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Nil Orange
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Editorische Notiz: Unveränderte Fassung der 2005 in der Anthologie Panik Elektro #3, Schwarzer Turm, erschienenen Kurzgeschichte.
© 2015 by Nil Orange Alle Rechte vorbehalten. www.nilorange.de www.orange-folio.de
»O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt - …« R. M. Rilke
Er holte tief Luft. Er sah sie in seinen Träumen. Er war ihr nie begegnet. Nie fühlte er sich ihr näher, seit er aufgehört hatte zu suchen. Sie zu suchen.
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Würde er sie weiter suchen, er würde sie nicht finden. Würde er sie finden, er würde sie nicht suchen.¹
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Das ferne Tor war wie der Fokus seines Blickes, des Tores Öffnung ins Undeutlich=Gewisse weisend: an den Urgrund zurück zu greifen, dunkel=uranfänglich, war Nacht². Sie.
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01 1 gemäß der logischen Korrektur einer bekannten Sentenz: Wer sucht, der findet nicht; wer findet, der sucht nicht 2 «Allein brachte sie eine zahlreiche und im allgemeinen unerfreuliche Brut hervor, zu der Moros (Verderben), Thanatos (Tod), Hypnos (Schlaf ), die Moirai und Nemesis gehörten…», Edward Tripp, «Crowell’s Handbook of Classical Mythology»
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Wind war gegenwärtig ehe er es sich versah. Unaufhörlich, wehend= windig, er schrie in Himmeln & Erden.
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Wuchtig steinern, unerfunden, kein Atem barg je größere Wunden.
Verborgener See in Sand & Stein. Phantasmagorisches Firmament.¹
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Was trieb ihn, was fand ihn? Stiller See, Ufer in Zeitvergessenheit.
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Hatte er sie nicht längst in sich, war sie nicht sein Spiegel? Und dennoch wollte er sie sehen nicht nur wissen, küssen und nicht länger sehnen.
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09 «Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen; und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. ¶ Nacht ist es, nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden: und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden.», Friedrich Nietzsche in «Nachgelassene Fragmente» (Sommer 1883) 14
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… sie würde den Wind spüren, in jenem Raum, er würde ihr begegnen, in jenem Raum fließender Luft, und das würde es sein.
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Wie anders konnte er jetzt fühlen, als umflossen von Sinnen, Blühen und Früchten, Orange: o –, Apfel: a –––
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Die foramene Kammer, das Pneuma, das Werk.
Phanes – –
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Ovum Argentum: ein Blick! nur ein Blick: Sie!
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Phantasmen, Schwaden, Beben … Er schritt weiter.
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18 «Nacht. Von Himmel zu Meeren ¶ hungernd. Dernier cri ¶ alles Letzten und Leeren ¶ sinnlos Kategorie. ¶ Dämmer. Aus Unbekannten ¶ Wolken, Flüge des Lichts – ¶ alles Korybanten, ¶ Apotheosen des Nichts.» Gottfried Benn in »Nacht» 17 20 «Loch ist immer gut», Kurt Tucholsky in «Zur soziologischen Psychologie der Löcher» (Reinbeck 1960, 804f.)
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Das Labyrinth, die Wildnis, der Wald gebar ihn¹ mit Wucht mitten in die Schau:
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«… denn durch die Schrift wird man Tier, durch die Farbe wird man unsichtbar und durch die Musik wird man hart wie ein Diamant und hat keine Erinnerung mehr, Tier und unsichtbar zugleich: verliebt.»²
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Quelle & Horizont trugen sein Denken wieder & wieder zu ihr:
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Natürlich zu ihr.³
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Sie war nicht sie allein, sie war mannigfaltig sein.
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vent
n. m. (lat. ventus). Agitation de l´air […] Pierre Larousse, 101e edition, 1893 (S. 789)
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2 Gilles Deleuze, «Mille plateaux» (dt. Ausgabe 1992, S. 257) 3
nuit
n. f. (lat. nox, noctis). Espace de temps pendant lequel le soleil est sous notre horizon […] Pierre Larousse, 101e edition, 1893 (S. 524)
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Den kontingenten Raum verlassend wusste er den Fall, das Nicht-Ich.
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Was anderes als: hinab, dunkel=seltsam. Würde er induzieren, was der Zahlen Horizont verhieß?
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Abstieg, Entrückung, Fluchtlinie …
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Ihre Stimme bebte, ihre Intensität zog ihn magnetisch …¹
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Längst gefunden, längst vereint. Sie war sein.
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Sie war seine weiße Wand, weiße Wand mit schwarzen Löchern.
1 «Ich blicke der Frau, die ich in den Armen halte, nicht mehr in die Augen, sondern schwimme durch sie hindurch mit Kopf, Armen und Beinen, und sehe, dass hinter den Augenhöhlen eine unerforschte Region, die Welt des Zukünftigen liegt, und hier herrscht keinerlei Logik […]. Henry Miller in «Tropic of Capricorn» 40
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Würde ihr Gesicht erscheinen, wäre das Tor erreicht, wäre der Raum betreten …
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Äpfel & Orangen — Nein! — Stille — Nichts, nichts mehr …
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«… am Anfang war […] Nyx¹, […] ein Vogel mit schwarzen Flügeln. Befruchtet vom Wind legte die Urnacht ihr silbernes Ei in den Riesenschoß der Dunkelheit.
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Aus dem Ei trat der Sohn des wehenden Windes, ein Gott mit goldenen Flügeln, hervor …
… [Phanes] zeigte und brachte alles ans Licht, was bis dahin im silbernen Ei verborgen lag. Und das war die ganze Welt.»²
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Nacht & Wind, verliebt.
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νύξ, νυκτός (lat. nox, noct-is, dt. Nacht) • 1) die Nacht. … den Alten Mutter des Tages, … • 2) das Dunkel der Nacht, überh.
Finsternis, Dunkel, insbes. von der Blindheit, der Ohnmacht, dem Tode… • 3) personif. die Göttin der Nacht, … (Benseler, 15.Aufl., S. 541) 2 K. Kerényi, «Die Mythologie der Griechen» (S. 20) 53