (C) ist blaublütig. Und zur Abwechslung mal treu. (B) Hör mir mit Beziehungen auf! (E) ist die Natur. (F) Am meisten begehre ich … Ruhe. (F) Unabhängigkeit und Gerechtigkeit! (D) Treue. (B) Hmm … Ich brauche nicht viel, aber ich möchte das Fürchten lernen. (C) maßlose Macht. (E) Ein neues Haus wäre für’s Erste nicht schlecht. (A) So stelle ich mir ein perfektes Date vor: Ein romantisches Lagerfeuer. (C) Immobilien besichtigen. (A) Ein gemeinsamer Ausritt. (D) Eine Partnermassage. (B) Wie ich schon sagte: Hör mir mit Beziehungen auf! (E) Ein Waldspaziergang mit anschließendem Picknick. (F)

Dieses Zitat könnte von mir stammen: Der alte Sturm, die alte Müh’! Doch stand muss ich hier halten! (A) Nicht wertlos sei er, der mich gewinnt. (D) Gewänn ich nicht Liebe – doch listig erzwäng’ ich mir Lust! (E) Wie ich froh bin, dass ich frei ward, nichts mich ­b indet und zwingt! (C) Alles, was ist, endet. (F) Um des Gatten Treue besorgt, muss traurig ich wohl sinnen, wie an mich er zu fesseln, zieht’s in die Ferne ihn fort. (B) Zählen Sie, welchen Buchstaben Sie am häufigsten angekreuzt ­haben. Rechts unten finden Sie ­umgedreht die Auflösung.


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Ihr persönliches Testergebnis

Wotan Sie sind eine Führungspersönlichkeit. Macht und Unabhängigkeit sind w ­ ichtig für Sie. Sie legen großen Wert auf Mate­ rielles und Statussymbole. Oft sind diese Ihnen jedoch so wichtig, dass Sie sich darüber in ungünstige Situationen manö­ vrieren. Dann gehen Sie auch schon mal über Leichen. Auch mit der Treue nehmen Sie es nicht so genau.

Fricka

Siegfried

Sie sind ein Familienmensch! Glücklich sind Sie nur an der Seite Ihres Partners, der sich Ihre gehobenen Ansprüche natür­lich leisten können muss – billig sind Sie nämlich nicht zu haben. Treue und Verlässlichkeit stehen für Sie an erster Stelle. Doch wehe, Ihr Partner hintergeht Sie – dann ist Ihre Eifersucht nicht zu zügeln.

Brünnhilde

Alberich

Sie sind eine echte Kämpferin. Als starke Persönlichkeit setzen Sie Ihre Fähig­keiten gerne zum Wohle anderer ein. Um Ihre Ideale durchzusetzen, ecken Sie auch mal bei Autoritäten an. Ihr Partner muss min­ destens auf Augenhöhe und Ihnen kör­ perlich gewachsen sein sowie Ihre hehren Ideale teilen. Mit Jasagern und Oppor­ tunisten können Sie nur wenig anfangen.

Psychologisch sind Sie ein schwieriger Fall: Nach außen geben Sie gern den Bad Boy mit einer ausgeprägten Vorliebe für glänzende Schätze. Bekommen Sie einmal nicht, was Sie wollen, schrecken Sie nicht vor der Manipulation Ihrer engsten Ange­hörigen zurück. Innerlich sehnen Sie sich aber doch nach einem l­ iebenden Partner, der Sie mit einer wärmenden ­Umarmung das kalte Gold vergessen lässt.

Sie sind ein richtiger Naturbursche. Sie lieben es an der frischen Luft zu sein und sind ein recht unbesorgter Mensch. Manchmal erscheint Ihnen das Leben so schön und die Welt so heil, dass Sie sich nach Abenteuern sehnen. Sie möch­ ten auch mal erfahren, wie richtige Angst oder leidenschaftliche Liebe sich an­ fühlen. Dafür ziehen Sie auch gerne in den Kampf.

Erda Sie sind der geheimnisvolle Typ. Mit Ihrem Ur-Wissen beeindrucken Sie Ihre Mitmenschen, die Sie gern zu Vergangen­ heit, Gegenwart und Zukunft ­be­fragen. Manchmal würden Sie aber auch gern einfach Ihre Ruhe haben. Erdverbunden­ heit ist Ihnen sehr wichtig, denn nur im Einklang mit der Natur können Sie existieren.

(A) Wotan (B) Fricka (C) Siegfried (D) Brünnhilde (E) Alberich (F) Erda


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DR E IKL ANG #02

Herein­ spaziert!

Mezzosopranistin Sandra M ­ axheimer und ihre außergewöhnliche Kindheit in einer Zirkusfamilie T E XT: N E LE W IN T E R


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Kindheitstraum in der Manege Viele von uns haben schon einmal davon geträumt, wie es wohl wäre in einer Zirkus­familie aufzuwachsen, jeden Tag exotische Tiere um sich zu haben und in der ganzen Welt zuhause zu sein. Auch die junge Anna in Paul Burkhards »Das Feuerwerk«, das im April an der Musikalischen Komödie Premiere feiert, träumt davon, sich aus der Enge ihrer spießbürgerlichen Familie zu ­befreien und sich dem Zirkus ihres Onkels, des Zirkusdirektors Obolski, anzuschließen. Was für Anna ein Traum bleibt, war für Sandra Maxheimer lange Realität. Die Mezzosopranistin aus dem Ensemble der Oper Leipzig wurde in eine Zirkusfamilie ­hineingeboren und verbrachte die ersten Jahre ihres Lebens als Teil der schillernden Welt des renommierten Staatszirkus der ddr. Sandra Maxheimers Vater Bernd M ­ axheimer war 1976 bis 1985 Direktor des Zirkus Busch, der einer der drei Teilbetriebe des Staatszirkus war. Ihre Mutter ist die Vertikaltuchartistin Doris ­Maxheimer, die bis heute aktiv ist. Die Sängerin beschreibt das Leben im Zirkus mit leuchtenden Augen: »Es war wie ein gro­ ßer Spielplatz, die Natur meist vor der Tür und man hatte neben den Kindern und den vielen Tieren wie den Elefanten, Pferden, Tigern, Eisbären etc. immer jemanden, der für einen da war. Der Zusammenhalt untereinander war das Wichtigste. Alle saßen abends nach den Vorstellungen zusammen: eine große, aus vielen Natio­nalitäten bestehende Gemeinschaft und Familie. Man wurde dadurch und durch die Reisen weltoffen und neugierig auf andere Kulturen und Menschen erzogen. Ich trainierte spiele­ risch hinter den Kulissen mit und kann heute noch ein paar Tricks am Vertikaltuch. Meine Eltern ließen mir die Freiheit, mich erst später bewusst für ein Leben als Artistin zu entscheiden. Die Liebe zur Musik war dann aber doch stärker.« Die Bedingungen für Familien waren hervorragend. Jeder Zirkus hatte einen Kindergarten und eine Schule bis zur vierten Klasse. Der Staatszirkus stellte den Artisten außerdem Wohn­wagen sowie Ausrüstung und Kostüme zur Ver­fügung. Im Klub­wagen, der auch ein beliebter Treffpunkt zum gemeinsamen Reden, Spielen oder Musizieren war, gab es einen Kantinenbetrieb: Frühstück, Mittag- und Abendessen kosteten zusammen drei Mark pro Tag. »Den Koch nannten wir übrigens immer ›Seele‹, weil er die gute Seele war«, erzählt Sandra Maxheimer.

Reisen um die Welt Der Zirkus Busch war nicht nur innerhalb der ddr unterwegs, sondern tourte u. a. auch durch Japan, die Ukraine, ­Georgien, ­Rumänien, Kasachstan, Usbekistan, ­Tadschikistan und Turkmenistan. »In vielen Städten waren wir die ersten Ausländer, die dort über­ haupt gesehen wurden. Und mit unseren Autos und Wohn­wagen wirkten wir auf die dortige Bevölkerung, als ob wir aus dem Westen kämen. Gestartet sind wir in der Ukraine, was dann aber zu einem Debakel wurde. Nicht wegen der Besucher. Die Vor­ stellungen waren gut besucht, der Applaus herzlich. Aber die Kinder bewarfen uns und unsere Wagen mit Steinen. Immer wieder. Durch die vielen Kriegsfilme ­waren die Kinder gegen jeden, der deutsch war. Und die Polizei unternahm nichts gegen die Steinewerfer. Wir haben nicht gewusst, was nachts nach der Vorstellung passiert und haben deshalb mit Knüppeln im ­Wagen geschlafen. Es wurde aber so schlimm, dass wir letztlich die Tournee mit Einverständnis unserer Botschaft abgebrochen haben und nach Georgien weitergezogen sind«, sagte Bernd ­Maxheimer in einem Interview mit dem mdr von 2010. Sandra Maxheimer ergänzt heute die Aussage ihres Vaters und erklärt, dass es sich bei diesem negativen Erlebnis um einen

