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Ja, ich mag diesen Kerl
Mime gehört zu den Paraderollen des österreichischen Charaktertenors
Wolfgang AblingerSperrhacke. Für ihn ist diese Figur mehr als ein machtgieriger, hinterlistiger Zwerg, der den Helden Siegfried vergiften will. Er entdeckt in ihr auch Facetten von Zärtlichkeit, Sehnsucht und Zuneigung
Foto Florian Kalotay
Wann immer Wagners Ring auf dem Spielplan eines wichtigen Opernhauses steht, kann man wetten, dass man deinen Namen dort auf dem Besetzungszettel findet, sei es etwa in Amsterdam, Toronto, Madrid, Mailand, Berlin, Wien, München – und nun auch in Zürich. Wie oft bist du schon im Ring aufgetreten?
Das weiss ich nicht genau, aber wenn man alle drei Partien im Ring, die ich singe, also Loge und Mime in Rheingold und Siegfried, zusammen nimmt, müssen es um die hundertwanzig Mal gewesen sein.
Wird es nicht irgendwann langweilig, eine Partie so oft zu singen?
Überhaupt nicht, denn ich befinde mich doch immer wieder in ganz unterschiedlichen Konstellationen – ein anderer Dirigent, ein anderer Regisseur, andere Partner auf der Bühne, ein anderes Bühnenbild usw. Dadurch ergeben sich ständig neue Anregungen und Ideen für die eigene Interpretation, vorausgesetzt, es handelt sich, wie in diesem Falle, um ein wirklich grosses Kunstwerk. Denn die grossen Kunstwerke sind unerschöpflich. Zum Beispiel habe ich kürzlich den Herodes fast gleichzeitig in Zürich und in Mailand gesungen. Das waren zwei ganz verschiedene Aufführungen, ja fast zwei verschiedene Stücke, und darum war auch der Herodes, den ich gespielt habe, jeweils ganz verschieden. Nein. Es wird nie langweilig, vielmehr finde ich es immer interessant, eine Partie, die ich schon lange kenne, neu zu erarbeiten und neue Möglichkeiten zu finden. Das ist immer wieder eine Entdeckungsreise, sonst würde es vielleicht wirklich irgendwann langweilig.
Wie machst du es, dass du die verschiedenen Inszenierungen nicht verwechselst? Hast du dich schon mal geirrt und dich plötzlich am falschen Ort wiedergefunden?
In der Probenarbeit versuche ich zu erreichen, dass alles, was ich szenisch und musikalisch mache, für mich einen logischen Zusammenhang bildet. Das ist dann wie ein fester Rahmen, in dem ich mich bewege. Und wenn der wirklich gut ausgearbeitet ist, gibt es gar keine andere Möglichkeit mehr, als das jeweils so zu singen und zu spielen, wie es verabredet ist. Ich hatte in meinem Studium einen Professor, der mir die FelsensteinMethode vermittelt hat, die ich bis heute anwende. Das bedeutet vor allem, dass ich in jedem Moment mit sogenannten «Untertexten» arbeite. Das sind fiktive Texte, die in meinem Kopf ablaufen und beinhalten, was die
Figur jeweils gerade denkt, woraus sich dann ergibt, was sie gerade tut. Sie entstehen aus einer genauen psychologischen Durchleuchtung der Motivation der Figur, sie beinhalten also, was sie denkt, ohne es zu sagen, was sie wirklich beabsichtigt. Diese Untertexte sind notwendigerweise in jeder Inszenierung anders, und man kann sie nicht verwechseln. Mir ist das jedenfalls noch nie passiert.
Du singst den Mime im Siegfried deutlich häufiger als den im Rheingold. Woran liegt das?
Vor allem daran, dass der SiegfriedMime musikalisch erheblich anspruchsvoller ist, weshalb ihn viele Häuser nicht, wie den RheingoldMime, aus dem Ensemble besetzen können. Um das zu verdeutlichen, genügt schon die simple Tatsache, dass die Partie genauso lang ist wie die des Tristan und einen Stimmumfang von mehr als zwei Oktaven verlangt, von der Vielzahl unterschiedlicher Farben und Ausdrucksnuancen, die auch gesangstechnisch dem Sänger viel abverlangen, gar nicht erst zu reden. Aber die grösste Schwierigkeit liegt darin, dass fast der ganze erste Akt sehr tief liegt, fast in der BaritonLage, während der Rest der Partie dann in die Tenorlage wechselt. Das ist ein schöner Ausdruck für die wachsende Bedrängnis, in die Mime gerät, aber stimmtechnisch ist das das sehr anspruchsvoll. Tatsächlich ist der Mime in Siegfried eine der ganz grossen Herausforderungen und darum auch gleichzeitig eine Traumpartie für jeden Charaktertenor. Ich habe lange, bevor ich ein Engagement hatte, mit der Arbeit daran begonnen, und es hat schliesslich vier Jahre gedauert, bis ich mir die Partie angeeignet hatte. Nun habe ich sie drauf und geniesse sie jedes Mal, wenn ich sie singe.
