absolute Herausgegeben von Klaus Theweleit
absolute(ly) Big Lebowski Herausgegeben von Aaron Jaffe und Edward P. Comentale
orange
press
absolute(ly) Big Lebowski Hg. v. Aaron Jaffe und Edward P. Comentale Freiburg, orange-press 2010 Alle Texte aus: The Year‘s Work in Lebowski Studies. © Indiana University Press, 2009 Copyright für die deutsche Ausgabe © orange-press GmbH, 2010 Alle Rechte vorbehalten Buchgestaltung: Annette Schneider (debusc.de) Korrektorat: Dorothée Leidig Die im Text angegebenen URLs verweisen auf Websites im Internet. Der Verlag ist nicht verantwortlich für die dort verfügbaren Inhalte, auch nicht für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität der Informationen. Alle Texte in neuer Rechtschreibung ISBN 978-3-936086-52-2 orange-press.com
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Inhalt
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Dudespeak oder Bowlen wie ein Pornostar | Justus Nieland
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Der Dude und die Neue Linke | Stacy Thompson
Einleitung
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The Big Lebowski und Paul de Man: Historisierte Ironie und ironisierter Historismus | Joshua Kates
97 |
»I’ll Keep Rolling Along«: Anmerkungen über singende Cowboys und Bowlingbahnen | Edward P. Comentale
117 |
Der Zustand des postmodernen Zustands: Sammelkult in THE BIG LEBOWSKI | Allan Smithee
133 |
Glaube, Liebe, Creedence: Musik und die Suche nach dem Echten | Diane Pecknold
149 |
Über White Russian | Craig N. Owens
160 |
Logjammin’ and Gutterballs: Männlichkeiten | Dennis Allen
179 |
Auf die Größe kommt es an | Judith Roof
193 |
Brunswick = Fluxus | Aaron Jaffe
208 |
Der Dude packt das | Jonathan Elmer
218 | 221 | 222 |
Übersetzer_innen | Bibliografie Herausgeber Personenregister
Asche zu Asche, Dude.
Abgefahren, Mann. Absolut abgefahren. Was ein Lebowski ist, möchten Sie wissen? Das ist nicht die zentrale Frage des Films. Die wäre wohl eher Welcher Lebowski? Oder vielleicht Wo ist das verdammte Geld, Lebowski? Aber wir sind schließlich Akademiker. Over-Achiever, wenn man so will. Beginnen wir mit dem Titel, der zugegebenermaßen ziemlich rätselhaft ist. Für einen Filmtitel ist er ausgesprochen eigentümlich und gleichzeitig eigentümlich schwach. Im Verlauf des Films gleitet die Bedeutung von »Big« zwischen Qualität und Quantität, zwischen Geist und Materie hin und her. Es gibt durchaus einen Lebowski, auf dessen Portemonnaie und Leibesumfang das Attribut passt, doch die klägliche Figur, die er abgibt (kahl, aufgedunsen, verkrüppelt, cholerisch), erfüllt nicht ganz die in der sternfunkelnden Titelsequenz geweckten Erwartungen. Dieser Lebowski beschädigt seinen Familiennamen, enttäuscht die Liebe seiner Tochter (ganz zu schweigen von den Hoffnungen der little Lebowski Urban Achievers, der kleinen LebowskiAufsteiger, wir sind sehr stolz auf sie) und trommelt schließlich als »Jammerlappen« infantil auf den Parkettboden einer Villa ein, die ihm nicht einmal gehört. Der andere Lebowski, der Penner und Versager, der »Dude«, beweist auf ganz andere Weise Größe. Nicht mit dem Kopf, das nicht gerade, sondern mit dem Herzen, mit der profunden Zartheit seines Daseins, oder doch zumindest mit einer großzügigen, herzhaften Portion Einfach-nur-da-Sein. Klar doch, Walter, ich werde da sein. Als dann ein kleiner Lebowski unterwegs ist, verschieben sich die Größenrelationen entschieden zugunsten des Dude. Und schließlich wirft der Nicht-Held wie ein Kuckuck das an dere Ei aus dem Nest, erobert sich sein Eponym zurück und macht damit auch die Geschichte zu der seinen. Es sei denn, wir hätten uns vielleicht doch auf den Falschen fixiert, und Maude wäre die einzig wahre, la grande Lebowski … So ein Titelproblem besagt natürlich auch etwas über den Film selbst. Sein Name evoziert Erhabenes und Erbärmliches, klingt zart und smart zugleich. Die alberne, taumelnde Grandezza, mit der er daherkommt, wirkt wie losgelöst von der Welt, wie jenseits aller Bezüge auf Hohes oder Niederes. Ein Name, der so chthonisch und cartoonesk, so klug und altklug zugleich ist, könnte auf eine obskure Gottheit genauso gut verweisen wie auf ein subatomares Partikel, einen Zaubertrick, eine Cornflakes-Packungsbeigabe oder eine neue Turmsprung-Kombination. Über-
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Einleitung Edward P. Comentale & Aaron Jaffe
haupt könnte »the Big L« für alle möglichen lächerlich konkreten Dinge stehen: für eine Bombe, einen Dildo, eine Bong, einen groß angelegten Schwindel, einen Cricketschläger, einen Wrestling-Griff, einen Half-&-Half-Milchbart, einen Cowboyhut, eine Nagellackfarbe, ein antikes, überdimensioniertes »tragbares« Telefon, einen Dreizackfetisch, eine Showtime-Serie mit Eve Sedgwick. Trotz dieser Ambiguität und Dehnbarkeit kann man sagen: The name abides. Der Name packt das. Anders als andere Filmtitel, die schlicht auf einen Protagonisten (Barton Fink), einen Ort (Fargo) oder ein Thema verweisen (Blood Simple), verweist dieser auf den Film selbst. Zuschauer können sich mit seiner Hilfe auf familiäre, beinah vertrauliche Weise auf ihn beziehen: Hast du Lebowski schon gesehen? Ist Lebowski nicht großartig? Lebowski ist der Größte, Mann! Wenn man es nur oft genug wiederholt, verweist »Lebowski« irgendwann auf alles oder nichts. Der Name benennt nichts Spezifisches mehr, sondern klingt stattdessen zunehmend wie das Prinzip des Verweisens selbst. Auf irgendetwas scheint er mit großer Geste hinzudeuten, gleitet aber von jedem stabilen Referenten