Nac h g e f r ag t

Muss Violetta schwindsüchtig sein? L IE B E B ES UCH E R ,

die Diskussion um das »Body Shaming« begegnet uns leider nur allzu oft auch im Kontext der Oper. Menschen werden auf Grund ihrer Körperlichkeit in den ­sogenannten sozialen Medien auf übelste Art und Weise diskreditiert und beleidigt. Die Frage beispielsweise, ob eine ­Violetta in »La Traviata« schwindsüchtig sein muss, verkennt die spezifischen emotio­ nalen Wirkungsmechanismen des Genres Oper, die per se die Gesetz­mäßigkeiten der Wahrscheinlichkeit unterlaufen. Kein Mensch würde im realen Leben singend mit einem anderen Menschen kommuni­ zieren. Insofern setzt die Oper an sich ­bereits ein gewisses Abstraktionsvermögen voraus. Umgekehrt kommt durch die emotionale Kraft des singenden Menschen, der durch die Kraft der Musik unmittel­bar auf unsere Seele wirkt, eine h ­ öhere Wirklichkeit ins Spiel, die uns das ­Geschehen auf der Bühne mitfühlen und daher eben auch glaubwürdiger erschei­ nen lässt. Es geht also nach meinem Emp­ finden in der Oper weniger um einen direkten Naturalismus wie im Medium Film – wobei man auch hier den körper­ lichen Perfektionswahn durchaus in Frage stellen kann – als vielmehr um jene emotionale Authentizität, die durch das Zusammenwirken von Stimme und Szene entsteht. Die Oper lehrt uns, dass eine ­authentische Ausstrahlung nichts mit Körpermaßen zu tun hat, sondern mit einer positiven Haltung zur Körperlich­ keit des Menschen. IH R CH R IS T IA N G E LT IN GER

N E UG IE R IG ?

Was wollten Sie schon immer mal von uns wissen? Senden Sie uns Ihre Fragen an dreiklang@oper-leipzig.de


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DR E IKL ANG #02

Es war wie ein ­großer Spielplatz.

Zirkuskinder

Einzelfall gehandelt hatte. Generell wurde der Zirkus überall freundlich aufgenommen. »Während unseres einjährigen Gast­ spiels in Japan lernte ich sogar Japanisch, weil ich viel mit den einheimischen Kindern spielte. Alle waren sehr gastfreundlich und wir bekamen oft Geschenke. Zwischen den zahlreichen Vor­ stellungen gab es noch Zeit, die örtlichen Sehenswürdigkeiten mit unserem Lehrer anzuschauen. Die beste Schule war ohnehin der direkte Kontakt mit den fremden Kulturen, den Menschen. Was andere Kinder in Geschichts- oder Erdkundebüchern lern­ ten, konnten wir direkt vor Ort mit allen Sinnen erleben.« Auch mit dem Westen und den westdeutschen Zirkussen gab es Kontakt und Austausch. So konnten herausragende Artisten wie Sandra Maxheimers Mutter u. a. nach Westdeutschland, aber auch nach Ägypten oder Schweden reisen und dort ­auftreten. Dass Doris Maxheimer zum Reisekader gehörte, obwohl ihre Eltern das Land illegal verlassen hatten, sie nicht in der fdj ­gewesen war und Annäherungsversuche der Stasi zurückgewiesen hatte, war wohl ihrem großem Talent zu verdanken. Heute weiß Sandra Maxheimer, dass die Mitarbeiter des Zirkus wie die anderen Bürgerinnen und Bürger der ddr überwacht wurden, auch um eine Flucht in den Westen zu verhindern: »Als Kind habe ich das natürlich noch nicht so bewusst mitbekommen, aber meine Eltern sagten ab und zu, dass man aufpassen müsse, da der ›Busch‹-Funk sehr aktiv sei, was eine spätere Einsicht in unsere Stasi-Akte leider bestätigte.« Dennoch kann dies das positive Bild, das Sandra Maxheimer von ihrer Zirkuskindheit hat, nicht trüben. Zu keinem Moment hätte sie mit »normalen« Kindern tauschen wollen und hatte nie Sehnsucht nach einem festen Wohnort. »Im Winter hatten wir zwar unsere schöne, große Altbauwohnung in Berlin, die nur 90 Mark Miete pro Monat kostete. Aber als ich dann zum ersten Mal dauerhaft eine Wohnung in ­München bezog, fühlte sich das erst ein­ mal seltsam, einengend und sehr ano­ nym an. Im Zirkus gab es dieses besondere Zusammengehörigkeitsgefühl, das ich immer sehr geschätzt habe und das ich auch im Theater wiederfinde.«

Kindergeburtstag im Klubwagen

Sandra und Doris Maxheimer in Kirgisistan

Im Zirkus gab es ­dieses ­besondere ­Zusammen­­gehörig­keitsgefühl.


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Freiheit, ­Unvernunft und die große weite Welt Der Zirkus im »Feuerwerk«

E xp l o s i ves Fam i l i e n tr effen

Das Feuerwerk Paul Burkhard L E IT U N G

In Paul Burkhards Musikalischer Ko­mödie »Das Feuerwerk« spielt der ­Zirkus eine zentrale Rolle. Er dient als abstrakter Sehnsuchtsort, der die ­eingeengte bürgerliche Welt, in der die junge Anna aufwächst, kontrastiert. Er steht für Freiheit, Unvernunft und die große weite Welt. Das Stück hatte 1950 seine Uraufführung und wurde von Burkhard zeitlich um die Jahr­ hundertwende angesiedelt. Er emp­ fiehlt ausdrücklich, »Das Feuerwerk« an dem Ort spielen zu lassen, an dem es aufgeführt wird. Deshalb e­ ntschied sich der Regisseur Axel Köhler, der das Stück an der M ­ usikalischen Ko­mö­die inszeniert, das Stück in L ­ eipzig spielen zu lassen. Er weicht allerdings von der zeitlichen Vorgabe ab und veror­ tet die Handlung in den Achtziger­ jahren kurz vor der Wende. In seiner Interpretation ist der Zirkusdirektor Obolski als junger Mann in den Westen geflohen und kommt nun zum Gebur­tstag des Bruders zu Besuch.

Axel Köhler, der selbst in der ddr aufgewachsen ist, reizt an dieser Les­ art die noch stärkere Diskre­panz zwischen der Enge, die das Mädchen Anna in ihrer Welt erlebt, und der Verheißung der großen weiten Welt, die sie in dem »Westonkel« sieht. Gleichzeitig sehnt sich Iduna, die Frau von Obolski, nach der Stabilität und dem Zusammenhalt, die sie bei der bürgerlichen Familie ihres Schwa­ gers zu erkennen vermeint. Beide haben ein Bild von der anderen Welt, das wahrscheinlich nur zum Teil der Realität entspricht. Köhler möchte hier also nicht die Parteien gegenein­ ander ausspielen und aufzeigen, wel­ che Welt die bessere ist, sondern vor allem die Sehnsüchte und Träume der Figuren thematisieren. Kindheits­ träume werden dann jedenfalls auch für Erwachsene wahr, wenn im zwei­ ten Akt die große Zirkusshow losgeht und das »Feuerwerk« zündet.

Musikalische Leitung Tobias Engeli Inszenierung Axel Köhler Bühne, Kostüme Okarina Peter / Timo Dentler Choreografie Mirko Mahr Dramaturgie Nele Winter B ES E TZ UN G

Der Vater Michael Raschle Die Mutter Angela Mehling Anna, die Tochter Nora Lentner Die Köchin Sabine Töpfer Onkel Fritz Milko Milev Tante Berta Carolin Masur Onkel Gustav Radoslaw Rydlewski Tante Paula Anne-Kathrin Fischer Onkel Heinrich Andreas Rainer Tante Lisa Dagmar Zeromska Alexander Obolski Hinrich Horn Iduna, seine Frau Mirjam Neururer Robert, ein junger Gärtner ­ Justus Seeger Ballett und Orchester der Musikalischen Komödie PR E M IE R E

13. Apr. 2019, Musikalische Komödie AUF F Ü H R U N GEN

14., 16., 19., 27., 28. & 30. Apr. / 21. Jun. 2019 Sc ho n g e wu sst ?

W E R K S TAT T

09. Apr. 2019, 18:00 In 30 Jahren zählte der Staatszirkus insgesamt 60 Millionen Besucher und war damit der­ ­publikumswirksamste Teil des Kulturbetriebs der ddr.


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DR E IKL ANG #02

Z U GABE

Ein Blick

in die Werkstätten: In dieser Ausgabe besuchen wir die Schuhmacherei und verfolgen, wie Steffen Fels, Leiter der ­S chuhmacherei, und seine ­M itarbeiter Uta-Sarah Sproete, Antje Steiner und Jörg Knüpfer Schuhe nach Maß anfertigen.


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Jeder Sänger- und Tänzer­ fuß wird zunächst genau ver­messen. Dabei ent­ steht ein Fußumriss, von dem die Maße auf ein Papiermodell über­tragen werden.

An einem maß­ ange­fertigten Paar ­Schuhen arbeite ich je nach Modell bis zu zwei Tage.

Je nach Maß und Modell wird der passende L ­ eisten ausgesucht, an den die ­sogenannte Brandsohle aus Leder oder Leder­ersatz ­angepasst wird. Diese wird passgenau zugeschnitten und mit Täcksen, also sehr ­kleinen Nägeln, an den ­Leisten geheftet.

Mit der Karussellpresse ­erhält die Brandsohle durch Luftdruck ihre typische Wölbung. Im Fachjargon nennt man das Absatz­ sprengung. Damit die Sohle auch in Form bleibt, wird sie ­vorher nass gemacht.


