Traumland. Was bleibt, wenn alles verkauft ist?

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Andri SnĂŚr Magnason Traumland | Was bleibt, wenn alles verkauft ist?

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Aus dem Englischen von Stefanie Fahrner

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Andri Snær Magnason | Traumland – Was bleibt, wenn alles verkauft ist? Deutsche Erstausgabe. Titel der isländischen Originalausgabe: Draumalandið – Sjálfshjálparbók handa hræddri Þjód Published by agreement with Forlagið, www.forlagid.is © Copyright 2006 Andri Snær Magnason © Copyright für die deutsche Ausgabe 2011 bei orange Alle Rechte vorbehalten.

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Aus dem Englischen von Stefanie Fahrner. Gestaltung: Katharina Gabelmeier Korrektorat: Anne Wilcken Gesamtherstellung: Westermann Druck, Zwickau

ISBN: 978-3-936086-53-9 www.orange-press.com Mit freundlicher Unterstützung von Sagenhaftes Island Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2011

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Andri SnĂŚr Magnason

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Was bleibt, wenn alles verkauft ist?

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Dieses Buch schlug ein wie eine Bombe, als es in Island erschien. Die Politiker hatten unsere Natur ohne unsere Zustimmung als billige Energie­ quelle an die Industriegiganten der Welt verhökert. Das islän­dische Volk war stinksauer. Wir hatten keine Chance, uns zu verteidigen. Oder unsere Natur. Wir konnten unseren Zorn über diese Ungerechtigkeit nicht in Worte fassen. Bis auf Andri. Island ist heute das größte noch unberührte Gebiet Europas. 600 Jahre lang waren wir eine dänische Kolonie. Wir wurden behandelt, wie Kolonialvölker eben behandelt wurden. Wir wurden hoch besteuert und vom Rest der Welt isoliert. Hinterher stellte sich das teilweise als Segen heraus, weil die industrielle Revolution so an uns vorbeiging. Wir wollten unsere Natur erhalten. Islands Politiker dagegen wollen anscheinend aufholen, so schnell es geht. Sie wollen in fünf Jahren schaffen, was Westeuropa seiner Natur in drei­ hundert Jahren angetan hat. Gerade planen sie, fünf der weltgrößten Aluminiumfabriken in Island zu errichten. In seinem Buch erklärt Andri nicht nur das aktuelle Geschehen – und wie die Politiker hinter den Kulissen gemauschelt haben –, sondern zeigt auch andere Wege auf. Ich glaube, es handelt sich um ein globales Problem, und unsere Genera­tion wird Lösungen dafür finden. Dieses Buch ist eine dieser Lösungen.

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Inhalt

Vorwort 11

Auf der Suche nach der Realität 13 Auf der Suche nach der Realität 15 * Der Ursprung der Ideen 19 * Der Tag, an dem ich Hey Jude schrieb 23 * Etwas liegt in der Luft 29 * Ideen sind nicht viel wert 31 * Das Glück integrieren 33

Terrorwarnung 61 Terrorwarnung 63 * Vorsicht, Zukunft! 69 * Die Antwort heißt »Irgendwas« 73 * Das Rad neu erfinden 79 * Die einzig mögliche aller Welten 85 * Schlachtschiff Island 87 * So bekam ich Fernseher und Mikrowelle 95 * Ein Ausflug nach Okinawa, Japan 99 * Was wirklich geschah 103 * Stokksnes 105 * Gesegneter Krieg 111 * Islands Anteil an einer Billion Dollar 119 * Präsident Bush begrüßt den islän­ dischen Premierminister im Weißen Haus 129 * Man kann unmöglich nur eine einzige Pyramide bauen 131 * Napoleon am Schreibtisch 137

Terawatt – Energie bis zum Jüngsten Gericht 145 Krieg gegen das Land – und Krieg gegen das Island von Jakob Björnsson 145 * Ein alter Horrorfilm 161 * Der große Sprung nach vorne 167 * Der edle Retter in der Not 187 * Fünfzig Prozent von gar nichts 201 * Zukunft in Schafslederschuhen? 205 * Þjórsárver: Terrorwarnung 211 * Unwissenheit ist Stärke 223 * Zur gleichen Zeit auf einer anderen Insel 233 * Das Ende der Ideen 247 * Von der Unabhängigkeit zur Nachhaltigkeit 263 * Die Zähmung der Maschine 275

Anhang 279

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Vorwort

Stellen wir uns eine Insel vor, wir wollen sie Inselland nennen oder auch Traumland. Ein Ort, der gar nicht existiert. Eine imaginäre Insel mit einer imaginären Landschaft. Das ultimative Thule, eine Tabula rasa, eine weißes Blatt Papier. Island ist so ein weißes Blatt Papier. Island ist ein Labor, in dem die Utopie des einen die Dystopie des anderen ist. Island ist nicht nur ein Naturpa­radies, sondern auch ein Ort, an dem sich Ideen bekriegen. Ein General erträumt sich Island als gigantische Drehscheibe für den kalten Krieg, während andere die Insel als Hort des Friedens sehen. Ein Ingenieur hat die Vision, Island in ein Paradies der Schwerindustrie zu verwandeln, während andere das Naturparadies erhalten wollen. Ein weiser Mann sagte einmal: Es gibt keine globalen Probleme, nur Millionen lokaler Probleme. Nur die Lösungen sind selten einfach. Die Welt zu verstehen und immer die rich­tige Antwort zu haben, was Krieg, Frieden oder die Umwelt angeht haben, ist nicht leicht. Leicht ist es, zu träumen. Lasst und weniger Autos fertigen, weniger konsu­ mieren, den Re­genwald erhalten, die Atmosphäre retten. Weil die Welt so groß und unübersichtlich ist, kann es hilfreich sein, sich eine Mini-Ausgabe der Welt zu betrachten. Island, das ist die Welt in einer Nussschale. Die handelnden Personen und ihre Rollen sind über­deutlich zu erkennen. Auf meiner imaginären Insel fühlten wir uns wie am »Ende der Ge­ schichte«. Wir hatten alles, was wir brauchten, und dabei rede ich nicht vom Höhepunkt des Finanzbooms, sondern von der Zeit, bevor es damit losging. Ich schrieb Kinderbücher, Science Fiction und Gedichte, als ich fest­ stellte, dass die Dinge um mich herum einen seltsamen Lauf nahmen. Ich war irritiert, und ich wurde wütend: Wir unterstützten zum ersten Mal einen Krieg. Politiker und Ökonomen er­klär­ten uns im Fernsehen, dass es keine Alternativen für uns gäbe – wir würden unsere Land­ schaft für das Wirtschaftswachstum opfern müssen. Ich verstand über­ haupt nichts, ich verstand die Sprache der Indus­trie und Wirtschaft nicht, aber ich hatte den Eindruck, dass die sich auch selbst nicht

