сталинград reflexe stalingrad Erinnerungspolitische Strategien junger Menschen in Russland und Deutschland Ausstellungskonzeption
Стратегии памяти молодых людей в России и Германии Концепция выставки
vorwort Die gegenwärtige Erinnerungskultur zur Schlacht von Stalingrad lebt von Gegensätzen. Es besteht eine Spannung zwischen der offiziellen Gedenkkultur mit weitgehend einheitlichen Narrativen und Ritualen sowie Versuchen, dem etablierten Bild zu widersprechen. Ein Konsens darüber, auf welche Weise das historische Ereignis zu erinnern sei, besteht sowohl in Deutschland als auch in Russland nur scheinbar. Bei genauerem Hinsehen zeichnet sich die Tendenz ab, dass die Erinnerung an Stalingrad kontinuierlich um neue Facetten und Inhalte ergänzt und damit der »Erinnerungsbetrieb Stalingrad« stetig mit alternativen Formen des Erinnerns und Gedenkens erweitert wird.
сталинград reflexe stalingrad Erinnerungspolitische Strategien junger Menschen in Russland und Deutschland Ausstellungskonzeption
Ausgangspunkt dieser Beobachtungen war ein erstes Projekt unserer deutschrussischen Geschichtswerkstatt, in dem wir die Darstellung und Vermittlung der Geschichte der Stalingrader Schlacht in offiziellen Institutionen wie Museen und Ausstellungen untersuchten. Während der Projektarbeit begegneten wir jungen Menschen in Russland und Deutschland, deren Zugänge zur Beschäftigung mit der Geschichte der Schlacht sich vom offiziellen Erinnerungsdiskurs deutlich unterscheiden. In Wolgograd dominiert die offizielle Aufforderung, der heldenhaften Geschichte der Stadt zu gedenken. Teils aus eigenem Interesse, teils motiviert durch Mahnungen, die Geschichte der Stadt nicht zu vergessen, engagieren sich junge Wolgograder bei selbstorganisierten Schlachteninszenierungen, Ausgrabungen usw. In ihrer Erinnerungstätigkeit werden Fragen gestellt, werden Leerstellen im Geschichtsverständnis offenkundig. Das vorherrschende Geschichtsbild wird von ihnen infrage gestellt, erweitert und verändert. Die deutsche Auseinandersetzung mit Stalingrad ist in vielen Punkten durch beredtes Schweigen, Verklärung oder durch den Wunsch geprägt, an einem existierenden Opferdiskurs teilzuhaben. Die in den Massenmedien verbreitete Darstellung der Schlachtengeschichte ist durch ein vermeintlich unpolitisches bzw. ohnmächtiges Verhältnis der deutschen Bevölkerung zum Nationalsozialismus gekennzeichnet. Die Enkel und Urenkel üben sich einerseits in stillschweigender Einvernehmlichkeit mit verschiedenen Opferrollen, andererseits formulieren sie Appelle, die Vergangenheit und die in der Nachkriegszeit praktizierte Erinnerungskultur erneut und kritisch zu befragen.
nungsreiche Verhältnis alternativer Erinnerungsformen zum gesellschaftlich etablierten Gedenken in beiden Ländern bildet für uns die Grundlage, um einen hoffentlich lebhaften Dialog über aktuelle Perspektiven auf die Erinnerung an die Schlacht von Stalingrad anzustoßen. Das Projekt wurde im Rahmen des Programms »Geschichtswerkstatt Europa« von der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« gefördert. Die deutschrussische Geschichtswerkstatt bedankt sich ganz herzlich für die finanzielle Unterstützung und Projektbetreuung durch Leonore Martin. Mit zahlreichen Hinweisen und mit viel eigenem Engagement haben eine Reihe von Freunden und Bekannten unsere Arbeit vorangebracht – Christine Gölz gilt in diesem Sinne unser außerordentlicher Dank. Ganz besonders bedanken wir uns bei unseren engsten Freunden und Familienangehörigen: Ohne ihre Geduld und Unterstützung hätte dieses Projekt mit seinen Reisen und aufwendigen Recherchephasen nicht realisiert werden können.