52 Auch für die Herstellung der Schuhschäfte wird zunächst das Papiermodell auf das Leder übertragen. Die so entstehenden Einzel­ teile werden ausgeschnitten, verklebt und anschließend mit der Nähmaschine zusam­mengenäht.

Es geht nichts Über ­echtes Leder, das ­atmen kann.

Antje Steiner

Bevor der Schaft auf den Leisten gezogen werden kann, fehlt allerdings noch ein wichtiges Element: die hintere Kappe aus Leder, die zwischen Innenfutter und Oberleder eingeklebt wird und dem Schuh Sta­bi­lität verleiht.


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Nun kommt der ent­ scheidende Schritt: Der Schaft wird über den Leisten gelegt und mit einer Zwick­ zange »übergeholt«. Anschließend wird alles gut mit Täcksen und Kleber befestigt.

Wenn der Schuh drückt, kann ­keiner gut singen oder tanzen. Deshalb a­ chten wir auf jedes Detail.

Um dem Schuh noch mehr Halt zu geben, wird ­zwischen dem Innen­ futter und dem Oberleder aus Stoffresten noch die vordere Kappe eingeklebt und ein Stahlgelenk an der Brandsohle befestigt – das verhindert, dass sich der Schuh später in der Mitte durchdrückt.

Nun müssen noch die Laufsohlen ­ausgeschnitten und der Absatz aus­ gestanzt und angeklebt wer­den. Fehlt nur noch das »Ausleisten«, dem man sich auch mal mit vollem Körpereinsatz widmen muss. Zum Abschluss wird noch die Decksohle für den Tragekomfort eingelegt.


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DR E IKL ANG #02

Von ­böhmischen Dörfern Zwischen Kleinbürgeridylle und Rückzugsort TEXT: CH R I S TI A N GELTI N G E R KOSTÜMEN TWÜRFE: SA RAH MI T T E N BÜ H LE R


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Die böhmische ­Volksseele pulsiert in den ­feurigen, von Lebenskraft ­strotzenden ­Polkas und Furiants … Sprichwörtlich existieren sie noch heute, die soge­ nannten »böhmischen Dörfer« in the middle of ­nowhere, irgendwo in den Tiefen des Böhmerwaldes, wo Leoš Janáčeks schlaues Füchslein dem Wilderer ­Háraschta »gute Nacht« sagt, wo Baba Jaga mit ihrem mobilen Hühnerbeinhexenhaus den Menschen nachstellt oder die legendäre Verfilmung von Bozˇ ena Ně mzovás »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« eine märchenhafte Kulisse fand. Ein Grund für die beson­ dere Aura dieser Gegend ist sicherlich die topogra­ fische Beschaffenheit jenes Landstrichs im heutigen Tschechien, eine ca. 120 km lange, dicht bewaldete Bergkette, die auch als Schauplatz für Carl Maria von Webers Oper »Der Freischütz« diente, für viele der musikalische Inbegriff des Sehnsuchtsorts »deutscher« Wald. Obwohl ein realer Ort, ist es doch eine Art von Niemandsland, jene Gegend, die nach dem Schlager­ sänger Peter Alexander in der vermeintlich guten ­alten Zeit »mal bei Öst’rreich war« und in der die Musik beheimatet zu sein scheint: »Aus Böhmen kommt die Musik.« Es gibt wohl wenige Landstriche, die so stark mit ­Klischees, Traditionen, Märchen und Sagen verbunden sind und vielleicht gerade deshalb im kollektiven Gedächtnis immer auch einen Hauch von Nostalgie wachrufen. Umso mehr stellt sich die Frage nach der Identität dieses Fleckchens Erde, das lange Zeit in der geopolitischen Landschaft eine Zwitterstellung ein­ nahm. Vereinfacht gefragt: Gibt es so etwas wie die böhmische Seele? Die wechselhafte Geschichte der Böhmen und in der historischen Konsequenz deren Trauma reicht zu­ rück bis ins Hochmittelalter. Ottokar i. begründete im Jahre 1198 die Erbmonarchie mit der Dynastie der sogenannten Př emysliden. Ihren Herrschaftsanspruch begründeten sie in ihrer Herkunft von der mythi­ schen Stammmutter Libuše. Im Laufe der Jahrhun­ derte wurde Böhmen immer wieder zum Spielball der Mächte Europas. In der Schlacht am Weißen Berg im Jahre 1620 – für viele Tschechen bis heute ein schicksalhaftes Datum – besiegten die Habsburger die böhmischen Truppen, sodass Kaiser ­Ferdinand ii. seinen Anspruch auf die Krone durchsetzen konnte. Es begann eine Zeit starker Repressionen. Mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs im Jahre 1806 wurde Böhmen endgültig Teil der Habsburger­monarchie.

Als der junge Bedř ich Smetana die Stadt Prag betrat, hatten die Böhmen bereits die schlimmsten Jahre der Habsburger-Herrschaft hinter sich – die Zeit des Kanz­lers Metternich und die Schmach der letzten Krö­ nung eines österreichischen Kaisers zum böhmischen König. Es war nicht nur eine Zeit des politischen »Tauwetters«, es zeichneten sich zunehmend auch Emanzipationsbestrebungen ab. Ziel war die »Tsche­ chisierung« aller Lebensbereiche: Man muss sich vor­ stellen, dass die offizielle Sprache in Ämtern, Schulen und Universitäten Deutsch war, was einen großen Teil der Bevölkerung von der Teilhabe am öffentlichen ­Leben ausschloss. Die Sprache war nicht nur Teil der kollektiven Identität, sie war auch ein Kriterium sozialer Differenzierung: In den Städten sprach man überwiegend Deutsch, auf dem Lande Böhmisch, was synonym für Tschechisch verwendet wurde. Insbesondere im Bereich der Kunst, der Literatur und der Musik formierte sich allmählich ein neues Selbstbewusstsein der Tschechen innerhalb Böh­ mens. Natürlich gehörte dazu auch die Begründung eines Nationaltheaters und einer eigenständigen Operntradition. Werke wie Smetanas Oper »Libuše« zeigen eine deutliche Rückbesinnung auf alte mythische Narrative. Zugleich schuf Smetana, der noch wenige Jahre zuvor von seinen Landsleuten dafür kritisiert wurde, er sei ein Wagnerianer, mit seiner Oper »Die verkaufte Braut« in den Augen vieler die erste tschechische Nationaloper. Ironie des Schick­ sals: Bedř ich (oder sollte man lieber Friedrich sagen?) Smetana war kein tschechischer Muttersprachler, sodass das tschechische Original an der einen oder anderen Stelle etwas holpert. Ins Zentrum seiner »Verkauften Braut« stellt S­ metana nicht einen bedeutenden Nationalmythos, sondern das Leben der einfachen Leute eines jener namen­­lo­sen böhmischen Dörfer. Der Mikrokosmos Dorf in ­Smetanas Oper ist gleichsam eine Parabel auf das Schicksal der Böhmen und deren Bedürfnis nach Emanzipation. Man darf nicht vergessen, dass die höhere Beamtenschaft und der Adel überwiegend deutschen Ursprungs war, die Dorfbourgeoisie und das Kleinbürgertum dagegen mehrheitlich aus ­Tschechen bestand. An Smetanas Oper wird zugleich deutlich, dass Sprache, Musik, Tracht und Brauch­ tum ganz elementare Ausdrucksformen von kollek­ tiver Identität sind. In ihr »ist die böhmische Volks­ seele lebendig geworden. Sie pulsiert in den feurigen, von Lebenskraft strotzenden Polkas und Furiants, in der Musikseligkeit der lyrischen, elegischen oder humoristischen Partien«, so Wilhelm Weismann in seinem Vorwort zum bei Peters erschienenen Klavierauszug. Der Begriff »Volksseele« markiert aber auch j­ enes schwer zu definierende kollektive Gefühl von ­Zusammengehörigkeit jedweder Gemeinschaft, das schnell Gefahr läuft, ins Gegenteil umzukippen, nämlich in Aus- und Abgrenzung. Dass die mit Stolz getragene Tracht auch die Enge eines Korsetts oder den Schutz eines Panzers ausstrahlen kann, ist nicht selten die Kehrseite jener dörflichen Idylle, deren soziale Dynamik uns Smetana auf augenzwinkernde Art und Weise vor Augen führt.


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DR E IKL ANG #02

We r bi e te t m e h r ?

Die verkaufte Braut Bedř ich Smetana L E IT UN G

44 % der ­Menschen in Deutschland können sich ein Leben auf dem Land vorstellen.

Schon gewus s t ?

Der Name S ­ metana ­bezeichnet im ­Tschechischen wörtlich übersetzt eine Milch mit hohem Fettanteil, also Sahne bzw. Rahm.