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Vorwort

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verstanden, nichts von all dem, was sie sagten oder taten. Darum beschloss ich, ein Selbsthilfebuch für diese eingeschüch­terte Nation zu schreiben. Für eine Nation, die bereit war, ihre größten Schätze zu opfern, weil die Situation »alternativlos« war. Ich begab mich auf eine Reise durch mein Traumland, in eine Welt der Ideen und Konflikte. Warum sollte sich ein friedliches Land ohne Fein­ de so ins Zeug legen, um einen nutzlosen amerikanischen Luftwaffen­ stützpunkt zu erhalten? Warum sollte eine Nation, die in der Lage ist, all ihre Bedürf­nisse zu befriedigen, ganze Gegenden von weltweit ein­ma­liger Naturschönheit opfern, nur für irgendeinen wirtschaftli­ chen Erfolg? Dann kam die Finanzkrise, eine eigentlich sehr banale Angelegenheit. Wenn die Deutsche Bank mit Milliarden Dollars eine kleine Volkswirt­ schaft zu einer großen Blase aufpumpt, drehen die Menschen durch. Ein altes isländisches Sprichwort wurde Wirklichkeit: »Geld macht einen Affen aus dem Menschen«. Aber diese Geschichte kennt ihr ja schon, die reichen Typen und die Range Rover, Korruption und Gier. Ihr werdet auf der Reise durch Traumland schwierigen Namen wie Skálfandafljót be­geg­nen, und ihr werdet auch noch Zahlen dazu be­ kommen. Wir wer­den vom Hochland Islands nach Okinawa in Japan, von Jamaika zu den Pyra­miden in Ägypten reisen. Ein chinesischer Fluch lautet: »Mögt ihr in aufregenden Zeiten leben.« Island schlägt sich mit dem IWF und den multinationalen Konzer­nen herum, mit chinesischen Investitionsinteressen, dem Eintritt in die EU, einem berüchtigten Vulkanausbruch und natürlich den Elfen. Aber auch das wisst ihr längst alles. Traumland ist eine Reise auf eine imaginäre Insel – ich hoffe, ihr wer­ det entdecken, dass auch ihr dort lebt.

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Andri Snær Magnason, Reykjavík, im Februar 2011

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Auf der Suche nach der Realität

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Begehren zu erschaffen. Ein Kind aufzuziehen bedeutet, einen Men­ schen zu erschaffen. Leben bedeutet, Leben zu erschaffen. Wer weiß, was das nächste große Ding, die nächste durchschlagende Idee sein wird? Es braucht ja nicht etwas total aufregend Neues zu sein, nicht unbedingt eine isländische Weltraumagentur oder ein Han­dy-Implantat. Es könnte auch die Wiederbelebung von etwas Ur­ altem sein oder die neuartige Verschmelzung zweier bereits bekann­ ter Ideen. Das Potenzial ist vielleicht dort am größten, wo ein langer Niedergang verzeichnet wurde und alle Zeichen auf Abwärts stehen. Es kann sich auszahlen, Steine umzudrehen, irgendwas Altes auszu­ graben und mit neuem Leben zu erfüllen.

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Das Glück integrieren

Einige meiner besten Freunde sind Betriebswirtschaftler. Ihre Ge­ hirne sind im Laufe ihres Studiums vollständig umprogrammiert worden. Christliche Grundsätze, Kindheitsüberzeugungen und das, was ihnen früher als gut und richtig beigebracht wurde: Alles wurde durch ein neues Verständnis des Universums ersetzt. Ihr Gerechtig­ keitssinn und ihre Vorstellung vom Leben wurden verwandelt. Gleich­ zeitig haben sie gelernt, fließend in der Sprache zu kommunizieren, mit der uns die Finanzmärkte jeden Tag bombardieren – auch im Alltag. Auf die Frage »Wie war’s in der Disco?« antworten sie, es liege ein abnehmender Grenznutzen vor. Übersetzt heißt das, sie haben im­ mer weniger Spaß, je öfter sie in die Disco gehen. Einer von ihnen erzählt, er sei neulich im Café Reykjavík gewesen, worauf ein anderer meint, dieses Café weise eine negative Selektion in Bezug auf den Heirats­markt auf. »Letzten Resten eine Chance« klingt flotter, würde ich sagen. Neulich saßen wir in einem Café und redeten unter anderem über Glück. Einer sagte: »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte das Glück integrieren.« Ich wusste damit nichts anzufangen; dass ich im Mathe­ unterricht Funktionen integrieren musste, ist schon eine Weile her. Die anderen am Tisch jedoch kapierten offensichtlich sofort, was er meinte. Ihre Gesichter hellten sich regelrecht auf: »das Glück integrie­ ren«. Einen Moment lang war ich neidisch. »Integration« – das klang nach Ganzheit, Vollkommenheit und Schönheit. Hinter dem Wort steckte hier aber etwas ganz anderes: Berechnun­ gen, Lehrsätze, Graphen, Balkendiagramme und die Jahre, die meine Freunde damit zugebracht hatten, sich in der Welt der Integralrech­ nung zurechtzufinden und sie auf Beispiele in der wirklichen Welt anzuwenden. Irgendwann, als sie das Wort in- und auswendig kann­ ten, als sie seine Bedeutung verinnerlicht hatten, verband es sich un­ trennbar mit ihrer Seele. Es verließ seine isolierte Position im Gehirn und vereinte sich mit dem schönsten Wort, das im Herzen wohnt, zu etwas ganz Neuem: zur Integration des Glücks.