gleich wieder ab. Um als Bezeichnung herhalten zu können, muss er sich erst zwanghaft selbst stabilisieren, sich mit mehr oder weniger nutzlosen Attributen aufpolstern: Welcher Lebowski? Nicht irgendeiner, sondern ein großer, ein Big Lebowski. Wie groß? Echt groß. So groß, dass er der große, The Big Lebowski ist, der einzige Lebowski dieser Dichte, dieses Gewichts, dieser Höhe oder was auch immer. Vielleicht ist The Big Lebowski einfach der einzig denkbare Name für den einzig existierenden Film des Psychowesternnoircheechandchonginvietnambuddyfilm-Genres, und Name und Referent sind gleichzeitig entstanden – wie wenn ein blutrünstiges Monster von dem entsetzten Aufschrei eines Dorfbewohners seinen Namen erhält oder ein neues Produkt von dem überrumpelten Abteilungsleiter. Ach das? Das ist ein Sagschon! Ein Hula Hoop! Das ist ein Shrinky Dink! Das ist … ein Lebowski! Für Kinder, wissen Sie? Was also ist The Big Lebowski? Oder, falls Ihnen das mit den Kurzbezeichnungen mehr liegt, was ist ein Lebowski? Was für ein Gegenstand ist ein Lebowski? Auf welche Weise existiert er? Wie präsentiert er sich unserer Wahrnehmung? Wenn er tatsächlich ein eigenständiger Gegenstand ist – und davon wollen wir angesichts seiner Kunststoff-Sichtverpackung einmal ausgehen – dann müsste er einer bekannten Kategorie zuzuordnen sein. Gleich auf den ersten Blick können wir feststellen, dass es sich nicht um ein Werkzeug handelt, in dem Sinne, wie etwa ein Hammer, ein Taschenrechner oder ein hochprozentiges Getränk Werkzeuge sein können. Im Vergleich zu den vielen anderen, die zu Hause in unseren Schubladen liegen, dient dieser Gegenstand keinem erkennbaren Zweck, er hat keine Anwendungsmög-
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lichkeiten und keinen Nutzen für Individuum und Gesellschaft. Beim Abspielen wird nichts produziert, nichts geleistet und nichts verändert. Lebowski-Nutzer oder »Achiever« sehen sich den Film im Gegenteil eher an, um Arbeit zu vermeiden, und der Kraft oder Energie, die sie diese Tätigkeit kostet, steht keinerlei entsprechendes Ergebnis gegenüber. Andererseits genügt Lebowski nicht den Mindestanforderungen für eine Ware. Die Gelder, die der Film an der Kinokasse einspielte, waren für seine Produzenten mehr als enttäuschend, und bis heute ist er trotz aller Versuche seitens der Verleiher, ihn in neuer Aufmachung neu zu vermarkten, ein hoffnungsloser Fall geblieben. Sicher kann man ihn eintauschen (gegen eine entsprechend ausgestattete Ausgabe von Alles Routine oder Kingpin zum Beispiel), aber sein Wert scheint alles in allem dem Marktwert zu entsprechen, der bei eBay derzeit rund 69 amerikanische Cent beträgt. Darüber hinaus untergräbt er die grundlegenden Prinzipien von Besitz und Eigentum. Abgesehen davon, dass er zu kostengünstig gemeinsam verbrachten Filmabenden und dem unhygienischen Teilen von Trinkgefäßen animiert, kann in Zeiten von Online-Filmclips und Mash-ups jede beliebige Szene jederzeit auf Knopfdruck reproduziert werden. Gleichzeitig lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, dass es sich bei Lebowski um ein Kunstwerk handelt. Oder überhaupt um einen Text. Natürlich haben wir es mit einer systematischen Zusammenstellung sprachlicher Zeichen zu tun, die mehr oder weniger geeignet ist, von dem geneigten Rezipienten »gelesen« zu werden und die kunstvoll auf eine Gruppe wiedererkennbarer Menschen in Zeit und Raum verweist. Zusammenhangloses Gebrabbel sieht anders aus. Dennoch widersetzt sich Lebowski den bei Texten üblichen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsstrukturen: 1. Der Film wurde von Mutanten-Brüdern geschaffen, die angeblich vornehmlich telepathisch miteinander kommunizieren. 2. Die beiden drehten mit einer Crew aus Freunden und Vertrauten, die sie schlicht nach persönlichen Vorlieben ausgewählt hatten. 3. Der Film leistet sich ein Minimum an Halt gebenden Strukturen und zugleich ein schizophrenes Übermaß an filmischen Querverweisen. 4. Die exquisiten Schauplätze, Requisiten und Kostüme lenken nicht nur vom Plot ab, sondern bestimmen in entscheidenden Momenten Handlung und Charakterentwicklung maßgeblich mit. 5. Der Film wird – meist zur Unzeit – vor kleinen, zufällig zusammengewürfelten Grüppchen konzentrationsschwacher Fans vorgeführt, die reflexartig ihre Lieblingssätze und -szenen mitsprechen. 6. Er ist Ausgangspunkt zahlreicher geheimnisvoller Wohnheim-Riten und liefert Material für Parodien und liebevolle Neuschöpfungen in den digitalen Medien. Und schließlich taugt er als Gegenstand sowohl einer alkoholgeschwängerten Jahresversammlung in Louisville, Kentucky, als auch, neuerdings,
mindestens einer Aufsatzsammlung von akademischen Schreiberlingen, dieser hier nämlich. Nein – falls Lebowski überhaupt einem Gegenstand unseres kollektiven Bewusstseins ähneln sollte, so doch sicher keinem, der sich mit den üblichen Kategorien fassen ließe. Stattdessen sollten wir es mit einem der bedeutungsgeladenen Objekte aus dem Film selbst versuchen. Nicht mit dem Bowlingball oder dem amputierten Zeh, sondern mit dem Joint. Und nicht mit einem beliebigen, sondern mit der herrlich entspannenden Tüte, die der Dude höchstselbst konsumiert, dem überflüssigen und psychedelischen, moralisch zweifelhaften und immer zu schnell zur Neige gehenden Stoff seiner Träume. Lebowski gleicht einem Joint in allen Bedeutungen des Wortes: 1. dem Joint als Erzeuger veränderter Bewusstseinszustände, 2. dem Joint als Mittler entspannter, zwangloser Begegnungen, 3. dem Joint als physikalisch verbindendem