Und wie sieht die Situation auf dem Dorf heute aus? Selbstredend herrschen auf dem Lande nach wie vor andere Gesetze des Zusammenlebens als in der Stadt, laufen die Uhren sprichwörtlich noch etwas anders. Das Dorf strahlt die Nestwärme eines dampfenden Misthaufens ebenso aus wie die Enge eines Plumps­ klos. Die Dorfgemeinschaft kann Fluch und Segen gleichermaßen sein, abgeschiedene Wohlfühloase für alle, die vor dem Trubel der geschäftigen Welt die ­Geborgenheit einer Gruppe suchen und Bastion gegen jegliche Form von Fremdheit, ­Andersartigkeit und Veränderung. Der berühmte Jägerzaun ist ein »land­ läufiges« Symbol für die spießbürgerliche Idylle ­geworden. Nichtsdestotrotz ist in den Dörfern mehr los als man vielleicht denkt. Trotz der allenthalben proklamierten Landflucht ist das Leben auf dem Dorfe für viele attraktiver als man denkt. 44 % der Menschen in Deutschland können sich ein Leben auf dem Land vorstellen. Junge Startup-­Unternehmen und Kreativ-­ Think-Tanks treibt es wieder in die Ruhe der Dörfer, wo Wohn- und Arbeitsraum noch bezahlbar sind und man buchstäblich Luft zum ­Atmen hat. Schließlich sind dort, wo die Möglichkeiten scheinbar einge­ schränkt sind, Menschen gezwungen, selbst aktiv zu werden und ihr Zusammenleben zu gestalten.

Musikalische Leitung ­ Christoph Gedschold Inszenierung Christian von Götz Bühne Dieter Richter Kostüme Sarah Mittenbühler Choreinstudierung Alexander Stessin Dramaturgie Christian Geltinger B ES E TZ UN G

Kruschina Franz Xaver Schlecht Kathinka Sandra Maxheimer Marie Magdalena ­ Hinterdobler / Olena Tokar Micha Jean-Baptiste Mouret Wenzel Sven Hjörleifsson / Dan Karlström Hans Patrick Vogel Kezal Sebastian Pilgrim Agnes Sandra Janke Esmeralda Bianca Tognocchi Theaterdirektor Martin Petzold Chor der Oper Leipzig Gewandhausorchester PR E M IE R E

15. Jun. 2019, Opernhaus AUF F Ü H R U N G E N

23. & 30. Jun. 2019 alle Vorstellungen mit ­Einführung 45 Min. vor Vorstellungsbeginn W E R K S TAT T

06. Jun. 2019, 18:00 KA N T IN E N G ES PR ÄCH

23. Jun. 2019 im Anschluss an die Vorstellung


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Das Leben auf dem Lande bringt es mit sich, dass meine Frau, Das Landleben birgt enorme Qualitäten in sich. Eine der wichtigsten meine erwachsenen Kinder und ich heute insgesamt drei Autos ist angesichts des heutigen Wohnungsmarkts sicherlich der Fak­ haben. Als die Kinder noch klein waren, musste man sie überall tor Lebensraum. Die Grundstückspreise auf dem Land sind viel mit dem Auto hinbringen, in die Schule, den Kindergarten, die es niedriger und man stößt immer wieder auf interessante exotische nur in den nächstgrößeren Orten gab, zu Sportveranstaltungen Objekte wie alte Mühlen, stillgelegte Bahnhöfe oder Schulen, die oder Freunden. Ich kann mich erinnern, dass ich als Jugend­licher günstig zu erwerben sind. Das Wohnen ist also viel individueller. mit 15 Jahren zum Gesangsunterricht nach Kiel gefahren bin, im Oft wohnen sogar noch heute mehrere Generationen unter einem Winter mit dem Zug, im Sommer mit dem Moped. Die komplette Dach. Ich lebe auf einem Bauernhof und pflege mit meinem Kom­ Infrastruktur ist also deutlich eingeschränkt und man ist viel mehr pagnion eine Gartenfläche von 15.000 Quadratmetern, ­weitere auf das Auto angewiesen. Wenn ich längere Zeit für Proben in 85 Hektar werden bewirtschaftet. Das bedeutet Freiheit, Weite, ge­ Leipzig bin, kann ich bequem mit dem Fahrrad zur Oper fahren sunde Luft, das Gefühl von Unabhängigkeit, das bedeutet aber auch oder ich nehme bei schlechtem ­Wetter die Straßenbahn. Natür­ Verantwortung. Eigentum verpflichtet. Man muss gemäß der Ver­lich hat die mangelnde Infrastruktur auch erhebliche Konsequen­ kehrssicherungspflicht Bäume und Hecken zuschneiden, im Herbst zen auf den Arbeitsmarkt. Insbesondere in das Laub harken und im Winter Schnee Spezialberufen ist es s­ chwierig, eine Stelle schippen. Das Schöne dabei ist, dass solche vor Ort auf dem Land zu finden. Leerstände Aktionen oft zu einer Art Event werden. und Überalterung der ländlichen Bevölke­ Die ganze Familie kommt bei größeren rung sind die Konsequenzen. Umgekehrt Arbeiten zusammen und packt mit an. Ich gibt es mittlerweile den Trend, dass Men­ glaube, dass vor allen Dingen das Sozial­ schen w ­ ieder aufs Land ziehen, weil die verhalten meiner Kinder davon enorm pro­Mieten in der Stadt nicht mehr bezahlbar fitiert hat. Kinder lernen Verantwortung sind. Das Leben im Alter stelle ich mir je­ zu übernehmen, die Ärmel hochzukrem­ doch auf dem Land nicht gerade einfach peln und anzupacken. Das hilft ihnen im vor, insbesondere wenn man nicht mehr späteren Leben in jedem Fall, nicht nur in ­mobil ist. Da wird jeder Einkauf zu einem praktischen Berufen. Kinder lieben es na­ Großevent, Arztbesuche werden zu einer türlich auch, Tiere zu haben. Wir haben bei­mittleren Weltreise. Für Menschen, die Tenor Thomas Mohr spielsweise Hunde, einen Esel und eine mitten im Leben stehen, bietet das Stadt­ über Vor- und Nachteile Ziege. Überhaupt ist das Leben auf dem leben auf den ersten Blick deutlich mehr des Landlebens Lande deutlich sozialer. Man grüßt sich, Möglichkeiten. Die kulturellen Angebote fühlt sich füreinander verantwortlich, hilft sind zahlreicher und vielfältiger. Es gibt­ sich gegenseitig. Man kennt sich eben. unterschiedlichste Möglichkeiten der Fort- und Weiterbildung. Die Menschen engagieren sich und organisieren ihr Zusammen­ Darüber hinaus ist man in Sachen Freizeitaktivitäten oder Verab­ leben in Vereinen wie der Freiwilligen Feuerwehr. Und sie verste­ redungen mit Freunden deutlich flexibler und spontaner, wobei hen es zu feiern. Jeder Ort hat sein eigenes Dorffest. Für mich ist das immer auch von der Größe der Stadt abhängt. Wer die Ano­ es ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass man für eine gewisse nymität liebt, der ist ebenfalls in der Stadt gut aufgehoben. Auf Zeit auch mal autark leben könnte. Insofern ist die Tätigkeit als dem Land geht die allgemeine Fürsorgepflicht für den Nachbarn Landwirt ein enormer Ausgleich zu meinem unsteten Leben als manchmal ein wenig zu weit. Ich wehre mich gegen die Auffas­ Sänger. Ich ziehe sehr viel positive Energie aus dem Landleben, sung, dass Kinder, die in der Stadt aufwachsen, Vorteile hätten, insbesondere aus der Ruhe der Natur, sodass ich mir immer, wenn weil sie scheinbar stärker am aktuellen Zeitgeschehen partizipie­ ich für einen längeren Zeitraum beruflich in anderen Städten sein ren würden. Sie wachsen sicherlich anders auf, mit mehr Impul­ muss, Fleckchen aussuche, an denen man schnell im Grünen ist. sen und Einflüssen, müssen lernen, sich schneller zu orientieren. Die Outdoor-Aktivitäten auf dem Land sind einfach einzigartig. Bei meinem ersten Opernbesuch in Hamburg war ich beispiels­ Du kannst stundenlang über die Felder gehen und es begegnet dir weise schon achtzehn Jahre alt und ein absolutes Landei. Nichts­ keine Menschenseele. Außerdem ist das Verkehrsnetz auf dem Lande destotrotz sind wir Land­menschen manchmal etwas zupackender besser als sein Ruf. Manchmal ist man mit dem Zug schneller als und praktischer veran­lagt, haben gelernt, direkt auf andere zuzu­ andere mit dem Auto, insbesondere wenn man in den sogenann­ gehen, das kommt einem dann umgekehrt wieder zugute. Sie mer­ ten »Speckgürteln« lebt. Und wir haben in unserem kleinen Ort ken also vielleicht, in welche Richtung meine Präferenz geht … bereits ein komplett ausgebautes Glasfasernetz. Manchmal gehen die Dinge auf dem Land eben schneller voran, als man denkt, möglicherweise weil die Menschen mehr und unmittelbarer mit­ einander reden. Ich würde also keinesfalls tauschen wollen!

