Fahrradkette

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Christoph Wenzl



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Christoph Wenzl

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„Lass uns lieber Freunde bleiben. Nicht, dass wir es später nochmal bereuen.“ Glaubst du an Magie? Manche Worte sind so stark, dass sie kaum ausgesprochen Segen oder Fluch heraufbeschwören können. bereuen Schweigen. Das ist, wenn keiner von uns was sagt. Man hört die Autos auf der Straße nebenan. Man hört Kaffeehauslärm gedämpft von drinnen. Man hört den eigenen Atem. Nur Stimmen hört man nicht. Der Hohlmuskel in meiner Brust pocht jetzt langsamer. Ich zähle die Schläge wie das Ticken eines Sekundenzeigers. 21. 22. 3 falsche Minuten vergehen ohne Worte. bereuen. Eingefädelt in den dicken Bogen des Anfangs-Bs zog ich dieses Verb an einem Rosshaar über meinen Kopf. Da hängt es nun. Die vielen Es bilden ein Grinsen, das mich hämisch anlacht wie die Katze aus Alice im Wunderland. —1—


Ich halte den Blick gesenkt, kann nicht in die wasserblauen Augen vor mir schauen, fixiere stattdessen einen imaginären Punkt auf dem Kopfsteinplaster. „Aha. Gut.“ Die ausweichende Unehrlichkeit ist uns zur Gewohnheit geworden. Wie geht es dir? – Gut. Wie war deine Prüfung? – Gut. – Aha. Gut. Charly dreht sich um, lässt mich stehen, verschwindet aus den Schatten, aufflackernde Gesprächsfetzen, dann geht die Tür wieder zu und es bleibt still. Und dann folgte der erste Moment von so vielen. Das über meinem Kopf baumelnde Verb sandte einen scharfen Blitz auf meinen Verstand. Ein kurzes „was wäre wenn“ durchzuckte mein Hirn. Dann war der Moment auch schon wieder vorbei, noch ehe ich mein Gewissen mit „aber da sind einfach keine Gefühle“ – dem Mantra der folgenden Wochen – befrieden musste. Ich drücke mit der Schuhspitze meines rechten Fußes auf die restliche Glut der nur zur Hälfte abgebrannten Zigarette. Licht aus.

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Die nächsten Tage vergehen wie im Zeitraffer. Alles versinkt in endjährlichem Unistress, krankheitsbedingtem Arbeitshochdruck und vorweihnachtlichen Besorgungen. Doch während mein restliches Leben vorbeizieht wie ein Pfeil, gleichen meine Gedanken einem Boomerang, der von rosaroten Visionen einer gemeinsamen Zukunft zu schwarzen Alpträumen einer erzwungenen Beziehung und wieder zu mir zurückfliegt – immer um die gleiche Frage kreisend: „Was wäre wenn…?“ Du solltest dir viel eher überlegen, was war. Es war ein Samstagnachmittag im November gewesen: Schon wieder ist es dunkel, noch immer liegen wir im Bett. Die Nacht davor war kurz oder lang, eben so wie man’s nimmt. Vom Tanzen schwere Füße denken nicht an einen Marsch in klimawandelleugnender Kälte. Und Studierende haben aus Prinzip kein Geld schon gleich nicht für Taxis. Dann eben alle zu mir, es sind ja nur zehn Minuten. Halb so viele Menschen, aber um diese Uhrzeit macht einem die Härte des Teppichs, die Abgeranztheit der Couch oder die Enge im überbelegten Bett nichts aus. —3—


Da liegen wir, die Dionysos der letzten Nacht, und warten bis uns ein Zaubertrank aus gerösteten Bohnen und/oder Acetylsalicylsäure wieder zu neuem Leben erweckt. Oder zumindest genügend Kraft verleiht, um aufs Klo, unter die Dusche und runter zum Bus zu gehen. Übrig bleiben ein dröhnender Schädel und ein flaues Gefühl im Magen. Und Charly. Die Ahnung eine falsche Entscheidung ge­troffen zu haben, wächst von einem kleinen, sehnsuchtsvollen Blick auf das grünere Gras auf der anderen Seite zu brennenden Schmerzen in meinem von mir selbst wundgebissenen, roten Hintern. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an diesen Moment denke. Jeder Gedanke beginnt mit hätte, hätte. Aber was war denn davor? Hast du nicht den ganzen Tag überlegt, ob ja oder nein? Und hast du nicht geglaubt, du fühlst nichts für Charly. Mach dich nicht unnötig fertig. Eine Entscheidung ist getroffen und das Leben geht weiter. Für beide. Nur nicht miteinander. Da sind einfach keine Gefühle. Das Jahr geht zu Ende. Der Volleyballverein feiert Weihnachten. Obwohl ich weiß, dass ich garantiert auf Charly stoßen werde, gehe ich hin. Es gibt ja noch eine ganze Volleyballmannschaft, —4—