Impressum Herausgeber: Ost-West Trikster e.V. V.i.S.d.P.: Constanze Stoll Texte: Dmitri Below, Thorsten Hoppe, Henning Horch, Ksenija Srednjak, Constanze Stoll Übersetzung: Alexander Mirimov, Christine Gölz, Ksenija Srednjak, Constanze Stoll Redaktion: Tim Gallwitz, Thorsten Hoppe, Henning Horch, Ksenija Srednjak, Elena Ogarkowa, Constanze Stoll, Christine Gölz Fotos: Teilnehmer der Geschichtswerkstatt Gestaltung: Tanja van den Loo / büro für mitteilungen 11/2010
Ost-West Trikster e.V. Otzenstr. 12 22767 Hamburg t. +49.40 31 79 81 76, f. -75 info@ost-west-trikster.org www.ost-west-trikster.org
summary Leitfragen Warum beschäftigen sich junge Menschen heute mit der Erinnerung an die Schlacht von Stalingrad? Was verbinden sie mit Stalingrad? Wie und wodurch erinnern sie dieses Ereignis des Zweiten Weltkriegs? Thema Reflexe junger Menschen zum Erinnerungsort Stalingrad sind das Thema der vorliegenden Ausstellungskonzeption. Dabei steht die Schlacht als militärhistorisches Ereignis nicht im Mittelpunkt. Material In 24 ausgewählten Interviews berichten Menschen aus Russland und Deutschland im Alter zwischen 15 und 40 Jahren stattdessen von ihrer individuellen Beschäftigung mit Stalingrad. Die Aussagen der Befragten, die mit Exponaten und Informationsmaterialien ergänzt werden, zeigen auch alternative Standpunkte zu etablierten Erinnerungsmustern und Geschichtsbildern. Interpretation Dabei werden Motive und Strategien im Umgang mit Erinnerung und Vergangenheit sichtbar, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Die Präsentation unterschiedlicher Erinnerungspraktiken vermittelt einen Ausschnitt gesellschaftspolitischer Meinungsbildung. Gestaltung Gezeigt wird das Material in neun Gruppenstationen, die kreisförmig um eine weiße Sitzgelegenheit angeordnet sind. Sie symbolisiert die »weißen Flecken« in den Erinnerungskulturen beider Länder und wird zu einem zentralen Begegnungspunkt im Ausstellungsraum. Dialog In ihrer Form ist die geplante Ausstellung als Lern- und Diskussionsplattform konzipiert. Die Besucher werden zum eigenständigen Befragen der präsentierten Stalingrad-Reflexe und zur Teilhabe an einem erinnerungspolitischen Diskurs der Gegenwart eingeladen. Durch die Ausstellungskonzeption soll das Thema, das die deutschrussische Geschichtswerkstatt seit 2006 verfolgt, einem breiten Publikum in Russland und Deutschland generationsübergreifend zugänglich gemacht werden.
Die sehr vielfältigen Reaktionen und Antworten auf die Geschichtsdarstellungen in beiden Ländern nahmen wir zum Anlass für ein Folgeprojekt mit dem Titel »Mythos, Helden, Untergang. Und was denken die Jungen über Stalingrad?« (Januar 2009 bis November 2010). Wir haben in Russland und Deutschland zu den verschiedenen Formen der Auseinandersetzung junger Menschen mit der Erinnerung an die Schlacht von Stalingrad recherchiert und die beteiligten Akteure zu ihrem Engagement, ihren Motiven und Einsichten interviewt.