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Das Glück integrieren

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Beide missverstanden jedoch das Wort, das sie benutzten. Wirtschafts­ wachstum ist der jährliche Zuwachs in der Produktion eines ganzen Landes. Dieser Zuwachs beinhaltet eine ganze Reihe von Faktoren, darunter auch das Bevölkerungswachstum, den techni­schen Fort­ schritt und den immer höheren Bildungsgrad einer Gesellschaft. Eine Melkmaschine ist Wirtschaftswachstum. Bildung ist Wirtschaftswachs­ tum. Natürlich sind die Politiker die Ersten, die das Wort für sich instrumen­ talisieren. Wenn sich die Produktionsleistung des Landes steigert, ist das selbstverständlich ihnen zu verdanken: »Unsere Partei hat für Wirtschaftswachstum gesorgt«, hören wir und zucken nicht einmal mit der Wimper. Das ist nur mit diesem Wort möglich. Zerlegt in seine Bestandteile, würde es eine eher unterhaltsame Aussage offenbaren: »Wenn ihr nicht für mich stimmt, werden die Menschen nur noch faul sein. Die Computer werden langsamer arbeiten. Prothe­sen werden sich in Holzbeine verwandeln. Hotelbuchungen werden nicht mehr an­genommen; Anwälte, Ärzte, Polizisten, Wirtschaftswissenschaftler, Lehrer und alle anderen, die das System am Laufen halten, wer­den den Karren so richtig in den Dreck fahren.« Wer so was sagen würde, gälte als verrückt, die Leute würden sich auf den Arm genommen füh­ len. Aber einmal zackig in einen technischen Begriff verpackt, den kei­­ner so recht versteht, ist das Thema nicht mehr zum Lachen. Das Ergebnis erinnert vielmehr an religiöse Mystik. Wohin wir auch schauen, wir sind von Metaphern umgeben. Sie be­ einflussen unser Denken und unsere Wahrnehmung der Welt. Die Zeitungen schreiben ständig von den »Stützen« der Wirtschaft, den Leistungsträgern der Gesellschaft, den Dingen, die das System an­ geblich am Laufen halten. Sie erzeugen das Bild eines kraftlosen, schwachen Individuums, das von der so überaus wichtigen »Stütze« abhängig ist. Dabei ist die wirkliche Stütze nichts weiter als der Mensch selbst. Die Gesellschaft ruht nicht auf Stützen oder Fundamenten, und sie besteht auch nicht aus Einheiten – sie ist ein komplexes Netz, ein Dschungel. Leute leben auf Kosten anderer Leute, und wer auf wes­ sen Kosten lebt, ist nicht leicht zu erkennen. Im Wirtschaftsdschun­gel

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ist es manchmal am besten, ein zeugungsunfähiges Mammut ster­ben zu lassen. Dann können kleinere Tiere von seinem Kadaver leben.

Im Jahr 1995 versprach eine unserer politischen Parteien die Schaf­ fung von 12.000 neuen Jobs bis zur Jahrtausendwende. Betrachtete man aber das Wirtschaftswachstum von 3 Prozent (steigende Bevöl­ kerungszahlen, zunehmender Tourismus, technischer Fortschritt, Bil­ dungsfortschritt, verbesserte Effizienz, bessere Ausnutzung von un­ produktivem Investment und so weiter), deutete alles darauf hin, dass die Jobs von ganz alleine entstehen würden. Trotz allem stand das Versprechen im Raum, und die Partei »löste ihr Versprechen ein«: »Wir von der Fortschrittspartei versprachen euch 12.000 neue Jobs bis zur Jahrtausendwende. Heute sieht es danach aus, dass es mindestens 13.000 werden ...« Man könnte sich genauso gut zur Wahl stellen und versprechen, dass nächstes Jahr das Gras wachsen wird und 4.000 neue Isländer auf die Welt kommen werden. Und sich dann den Allmächtigen Va­ ter der Fruchtbarkeit nennen. Wirtschaftswachstum, wie es konventionell interpretiert wird, be­ ruht nur auf wirtschaftlichen Faktoren; es berücksichtigt weder Kon­ sequenzen noch Langzeitwirkungen, weder den Wert der Dinge noch die Lebensqualität, die sie uns bescheren. Wirtschaftswachstum berücksichtigt nicht die Zeit, die die Menschen mit ihren Kindern oder Familien verbringen. Wirtschaftswachstum ist blind gegenüber Krieg, Ausbeutung von Naturressourcen oder der Tatsache, dass zu­ künftige Generationen horrende Schulden abzahlen müssen und dafür eine zerstörte Natur erben. Als würde man einen Weltrekord über hundert Meter aufstellen und nie einen Dopingtest machen. Wirtschaftswachstum misst, wie schnell der Läufer gerannt ist, nicht aber, ob er sein vierzigstes Lebensjahr erreichen wird. Und die Sprache unterscheidet bislang nicht zwischen gutartigem und bösartigem Wirtschaftswachstum. Die Schlagzeile »Angst vor bösartigem Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr« ist uns noch nicht begegnet. Jemand, der aufhört zu arbeiten und auf die Uni­