die ich sehen will. Und von dem was war, lasse ich mir doch bestimmt nicht die Laune verderben. Heiß und rot brodelt nicht nur der Glühwein da im Topf. Hat Charly das wirklich gerade gesagt? Ich packe es nicht mehr. Muss raus. Ich halte das nicht aus. Glaube zu ersticken. Die frische Luft tut gut. Auch der Wechsel der Atmosphäre. Die Gespräche mit den Rauchern sind weniger anstrengend. Ja, hi, auch gut, – ja, nette Party. Und so weiter. Meine Zigarette ist halb abgebrannt, als die Tür aufgeht. Von allen Menschen dieser Welt gibt es einen, den ich sehen will. Doch mein Verstand redet mir ein, dass es besser ist, genau diesen Menschen nicht zu sehen. Trotzdem wird es plötzlich warm in meiner Brust, als Charly durch die Tür tritt und das liegt nicht an dem Glühwein in meiner Tasse, der inzwischen lau ist. Das Gespräch teilt sich zu meinem Glück und ich rede mit Ida, die neben mir auf den Stufen sitzt. Soll ich, soll ich nicht? Warum ist Charly hier? Und was erzählst du mir da gerade eigentlich? Ida merkt schnell, dass ich ihr nicht wirklich zuhöre. „Willst du meine Jacke haben Charly? —5—


Du hast ja nur deinen Pullover an.“, fragt Isaak. „Bring sie mir einfach, wenn du hoch gehst. Ich hole mir jetzt noch ein Bier.“ „Nein, schon gut.“, wehrt Charly ab. „Ich bin eh raus gegangen, dass ich mich ein bisschen abkühlen kann.“ „Aha. Gut.“, meint er und lässt uns beide als einzige zurück. Alle Innereien des menschlichen Körpers verkrampfen sich. „Na, wie findest du die Party?“ versuchen wir mit Smalltalk die akwardness aus der Situation zu vertreiben. Hast du dir nicht die ganzen Wochen diese Gelegenheit gewünscht? Wie oft, hast du dir diesen einen Moment vorgestellt? Also komm, schieb diese Unsicherheit beiseite, gib dir einen Ruck und rede! Schweigen. Das ist, wenn ich nichts sage und Charly nichts sagt. Die Luft vor uns, wo sich der Atem in weißen Wölkchen nieder schlägt, ist auf einmal für uns beide furchtbar interessant. Und nochmal ist sie da. Die Situation. Entscheide dich! 0 oder 1. Links oder rechts. Du hast die Münze in der Hand, nicht auf das Fallen kommt es an, sondern dass man sie wirft.

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Aber ich sitze nur da und bin still. Ich will es doch eigentlich aussprechen. Was ich die ganzen letzten Wochen gefühlt habe. Doch ein dicker Schleier hängt vor meinem Mund, packt meine Zunge in Samt. Unendlich träge bewegen sich meine Lippen: „Du, ich habe in letzter Zeit ziemlich viel nachgedacht.“ Eine Münze ist in die Luft geworfen worden. Charly sieht mich an. Wartet was kommt. Erst lange nichts. Dann ebenfalls nichts. Wirres Stammeln. Kein vernünftiger Satz. Zuviel Glühwein würde ich mir gerne einreden. Aber mit einem metallischen Klirren stößt die Münze gegen ein Wort, das da an einem einzigen Rosshaar über meinem Kopf hängt. Eigentlich hätte ich das Zittern und Reiben der klammen Hände viel eher bemerken sollen. Aber irgendwann hält Charly es nicht mehr aus. „Es tut mir echt Leid, aber mir ist wirklich saukalt. Ich muss jetzt erst mal reingehen und mich aufwärmen. Sorry.“ Charly steht auf und öffnet die Tür. „Lass später nochmal darüber reden…“

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NB: Diesen Text habe ich eigens für die BR-Pulslesereihe 2020 verfasst. Das ist eine jährlich stattfindende Veranstaltung, bei der junge AutorInnen einen Text zu einem vorgegebenen Thema verfassen und diesen in verschiedenen bayrischen Städten vortragen. Ich hatte das Glück und wurde von der Jury ins Halbfinale gewählt, wo ich in Regensburg meinen Text zum Thema „Lass später nochmal…“ lesen durfte. Wer jetzt traurig ist, dass er damals nicht dabei sein konnte, dem empfehle ich den BR-Podcast „7.000 Zeichen“, wo man sich nicht nur mich, sondern auch alle anderen AutorInnen der Veranstaltung nochmal anhören kann.



Christoph Wenzl wurde 1993 in Kötzting, im bayrischen Wald, geboren. Erste Schreibversuche unternahm er seit Beginn seines Studiums der Biochemie und Philosophie. Damals konzentrierte er sich noch auf Lyrik und präsentierte seine Werke bei open stages und im Münchner Literaturmagazin „signaturen“. Auch die Kurzgeschichte „Kranich & Wiesel“, erschienen im orange-folio Verlag, beinhaltet noch lyrische Elemente. Zuletzt machte er durch das Erreichen des Halbfinales der BR-Pulslesereihe 2020 auf sich aufmerksam.



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