Durch die ­Wälder, durch die Auen …

ZU R P E RSON

Thomas Mohr ist Sänger und verwaltet einen Bauernhof. Er lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Neumünster, wo er neben seinen Tätigkeiten als Sänger und Gesangsprofessor aktiv eine Landwirtschaft betreibt, manchmal auch selbst, wenn es Zeit gibt. Er ist regelmäßiger Gast an der Oper Leipzig mit Partien wie Max in »Der Freischütz«, Loge in »Das Rheingold« und Siegfried in »Siegfried« und »Götterdämmerung«. Seine beiden Leidenschaften verbindet er mit den Kleinkummerfelder Kuhstallkonzerten, die er seit 1996 regelmäßig auf dem Hof Isemohr veranstaltet: www.kuhstallkonzerte.de


Karneval in Paris Madame Pompadour und die Macht der Maske T E XT: E L ISA B E T H KÜH N E

»Laridi, laridon, s’ ist Karneval, s’ steht ­Fasching im Kalender.« Mit diesen ver­ gnügten Versen auf den Lippen und gleich vier schönen Frauen im Arm betritt René die Bühne von Leo Falls Operette »­Madame Pompadour«. K ­ arneval herrscht also in Paris. Der Duft von Abenteuer liegt in der Luft, Maskierung und Verklei­ dung versprechen ein reizvolles Spiel mit der Anonymität, es regieren Ausge­ lassenheit und Freizügigkeit. Doch nicht nur René ist im »Musenstall«, einer für ihre Lustbarkeiten berühmt-­berüchtigten Wirtschaft, auf Liebesabenteuer aus. Auch Madame Pompadour, Mätresse des fran­zösischen Königs Ludwig xv., hat sich heimlich vom steifen Maskenfest bei Hofe fortgeschlichen und sucht inkog­nito ihr Amüsement im karnevalesken Treiben des Volkes. Der Reiz des Karnevals, der Masken und Vermummung, der Ausschweifungen und Laster – er ist Jahrhunderte alt und fasziniert die Menschen doch bis heute.

Vorläufer des Festes finden sich schon vor 5000 Jahren in Mesopotamien. Eine ­altbabylonische Inschrift überliefert uns die Darstellung eines siebentägigen ­Festes, in dem bereits ein Grundgedanke des Karnevals festgeschrieben ist, das Gleichheitsprinzip: »Die Sklavin ist der Herrin gleichgestellt und der Sklave an seines Herren Seite. Die Mächtige und der Niedere sind gleichgeachtet.« Auch die Römer feierten mit den sogenannten ­Saturnalien ein Fest, bei dem Herren und Diener zeitweise die Rollen tauschten, gemeinsam bei Tische saßen, aßen und tranken. Jeder konnte frei sprechen, ein Privileg, das mit dem unverblümten karnevalistischen Wort bis heute gepflegt wird. Der Ursprung der Fastnacht, wie wir sie kennen, liegt freilich im Christen­ tum, das die Zeit vor der vierzigtägigen Fastenzeit noch einmal ausgelassen feierte, bis der Spaß am Aschermittwoch endgül­ tig vorbei war. Die nicht fastentauglichen Speisen mussten rasch verzehrt werden,

was sich sogar in der Herkunft des Wortes »Karneval« aus dem Lateinischen »Carne vale«, also »Fleisch, lebe wohl«, wider­ spie­gelt. Das damit verbundene bunte Treiben nahm seinen Ausgang wohl aus­ gerechnet in den Kirchen. Vom 12. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts wurden dort Narrenfeste gefeiert. Kirchliche Rituale parodierte man in Narren- oder Eselsmessen, sogar ein Pseudobischof oder -papst wurde gekürt. Allmählich verlagerte sich das Geschehen aus den ­Kirchen in die Städte. Mit Prozessionen, Musik und Spottgedichten wurden auch die Bürger an den Festen beteiligt. Nicht selten versuchte man den Mum­ menschanz und die damit verbundenen ­Exzesse zu verbieten: So untersagte der Kölner S­ tadtrat schon 1487 ­jegliches »­Vermomben, ­Verstuppen und Ver­ machen«. Die Kirche selbst d ­ uldete die oftmals ausartende Fastnacht als eine Art didaktisches Spiel: Für eine gewisse Zeit beherrscht der Teufel die Welt, der mit


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der Umkehr zu Gott am Aschermittwoch jedoch besiegt wird. Fastnachtstreiben und die vorösterliche Fastenzeit g­ ehören im Mittelalter also zusammen – sie ste­ hen für die beiden den christlichen Glau­ ben bestimmenden Gegenwelten, das Reich Gottes und das seines Gegenspielers. Als die Reformation mit Luthers lako­ nischer Feststellung »Der Mensch darf jederzeit jegliche Speise essen« die vor­ österliche Fastenzeit in Frage stellte, gerie­ ten in den protestantischen Gebieten viele Bräuche in Vergessenheit. Im katho­ lischen Europa lebte der Karneval jedoch ungehindert fort. Doch weshalb entfaltet der Karneval bis heute eine ungebrochene Faszination? Was eint den Kölner Karnevalisten mit dem Maskenträger in Venedig und dem Samba­tänzer in Rio de Janeiro? Für viele Menschen bietet der Karneval die Chance, dem tristen Alltag zu entfliehen – und sei es auch nur für eine gewisse Zeit. Für ein paar Tage im Jahr darf man sich in jemand anderen verwandeln – eine Qua­ lität, die im Übrigen auch René in sei­ nem Auftrittslied zu schätzen weiß: »Der brave Bürger lebt in Frieden und sitzt das ganze Jahr zu Haus. Da plötzlich kommt sein Blut zu Sieden, dann geht er hin und tobt sich aus.« All die Gesetze, Verbote, Beschränkungen, die das gewöhnliche Leben bestimmen, werden für die Dauer der Fastnacht außer Kraft gesetzt. Es ist eben dieses subversive Element, das den Karneval einmalig macht: Jeder kann in jede Rolle schlüpfen, es gibt kein Oben und kein Unten. Plötzlich sind alle gleich und es entsteht ein Gefühl der Gemein­ schaft, wie es in der Welt außerhalb des Karnevals kaum möglich wäre. »Jegliche Distanz zwischen den Menschen wird aufgehoben. An ihre Stelle tritt eine be­ sondere Karnevals-Kategorie: der freie, intim-familiäre, zwischenmenschliche Kontakt. Die Menschen, sonst durch die unüberwind­lichen Schranken der Hierar­ chie getrennt, kommen auf dem öffent­ lichen Karnevalsplatz in familiäre Berüh­ rung miteinander«, bemerkt Michail M. Bachtin in seinem Buch »Literatur und Karneval«. In Zeiten der strengen hierarchischen Ordnung des 18. Jahrhunderts war dies eine einmalige Gelegenheit: Stand, Rang, Besitz – all das, was die Gesellschaft bestimmte, spielte durch die Maskerade des Karnevals keine Rolle mehr. Eine Chance, die am Fastnachtssonntag 1745 auch eine gewisse Jeanne-Antoinette Poisson ergriff. Verkleidet als Domino gelang es ihr, auf einem Maskenball in Versailles die Gunst Ludwig xv. zu gewinnen. Die ganze Nacht

soll die schöne Unbekannte mit dem als Eibe verkleideten König getanzt haben und sich anschließend mit ihm inkognito bei einem weiteren Maskenfest in ­Paris vergnügt haben. Umgehend erhob ­Ludwig xv. seine neue Geliebte in den Rang der »maîtresse en titre« und verlieh ihr den Titel Marquise de Pompadour. Als erste Bürgerliche – ihr Vater soll noch Kind eines armen Webers gewesen sein – wurde Madame Pompadour zur Mätresse des Königs von Frankreich. Im Gegensatz zu ihren adligen Vorgängerinnen war sich die Pompadour jedoch einer Tatsache bewusst: Schwieriger als an die Seite des Königs zu gelangen, war es dort auch zu bleiben. So setzte sie alles daran, nicht nur die Leidenschaft, sondern auch die Freundschaft und das Vertrauen Ludwigs xv. zu gewinnen. Dank ihres diploma­ tischen Geschicks stieg sie zur einfluss­ reichsten Persönlichkeit bei Hof auf – und blieb es, selbst nachdem das erotische Interesse des Königs erloschen war. Ihrem Geschmack und Kunstsinn verdankt sich zu einem großen Teil die Pracht Frank­ reichs: Sie schenkte dem Land den Élysée-­ Palast und den Place de la Concorde, die königliche Porzellan-Manufaktur und nicht zuletzt die »Frisur à la Pompadour«. Ihre Bauvorhaben und Kunstleidenschaft kosteten die Staatskasse Millionen. Als der ohnehin ruinierte Haushalt durch den Siebenjährigen Krieg mit England noch mehr belastet wurde, wuchs die Unzufriedenheit im Volk. Die Schuldige war schnell gefunden: Madame Pompadour galt mit ihrer Verschwendungslust als Inbe­ griff der moralisch verkommenen Monar­ chie. Und doch: Keine andere Mätresse sollte jene Machtfülle erreichen, wie sie Madame Pompadour dank ihrer Schön­ heit und vor allem ihres Verstandes inne hatte. Auch in Leo Falls Operette aus dem Jahr 1922 ist Madame ­Pompadour eine Frau, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt. Und deren Glück in der befreienden Atmosphäre des Karnevals seinen Ausgangspunkt nimmt.

L as s e n S i e s i c h ver fü hr en!

Madame Pompadour Leo Fall L E IT U N G

Musikalische Leitung Stefan Klingele Inszenierung Klaus Seiffert Bühne, Kostüme Tom Grasshof Choreografie Mirko Mahr Choreinstudierung Mathias Drechsler Dramaturgie Elisabeth Kühne B ES E TZ U NG

Die Marquise von Pompadour Lilli Wünscher Der König Milko Milev René Radoslaw Rydlewski / Adam Sanchez Madeleine Aneta Ručková Belotte Mirjam Neururer Joseph Calicot Jeffery Krueger / Andreas Rainer Maurepas Justus Seeger Collin / Prunier Hinrich Horn Chor, Ballett und Orchester der Musikalischen Komödie PR E M IE R E

01. Jun. 2019, Musikalische Komödie AUF F Ü H R U NG EN

02., 07., 08., 11., 22., 23. & 25. Jun. 2019 W E R K S TAT T

28. Mai 2019, 18:00 S c h o n g e w us s t?

Madame ­Pompadour war die einzige ­Mätresse, die jemals von Versailles aus zu Grabe getragen wurde.