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versität geht, hat einen negativen Effekt auf das Wirtschaftswachs­ tum – obwohl er in Wirklichkeit sowohl die kurz- als auch die lang­ fristigen Aussichten für Wirtschaftswachstum verbessert. Im Austausch für einen Anstieg des Wirtschaftswachstums um 0,1 Prozent – in einem kleinen Land, in einem einzigen Jahr – könnte die Welt das Feuchtbiotop von Þjórsárver verlieren. Eine automatisierte Belobigung von irgendeinem OECD-Bürokraten in der Abteilung »Klei­ ne Länder« käme angeflattert und wäre tags darauf auf der Titelsei­ te der Morgenzeitung zu finden: »OECD lobt kräftiges Wirtschafts­ wachstum in Island«. So gesehen, ist der Begriff direkt schäd­lich, fast schon gefährlich. Wenn wir ihn streichen und zehn neue Indizes als Ersatz einführen, könnten die Leute vielleicht endlich über die Dinge selbst reden. Um die Größe »Wirtschaftswachstum« sinnvoll zu ver­ wenden, bräuchten wir separate Formeln für Bildung, technischen Fortschritt, Bevölkerungszunahme und außerdem noch einen beson­ deren Index, mit dem sich das Vokabular der jungen Leute während des Ausbaus des Þjórsárver-Naturschutzgebietes messen lässt. Ich gebe zu, hier und jetzt: Ich verstehe das Wort nicht. Wer auch immer eine endgültige Erklärung dafür liefern kann, was Wirt­ schaftswachstum hervorbringt und was nicht, wäre ein todsicherer Kandidat für den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften. Es ist was Feines, Dinge zu messen, und es macht Spaß, die gewonnenen Da­ ten in Indizes zu pressen. Aber ein Index ist dafür da, den Menschen zu dienen, nicht andersherum. »Karl Örvarson, du Volltrottel, willst du mir erzählen, du hast tausend Dollar in irgendeinem Strip-Schup­ pen verpulvert?« »Was ist denn mit dir los? Hast du etwa was gegen Wirtschaftswachstum?«

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* Als die Sowjetunion zusammenbrach, wurden alle Namen geändert. Plötzlich wussten die Menschen nicht mehr, in welcher Stadt, in wel­ cher Straße, in welchem Land sie eigentlich lebten. Mit einem ein­ zigen Federstrich war alles, was sie in der Schule gelernt hatten, nutz­ los, fort, ganz und gar überflüssig. Die alten Leute konnten ihre Stadt nicht mehr im Telefonbuch finden, und die jungen wollten

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sowieso nur noch feiern. Die wenigen, die mit der Sprache des neuen Zeitalters zurechtkamen, waren zur Stelle, um sich staatliche Firmen, Banken, Fabriken und natürliche Ressourcen für ein Butterbrot unter den Nagel zu reißen, während alle anderen noch nach Worten such­ ten, um zu erklären, was passiert war. Aber ich bin besser still, am Ende denkt noch jemand, ich hätte was gegen Freiheit. Auch so ein Wort, das man mal zerlegen und unterm Mikroskop betrachten könnte. Unwissenheit ist Stärke. Genießt die Gegenwart, solange sie noch da ist.

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1938: Meine GroĂ&#x;mutter Hulda, damals vierzehn, unterwegs zu ihrer 300 Kilometer entfernt lebenden GroĂ&#x;mutter. Ihre Generation war die erste, die das Hochland erkundete. Mehr als ein Fahrrad und etwas zu essen brauchte es nicht fĂźr einen guten Sommer.

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Die einzig mögliche aller Welten

Die Welt, in der wir leben, ist die einzig mögliche aller Welten. Dieses Land ist das logische Ergebnis einer Reihe von glücklichen Zufällen. Die 300.000 Tonnen Kabeljau, die 300.000 Touristen, die Prothesen­ firma mit ihren 300 Angestellten, die 300.000 Tonnen Aluminium und die 3.000 Menschen, die auf dem amerikanischen Luftwaffen­ stützpunkt arbeiten – das alles ist eine Laune der Natur, ein wunder­ bares Gleichgewicht der Kräfte, das uns glücklicherweise irgendwie über Wasser hält und das Überleben in diesem unwirtlichen Land er­ möglicht. Als trennten uns nur diese »Stützen der Wirtschaft«, diese fein austarierte Balance von Kabeljau, Touristen, Soldaten und Alumi­ nium vom Abgrund. Alles ist gut, so wie es ist, und anders kann es auch gar nicht sein. Eine andere Möglichkeit ist nicht denkbar. Dass es neben dieser Variante unserer Welt Myriaden von Utopien gibt, die Möglichkeit von tausend ganz anderen Islands, die existieren oder existiert haben könnten, wird ignoriert. Und von dieser Haltung ist die ganze Welt betroffen: Die meisten Menschen sind felsenfest davon überzeugt, ihre Gesellschaft könne nur genau so beschaffen sein, wie sie es eben ist. Zwar sind wir zu materiellem Reichtum gekom­ men, aber wir scheinen uns nicht zuzutrauen, dass wir das aus eigener Kraft geschafft hätten oder oder gar verdienten. Wir schauen über die Stadt, auf die Häuser, die Autos, die Geschäfte und fürchten, all das könnte bald wieder verschwinden – als käme der, der uns diese Geschenke gemacht hat, möglicherweise gleich vorbei und würde sie wieder wegnehmen. Seltsamerweise scheinen wir trotz all des Überflusses und Erfolgs, trotz unserer Besitztümer und unserer Bildung nicht einmal mitten in einer Phase der Vollbeschäftigung unsere Krisenmentalität abschüt­ teln zu können. Obwohl der Weg weit war und es lange dauerte von der bloßen Deckung unserer Grundbedürfnisse hin zum überschüssi­ gen Fett, haben wir uns nicht an die guten Zeiten gewöhnen können. Die Unsicherheit nagt weiter an uns. Wir fangen Fisch, der zehn Millio­ nen Menschen ernähren kann, aber das verschafft uns nicht das Ge­ fühl der »vollkommenen Sicherheit«.