Element, wie er in »joint compound« vorkommt, dem englischen Wort für Fugenmasse – als Möglichkeit, disparate Klänge, Bilder und Bedeutungen zu psychotropen Gesamtheiten zusammenzufügen, 4. dem Joint in seiner Bedeutung als Absteige, Ort der Begegnung, Heimstatt einer gemeinsamen Kultur, eines ungezwungenen, leicht benebelten Gefühls der Zugehörigkeit. Ebenso wie der Joint ist Lebowski vor allem durch sein Hohlsein definiert, ist gleichermaßen verhüllt wie offen, ein Gegenstand, der bei Gebrauch verschwindet, einzig dafür geschaffen, die Luft hindurchzulassen, in die er sich langsam und genüsslich auflösen wird. Er ist ein mythischer, ein Möbius-Joint, von M.C. Escher persönlich aus Zig-Zag-Blättchen gebaut. In jeder seiner Eigenschaften – als Bindeglied zwischen Menschen, Orten oder Texten – erfüllt und entleert er sich gleichermaßen. Der Lebowski-Joint verglüht wie die Hipster-Version des Phönix. Auflodernd folgt er seiner mythischen Bestimmung und hört im selben Augenblick auf zu sein, wird zu seiner eigenen hohlen Offenheit, zu toter Asche, im doppelten Wortsinn ausgebrannt, abgebrannt, am Ende. Lebowski weckt lockere Assoziationen zwischen mehr oder weniger disparaten Phänomenen. Sein Leitprinzip ist das sedierte Herbeiphantasieren eines ganzen Kosmos von Un-Dingen, eines Planetensystems aus faszinierenden Bezügen und bedeutungslosem Tand. Demnach ist ein Steppenläufer ein Bowlingball ist eine Film rolle mit einem Western aus dem äußersten Westen, einem Westen, den es gar nicht mehr gibt, außer in Übersee, in Korea, Vietnam und dem Irak. Und ein Terrier ist ein Spitz ist Toto (aus dem Zauberer von Oz), der aus dem Off einen Mann ankläfft, der das personifizierte Paraquat ist (in der Originalversion jedenfalls, A.d.Ü.), ein Herbizid gegen Marihuana, gegen Rauschzustände, wie sie der Dude erlebt, kurz bevor er von einem Murmeltier angegriffen wird, das eigentlich ein Frettchen ist, das eine Horde von Nihilisten auf ihn ansetzt, die für Geld die Entführung einer Pornodarstellerin
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vortäuschen, die ausgerechnet aus dem Mittleren Westen entlaufen ist. Anhand dieser Bezüge weitet sich der Film und schnurrt wieder zusammen, löst ekstatisch die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Phantasie auf, reduziert alles auf reine Assozia tionsketten, auf die Verknüpfbarkeit selbst. In seiner Nebelhaftigkeit gelingt es ihm mühelos, das phänomenologische Feld aufzumischen, die kulturellen Archive rückwirkend zu transformieren, indem er sie zu Asche zerfallen lässt. Was tut man also mit einem Lebowski? Man raucht ihn. Und dann wackelt der Schwanz mit Schrödingers Katze, und der Lebowski raucht dich. Manchmal rauchst du den Lebowski, und manchmal wirst du vom Lebowski geraucht. Anders gesagt: Everybody must get stoned. Man muss diesen Film mit glasi gen Augen sehen, und der vorliegende Band versteht sich als Beitrag dazu: als entspannte, nachlässige, angenehm erschöpfte Betrachtung. Die Gegenstände des Films bewegen sich in Grenzbereichen der Signifikanz, wo alles irgendetwas – oder etwas anderes – zu bedeuten, auf das eine oder andere zu verweisen scheint. Den Hund kenne ich doch. Das ist der aus diesem uralten Film, du weißt schon, Alter, der mit dem Mädchen. Solche Bezugnahmen kommen ohne jeden festen Bezugsrahmen aus. Und der Betrachter verhält sich wie unter dem Einfluss gewisser Substanzen, apathisch, sediert, und doch staunend, aufnahmebereit, keiner noch so unmöglichen Verbindung abgeneigt. Meinst du etwa Toto, Mann? Toto ist doch kein Spitz. Die Erfahrung dieses Films – und unserer Forschungsarbeit – basiert weniger auf Codes, auf dem Dechiffrieren von Motiven und Anspielungen, als auf dem Prozess der Ideen bildung selbst, auf einer Offenheit für Assoziationen, die es nie versäumt, den festen Fokus zu verfehlen. Na logisch, Alter, Toto ist spitz wie sonst was. Dieser Gemütszustand scheint auch die Arbeitsweise der Filmschaffenden zu prägen. »Man kennt irgendwelche Leute und hört irgendwelche Geschichten, die dann auf rätselhafte Weise zusammenpassen«, erklärt Ethan Coen. »Erst sind viele vage Ideen da, und dann fangen wir an zu schreiben – ganz von vorne. Und so arbeiten wir dann die eigentliche Idee heraus.« (Robertson 41, 48) Die Lebowski-Methode setzt auf Offenheit, freien Fluss und verschwommene Grenzen zwischen Irrationalität und objektiven Fakten, zwischen einem Bedeutungspotenzial und der Weigerung, es zu realisieren. Ein Punkt, den auch Rick Heinrichs betont, der Produktionsdesigner des Films: »Ich finde, man muss es echt nicht übertreiben. Man sollte es den Leuten selbst überlassen, ob sie es kapieren wollen, und wenn nicht, ist das auch okay. Natürlich kann man alles im Nachhinein rationalisieren und analysieren, bis es aussieht wie eine großartige intellektuelle Konstruktion. Aber eigentlich geht es nur um