Unter einer Traumpartie für einen Tenor stellt man sich aber eigentlich etwas anderes vor, als so ein verschlagenes Schlitzohr, das den Haupthelden der Oper umbringen will…
So einfach ist das ja aber nicht. Mime ist eben kein schablonenhafter Bösewicht. Der ganze erste Akt der Oper dient eigentlich dazu, seine Lebenssituation zu schildern, erfahrbar zu machen, wie er zu dem geworden ist, was er ist, und zu zeigen, warum er so handelt, wie er handelt. Es wäre doch einfach langweilig, wenn man die ganze Zeit nur dem Brunnenvergifter zusieht, der immerzu listig, bösartig, geldgierig und was nicht noch alles ist. Ich glaube auch gar nicht, dass er von Anfang an darauf aus ist, Siegfried zu töten. Das kommt erst, wenn er begreift, dass er keine andere Wahl hat, wenn er seinen grossen Plan verwirklichen will, nämlich in den Besitz des Rings zu kommen und so doch noch etwas aus seinem mickrigen Leben zu machen. Wenn er diesen Plan aufgibt, weil er nicht zum Mörder werden will, wäre das lange mühselige Zusammenleben mit diesem Halbstarken, die ganze jahrelange Quälerei, von der uns der erste Akt einen Eindruck gibt, umsonst gewesen. Ausserdem gibt es noch einen ganz anderen Aspekt: Mime hat Siegfried aufgenommen und siebzehn Jahre lang wie seinen Sohn grossgezogen; ohne ihn hätte Siegfried nicht überlebt. Wenn einer ein Kind bei sich aufnimmt, es nährt und pflegt, es heranwachsen sieht, seine ersten Schritte beobachtet und seine ersten Wörter hört, entsteht zwangsläufig eine gewisse Zuneigung, wie zwielichtig sie immer sein mag. Und es ist auch ganz unmöglich, dass sie nicht wenigstens teilweise erwidert wird. Tatsächlich gibt es in der Musik immer wieder Momente einer anrührenden Zartheit zwischen den beiden. Mime ist nicht zum heimtückischen Mörder, Siegfried nicht zum brutalen Totschläger geboren. Beide habe im Grunde ihres Charakters eine tiefe Sehnsucht nach Glück und Liebe, so verdreht sie sich auch äussern mag. Mime ist ein ganzer Mensch, und ein zutiefst unglücklicher Mensch. Ein Täter und ein Opfer.
Das hört sich so an, als würdest du ihn mögen.
Ja, ich mag diesen Kerl. Das ist eben das Grossartige bei Wagner, dass er keine einseitigen Figuren geschaffen hat. Wir wissen von den antisemitischen Konnotatio nen, die für Wagner mit Mime verbunden waren. Aber selbst wenn er die Absicht gehabt haben sollte, eine antisemitische Karikatur und sonst nichts zu schaffen, ist es ihm nicht gelungen. Er war einfach zu sehr Theatermann, um nicht zu wissen, dass die Widersprüche eine Figur interessant machen und dass ein böser Bösewicht so langweilig ist wie ein guter Gutmensch. Ich möchte sogar so weit gehen, Mime die menschlich nachvollziehbarste Figur der ganzen Tetralogie zu nennen. Ein Mensch mit grossen Schwächen und Stärken, ein Feigling und ein Kämpfer, er ist hinterlistig und zärtlich, bösartig und humorvoll, Vater und Mutter… Er ist ein ganzes Universum.
Nichtsdestoweniger gehört er im Ensemble des Rings zu den negativen Figuren. In deinem Fach gibt es ja ohnehin kaum positive Identifikationsfiguren. Oder?
Eigentlich nur eine: Wenzel in Smetanas Die verkaufte Braut – dieser Aussenseiter, den alle auslachen, der es aber im Laufe des Stücks schafft, sich von der dominanten Mutter und der Bosheit seiner Umgebung zu emanzipieren und zu seinem eigenen Leben zu finden. Das ist eine sehr anrührende Geschichte, und ich habe den Wenzel immer sehr gern gespielt. Aber ansonsten habe ich es immer mit Figuren zu tun, deren Schattenseiten deutlicher hervortreten als ihre hellen, um es mal so auszudrücken.
Und spielst du diese Bösewichter gern?
Ja, das ist ganz wunderbar. Denn die Bösen sind eben meistens die vielfältigeren Charaktere. Der Siegfried ist natürlich auch eine Figur mit sehr vielen unterschiedlichen Facetten, aber sehr oft sind diese Liebhaber doch ein wenig langweilig, weil so voraussehbar ist, wie es mit ihnen gehen wird. Die Gegenspieler haben eben gerade, weil sie nicht auf das Gutsein festgelegt sind, alles, was ein Mensch an Eigenschaften haben kann. Diesen ganzen Reichtum auf die Bühne zu bringen, ist eine grosse Herausforderung für einen Sänger und Darsteller. Einem Rodolfo fliegen die Herzen des Publikums immer zu, und selbst wenn man es wollte, wäre es schwer, wenn nicht unmöglich, ihn um die Sympathie des Publikums zu bringen. Aber Mime den Leuten so nahe zu bringen, dass sie, vielleicht ohne es zu merken, Mitgefühl mit ihm haben und ihn sogar für einen Moment bedauern, wenn sein trostloses Leben so schrecklich zu Ende geht – das ist eine grosse und schöne Aufgabe, und der stelle ich mich immer, wenn ich die Partie singe.
Das Gespräch führte Werner Hintze