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Im Projektverlauf wurde nicht nur deutlich, dass die Aktivitäten der Befragten ihr Geschichtsverständnis maßgeblich beeinflussen. Auch unsere eigenen Perspektiven auf die Vergangenheit und auf die Frage, welche Aspekte der Erinnerungskultur zu Stalingrad aus Sicht junger Menschen relevant sind, wurden neu verhandelt. Dabei arbeiteten wir uns an den nationalen Unterschieden unserer Geschichtsbilder ebenso ab wie an den generationsspezifisch bedingten Gegensätzen von Erinnerungsmustern und -inhalten. Aus unserer Verständigung über die Unterschiede entwickelte sich eine nicht trennende, sondern verbindende Präsentation gegenwärtiger Geschichtsbilder junger Menschen in Russland und Deutschland. Das span-
Module / Inhalt 0 vorwort und summary 1 thema 2 sammlung 3 botschaft 4 struktur 5 beispiel 6 besuchergruppen 7 interviews 8 exkurs 9 fakten und debatten
thema: junge menschen beschäftigen sich mit stalingrad Sofija beteiligt sich an sogenannten Rekonstruktionen, d.h. an dem möglichst originalgetreuen Nachstellen von Ereignissen der Schlacht von Stalingrad: »Niemand schreibt, dass sie so waren, wie wir. Aber ich beschäftige mich mit unserer Rekonstruktion und erfahre, was für ein Mensch das war. Geschichte sollte lebendig sein.« Alexander ist fasziniert von populärwissenschaftlichen Zeitschriften, die historische Themen, insbesondere zum Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, präsentieren: »Ich überlege mir immer, ob ich mir das kaufen würde, wenn ich nicht gerade Deutscher wäre. Naja, ich weiß eigentlich schon, was drinsteht. Und das ist mit Sicherheit nie was Neues. Aber der größere Teil ist die Anziehungskraft davon. Es ist, dass ich als Deutscher da mit drinhänge. Vielleicht ist man dann auch ein Teil davon, wenn man das kauft. Und man kann sich da reingeben.« Bodil schenkt ihrem Freund ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Stalingrad 43«: »Stalingrad ist vielmehr für mich ein Symbol. Und das Symbol ist benutzt worden, um damit was zu verdeutlichen und zu provozieren, ganz klar, indem man das als Datum eben auf T-Shirts gedruckt hat.« Nikolaj nimmt an Ausgrabungen teil, bei denen die sterblichen Überreste von Soldaten der Roten Armee geborgen werden: »Die jungen Leute meiner Generation in anderen Ländern denken, dass die UdSSR eher wenig zum Sieg beigetragen hat. Wir sollten mehr darüber nachdenken, wie man unseren Sieg retten kann.«
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beobachtungen
material
anliegen und perspektiven
In der aktuell wieder sehr lebendigen Erinnerungspraxis zum Zweiten Weltkrieg ist insbesondere die Generation der Enkel aufgefordert, festgelegte Geschichtsbilder zu konsumieren, sie sich anzueignen und sie zu bestätigen. Die vier beispielhaften Aussagen veranschaulichen vor diesem Hintergrund das Thema der geplanten Ausstellung: die aktive Auseinandersetzung junger Menschen aus Russland und Deutschland mit der Erinnerung an die Schlacht von Stalingrad.
Im Mittelpunkt der Ausstellungskonzeption stehen Interviews, die wir seit 2008 in Russland und Deutschland durchführen. Unsere Interviewpartner sind Angehörige der dritten und vierten Generation – also Frauen und Männer im Alter zwischen 15 und 40 Jahren. Als die Urheber der Reflexe interessieren uns ihre Motivationen und Strategien im Umgang mit der Schlacht von Stalingrad, ihrer Ereignisgeschichte wie auch mit den verschiedenen Erinnerungskulturen. Die Interviews folgen keinem standardisierten Leitfaden. Wir orientieren uns an einem qualitativen Ansatz in der Form narrativer Interviews, die den Befragten die Möglichkeit gibt, weitgehend uneingeschränkt von ihren Handlungsweisen und den zugrunde liegenden Motiven zu erzählen.
Wir wollen mit der Ausstellung informieren, unterschiedliche Möglichkeiten der Teilhabe an gesellschaftsweiten Erinnerungsprozessen aufzeigen und zu Diskussionen über die aktuelle Erinnerungskultur in beiden Ländern anregen. Da die Ausstellung in Russland und Deutschland gezeigt werden soll, verfolgen wir das Anliegen, die Reflexe den jeweils anders national und kulturell geprägten Besuchern bekannt zu machen.