Motive. Man denkt sich im Verlauf Motive aus oder stolpert einfach über welche, die man dann benutzt, um die Szenen miteinander zu verbinden. (Robertson 104) Hier geht es nicht um einen der üblichen Kiffer-Filme, sondern um einen bekifften Film. Seine Lässigkeit, sein träger, glasiger Blick enthüllen mehr als alles, was jeder seiner Gegenstände für sich genommen preisgeben könnte. Derart benebelt, stülpt die materielle Welt ihr Innerstes nach außen. Das amerikanische Setting löst sich aus seinem rationalen Rahmen, taucht wie ein psychedelischer Seehund kopfüber in sein eigenes Selbst und badet in der satten Glut seiner psychischen Unterströmungen. Es geht dabei nicht um den Verstand, sondern um Gefühle, Begehren, das Unbewusste und all das, was in einer sonst so leblosen Welt voller toter Objekte und wirkungsloser Ursachen plötzlich wieder möglich wird. Ethan Coen dazu: »Es ist irgendwie falsch, aber dann auch wieder irgendwie genau richtig. Auch Dinge, die nicht zusammenpassen, können sich doch zumindest auf interessante Weise beißen – wie zum Beispiel ein Cheech-and-Chong-Film, in dem Bowling vorkommt. Das macht man eher nach Gefühl als mit dem Verstand.« (Robertson 45) Abgefahren? Absolut nicht, Mann. Die Coens inszenieren in The Big Lebowski das Surreale des Alltags – der Film handelt von inneren Welten, nicht von der Außenwelt. Mit ihrer Methode stellen sie sich in eine lange Tradition von Versuchen, den starren, das Leben entstellenden Ausdrucksformen der Moderne mithilfe des bewegten Bildes wieder eine befreiende Irrationalität entgegenzusetzen. Kurz nach Einführung des Mediums Film experimentierten Luis Buñuel, Man Ray und andere mit seinen Möglichkeiten, temporale und räumliche Ordnungen zu unterlaufen und unter oder zwischen Gegenständen und Bildern latente Bedeutungen sichtbar zu machen. Ihrer Ansicht nach wurden durch die passive Zuschauerhaltung und ekstatische Seelenzustände in den dunklen Sälen der Lichtspielhäuser wachtraumähnliche Erlebnisse erzeugt. Die spezifischen Eigenschaften des Mediums – Schnitte, Montagen und Bilder – rührten an ein verborgenes Reservoir von Begierden und Phan tasien, wenn nicht gar an eine andere, poetische Realität. Oder wie Jacques Brunius konstatierte: »Die zeitliche Anordnung der Einzelbilder ist absolut analog zu den Anordnungen, die Gedanken oder Träume hervorbringen können. Weder ihre chronologische Reihenfolge noch die Relationen der Zeitspannen untereinander sind real. Im Gegensatz zum Theater wählt der Film, ganz wie der Gedanke oder der Traum, einzelne Gesten aus, verzögert oder vergrößert sie, übergeht andere, überwindet Stunden, Jahrhunderte und Kilometer in wenigen Sekunden, beschleunigt, verlangsamt, hält an oder läuft rückwärts.« (Hammond 11) Sofern Träume nach Freud den Prinzipien der Verdichtung und Verschiebung folgen und mentale wie physische Kategorien unterlaufen, finden sie ihre Entspre-
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chung in absichtlich avantgardistischen Filmen ebenso wie in irgendwie zusammengeschusterten Streifen. Die »Realitätsstreue des Bildes« trifft auf die »Untreue der Montage«, was, in den Worten Paul Hammonds, den Kinofilm dazu prädestiniert, »den Traum abzubilden, indem er, vereinfacht gesagt, wie der Traum die Realität des Wachzustandes (Fotografie), kräftig durcheinanderwürfelt (Montage)« (12). Wie die Surrealisten haben auch die Coen-Brüder eine Vorliebe für deplatzierte Objekte und absurde Szenen. In The Big Lebowski sieht sich der Zuschauer mit einem abgetrennten Zeh konfrontiert, mit einem Schulaufsatz im Gefrierbeutel und einer Reisetasche voller Unterwäsche, ganz zu schweigen von dem Vietnamveteranen und dem Cowboy auf der Bowlingbahn, einem Rudel Nihilisten mit einer Vorliebe für Pfannkuchen sowie einem vorsorglich angeleinten Kampfmurmeltier. Aber jedem der Objekte fügen sie noch einen weiteren Dreh hinzu, irgendein haarsträubendes Detail (grüner Nagellack auf dem Zeh, eine schlechte Note auf dem Aufsatz, Nieten auf dem Ledergeschirr des Tieres), das die Spannung zwischen dem Alltag und seinen irrationalen Subtexten weiter erhöht. Die Coens offenbaren eine ausgeprägte surrealistische Tendenz, mit ihren Gegenständen zu spielen und sie als mehrdeutige Bilder zu behandeln, die entlang der Oberfläche des Films vielfältige Resonanzen erzeugen. Jedes einzelne wechselt mehrfach durch die Register, während es sich zeitlich (von Szene zu Szene) und räumlich (von Schauplatz zu Schauplatz), aber auch symbolisch und thematisch fortbewegt und sich verschiedensten Assozia tionen öffnet, beabsichtigten wie unerwarteten. So enthüllt der ältere Lebowski in der Limousine einen Zeh und brüllt, er habe »keine andere Wahl, als diesen Ganoven zu sagen, dass sie alles Nötige unternehmen sollen, um sich ihr Geld wiederzuholen, und zwar von Ihnen, Jeffrey Lebowski. Und mit Brandt als meinem Zeugen werde ich Ihnen noch Folgendes sagen: Jedes weitere Leid, das meiner Bunny zugefügt werden sollte, werden Sie zehnfach zu spüren kriegen. Bei Gott, Sir, einen weiteren Zeh werde ich nicht ertragen.« Kurz darauf sehen wir einen entspannten Dude in der Badewanne. Die Kamera verweilt nachdenklich auf seinen zehn munter wackelnden intakten Zehen, die bald darauf (zehnfach) in das Visier der murmeltierbewehrten Nihilisten geraten werden. Angesichts seiner Nacktheit dürfen wir die Zehen auch als zehn kleine Penisse auffassen, von denselben Ganoven mit Kastration bedroht, die wenig später auch im Traum des Dude auftauchen und ihn (nicht länger mit einem Murmeltier bewaffnet, sondern mit riesigen, offenbar aus Maudes Gemälde stibitzten Scheren) eine Bowlingbahn hinunterjagen. Die Zehen wiederum transformieren sich in diesem Traum, etwas weniger traumatisch, in zehn Bowlingpins, die kurz darauf durch einen von Maude geworfenen Ball umgelegt werden, vielleicht aber auch von Maude selbst, denn als wir sie
»Der Daumenlutscher« aus: Heinrich Hoffmann, Der Struwwelpeter, 1845