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Hätte eine einzelne Person mit einer anderen Idee für die Schaffung von Arbeitsplätzen die Supermacht übertrumpfen können? Wohl kaum. Die Leute hätten nur gelacht. Die Amerikaner setzten die Isländer 1945 gehörig unter Druck. Das Thema war heikel, und die Regierung musste aufpassen, was sie tat. Trotzdem lehnte Island Tausende von gutbezahlten Jobs ab, die wie geschaffen gewesen wären für starke, fleißige isländische Männer, und die Aussicht auf Deviseneinnahmen und Wirtschaftswachstum gleich mit. Aufgepasst, hier kommen die magischen Wörter: Jobs, Deviseneinnahmen, Wohlstand, Wirtschaftswachstum, Arbeit, Arbeit, Arbeit. Ist es nicht erstaunlich, dass jemand diesen glitzernden Ver­ suchungen, die direkt vor seinen Augen baumelten, widerstand?

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1 Þór Whitehead, »Republic and military bases 1941-46«, in: Skírnir: Journal of the Icelandic Literary Society, Band 150, 1976, S. 126-172. 2 Valur Ingimundarson, Í eldlínu kalda striðsins: Samskipti Íslands og Bandaríkjanna 1945-1960 [In der Schusslinie des Kalten Krieges: Die amerikanisch-isländischen Beziehungen], Vaka-Helgafell, Reykjavík 1996, S. 295. 3 Morgunblaðið, 19. Juni 1946. 4 Valur Ingimundarson, Í eldlínu kalda striðsins: Samskipti Íslands og Bandaríkjanna 1945-1960, a.a.O., S. 61.

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Die Armee kam und rettete uns vor einem Rückfall in Armut und die Not der Depressionsjahre. Dass wir in diesem unwirtlichen Land über­leben können, dass wir Arbeit, Geld und Selbstbewusstsein haben, haben wir der Armee zu verdanken – und nur der Armee. Dank dieser glücklichen Fügung krochen wir aus unseren grasgedeckten Hütten, besiegten Läuse und Säuglingssterblichkeit, bekamen Mixer, Waschmaschinen, Autos, Fernsehen, Heizung und Elektrizität. Die Beatles, Rockmusik ganz allge­ mein, wären ohne die Armee niemals in Island angekommen. Meine Eltern lernten sich kennen, als sie für die Armee arbeiteten, darum exi­ stiere ich überhaupt. Wir werden nie die Boomjahre vergessen, in denen der Bomberflugplatz in Rangárvellir vergrößert wurde; das brachte eine Menge Arbeit und Devisen. Einen solchen Aufschwung hatte es in unse­ rem Land zuletzt 1962 während der Kubakrise gegeben. So konnten wir end­lich die Ringstraße rund um Island fertigbauen; das war um die Zeit, als Ford US-Präsident war. Seitdem können wir uns alle im Nationalen Militärkrankenhaus behandeln lassen. Und es ist seitdem so einfach, ins Ausland zu reisen: Die Armee fliegt fast täglich in die USA, manchmal auch nach Europa. Während der Nixon-Jahre wurde alles noch besser. 1980, zu den besten Zeiten, konnte unser Land dadurch eine Bevölke­ rung von 200.000 Menschen ernähren. Man kann über das Militär ja sagen, was man will, aber man sollte immer daran denken, wo das Geld herkommt. Die Intellektuellen und Künstlertypen, die etwas gegen die Anwesenheit der Armee hier haben, sollten sich ruhig mal bewusst ma­ chen, dass man Geld braucht, um Gedichte und Gemälde zu kaufen. Und wo kommt das Geld her? Ein Moment der Entscheidung hätte zu einer anderen Welt führen können, die dann diese scheinbar einzig mögliche aller Welten gewe­ sen wäre.

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So bekam ich Fernseher und Mikrowelle

Wie würden wir auf die Geschichte unseres Landes blicken, wenn Island sich für eine Zukunft als »Schlachtschiff Island« entschieden hätte? Unser Nationalmythos würde wohl ungefähr so klingen:

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Selbst wenn wir total auf den Hund gekommen wären, hätten die Leute noch gesagt: »Aber es geht uns nicht annähernd so schlecht wie 1935. Damals hatten wir noch kein Fernsehen. Die Armee hat uns von unserem primitiven Leben befreit.« Die Isländer hätten sich natürlich vor einem Krieg gefürchtet. Aber ein anderes, viel schlimmeres Wort hätte noch viel mehr Bestürzung hervorgerufen:

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FRIEDEN! UNMITTELBAR DROHENDE FRIEDENSGEFAHR! Angst um isländische Wirtschaft infolge des Friedensgipfels Es wäre natürlich zu einfach, die Anwesenheit des amerikanischen Mili­tärs für irgendeinen kulturellen Niedergang verantwortlich zu machen. Die USA haben die Kultur weltweit geprägt wie kein ande­ res Land und sind praktisch in allem führend. Wir hätten sicher viel von ihnen lernen können. Wir hätten uns stärker Richtung Westen aus­gerichtet als nach Skandinavien und dem Rest Europas, Einflüsse aus den USA wären noch schneller als sowieso schon zu uns gekom­ men. Unsere Studenten hätten dort auf die Universität gehen und richtige Hippies und Beatniks oder Republikaner werden können an­ statt Maoisten in Norwegerpullis oder schwedische Trotzkisten. Wir hätten dann vielleicht auch Politiker, die sich halbwegs auf Englisch ausdrücken können. Unseren ersten McDonald’s hätten wir schon 1975 und das erste Einkaufszentrum 1980 bekommen. Wir hätten dann keinen Hering an Russland verkauft, und mein Großvater hätte einen Chevrolet-Pickup gefahren statt eines russischen Moskwitsch. Und möglicherweise wären Isländer an den Unruhen von Berkeley beteiligt gewesen, wären im Umfeld von Andy Warhol aufgetaucht, als Filmemacher nach Hollywood oder auch als Soldaten nach Viet­ nam gegangen. Anders als bei Handel und Gewerbe, Reisen und Studienaufenthalten im Ausland allerdings ist die Art von Kultur, die die Armee in der Welt verbreitet, nicht die Kultur der großen Städte und der kreativen Zen­ tren, nichts, was unbedingt fruchtbare Denkanstöße mit sich bringt.