Wir haben beobachtet, dass das offizielle Gedenken an das konkrete historische Ereignis für ganz unterschiedliche Reaktionen und Formen der Auseinandersetzung Anlass bietet: – in Wolgograd spielen Gruppen junger Menschen Ereignisse der Stalingrader Schlacht als »Reenactment« nach; – auf den ehemaligen Schlachtfeldern graben russische Jugendliche nach den Überresten getöteter Soldaten; – in beiden Ländern spielen Menschen Computerspiele, die den Krieg und die Schlacht von Stalingrad virtuell nacherleben lassen; – in der deutschen, politisch »linksorientierten« Szene wird versucht, mit dem Hinweis auf die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zu provozieren, um sich kritisch zu aktuellen gesellschaftspolitischen Verhältnissen zu äußern usw.
In diesen »Reflexen« – wie wir die Auseinandersetzungsformen nennen – zeigen sich als Reaktion auf etablierte Erinnerungsmuster veränderte, z. T. alternative Standpunkte in einem gesellschaftlichen Prozess, in dem Geschichtsbilder und Identitäten immer wieder neu verhandelt werden. Die individuellen Aussagen der Beteiligten bilden einen Ausschnitt gesellschaftspolitischer Meinungsbildung ab. In Form von Inszenierungen, verbalen und schriftlichen Verlautbarungen sowie multimedialen Präsentationen begegnen uns diese Reflexe im Alltag, in der Freizeitgestaltung, an Gedenktagen usw. Sie bewegen sich dabei immer im Verhältnis zum erinnerungspolitischen Rahmen, der mehr oder weniger explizit staatlicherseits vorgegeben wird und in unterschiedlichem Maß gesellschaftlich verhandelbar ist. Mal verlaufen die Reflexe konform, mal bewegen sie sich außerhalb oder gar entgegen der gängigen Praxis gesellschaftlich anerkannten, tradierten Erinnerns und Gedenkens. Anmerkung Die Bedeutung der Begriffe »Erinnerung« und »Erinnern« ist im deutschen und russischen Sprachgebrauch nicht deckungsgleich. Im Deutschen wird »Erinnerung« bzw. »Erinnern« je nach Kontext sowohl mit persönlichen Erfahrungen als auch mit sozialen oder gesellschaftlichen Formen des Gedenkens verbunden. Hingegen wird in der russischen Sprache zwischen dem Erinnern eigener Erfahrungen [vospominanie] und dem Gedenken an ein Ereignis [pamjat’], das nicht zwangsläufig selbst durchlebt sein muss, auch sprachlich unterschieden. Wenn wir in dieser Ausstellungskonzeption auf »Erinnerung« und »Erinnern« Bezug nehmen, dann haben wir dabei die Perspektive der jungen Menschen und ihre Aussagen im Blick. Ihre individuellen Erfahrungen mit kollektiven Erinnerungen stehen im Mittelpunkt unserer Betrachtung. Der aktive Vorgang, mit den Inhalten des kollektiven Gedächtnisses umzugehen, sowie die Möglichkeit sie zu verändern, ist in diesem Zusammenhang immer mitgedacht – und das sowohl in der russischen wie deutschen Verwendung der Begriffe.