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im Klettergurt unter der Decke ihres Ateliers entlangrasen sehen, hören wir – dank einer Soundmanipulation, die jedem Surrealisten zur Ehre gereicht hätte – das Geräusch eines rollenden Balls und fallender Pins. Andererseits erinnert der smaragdgrüne Nagellack wieder an Amerikas grünen Mittelwesten, an eine reduzierte Version davon zumindest, an die grüne Farbe des Geldes nämlich, und Bunny, deren eigene Zehen durchweg überraschend unversehrt bleiben, erklärt dem Dude, dass sie ihm für 1.000 Dollar den Schwanz lutschen würde, als dieser den Nagellack an ihrem rechten Fuß trockenpustet. Antwort des Dude, über seine Brille hinwegblickend wie Tom Cruise in Die Farbe des Geldes: »Ich seh mal zu, dass ich ’nen Geldautomaten finde.« Diese Bezüge – objektiv und phantastisch, medientypisch und unplausibel – definieren den Raum des Films. Er öffnet sich nach allen Seiten und gibt sich einem zufälligen Verweisspiel hin, das mal erschreckend dümmlich wirkt, mal schwindelerregend schicksalsschwer. Der Zufall ist übrigens der einzige Aspekt im Produktionsprozess, den die Coen-Brüder bereitwillig erörtern, und das vielleicht nur deshalb, weil er sie aus der überheblichen Logik autorieller Autorität befreit. In seinem »Making of«-Buch zu The Big Lebowski zeigt William Preston Robertson, dass sich die Coens bei der Erzeugung von Zufällen innerhalb und außerhalb der formalen Struktur ihres Films grundlegender surrealistischer Techniken bedienten. Am Beginn des Prozesses stand eine Ansammlung unverbundener Objekte (Teppich, Zeh, Schulaufsatz im Gefrierbeutel) und der brüderliche Beschluss, sie alle in ein und demselben Film unterzubringen. »Erst haben wir eine Idee«, erklärt Ethan. »›Hey, wäre doch schick, wenn jetzt ein amputierter Zeh auftaucht.‹ … Wir wollen das Ding also mitsamt Zeh durchziehen. Und schon haben wir das Problem, wem dieser Zeh wohl gehört … so kann man halt auch arbeiten, indem man sich selbst in die Enge treibt und dann alle möglichen Verrenkungen machen muss, um wieder rauszukommen.« (Robertson 49) Der Film entwickelt auf diese Weise eine Art unwillkürliche Poesie. Seine Gegenstände spalten sich immer wieder auf und taumeln unterschiedlichen Deutungshorizonten entgegen, die sich mit jeder Filmsekunde exponentiell vervielfachen. Und dennoch: Selbst wenn der Zufall zum strukturierenden Element des Films geworden ist, erscheint diese Struktur nie schlichtweg amorph und beliebig, nie völlig sinnfrei. Der Zufall bringt, das wussten schon die Surrealisten, seine eigene Logik hervor, seine eigene Kausalität. Zufall ist nicht die Abwesenheit von Ursachen, sondern ihre Offenheit; er bricht kohärente Zusammenhänge auf und platziert Momente der Desorientierung in logischen Abfolgen. Im Mikrokosmos der Coen-Brüder lösen sich die Dinge notwendigerweise in ihre Bestandteile auf oder hängen durch ihre Zufälligkeit zusammen – das Sein und das Nichts lassen sich auf eine Partie
Ein Schauspiel der gewรถhnlichen Kรถrper.
In welchem Zustand befindet sich die linguistische Verfassung des Dude? Keine Frage, sie ist beschissen. Aber was genau heißt das? Wir könnten damit anfangen, dass die Sprache des Dude meistens gar nicht seine eigene Sprache ist, sondern er bekifft die Formulierungen von anderen nachplappert. Dudespeak ist Mimikry, das zwanghafte Entleihen von Phrasen aus dem stilisierten Geschwafel, das in ständigen Wiederholungen, Schleifen und Ersetzungen die linguistische Welt des Films ausmacht. Beispiele finden sich zuhauf. »Diese Aggression läuft hier nicht, Mann«; »ihr Leben lag in unsren Händen, Mann«; »In der Sprache unserer Zeit, wissen Sie«; »Johannes?«; »Sie meinen, Koitus?«; »Muschi? Sie meinen Vagina?« Alle diese Phrasen sind Zitate und Klangfetzen, die immer absurder werden und in so unpassenden Kontexten auftauchen, dass sie irgendwann nur noch als linguistisches Futter für die Spaßfabrik der Coens dienen. Selbst der typische Spruch des Dude, der sprachlich ein gesamtes Ethos auf den Punkt bringt – »der Dude packt das« –, ist nichts als die Neuformulierung der Grenzen dessen, was Jeffrey »the Big« Lebowski bereit ist zu tolerieren, nichts als seine Weigerung, noch »einen weiteren Zeh zu ertragen«. Der Dude, »vielleicht der faulste Sack in ganz Los Angeles«, mag solche mimetischen Redewendungen einfach gerne von sich geben, doch Dudespeak veranschaulicht die weitere Ausdruckswelt des Filmes: »Manchmal gibt‘s einen Mann, das ist der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Der passt genau da hin, und so einer war der Dude in Los Angeles.« Wie durch Dudespeak deutlich wird, ist Entkontextualisierung das komödiantische Credo im Los Angeles der Coen-Brüder. Personen, Worte und Dinge werden von ihrem ursprünglichen »Bezugs-Rahmen/Frame« getrennt, wobei das Wortspiel um Rahmen und Frames das Problem von Bedeutung gleichzeitig im sozialen Raum der Bowlingbahn, wo in so genannten Frames gebowlt wird, und im indexikalischen Potenzial des Kinos mit seinen eigenen Abfolgen von sich bewegenden Bildern/Frames lokalisiert. Die Zitier-Wut ist sowohl eine linguistische als auch eine, na, sagen wir mal … also, eine ontologische Verfassung in dem Film. Walter beharrt ständig darauf, dass Donny »fehl am Platz ist«, aber auch der Dude, dieser unmögliche Film noir-Held, ist fehl am Platz, genauso wie Bunny Lebowski, geborene Fawn Knutsen, Exil-Minnesotaerin. Und eigentlich sind auch Murmeltiere in Badewannen, Pistolen und Zwergspitze im Bowlingcenter und abgeschnittene Zehen in Einwickelpapier »fehl am Platz«. Im Grunde ist sogar Walter am meisten fehl am Platz, denn die kompensato-
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Dudespeak oder Bowlen wie ein Pornostar Justus Nieland