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Soldatische Disziplin und blinder Gehorsam sind ziemlich genau das Gegenteil von kreativem, kritischem Denken. Die Menschen, die neue Türen aufstoßen, deren Gedanken der Welt neue Impulse geben, sind in Friedenszeiten selten bei der Armee zu finden. Es ist nicht un­ wahrscheinlich, dass »Armeeland« sich zu einer eher selbstbezoge­nen Gesellschaft mit einer noch stärkeren Neigung zur Isolation entwickelt hätte. Die Fischerei auf dem offenen Meer wäre vielleicht aus Sicherheitsgrün­ den eingeschränkt worden. Wer weiß schon, was für eine Atmosphä­re aus einer Kultur der Abhängigkeit und Ohnmacht entstanden wäre – eine gesunde Opposition, Enthusiasmus und Solidarität? Ein Klima konstruktiver Zusammenarbeit? Oder eines von Lethargie und Kraft­ losigkeit, gekoppelt mit einer Art »indigenem Rasseneffekt«, Minder­ wertigkeitskomplexen, Alkoholismus, sozialen Problemen und dem unstillbaren Bedürfnis, bedauert und von außen gestützt zu werden? Mit einer Militärherrschaft wäre die Präsenz von so viel Armee im Land wohl nicht vergleichbar gewesen. Vielleicht wären die Truppen auch außerordentlich beliebt gewesen und hätten eine wichtige Rolle für die Gesellschaft übernommen. Es wäre immerhin unseren Politikern überlassen geblieben, die Rahmenbedingungen zu definie­ ren und zu bestimmen, wie ihre Anwesenheit an die speziellen Gege­ benheiten in Island anzupassen gewesen wäre. Möglicherweise hätte sich das Militär in Sachen Nachhaltigkeit engagiert – wer weiß?

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Gesegneter Krieg

Das Gute daran, dass wir so viele Soldaten in unserem Land haben: Sie können nicht sonstwo auf der Welt alles in Schutt und Asche le­ gen. Das ist unser Beitrag zum Weltfrieden. Ich hatte jedoch eigent­ lich gar nicht vor, eine Tirade gegen die Armee loszulassen, sondern wollte anhand des Beispiels nur ein System beschreiben. Ein System, das Vollbeschäftigung versprochen und uns damit vor der Armut ge­ rettet hätte. Der Militärstützpunkt, den wir bekamen, hat uns vielleicht davor be­ wahrt, während der Besetzung der Tschechoslowakei vom Ostblock einverleibt zu werden. Immerhin lauerten verdächtige russische Fischer­ boote vor den Grenzen unserer Hoheitsgewässer. Island war ein stra­te­ ­gisch wichtiges Gebiet. Da die Amerikaner so versessen darauf waren, hier zu sein, ging es den Russen vermutlich ähnlich. Die anwesende Ver­teidigungsmacht machte uns zur Zielscheibe – hervorragend geeig­ net, um zum Beispiel mal eine Atombombe auszuprobieren, ohne da­ bei gleich die ganze Welt mit in den Krieg zu reißen. Nur, um den anderen zu zeigen, wie ernst man es meint, und dass man vielleicht doch besser am Verhandlungstisch Platz nehmen sollte. Mit der Sowjet­ union als Hausmacht hätte die Sache genauso aus­gesehen. Alles ganz schön kompliziert. Und in den 1950er-Jahren war uns angeblich angeboten worden, zum Hauptquartier der Verein­ten Nationen zu werden; eine Variante, die uns wahrscheinlich den größten Schutz geboten hätte. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Im Moment stehen wir vor einer un­mittelbaren Friedensbedrohung. Die Amerikaner wollen ihre Militärpräsenz verringern, sich vielleicht sogar ganz zurückziehen. Der Luftwaffenstützpunkt in Keflavík wird als überflüssig betrachtet; wir sind nicht mehr von einem Angriff be­ droht, was ganz offensichtlich als gute Entwicklung zu betrachten ist. Wenn die Amerikaner nicht mehr hier sein wollen, weil es ihnen zu teuer wird, und wir strategisch nicht mehr wichtig sind, werden die Russen noch viel weniger hier sein wollen. Langstreckenbomber und Lenkwaffen können jedes Ziel der Welt treffen, und zwar von jedem Standort aus. Man kann vom amerikanischen Mittelwesten

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aus genauso aufs Knöpfchen drücken wie mitten auf dem Pazifik. Die Militärbasis ist überflüssig geworden, der Kalte Krieg ist vorbei. Das ist außergewöhnlich, es ist toll, und es ist total irre. Ich habe in den letzten paar Jahren Estland, Litauen, Kroatien, Russland, Ost­ deutschland und Polen besucht – Länder, die jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang weggesperrt waren. Dort habe ich Menschen getroffen und Freundschaften geschlossen. In New York lernte ich einen Mann in meinem Alter kennen, der in Moskau aufgewachsen war und als Kind isländischen Lebertran bekommen hatte, als gegen den Moskvitsch seines Opas eingetauschte Importware. Ein Handels­ abkommen von 1969 erlaubte solche Geschäfte. »Als ich klein war, dachte ich, ihr bombt uns ins Jenseits«, sagte er. »Gleichfalls« antwor­ tete ich. Haha. Lebertran, russische Autos und Atomsprengköpfe: Es geht doch nichts über gemeinsame Erinnerungen. Wir sollten das Beste aus dem Frieden machen, uns vergnügen und Partys in dem Haus in Reykjavík feiern, in dem Reagan und Gorbat­ schow sich im Oktober 1986 trafen. Dazu sollten wir alle Russen ein­ laden, die wir kennen, alle Amerikaner und Deutschen, alle Juden und Muslime. Wir sollten den Frieden auf jede mögliche Art pflegen – mit Handelsbeziehungen, Bekanntschaften, Ehen, Speed-Dating, Dinnerpartys und Urlaub. Frieden ist das Beste, was man sich wünschen kann. Es ginge uns allen besser, wenn hüben wie drüben abgerüstet würde an den Grenzen auf der Welt. Wir könnten endlich normale Beziehungen zueinander aufnehmen und miteinander ins Geschäft kommen. Waffen dagegen wollen benutzt werden. Mein Nachbar fühlt sich sicher, weil ich kein Gewehr besitze. Solange die Männer des Landes keine Ahnung davon haben, wie man mit einer Waffe umgeht, wird Island sich nicht in ver­ feindete Clans aufspalten wie im Mittelalter, die Sturlungs und die Ásbirnings und wie sie alle hießen. Sind Waffen erst einmal da, kann es Staatschefs jedoch leicht passieren, dass sie Drohungen ausstoßen, die sie dann wahrmachen müssen, wenn sie nicht ihr Gesicht verlieren wollen. Klar, einfach ist das alles nicht. Die, die für die Armee arbeiten, wollen ihre Jobs nicht verlieren. Doch das Militär zieht sich jedes Jahr ein