Bei der Bearbeitung der Interviews werden Strategien der Aneignung, Fortschreibung und Bewältigung als individuelle Motivationen der einzelnen Befragten erkennbar. Dabei gibt es Versuche, sich kreativ auszudrücken, sich zu orientieren, zu provozieren. Es gibt Versuche, Erinnertes zu bewahren, Zusammenhänge zu verstehen oder »Geschichte zu erleben«. Mithilfe dieser Strategien setzen die Vertreter der Enkel-Generation das vergangene Ereignis der Schlacht von Stalingrad in ein Verhältnis sowohl zu ihrer individuellen als auch zu ihrer gesellschaftlichen Gegenwart. Vorhandene »Bilder« und etablierte Muster – d. h. Rituale, Geschichtsbilder u. ä., die in der Mehrheitsgesellschaft ausgehandelt und allgemein akzeptiert sind – werden übernommen, neu arrangiert oder radikal verworfen. Den Befragungen in Russland liegt in erster Linie die unmittelbare Verknüpfung zum Ereignisort – Stalingrad, heute Wolgograd – zugrunde. Stalingrad/Wolgograd ist in Russland einer der vergangenheitspolitisch wichtigsten Erinnerungsorte, dessen Funktion – vom Staat gefördert – u. a. die Etablierung nationaler Identität ist. Der Omnipräsenz der Erinnerung an die Schlacht im heutigen Stadtbild entspricht ein ebenso ausgedehntes Netz von Menschen, die sich z. T. auch in nichtoffiziellen Bereichen mit dieser Erinnerung auseinandersetzen. Unser Blick richtet sich dabei besonders auf Initiativen, die vom etablierten Erinnerungsgeschehen abweichen. Die deutschen Befragten können in der Regel nicht auf eine ähnliche räumliche Erfahrung zurückgreifen. In Deutschland erscheint die Geschichte der Schlacht häufig nur als eine »Episode« in der Gesamtbetrachtung des Zweiten Weltkriegs. Dennoch ist Stalingrad – vielfach als Chiffre – in der deutschen Erinnerung sehr wohl präsent, vorrangig vermittelt in öffentlichen Institutionen (Schulen, Universitäten, Museen) und in populären Medien (TV, Kino, Zeitschriften, Computerspielen, Internet). Initiativen, die sich mit der Geschichte der Schlacht »vor Ort« auseinandersetzen, bilden eine Ausnahme: beispielsweise die Jugendaktivitäten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge oder einige deutsche »Bergungsgruppen«, die nach sterblichen Überresten von Soldaten der Wehrmacht suchen. Deshalb erschließt sich der Zugang zu den deutschen Befragten häufig über Umwege und den erweiterten Kontext des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg. Die Interviews werden entsprechend dem engeren Beschäftigungszusammenhang der jeweiligen Personen durch zusätzliche Materialien und Hintergrundinformationen ergänzt.
Die Erinnerungstraditionen in beiden Ländern unterscheiden sich teilweise deutlich voneinander. Menschen haben unterschiedliche Sehgewohnheiten und sprechen unterschiedliche Sprachen. So ist die Schlacht von Stalingrad im Bewusstsein junger Menschen in Wolgograd anders verankert als bei ihren Altersgenossen beispielsweise in Hamburg oder Bremen. Gleichzeitig finden sich auch weitgehende Überschneidungen sowohl bei älteren als auch bei jüngeren Menschen. Mittels dieses generationellen Aspekts öffnet sich der Blick auf die Möglichkeiten und Formen der Teilhabe am erinnerungspolitischen Prozess: In der etablierten Erinnerungskultur beider Länder verläuft der Vermittlungsweg üblicherweise von der älteren Generation der Zeitzeugen oder deren Kindern zur jungen Generation der Enkel und Urenkel. Ein gleichberechtigter Austausch der Erfahrungswelten zwischen Angehörigen der verschiedenen Generationen findet im öffentlichen Raum selten statt. Mit der Konzentration auf die Aussagen und Erfahrungen junger Menschen im Rahmen dieses Ausstellungsprojekts wird einerseits älteren Menschen eine Beschäftigung mit der Geschichtsrezeption ihrer Kinder, Enkel und Urenkel ermöglicht. Für junge Besucher eröffnet sich andererseits eine Ebene der Selbstreflexion in der Auseinandersetzung mit den Beiträgen ihrer Altersgenossen. Durch interaktive und aktivierende Angebote werden die Besucher in das Ausstellungsthema und die Aktualität des Themas einbezogen, zu Diskussionen und einer eigenen Positionierung aufgefordert.