rische Selbstsicherheit seiner rhetorischen Ausbrüche wird von der paranoiden Verschiebung des Kontexts vollkommen unterminiert. Walter ist unfähig, in Beziehungen zu denken, er erkennt den Unterschied zwischen verschiedenen räumlich-temporalen Situationen nicht, weil alle Kontexte miteinander verbunden und deshalb identisch sind: der Golfkrieg ist »ein Ligaspiel«, ist Vietnam, ist die gewalttätige Konfrontation mit Larry Sellers. Und Donnys Tod ist der Tod dieser »jungen Männer in der Blüte ihres Lebens«, die »in Kha San und Lan Doc, in Hill 364« getötet wurden. Walters Strategie ist der Kampf gegen das Verschwinden von Kontext, mit seinen absurden und gewaltsamen Versuchen, Sprache an moralische Grundsätze zu binden: an »Regeln«, an das Gesetz, an 3.000 Jahre schöner, wenn auch geborgter judaistischer Tradition, an eine »verdammte Töle, die schon alle möglichen Preise gewonnen hat.« Mit diesen aufgeladenen Begriffen wird die Dudespeak-Zitier-Wut zum MetaKommentar über den Zustand der Ironie. Denn es ist die Ironie, durch die Verständnisprobleme entstehen, wenn Sprache von einem erkennbaren Ethos getrennt wird. Ebenso birgt die Verwendung von Ironie das notorisch instabile Anliegen, Kontexte stabilisieren zu wollen und den Ausgangspunkt für eine Äußerung zu finden, für die – um den Fremden zu zitieren, der wiederum Dick Powells Sicht auf Phillip Marlowe zitiert – es »keinen Grund« gibt. Das linguistische Wesen des Dude definiert sich durch die Vereinnahmung von Sprache – durch seine fundamentale Entfremdung von Sprache als dem vermeintlichen Locus dessen, was dem Menschen am ureigensten angemessen ist. Diese Definition wird wiederholt auf der Ebene der viel diskutierten sprachlichen Entlehnungen des Films, in einer wahren Logorrhö der Zitate. Dudespeak ist nicht nur der Inbegriff der terminologischen Verfasstheit der diegetischen Welt des Films, sondern beispielhaft für die atemberaubende sprachlich-filmische Ausdrucksweise der Coen-Brüder. Deshalb möchte ich hier die These aufstellen, dass die Fokussierung auf den Zustand der Sprache in The Big Lebowski einen sehr direkten Zugang zu der Frage ermöglicht, in welchem Maß wir das, was der Film aussagt, ernst nehmen sollen oder können, und inwieweit seine Äußerun gen durch zumindest scheinbare Glaubwürdigkeit oder Echtheit gestützt werden. Bei Fragen nach der linguistischen Entfremdung des Dude fällt auf, dass The Big Lebowski besonders auf drei zeitliche Bezugsrahmen setzt. Jeder dieser Bezugsrahmen ist eigentlich ein linguistischer Horizont, der die Parameter von politischer Rede durch unterschiedliche Beziehungen zwischen Sprache, Handlung und Wirkung darstellt. Im Folgenden möchte ich diese sprachlichen Felder diskutieren, die ich mit den Stichworten chandlereske Metaphorik, Port-Huron-Erklärungen und pornografisch-utopisches Logjammin‘ bezeichne. Vor dem Hintergrund der ersten beiden Bezugsrahmen entsteht der Witz über die 1990er und deren Dudespeak. Im dritten
Bezugsrahmen schwappt Dudespeak, ohne viel Sinn zu ergeben, in eine weitreichendere kommunikative Logik: das Geschwätz der postmodernen Bowler. Es gibt nur wenige Filme, die mit solcher Eloquenz die Sprache der politischen Passivität vermitteln wie The Big Lebowski.
Trotz aller stotternden Wiederholungen, der hingenuschelten Zusammenhangslosigkeit und dem explosiven Aufeinanderprallen von unpassenden Redewendungen in der falschen Situation ist Dudespeak in The Big Lebowski nicht nur ein »Du kannst mich mal« an die Adresse des bravourösen Witzes und der schlagfertigen Kaltblütigkeit von Film noir-Dialogen. Deren auf Hochglanz polierte sprachliche Wendungen können trotzdem kaum den Aufruhr der Gefühle zurückhalten, die tief im Herzen des Film noir liegen. Auch sind die maulfaulen Worte des Dude nicht das kognitiv-linguistische Äquivalent seiner Wampe, als wäre bedauerlicherweise seine Sprache mit dem Körper aus dem Leim gegangen und zitiere nur noch ironisch, wenn auch schlampig, die stählerne Präzision der hartgesottenen Diktion. Die Coen-Brüder sind Experten, was den Noir betrifft, sie kennen Hammett, Cain und Chandler auswendig. Hier wenden sie sich dem linguistischen Terrain des Chandleresken zu, wo die Sprache sich der Instrumentalisierung der massenproduzierten Form entzieht – die nur auf Handlung gelesen wird, auf Erfolg, den Moneyshot, das ENDE – und stattdessen den weitaus raffinierteren Genüssen des gut gesetzten Worts den Vorzug gibt. Chandler drückt das folgendermaßen aus: »Nach meiner Theorie glaubten die Leser (von Groschenromanen) nur, dass es ihnen ausschließlich um Action ginge. Doch obwohl es ihnen nicht bewusst war, ging es ihnen ebenso wie mir in Wirklichkeit um die Emotion, die durch Dialog und Beschreibung ausgelöst wurde.« (»Jameson on Raymond Chandler« 122 – 123).1 Vielleicht ist es naiv, doch Chandler glaubt, dass seine Leser die kunstfertige Rede der Pornografie vorziehen, weil, wie der Porno-
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Metaphorik Dude: Ich – das königliche wir, Sie wissen schon, wie in den Leitartikeln – ich hab das Geld abgeliefert genau wie da … ich hab da ganz bestimmte Informationen, verstehen Sie? Da sind ein paar Dinger ans Licht gekommen und … haben Sie schon mal dran gedacht, dass anstatt, statt, äh, hier rumzuschreien und mir die Schuld zu geben, ach, sehen Sie sich die Scheiße mal genauer an. Es könnte doch möglich sein, das Ganze ist, äh, komplexer, ich meine, das Ganze ist … möglicherweise ist es gar nicht so einfach, äh. Verstehen Sie? Lebowski: Was in Gottes Namen labern Sie da bloß für einen Blödsinn?