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bisschen weiter zurück. Wir reden von einem großen Teil der Wirt­ schaft – von einer großen Schreibmaschinenfabrik, die von der bevor­ stehenden Computerrevolution bedroht wird. Ich sprach mit einer Frau, die auf der Militärbasis arbeitet. Die Atmosphäre sei schlimm, berichtete sie. Seit ein Mann entlassen worden ist, leben sie in Angst, da schließlich niemand wisse, wer der Nächste sei. Die Bedrohung des Friedens lastet auf allen. Die Menschen leiden darunter. Die Angelegenheit ist delikat, die Armee ist nun mal eine der tragenden Säulen unserer Wirtschaft. Ein Journalist schrieb, sie sei so gut wie eine Aluminiumfabrik. Nach offiziellen Quellen arbeiteten im Jahr 2002 genau 910 Isländer auf dem Stützpunkt. Am 1. Januar 2005 waren es noch 674. 2003 flos­ sen von dort ungefähr 150 Millionen Dollar an isländische Firmen, was 4 Prozent unserer Außenhandelseinkünfte und 1,5 Prozent unse­res Bruttosozialprodukts entspricht. 1970 hatte die Armee für 2,6 Prozent unseres Bruttosozialprodukts gesorgt, die Arbeit der Men­schen mit­ ein­gerechnet, die nicht direkt beim Militär am Flughafen arbeiteten, und der wird weiter bestehen. Nur zum Vergleich: 2004 betrugen un­ sere Deviseneinnahmen aus dem Tourismus 500 Millionen Dollar. Aber wir sind unmittelbar vom Frieden bedroht. Menschen verlieren ihre Arbeit. Sie haben Angst vor einer ungewissen Zukunft. Die Ge­ werkschaftsführer und Politiker werden nervös. Sie wollen nicht als unfähig dastehen. Aber die Aufgabe ist zu groß, so viele Arbeitsplät­ ze sind nicht einfach aus dem Hut zu zaubern. Man könnte vielleicht eine Fabrik finden, die den Verlust kompensiert. »Habt Geduld, wir führen Gespräche.« Ob etwas dabei herauskommt, ist ungewiss. Die Zukunft ist völlig offen, wir können uns nur an dem festkrallen, was wir noch haben. Der gesamte Sinn und Zweck der Arbeit löst sich in Luft auf. Niemand kauft die Schreibmaschinen, was sollen wir also machen? Weiter am laufenden Band produzieren und das Beste hof­ fen? Augen zu und durch? Ein System aufrechterhalten, das auf einer verzerrten Weltsicht beruht – oder uns der Realität stellen? Ist das ein so beängstigender Gedanke? Wenn die Armee geht, wird sie mehr als 317.000 Quadratmeter Ge­ län­de hinterlassen. Das entspricht ungefähr sieben ziem­lich gro­ßen

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Man kann unmöglich nur eine einzige Pyramide bauen

Der Mensch neigt dazu, etablierte Systeme zu erhalten, ob sie sinnvoll sind oder nicht. Aus Angst vor Veränderung und dem Ungewissen klammert er sich an das Dasein, das er kennt, egal, wie idiotisch es ist. Betrachten wir mit diesem Gedanken im Hinterkopf einmal die ägyp­ ti­schen Pyramiden. Auch ohne besondere geschichtliche Vor­kenntnisse lassen sich interessante Schlüsse ziehen. Die Pyramiden wurden als Begräbnisstätten für Diktatoren erbaut, das heißt, wir können als Bauzeit dreißig bis vierzig Jahre ansetzen. Diktatoren trauen niemandem, am wenigsten ihren Nach­­folgern. Die meisten sind vom selben Schlag: Auch wenn sie quasi-göttlichen Status für sich reklamieren, bleiben sie doch sterb­lich wie alle ande­ ren – und möchten darum noch zu Lebzeiten Resul­tate sehen. Das Niltal war fruchtbar. Es war so fruchtbar, dass Zehntausende dort leben konnten, und neben Säen und Ernten dennoch Zeit für andere Dinge blieb. Sie hatten es schon geschafft, Häuser zu bauen, Schulen einzurichten und die Schrift zu erfinden, in der sie ihre Ge­ setze und Geschichten für spätere Generationen konservieren wür­ den. Das Leben war zweifellos angenehm in der Wiege der Zivilisa­ tion. Doch den Pharao beschlich ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit angesichts eines Volks, das die Lagerhäuser mit Lebensmitteln füllte, Spaß hatte, in der Sonne lag, im Nil schwamm oder gar die überlege­ ne Intelligenz des Herrschers anzweifelte. »Was für eine Kraft und Vita­lität, die da nutzlos vergeudet wird!«, dachte er bei sich. »Sollte man sie nicht besser zur Schaffung eines großen Werks bündeln?« Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Alles wäre über­ haupt viel besser, wenn er selbst die Kontrolle über die Ernte hätte und sie für etwas Sinnvolleres einsetzen könnte. Der Pharao ruft seinen Chefingenieur zu sich und lässt ihn die Mög­ lichkeiten eines Systems ausrechnen, bei dem er die gesamte Ernte einkassieren und portionsweise gegen Arbeitsleistung wieder heraus­ geben würde. Daraufhin skizziert der Ingenieur die einfachste Form, die es gibt – eine Pyramide. Der Geniestreich dabei: Extreme Einfach­ heit wird verknüpft mit extrem viel Arbeit. Die Aufga­be, eine Pyra­