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DR E IKL ANG #02


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Die Räume des Tanzes Die Vernetzung des Leipziger Balletts in der Stadt Leipzig und weltweit T E XT: N E L E W IN T E R


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DR E IKL ANG #02

»Dies sind die vielfältigen Orte für die ­Geburt des Tanzes, und natürlich gibt es nicht den ­ursprünglichen Tanz, sondern ­immer schon den einen oder den ­anderen, eine Vielfalt an Schritten ebenso wie eine Vielzahl an Sprachen.« Jean-Luc Nancy

Eine Ballettcompany hat meistens ein fe­ stes Haus, eine feste Bühne, an dem sie be­ heimatet ist, wo trainiert wird, wo die Vor­ stellungen stattfinden. So ist es auch beim Leipziger Ballett, das schon vor langer Zeit seinen Platz im Opernhaus gefunden hat. Doch lebendig bleibt die Kunst nur, wenn regelmäßig Impulse von außen kommen, wenn neue Räume erkundet werden, neue choreografische Handschriften ihre S­ puren hinterlassen. Dazu spannte die Company in den vergan­ genen Jahren und Jahrzehnten ein b ­ reites Netz aus, knüpfte Kontakte, fand span­ nende Kooperationspartner. Diese zahl­ reichen Ver­netzungen sind wertvoll und wichtig. Der Motor hinter allem ist die große Leidenschaft für den Tanz, die nicht nur die Mitglieder der Company unterein­ ander verbindet, sondern die auch Brücken baut zwischen unterschiedlichen Kultur­ schaffenden, ­zwischen Künstlern und Pu­ blikum und unter den Zuschauern. Viele Zahnräder müssen inein­andergreifen, damit das Leipziger Ballett in der hohen Qualität und in der großen künstlerischen Vielfalt arbeiten kann, wie es heute der Fall ist. Das betrifft nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Haus, sondern auch das große Netzwerk aus Freunden, Unterstüt­ zern und Kooperationspartnern, das welt­ weit besteht, das aber vor allem in der Stadt Leipzig seinen festen Platz hat. Wie tief das Leipziger Ballett in der Stadt verwurzelt ist, konnte man zu Beginn der laufenden Spielzeit erleben, als ­Leipzig das 25. Jubiläum seiner Städtepartnerschaft mit Houston feierte. Die Ballettpremiere »Beethoven/Ravel«, in der choreografische Handschriften der beiden Städte vereint wur­den, war ein umjubelter Höhe­punkt

der Houston Week, der Fest­woche zum Ju­ biläum. Das Leipziger Ballett bewies hier nicht nur, wie eng es sich mit seiner Stadt verbunden fühlt und sich mit ihr identifi­ ziert, sondern förderte darüber hinaus den internationalen künstlerischen Austausch. Diese internationalen Kontakte pflegt das Leipziger Ballett auch regelmäßig bei Gastspielen im Ausland und indem es immer wieder Künstler aus der ganzen Welt einlädt. Dass die Liebe der Company zur Stadt Leipzig auf Gegenseitigkeit beruht, zeigt sich neben den Besucherzahlen auch in der regen Arbeit der Freunde und Förderer des Leipziger Balletts e. V., die seit 1995 aktiv die künstlerische Arbeit der Company un­ terstützen. Der Verein betreibt hoch ver­ netzte Lobbyarbeit und ermöglicht durch Spenden und Mitgliedsbeiträge benötigte Anschaffungen. Doch die Tänzerinnen und Tänzer des Leip­ ziger Balletts strecken auch selbst ganz ak­ tiv ihre Fühler in Richtung der Stadt und ihrer Menschen aus. So erobern sie sich in der Reihe »Tanz in den Häusern der Stadt« regelmäßig außergewöhnliche Plätze und Räume für ihre Kunst. Ein Fitnessstudio oder der mdr-Turm wurden bereits zu aus­ gefallenen Schauplätzen für Ballettauf­ führungen. Auf diese Weise ergeben sich Begegnungen mit anderen Menschen, ent­ stehen neue Dialoge, verlässt der Tanz sei­ nen »Elfenbeinturm« Opernhaus und tritt in Kontakt mit dem Fremden, dem Über­ raschenden. Die Mitglieder des Leipziger Balletts schätzen die Offenheit, die ihnen entgegengebracht wird und die neuen Er­ fahrungen, die sie dabei sammeln, sehr. Doch die pulsierenden Adern des L ­ eipziger Balletts reichen noch viel weiter in die Stadt hinein. Zahlreiche Kooperationspartner

arbeiten mit der Company zusammen und sind so ebenfalls Teil der großen Gemein­ schaft »Leipziger Ballett«. In der Reihe »Intershop« haben die Tänze­ rinnen und Tänzer der Company die Mög­ lichkeit, eigene Choreografien zu kreieren. In einer Art Laborsituation können sie sich kreativ ausprobieren und sich auf die Spu­ rensuche nach einer eigenen choreografischen Handschrift begeben. Für die Reihe arbeitet das Leipziger Ballett seit der Spiel­ zeit 2016/17 mit dem lofft zusammen. Hier treffen regelmäßig etablierte Tänzer und Cho­reografen auf Künstler der freien Tanzszene, die den Ort zu einer der wichtigsten Anlaufstellen für den zeitgenössischen Tanz, post-dramatisches Theater und Per­ formance Art machen. Das lofft hat kein eigenes Ensemble und kooperiert in pro­ jektbezogenen Partnerschaften gleichbe­ rechtigt mit freien Künstlern und Gruppen. Dabei wird vor allem ein junges Publikum zwischen 20 und 40 Jahren angesprochen. Die Zusammenarbeit zwischen Leipziger Ballett und lofft wird in dieser Spielzeit intensiviert. Erstmals findet der »Intershop« im neuen Standort des lofft in der Halle 7 auf dem Gelände der Leipziger Baumwollspinnerei statt. Die historische Spinnerei bietet den Tänzerinnen und Tänzern einen einmali­ gen Raum zur Entfaltung ihrer choreografischen Ideen. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Fabrikstadt im Westen Leipzigs zur größten Baumwollspinnerei Kontinentaleuropas angewachsen. Seit den frühen 90er Jahren richteten sich Künstler hier ihre Ateliers ein. Dies war keine städtepla­ nerische Maßnahme, sondern ist vor allem durch den Mut und das Engagement der Krea­tiven entstanden. Inzwischen ist die


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»Tanzimmersion« im Kunstkraftwerk

Intershop//lofft

Das Leipziger Ballett und das lofft sind die wichtigsten Tanz-Institu­tionen in Leipzig. Hier wie dort kom­men ­Stücke auf die Bühne, die am Puls der Zeit sind, die mitreißen und ­bewegen. Die Internationali­tät unserer Tänze­ rinnen und Tänzer und Choreo­ grafinnen und Choreo­grafen eint uns, wir sprechen die kosmo­politische Sprache des ­Tanzes. Und wir ­arbeiten auf Augen­höhe z­ usammen. Mit dem Intershop ver­­binden wir das gemein­ same In­teresse, choreogra­fische ­Talente zu f­ ördern. Die Vielfalt der entstehen­den Kurzstücke macht ­dieses Format so spannend. Dirk Förster, Künstlerischer Leiter und ­Geschäftsführer des lofft

Die Atmosphäre im Kunstkraftwerk war so, wie ich sie mir erhofft hatte. Die Kollegen dort haben für die Tänzer und mich den Arbeitsprozess so ange­ nehm wie möglich gemacht. Das Stück habe ich speziell für diesen Raum und die Videoinstallation kreiert. Anfangs war es schwierig, ein Konzept zu finden, das in diesem Rahmen funktionieren würde. Doch jetzt bin ich glücklich mit dem Ergebnis, denn das Stück wür­de ohne den Raum nicht dasselbe sein. Ich liebe es, zwischen den Rollen des Tänzers und des Choreografen zu wech­ seln, habe aber erkannt, dass ich zukünftig gerne Vollzeit-Choreograf werden möchte. Ich freue mich auf unseren nächsten »Intershop«. Leider wird es mein letztes Jahr als Tänzer in der Company. Deshalb plane ich ­etwas sehr Persönliches, wie ein k ­ leiner Liebes­brief an all die Menschen, die ich getroffen habe und die wunderbare Zeit, die ich während meiner Arbeit hier hatte. Francisco Baños Diaz, Tänzer im Leipziger Ballett und Choreograf der »Tanzimmersion«