Mogul Jackie Treehorn nicht ohne fiese Hintergedanken formuliert, »das Gehirn die größte erogene Zone ist.« Allerdings war Chandler schon immer ein romantischer Modernist, der sich den Trenchcoat des brutalen Schlägers nur übergeworfen hatte. Schon vor vielen Jahren stellte Fredric Jameson die brillante These auf, dass Chandlerspeak nicht die Instrumentalisierung der Sprache festhält, sondern vielmehr die historischen Zwänge, die der Kapitalismus der Sprache der Fiktion auferlegt. Wir sehen dies zum ersten Mal, wenn Chandler »Klischees und stereotype sprachliche Muster [verwendet], die durch die Präsenz einer gewissen Form von Emotion hinter ihnen zum Leben erweckt werden, einer Emotion, die im Umgang mit Fremden fühlbar wird.« (»Jameson on Raymond Chandler« 133). Chandlers Dialoge verweigern geradezu Intimität und Gefühlsausdruck, er kreiert einen Jargon, bei dem das Fehlen von Authentizität eine atomisierte, abstrahierte und entfremdete soziale Welt widerspiegelt. Die Essenz dieser Sprache unter Fremden ist der Slang, der, so Jameson, »in hohem Maße serieller Natur ist: Ähnlich wie der Witz existiert Slang als ein Objekt, das von Hand zu Hand gereicht und doch immer irgendwo anders auftaucht und nie voll im Eigentum dessen ist, der es benützt« (134). Slang verweist also auf die Abstraktion von Gefühlsleben und sozialem Raum, während Chandlers übertriebene Vergleiche dem Leser auf der Ebene der Beschreibung Versprechungen einer utopischen Wahrnehmungskompensation einflüstern. Schauen wir uns zum Beispiel diese modernen Glanzstücke aus Der große Schlaf (1939) an: General Sternwood gebraucht seine schwindenden »Kräfte so behutsam wie ein brotloses Revuegirl sein letztes Paar Strümpfe«; seine Tochter Vivian sorgt sich und beißt auf ihren Lippen herum »wie ein junger Hund auf dem Teppichsaum«; das Blut regt sich im Körper des angeschlagenen Marlowe »wie in einem Bauherrn beim Richtfest« (9, 20, 168).2 Jameson fordert uns auf, diese überbordenden Metaphern als Mittel zu verstehen, mit dem Objekte beurteilt und Unterscheidungen und Distanz zwischen Objekten geschaffen werden. Diese Wahrnehmungsweise, so Jameson, wird »nur möglich vor dem Hintergrund einer bestimmten, wiedererkennbaren Gleichförmigkeit der Objekte (»Jameson on Raymond Chandler« 141). Chandlers Dialoge machen also die Vorspiegelung von sozialer Einheit durch den Einsatz von verbalen Allgemein plätzen kenntlich, während seine Metaphern Nostalgiemaschinen sind, die das sozioökonomische Leben einer früheren Zeit heraufbeschwören, als die Dinge noch einfacher und markanter in ihrer Einzigartigkeit zu erkennen waren. Der große Schlaf (1939), der erste Roman Chandlers, stellt auf besonders intelligente Weise dar, wie der für die Moderne so typische Wettstreit zwischen Einzigartigkeit und Serialität, zwischen Authentizität und Abstraktion in der Sprache kodiert wird. Chandlers Marlowe hat, ganz anders als s, etwas von einem Dandy, der
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überhaupt nicht wie der Dude daherkommt und dessen offensichtlicher Stolz auf seine sprachliche Kompetenz perfekt zu seiner eleganten Kleidung passt. Als General Sternwood ihn bittet, etwas von sich zu erzählen, erwidert er: »Klar, aber da gibt es sehr wenig zu erzählen. Ich bin 33 Jahre alt, war früher mal auf dem College und kann immer noch Englisch sprechen, wo‘s gebraucht wird« (10). Wie Chandler, der angeblich von einer Karriere als vergleichender Sprachwissenschaftler träumte, ist Marlowe ein Experte für die Sprache der anderen. Er versteht sofort, dass Sternwood gelernt hat, die »Sprache« seines verschwundenen Schwiegersohnes Rusty Regan zu »sprechen«, und er deutet dessen Imitation des phrasendreschenden Schnapsschmugglers als sicheren Hinweis, dass der Alte seinen Schwiegersohn ins Herz geschlossen hat (11). In der bescheidenen Aufrichtigkeit von Harry Jones‘ Worten sieht er »etwas, das genug nach Würde klang, um [ihn] zum Staunen zu bringen« (143). Das Schnurren in der Stimme des Psychopathen Canino ist »so falsch wie die Wimpern eines Flittchens und so glatt wie die Kerne in einer Wassermelone« (152). Vivian Sternwood spricht »kühl, übellaunig, hochnäsig gedehnt« (120), und Marlowe kann ihre Beleidigungen riechen wie sauren Wein. »Das konnte mich nicht reizen, und so ließ ich es vom Winde verwehen« (17). In dieser Epistemologie des Ohres wird die Sprache zu einem Indikator für den Charakter der Figur, für ihre Handlungsmacht und Intention, den Grad ihrer Ernsthaftigkeit, für ihre moralische Integrität oder noch häufiger, ihren moralischen Ausverkauf. Und Marlowes linguistische Selbstbeherrschung, so sehr sie auch von Chandlers metaphorischem Überschwang unterstützt wird, kann doch dem übermächtigen Druck der trägen, überflüssigen, klischierten, kurz gesagt, der gemeinen Sprache nicht standhalten. Vivian zieht Marlowe mit den Fehlern auf, die ihm gelegentlich im Gespräch unterlaufen, tadelt ihn, wenn er in die Umgangssprache abgleitet (»Sagen Sie nicht immer ›tja‹. Das gehört sich nicht.«) oder beim gegenseitigen Schlagabtausch versagt. »Ihre Lippen kräuselten sich. ›Bitte etwas geistreicher, Marlowe. Viel geistreicher‹« (126,129). Der verunsicherte Marlowe ist sich dieser lauernden sprachlichen Impotenz genau bewusst. So beschreibt er die Stimme des heruntergekommenen Gauners Joe Brody als »die gut einstudierte, lässige Stimme des harten Burschen aus dem Kino. Das Kino hat sie alle gleich gemacht« (69). Vier Jahre vor Chandlers kurzer Anstellung als Drehbuchschreiber für die Paramount-Studios in Hollywood und fünf Jahre vor Marlowes erster filmischer Wiederauflage in Edward Dymtryks Mord, mein Liebling (1944) sieht seine außergewöhnlichste literarische Schöpfung schon den eigenen Untergang in der Formelhaftigkeit der Kulturindustrie voraus. Sind Marlowes coole Sprüche wirklich scharfsinnig und witzig, oder ist er schon ein wandelndes Klischee? Die beste Antwort auf diese Frage gibt der übertrieben schwermütige Ton des Romans selbst.