коллекция sammlung
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реконструкторы Rekonstrukteure школьники / Пост No. 1 Schüler /Wache Nr. 1 копатели / поисковики Ausgräber / Sucher производители/продавцы сувениров Souvenirhändler левые политические активисты Linke Politaktivisten субкультуры /»неформалы« Subkulturen/»Neformaly« художники Künstler непрофессиональные историки (история как хобби) Hobbyhistoriker компьютерные игроки Computerspieler
Von dieser Botschaft geht der inhaltliche Impuls für die Präsentation des Materials im Ausstellungsraum aus. Anders ausgedrückt: Die Botschaft ist die ideelle Grundlage, auf der der innere Raum der Ausstellung entsteht und der die einzelnen Umsetzungsideen bündelt, strukturiert und die verschiedenen Objekte in eine übergeordnete Beziehung zueinander setzt. Sie hat außerdem die Funktion, den angestrebten Dialog zwischen uns als den Ausstellungsmachern und den Besuchern in Gang zu bringen. Die Botschaft »Stellt Fragen!« ist nicht explizit, sondern implizit im Ausstellungsraum gegenwärtig. Ihre explizite Präsenz beispielsweise in verbaler Form hätte die Ausstellung vereinfacht, den Betrachter seiner Eigenständigkeit beraubt und ihn der direkten Einflussnahme durch die Lesart der Ausstellungsmacher ausgesetzt. Die Botschaft soll sich den Besuchern durch die Präsentationsform erschliessen.
botschaft: »stellt fragen!« Unter Botschaft verstehen wir die Leitidee und die Grundaussage der Ausstellung. Auf der Grundlage der Ergebnisse der von uns im März 2008 in Wolgograd veranstalteten Open-Space-Konferenz zum Thema »Stalingrad als Gedächtnisort in Russland und Deutschland« und der von uns geführten Interviews gehen wir von der These aus, dass sich die Sichtweise junger Menschen auf die Stalingrad-Erinnerung durch Multiperspektivität auszeichnet: Vielfach wurde der Wunsch erkennbar, auch alternativen Blicken auf die Geschichte der Schlacht Ausdruck zu verleihen. So machten wir uns zur Aufgabe, die individuellen Positionen junger Menschen sichtbar werden zu lassen und eine Ausstellung über die aktuelle »Erinnerungstätigkeit« junger Menschen in Bezug auf die Schlacht zu planen; konzeptuell wurde der Versuch leitend, einen Dialog zwischen dem Gezeigten und seinen Betrachtern zu initiieren. Die aktive Rolle der Betrachter bestimmt die endgültige Formulierung der Botschaft für die Ausstellungskonzeption: »Stellt Fragen!«
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So legen etwa Ausstellungsgegenstände, die sich aus den Interviews ergeben, eine Fährte: Es sind jene Gegenstände, mit denen sich unsere Interviewpartner die Geschichte der Schlacht von Stalingrad zu Eigen machen. Vermittelt durch die Produktion von Gegenständen – das Nähen von Militäruniformen, die Herstellung von Modellen des eingesetzten Kriegsgeräts – oder durch das Vollziehen bestimmter Handlungen – das Hineinschlüpfen in die Rolle des Rotarmisten in Computerspielen, die Aufführung von Theaterstücken, die Teilnahme an der »Wache Nr. 1« – finden die jungen Leute Antworten auf die von ihnen mehr oder weniger bewusst gestellten Fragen an die Geschichte der Schlacht. Die Ausstellungsexponate schließen einen Erkenntniszirkel nicht nur zwischen den Ausstellungsmachern und den Betrachtern, sondern auch zwischen den Interviewten und den Ausstellungsbesuchern.