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Spinnerei eine der interessantesten Pro­ duktions- und Ausstellungsstätten für zeit­genössische Kunst und Kultur in Europa. Ein ebenso historischer Ort sind die denk­ malgeschützten Räume des Leipziger Kunst­kraftwerks. 1863 wurde das Gebäude als Gaswerk errichtet und lieferte ab 1900 Bahnstrom für die Strecken im Leipziger Westen. Dann wurde es zum Heizwerk umfunktioniert und 1992 stillgelegt. Nun regiert hier die kreative Energie, entsteht aus dem Spannungsfeld zwischen Alt und Neu ein fruchtbarer Nährboden für neue künstlerische Ideen. In der letzten Spielzeit entstand als Zusammenarbeit zwischen dem Kunstkraftwerk und dem L ­ eipziger Ballett die »Tanzimmersion«: Die Tänze­ rinnen und Tänzer des Leipziger Balletts tre­ten hier in einer Choreografie von ­Francisco Baños Diaz mit lebendigen Kunstwerken in einen Dialog. Die wertvollen Gemälde aus dem berühmten Florentiner Museum »Galleria degli Uffizi« werden zu diesem Zweck mittels neuster Technologie zum Leben erweckt, darunter Werke von da Vinci, Botticelli und Giotto. Dazu erklingt eigens komponierte Musik. Eine spannende Zusammenarbeit der unterschiedlichsten Kunstformen entsteht und zieht den Zu­ schauer in eine zugleich alte und doch zu­ kunftsweisende Welt hinein. Doch nicht nur die eigenen choreografi­ schen Arbeiten des Leipziger Balletts fin­den in der Stadt ihre künstlerischen Räume. Für den Ballettdirektor und Chef­ choreograf Mario Schröder ist es ein wich­ tiges Anliegen, die unterschiedlichen Strö­mungen des zeitgenössischen Tanzes und somit auch unterschiedliche choreografi­ sche Handschriften aus der ganzen Welt im Spielplan abzubilden. Den idealen Raum dafür bietet die Bühne des Schauspiel Leipzig. Schon in der dritten Spielzeit in Folge setzt sich so die fruchtbare Zusam­ menarbeit der beiden städtischen ­Bühnen fort. Den Auftakt bildete in der Spielzeit 2016/17 der Abend unter dem Titel »flesh«, in dem drei Stücke des spanischen Choreo­ grafen Iván Pérez zu sehen waren. In der letzten Spielzeit feierte »toot!« Premiere, ein Abend, der zwei Werke der nieder­ ländischen Choreografin Didy ­Veldman vereinte. Gerade im zweiten Stück des Abends, dem titelgebenden »toot!« konn­ ten die Tänzerinnen und Tänzer, ganz dem Ort entsprechend, ihre ausgezeichneten schauspielerischen Fähig­keiten unter Be­ weis stellen. Sie traten als tragikomische Clowns auf und setzten teilweise auch wir­ kungsvoll ihre Stimme ein. In dieser Spiel­ zeit steht der Abend »If you were God« mit Werken des französischen Choreografen Martin Harriague auf dem Spielplan, in dem

neben zwei bereits existierenden Stücken auch eine Uraufführung geplant ist. Der Austausch zwischen verschiedenen Kunstschaffenden ist wichtig. Fast noch wichtiger ist der Austausch zwischen Kunstschaffenden und der »normalen« Welt. Als Künstler, vor allem in einer gro­ ßen Institution, ist die Gefahr groß, nur in seinem eigenen Kosmos zu schweben, den Kontakt zur Außenwelt zu verlieren. Kunst sollte sich aber immer zur Welt um sie he­ rum verhalten und so zur Reflexion an­ regen. Daher ist die starke Vernetzung des Leipziger Balletts in der Stadt Leipzig und in der ganzen Welt besonders wertvoll und zukunftsweisend.

Un te r w e g s m i t d e m ­L e i p z i g e r B al l e tt

If you were God Tanzabend von Martin Harriague

Prince Musik von Peter Tschaikowski L E IT UN G

Choreografie, Licht Martin Harriague Kostüme Mieke Kockelkorn

If you were God Musik von Gioacchino Rossini, Beau Jennings, Richard Swift Musik und Poesie von Derrick C. Brown L E IT UN G

Choreografie, Kostüme Martin Harriague

America Uraufführung L E IT UN G

Choreografie Martin Harriague B ES E TZ UN G

Leipziger Ballett PR E M IE R E

22. Mär. 2019 Schauspiel Leipzig Große Bühne AUF F Ü H R U N G E N

23. Mär. / 07. & 28. Apr. / 04. & 17. Mai 2019

Ästhetische Vielfalt als Antwort auf die Vielfalt, die die Stadt L ­ eipzig ­bestimmt, ist ein Leit­gedanke des Schauspiel ­Leipzig. Elementar d ­ afür ist die Vernet­ zung und die K ­ ooperation mit ­anderen ­Leipziger Kultur­institutionen. Eines der ersten Gesprächs­angebote zu ­Beginn ­meiner Intendanz kam von ­Mario ­Schröder. Dass man nun das ­Leipziger Ballett, das man von der Bühne des Opernhauses her kennt, auch im Schau­ spielhaus mit ­besonderen Projekten und noch ­einmal ganz anderen künstleri­ schen Handschriften erleben kann, freut mich sehr. Zusammenarbeit beginnt und vertieft sich im Gespräch und im Austausch. Enrico Lübbe, Intendant des Schauspiel Leipzig

Intershop// LOFFT Choreografische ­Uraufführungen von Tänzern des Leipziger Balletts L E IT UN G

Konzeption lofft – Das Theater und Leipziger Ballett Dramaturgie Elisabeth Kühne B ES E TZ UN G

Leipziger Ballett PR E M IE R E

28. Jun. 2019 Leipziger Baumwollspinnerei Spinnereistraße 7 04109 Leipzig, www.lofft.de AUF F Ü H R U N G E N

29. & 30. Jun. / 05., 06. & 07. Jul. 2019


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Sich selbst neu erfinden Über den Tänzer, Komponisten und ­C horeografen Martin Harriague T E XT: E L ISA B E T H KÜH N E

Martin Harriague war gerade 19 Jahre alt, studierte an der juris­ tischen Fakultät von Bayonne, als er sich entschied, seinem Le­ ben eine einschneidende Wendung zu geben. Beflügelt von der Arbeit des französischen Choreografen Thierry Malandain, der in ­Leipzig mit seinem Doppelabend »Don Juan / Mozart à deux« be­ geisterte, beschloss er die Richterrobe an den Nagel zu hängen – und gegen das Tanztrikot zu tauschen. Obwohl H ­ arriague zu die­ sem Zeitpunkt tänzerisch nichts weiter aufweisen konnte als einige Tennisstunden und seine Vorliebe für die Choreografien ­Michael Jacksons, die er ab und an im Kreise der Familie oder auf Partys zum Besten gab, schickte er Malandain seinen Lebenslauf. Entgegen aller Erwartung erhielt er tatsächlich Antwort: Der ­Maestro riet ihm, unverzüglich die verlorene Zeit aufzuholen und sich an der Tanzschule von Jean-Marc und Michèle M ­ arquerol in Bayonne ausbilden zu lassen. So erhielt Harriague seinen ersten Tanzunterricht in einem Alter, in dem andere Tänzer ihre ersten Engagements bereits hinter sich haben – und begegnete den Schmerzen und den misstrauischen Blicken seiner Mitschüler mit umso größerem Einsatz. Nach diesen ersten Schritten besuchte Harriague die Tanzschule von Montpellier, wo er u. a. Malandains »Boléro« kennenlernte, wurde Mitglied des B ­ allet Biarritz Junior, das als Vorzimmer von Malandains Company gilt, und setzte seine Tanzausbildung in Marseille fort. Ein Zufall führte 2008 schließ­ lich zu seinem ersten Engagement: Als sich bei den Proben zu Malandains »Suite cubaine« ein Tänzer des Ballet National de Marseille verletzte, sprang er als Kenner der choreografischen Handschrift Malandains ein – und überzeugte so sehr, dass man ihm einen Vertrag anbot. 2010 setzte Harriague seine Karriere bei Noord Nederlands Daans fort, bevor er drei Jahre später zur Kibbutz Contemporary Dance Company nach Israel kam. Doch

obwohl Harriague so viel härter als andere trainierte und dabei immer wieder seine Grenzen überschritt, musste er sich l­ etztlich eingestehen, dass sich sein Traum von der Tanzkarriere im B ­ allet Biarritz wohl nicht erfüllen würde: »Mir wurde klar, dass ich nie ein klassischer Tänzer sein würde. Ich könnte niemals für ­Malandain vortanzen.« So erfindet sich Harriague ein zweites Mal neu: diesmal als Choreograf und Komponist. Seit Jahren entwi­ ckelt er nun mit versierter Hand theatralische Tanzperformances, für die er teilweise selbst die Musik komponiert, und sammelt mit seinen Kreationen einen Preis nach dem anderen ein: Mit sei­ nem Ballett »­Prince«, einem komödiantischen Gegenentwurf zu Tschaikowskis »­Dornröschen«, den das Leipziger B ­ allett neben Harriagues »If you were God« und der extra für die Company geschaffenen Neukreation »America« im Schauspiel Leipzig auf­ führen wird, gewann er 2016 den Internationalen Choreografen-­ Wettbewerb in Biarritz. Auf ganz andere Art und Weise ist ­Harriague nun also doch in Biarritz angekommen, auch dank des Mannes, der immer an ihn geglaubt hat: Thierry Malandain, der über Harriague inzwischen sagt, mit seinen Choreografien ver­ stehe er es, den Dingen Sinn zu geben. Denn ob als Tänzer, Kompo­ nist oder Choreograf – Martin ­Harriague begreift sich als Künstler mit Botschaft: »Ich glaube an die Kraft des virtuosen Körpers in Verbindung mit verschiedenen Formen der Kunst, die auf etwas Größeres verweisen. Ich glaube an seine Fähigkeit, unsere Wahr­ nehmung der Welt zu verändern, um sie ­besser zu machen. Ich glaube an seine Notwendigkeit, um dich zu erreichen, zu inspirie­ ren und dein Bewusstsein zu wecken, um starke Botschaften von Hoffnung, Liebe, Toleranz und Respekt zu verbreiten. Ich glaube daran, zur Entwicklung der zeitgenössischen Kunst in einer Ge­ sellschaft beizutragen, die eine Veränderung braucht.«