Marlowes Festung der maskulinen Scharfzüngigkeit wird in Der große Schlaf von zwei Figuren belagert, die durch ihre geradezu perverse Unfähigkeit zur Artikulation charakterisiert werden. Da ist zum einen Carol Lundgren, »das Mordsbübchen mit dem begrenzten Wortschatz« (113). Lundgren ist der schwule Liebhaber und Mitbewohner von Arthur Gwynn Geiger, dem Besitzer eines literarischen Antiquariats, das aber nur als Tarnung für eine pornografische Leihbibliothek dient, die ihren Kunden »sagenhaft schweinisch[e]« Fotoaufnahmen bietet (28). In Geigers Haus findet Marlowe die nackte Carmen Sternwood, die vollgepumpt mit Laudanum auf ihre Fotosession wartet. Das Heim des Antiquars wird dabei als Epizentrum der Dekadenz von Los Angeles beschrieben. Lundgren wird in den grotesken Plot des Romans verwickelt, weil er Joe Brody erschießt, den er fälschlicherweise für den Mörder Geigers hält. Doch Lundgren hat auch noch eine wichtigere Funktion in der Geschichte, als Zielscheibe eines Running Gags zu sein: Wenn Marlowe und die Polizei ihn verhören, antwortet er immer nur mit »Leck mich …« (86). Wenn also die Sprache in Der große Schlaf entscheidende Hinweise auf den Charakter der Figuren liefert, dann doppeln Lundgrens »vier Lieblingswörter« seine perverse Sexualität, und Chandler kann durch die marottenhafte und unveränderte Wiederholung gängige Klischees der Zeit abrufen, die einen Zusammenhang zwischen Homosexualität, Sterilität und einer hermetischen Oberflächlichkeit voraussetzen. Noch eindrucksvoller ist, wie Chandler hier die historische Assoziation von »Scharfzüngigkeit« mit homosexuellen Männern auf den Kopf stellt: »So wie er veranlagt ist« kann Lundgren kaum einen korrekten Satz formulieren, während Marlowe als meisterhafter Sprücheklopfer daherkommt (97). Dies ist auch der Grund, warum Vivian Marlowe, der sich doch so gut mit Worten und Stimmen auskennt, erklären muss, wer Proust ist: »Ein französischer Autor, ein Connaisseur des Verfalls. Sie werden ihn kaum kennen« (49). Doch obwohl Geigers Haus mit seiner »schwülstigen Orgiastik der Farben« selbst tagsüber »so eklig schal wie Kehricht nach einer wilden Party« (56) wirkt, macht diese verkommene Degeneration die Atmosphäre des Romans aus und lädt sogar zur Nachahmung ein. Manchmal wird die Mimesis kontrolliert eingesetzt, zum Beispiel in der Szene (die durch Humphrey Bogart in Howard Hawks‘ Verfilmung berühmt wurde), in der Marlowe sich mit einem tuntigen Lispeln als Experte für seltene Bücher ausgibt und schnell herausfindet, dass Geigers Buchladen nur Fassade ist. An anderen Stellen, zum Beispiel in der Szene, als Lundgren Marlowe angreift, wird dieser schlicht durch die körperliche Nähe in eine zwanghafte Mimesis der Bösartigkeit gebracht: »Es sah aus, als hingen wir im dunstigen Mondlicht, zwei groteske Geschöpfe, deren Füße auf dem Boden scharrten und deren Atem vor Anstrengung keuchte« (88).
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Die zweite Figur, Carmen Sternwood, ist noch perverser, und zwar nicht nur, was ihre Sprache betrifft. Als Pornomodel und Nymphomanin ist sie die literarische Vorgängerin der »zwanghaften Hure« aus The Big Lebowski, Bunny. Carmen ist zugleich Tier und Kind, Sadistin und Opfer, und damit die herausragende Repräsenta tionsfigur für eine metaphysische Verderbtheit, die am verfaulenden Kern des moralischen Universums des Romans nagt. Ihr Schuldschein scheint »von einem echten Kretin hingekritzelt worden zu sein« (13), und auch sonst verfällt ihre Ausdrucks weise in Sinnlosigkeit und dauernde Wiederholung. Kokett lutscht sie ihren Daumen oder sagt zu Marlowe: »Sie sind süß« (7), dann wieder bricht sie in ein hysterisches Gekicher oder Gefauche aus. Chandler ist besessen von ihrem verbalen Unsinn: Ihr Schrei, der Marlowe erst auf die dunklen Machenschaften im Innern von »Geigers ménage« aufmerksam macht, »klang halb nach freudigem Schreck, einem Quäntchen Trunkenheit, einer Spur puren Irrsinns. Es war ein widerlicher Schrei.« (33, 30) Carmens verrückte Laute stellen eine Bedrohung dar, und zwar die der mimetischen Ansteckung. Am deutlichsten wird dies in der bemerkenswertesten Szene des Romans, direkt nachdem sich Marlowe fast den sexuellen Übergriffen Vivians hingegeben hätte. Er kehrt in sein Apartment zurück und findet dort Carmen vor, die nackt in seinem Bett liegt: »Die lohfarbene Flut ihres Haars war über das Kissen ausgebreitet wie von einer sorgsamen, erfahrenen Hand« (134). Wie so viele seiner Figuren war Chandler ein aufmerksamer Leser von T. S. Eliot. Deshalb überrascht es nicht, dass diese Darstellung von sexueller Furcht den ungeheuerlichsten Vergleich aus The Love Song of J. Alfred Prufrock (»Wenn der Abend ausgestreckt ist am Himmelsstrich / Wie ein Kranker, äthertaub auf einem Tisch« 3) mit dem vertrockneten Eros der Tippse aus Das Öde Land verbindet, die sich nach dem bedeutungslosen Vögeln mit dem pickligen jungen Mann, »[…] die Haare automatisch glatt[streicht] / Und […] noch einmal die Cassette ein[legt].« 4 Marlowe teilt Eliots Angst vor sinnlosen Lautäußerungen – Automatismen, Wiederholungen und fehlender Authentizität –, und für ihn, ebenso wie für Eliot, findet diese Bedrohung in der weiblichen Stimme ihre Verkörperung. Das Kichern von Carmen ist ein »Geräusch, das [ihn] an Ratten hinter der Wandtäfelung eines alten Hauses erinnert[e]«, und ihr Zischen »[drang] aus ihrem Mund, als ob sie nichts damit zu tun hätte« (135, 137). Am erstaunlichsten ist die Tatsache, dass Marlowes Maschinerie von Vergleichen in der Nähe von Carmens nacktem Körper ins Stocken gerät: Zweimal innerhalb von zwei Buchseiten beschreibt er ihr fauchendes Gesicht als »ein[em] abgeschabte[n] Knochen« ähnlich (137 – 138). Er wirft Carmen aus dem Apartment, doch ihre schmutzige Obszönität hat eine fotografische Spur hinterlassen: »Auf dem Kissen war noch der Eindruck ihres Kopfes, auf den Laken der ihres verruchten kleinen Körpers zu sehen. Ich stellte mein leeres Glas ab