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mide zu bauen, ist geistig nicht besonders anspruchsvoll, erschöpft die Leute aber physisch so sehr, dass ihnen gar nicht mehr einfallen wird, die Macht des Pharaos in Frage zu stellen. So verkündet der Pharao den Massen, dass eine gigantische Pyramide gebaut werden soll, als künftige Grabstätte für ihn, und kassiert die Ernte ein. Viele Untertanen sind empört, aus einigen Ecken sind Laute des Unmuts zu hören, aber der Pharao lässt sich davon nicht beirren. Ob er öffentliche Äußerungen von Kritik zulässt und dann ignoriert, oder ob er die Kritiker den Krokodilen zum Fraß vorwirft, ist dabei einerlei. Um Kosten zu sparen, beschließt der Pharao, keine Sklaven, sondern Lohnsklaven einzusetzen. Sklaven muss man beaufsichtigen, ernähren, einkleiden und antreiben. Sie mögen physisch unfrei sein, aber geistig sind sie ungebunden und suchen ständig nach Möglich­ keiten, zu entkommen. Lohnsklaven dagegen kommen freiwillig zur Arbeit, und man kann sie noch unterhalb des Existenzminimums be­ zahlen. Am meisten Angst haben sie vor der Freiheit, die sie auch als Arbeitslosigkeit bezeichnen. Das Projekt wird in Angriff genommen, und eh man sich‘s versieht, ist ein bestens funktionierendes Arbeitssystem mit einem Chefinge­ nieur, Vorarbeitern und einfachen Lohnsklaven entstanden. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit haben so viele Menschen gemeinsam an einem so gewaltigen Projekt gearbeitet. Keine Frage, es ist ein UNGLAUBLICHER ANBLICK, diese Armee von Arbeitern, die für die Verwirklichung der Idee eines Einzelnen schuften. Die giganti­ sche Idee an sich ist in Wirklichkeit recht winzig: Eine Pyramide bleibt eine Pyramide, egal, ob sie einen Meter oder hundert Meter hoch ist. Der Unterschied liegt allein in der Zeit und der Arbeit, die investiert werden. Eine große Pyramide ist auch nicht nützlicher als eine kleine. Ein toter Mann in einer kleinen Pyramide ist genauso tot wie ein toter Mann in einer großen Pyramide. Und dann wird das Bauwerk langsam fertig. Der Pharao stirbt, wird zeremoniell in einer Gruft bestattet und von seinem Sohn beerbt, Pharao II. Dieser ist aus einem anderen Holz geschnitzt als sein Vater, aber er erbt dessen Chefingenieur und Berater. Am ersten Arbeits­

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tag von Pharao II legt ihm der Chefingenieur seine Pläne für eine noch größere Pyramide vor. Pharao II hat Zweifel, doch dann landet ein Beschluss der VÄLS (Vereinigung Ägyptischer Lohnsklaven) auf sei­ nem Schreibtisch: »Der Zentralrat der VÄLS beschließt, dass Pharao II eine NOCH PRUNKVOLLERE PYRAMIDE als sein Vater verdient, da er ihn in jeder Hinsicht übertrifft.« Der Pharao lässt seinen Blick über die Wüste schweifen und sieht vor seinem geistigen Auge die Gefahr: Dreißigtausend Lohnsklaven, die ein überwältigendes Bauwerk geschaffen haben, dreißigtausend star­ke Männer, Experten für den Bau genau dieser Konstruktionen, schwingen ihre Hacken und Schaufeln und schreien: MEHR ARBEIT! Pharao II jedoch entscheidet sich dafür, das Risiko einzugehen. Er führt eine Befragung durch: Was wollt ihr tun? Obwohl Tausende ihr Leben beim Bau dieses Klotzes gelassen haben, stimmt die Mehrheit für den Plan, den der Ingenieur ihnen präsentiert: eine NEUE UND NOCH VIEL GRÖSSERE PYRAMIDE! Und dann fängt alles von vorne an. Ein neues Zeitalter des Fortschritts bricht an, und die Söhne der Männer, die die erste Pyramide errichteten, arbeiten mit, und zwan­ zig oder dreißig Jahre lang ist alles wie früher. Pharao II stirbt, ohne Großartiges bewirkt zu haben. Sein Sohn übernimmt die Macht, und von der VÄLS kommt unaufgefordert ein weiterer Beschluss mit dem Inhalt, dass ihm die größte Pyramide aller Zeiten gebaut werden solle. Niemand hinterfragt irgendetwas. Die Notwendigkeit einer neuen Pyramide liegt auf der Hand. Die dritte und letzte Pyramide wird aus dem Sand gestampft, und keiner weiß mehr, wie das Leben früher eigentlich war, vor der Zeit des Steineschleppens, vor diesem ganzen Wahnsinn. Die dritte Pyramide ist ein Riesending, und alle glotzen die drei Pyra­ miden an, die nebeneinander in der Sonne strahlen. Dann, ganz plötz­ lich, scheinen die Leute aus dem Rausch zu erwachen. Einer kratzt sich am Kopf und kurz darauf ein zweiter. Was nun? Sollen wir eine vierte Pyramide bauen, dann eine fünfte, sechste, siebte und so wei­ ter, bis in alle Ewigkeit? Kann das auf Dauer gut gehen? Es geht das Gerücht, drüben, im unwirtlichen Griechenland, lebten Menschen, die nicht auf den Tod versessen sind, sondern aufs Leben. Sie bauen Thea­

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Am Dettifoss stürzen die Wassermassen des Gletscherflusses Jökulsá á Fjöllum über 45 Meter in die Tiefe. Europas gewaltigster Wasserfall war von Anfang an in die 30 TWh eingerechnet. Unter dem Druck von Umweltschützern wurde der Dettifoss vorerst unter Schutz gestellt.

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