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Z U GABE


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P l atz h al te r

Schn a p p schu ss

Warum das Leipziger Ballett Wattons trägt Auf den ersten Blick mag es befremdlich erscheinen, wenn die Tänzer des L ­ eipziger Balletts in Mario Schröders ­Choreografie »Geschöpfe« ­ausgerechnet in Wattons die Bühne betreten. I­ mmer­hin ist diese ­füllige ­Silhouette das g ­ enaue Gegenteil der Körperform, die im Tanz eigentlich angestrebt wird. Und tatsächlich verändert dieses Kostüm die Bewegungsart der Tänzer. Immer­­ hin tragen sie damit nicht nur bis zu fünf Kilogramm mehr mit sich herum, sondern haben plötzlich auch einen ­Taillen­umfang von 160 cm. D ­ afür sorgt die sogenannte Watteline, ein dickes Spinnvliesmaterial, mit dem die Körper­ formen über einem elastischen Ganz­ körpertrikot herausgearbeitet ­wurden – mehrere Tage dauerte die Arbeit der Kostüm­werkstätten allein an einem ­sol­chen Anzug. Mit diesem Kostüm ­er­halten die Bewegungen der Tänzer eine gewisse Sinnlichkeit und Lebensfreude, aber auch eine große Natürlichkeit und sogar Zerbrechlichkeit.

Erik Lippmann, 11, aus Leipzig Warum hast du diese Vorstellung besucht?

Ich habe   Carmen    bisher nur auf einer CD gehört und war sehr gespannt, die Oper heute endlich live zu erleben. Was hat dir heute Abend besonders gefallen?

Besonders beeindruckt hat mich Carmens Tod. Das war ein toller Effekt. Kannst du dich an dein erstes ­Opernerlebnis erinnern?

Ich habe im Fernsehen einen Mitschnitt von   Hänsel und Gretel   gesehen. Und da war ich so fasziniert, dass ich das unbedingt mal live sehen wollte. Wann warst du zum ersten Mal in der Oper Leipzig?

Mit vier Jahren und seitdem ganz oft. Ich kann meine Besuche hier gar nicht mehr zählen. Was ist das Besondere daran, in die Oper zu gehen?

Wenn ich hier bin, fühlt es sich für mich an wie ein zweites Zuhause.


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Z U GABE

Was zeichnet Sie aus?

OHNE WORTE antworten die Künstler der Oper ­L eipzig auf unsere Fragen. Dieses Mal: Anne-Kathrin Fischer, Sängerin der Musikalischen Komödie FOTO S : TO M S CH UL Z E


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Was würden Sie gerne können?

Ihr Gesicht, wenn Sie auf der Bühne den Text ­vergessen haben?

Der Gedanke an das Leben nach Ihrer Zeit an der Musikalischen Komödie?


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Z U GABE

Fun d s tüc k e

Was uns sonst noch alles über den Weg lief CD

»Kleine Augen, große Welt. Eine Reise in die Welt der Kinderlieder« Kinderchor der Oper Leipzig Genuin classic 2018

ZAHLEN

63%

der Sachsen beurteilen den ­Zusammenhalt in ihrer Wohngegend als gut bis sehr gut. (Studie der Bertelsmann Stiftung zum sozialen Zusammenhalt in ­Deutschland 2017)

WO RTE

Zusammenkommen ist ein B ­ eginn, ­Zusammen­bleiben ist ein F ­ ortschritt, ­Zusammenarbeiten ist ein Erfolg. Henry Ford

B UCH

Jutta Allmendinger: »Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen« Pantheon Verlag 2017

M A N US K R IPT

Ouvertüre aus Richard Wagners »Der fliegende Holländer«

WO RT E

DV D

»Feuerwerk« (1954) studiocanal 2004

ZAH LE N

38%

der Deutschen sehen den ­Zusammenhalt im Land gefährdet. (Studie der Bertelsmann Stiftung zum sozialen Zusammen­halt in ­Deutschland 2017)

Wir sind zum Mit­ einander ­geschaffen, wie Hände, wie Füße, wie die untere und die obere Zahnreihe. Thomas Jefferson

AU S S T E L LU N G

TOGETHER! Die neue Architektur der ­Gemeinschaft Grassi Museum für Angewandte Kunst 29. Nov. 2018 – 17. Mär. 2019

ZAHLEN

2.107.600 Menschen engagierten sich 2017/18 in deutschen Chorverbänden.


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D e tai l ve r l i e bt

Gewinnen Sie

2 TICKETS für die Premiere von »Madame Pompadour« am 1. Jun. 2019

Aus welchem Stück stammt diese Detailaufnahme? Senden Sie die ­Antwort bis zum 31. März 2019 per Mail an dreiklang@oper-leipzig.de oder postalisch an Oper Leipzig, Stichwort: Dreiklang, Augustusplatz 12, 04109 Leipzig.


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Z UU GGA AB BE E

IM PR ES S UM

Herausgeber Oper Leipzig Intendant und Generalmusik­direktor Prof. Ulf Schirmer Verwaltungsdirektor Ulrich Jagels

Du si e hst a u s, wi e ich m ich f ü h l e  …

Redaktion Elisabeth Kühne (verant­ wortlich), Dr. Christian Geltinger, Uwe Möller, Dramaturgie & Marketing Texte Francisco Baños Diaz, Dirk Förster, Dr. Christian Geltinger, Magdalena Hinterdobler, Madoka Ishikawa, AnnaLena Kaschubowski, Thomas Krüger, Elisabeth Kühne, Enrico Lübbe, Thomas Mohr, Martin Petzold, Andreas Rainer, Ronald Rudroff, Diana Sandu, Prof. Ulf Schirmer, Nele Winter, Yogendra Fotos Rolf Arnold S. 64  |  Lars-Ole Bastar S. 18, 25  |  Michael Dikta S. 22, 24  |  Carolin Haynert S. 1 unten, 50 – 53  |  Madoka Ishikawa S. 38, 39  |  Kristina Jurotschkin S. 14, 23  |  Anna-Lena Kaschubowski S. 4, 5, 66  |  Elisabeth Kühne S. 31  |  Philip Markert S. 12, 15  |  Sandra Maxheimer S. 46, 48  |  Kirsten Nijhof S. 28, 32 – 37, 63 (Porträt Diaz), 67, 71  |  Alexander Pannier (Cover)  |  Melanie Schindler S. 19  |   Henry Schulenburg S. 63 (Porträt Förster)  |  Tom Schulze S. 1, 45, 68, 69, 72  |   Timur Yüksel S. 16, 20  |  Ida Zenna S. 60, 61, 63 Videos Maria Gollan S. 31 (Kamera: Elisabeth Kühne), 38 (Kamera: Anna-Lena Kaschubowski), 46, 66, 68  |  Kunst­ kraft­werk Leipzig GmbH S. 63  |  Martin Harriague Choreography S. 65 Illustrationen Stefan Mosebach S. 6 – 10, formdusche Gestaltung formdusche, Berlin Druck Löhnert Druck, Markranstädt Urheber, die nicht ermittelt werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten. S E RV ICE

Telefonische Kartenbestellung

… wenn ich meine ­Neujahrsvorsätze schon wieder nicht e­ ingehalten habe. Herzog Blaubart (Tuomas Pursio) in »Herzog Blaubarts Burg«

Mo – Sa 10:00 – 19:00 t +49 (0) 341 – 12 61 261 Abo-Service

t +49 (0) 341 – 12 61 296 Schriftliche Kartenbestellung Kartenwünsche können für die gesamte Spielzeit schriftlich bei der Oper Leipzig eingereicht werden. Die Bearbeitung erfolgt umgehend. Ihre Kartenwünsche richten Sie bitte an: Oper Leipzig, Besucherservice Postfach 100346, 04003 Leipzig Fax + 49 (0) 341 – 12 61 300 service @ oper-leipzig.de Kartenbestellung im Internet /  Print at home

Die nächste Ausgabe von »Dreiklang« erscheint im September 2019

Online-Ticketkauf mit Ticket-Ausdruck am ­eigenen pc über unseren Webshop möglich: www.oper-leipzig.de Keine Vorverkaufsgebühren! (bei Gast­spielen kein Ticket-Ausdruck möglich). Abendkassen Opernhaus eine Stunde vor Beginn der Vorstellung t +49 (0) 341 – 12 61 261 Musikalische Komödie eine Stunde vor Beginn der Vorstellung t +49 (0) 341 – 12 61 115


L e tz te Wo r te

Hier steh ich treu dir bis zum Tod! Senta, Schlusssatz in » Der fliegende Holländer «


www.oper­leipzig.de


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