In weiteren Ausstellungsideen spiegelt sich die Botschaft zusätzlich wider: 1. in sogenannten »laufenden Fragen«, die über den Ausstellungsboden oder die -wände wandern und die von den Ausstellungsmachern an die Besucher gerichtet sind, 2. in einem »Ort der Selbstreflexion«, an dem die Besucher ihre Fragen stellen und Kommentare äußern können, 3. in Interviews, die nach dem Schema »Was, wo, wie und warum wird erinnert?« aufbereitet wurden. Die präsentierten Interviews, Exponate und Informationen regen zu Erkenntnissen im Betrachtungsprozess der Besucher an. Unsere Beobachtung, dass die Interviewpartner sich fragend an die Vergangenheit wenden und dabei eine aktive Handlungsrolle übernehmen, fließt somit in das Erkenntniskonzept und Design der Ausstellung mit ein. Das Konzept verzichtet bewusst auf einen erhobenen Zeigefinger, unser Anliegen im Bereich der politischen Bildung geht gleichwohl mit dem Appell einher, unvoreingenommen Fragen zu stellen. Der Ausarbeitung der Botschaft »Stellt Fragen!« liegt die Annahme zugrunde, dass (Kriegs-)Wahrheit und Wirklichkeit multiperspektivisch sind und dass je nach eingenommenem Blickwinkel auf dasselbe Ereignis unterschiedliche Gefühle, Erinnerungen, Einschätzungen dazu entstehen können. Das Gedächtnis ist unserer Auffassung nach kein statisches Phänomen. Vielmehr ist es dynamisch, Veränderungen unterworfen und für sie empfänglich. Es gilt an dieser Stelle festzuhalten, dass der gewählte Zugang in Bezug auf übliche Ausstellungspraktiken in Wolgograd ein Novum darstellt. Die Analyse der dort sehr populären Ausstellung im Panorama-Museum »Die Schlacht von Stalingrad«, die unsere Geschichtswerkstatt im Rahmen des ersten StalingradProjekts durchgeführt hat, hat ergeben, dass dort die »Erinnerung« bzw. das »Erinnern« nicht explizit thematisiert wird. Vorrangiger Gegenstand ist die militärische Ereignisgeschichte der Schlacht an der Wolga, die aus Sicht der Sieger erzählt wird. Seit ihrer Eröffnung bedient die Ausstellung den staatlichen Auftrag, zur patriotischen Erziehung der Jugend beizutragen.
Die von uns geplante Ausstellung befasst sich bewusst nicht mit der Schlacht von Stalingrad als militärhistorischem Ereignis. Unser Thema ist die Erinnerung an die Schlacht unter Jugendlichen und jungen Menschen. Das Ziel ist es daher nicht, eine Interpretation der historischen Wahrheit zu liefern. Vielmehr setzen wir den Schwerpunkt auf das Fehlen einer Eindeutigkeit angesichts eines solch komplizierten und widersprüchlichen Phänomens wie dem Erinnern und Gedenken an ein historisches Ereignis. Alle Interviewten sind deshalb für uns in ihrer jeweiligen Individualität und mit ihrer jeweiligen, spezifischen Erinnerungspraxis gleichwertig, sie werden daher nicht entsprechend qualifizierenden Kategorien wie »angemessen/nicht angemessen«, »richtig/falsch« zugeordnet.
baustein »gegenstände«
baustein »strategien«
baustein »fragen«
Die von uns interviewten Personen realisieren ihre Reflexe zur Schlacht von Stalingrad in der Regel durch Gegenstände.
Alle Befragten äußern den Wunsch, »Geschichte erlebbar« zu machen. Übergeordnetes Ziel weitgehend aller ausgestellten Reflexe ist es, Geschichte zu reaktualisieren und zu materialisieren. Entsprechend einer treffenden Bestimmung in einem der Interviews bezeichnen wir diese »Metastrategie« als »living history«.
Das Nachdenken über den Erinnerungsort Stalingrad verläuft bei jedem der Interviewpartner entlang persönlicher Fragen an die Geschichte; es vollzieht sich assoziativ und überschreitet die Grenzen der von uns definierten Gruppen.
Die Gegenstände sind aufgrund ihrer sinnlichen Präsenz sowohl für den Interviewpartner als auch für uns wichtig. Gleich einem Medium transportieren sie die mit dem Handeln der Personen verbundenen Aussagen zu Stalingrad: Womit stellen die Respondenten eine Verbindung zwischen sich und Stalingrad her, wodurch wird Wissen reproduziert oder werden neue Aspekte beleuchtet? Exponate Neben den Interviews sind an den Multimediastationen Gegenstände zu sehen, die die Erzählungen der Interviewpartner veranschaulichen: Selbst hergestellte Armeekleidung, restauriertes Kriegsgerät, Ausgrabungswerkzeuge, Plakate, Computerspiele, T-Shirt mit dem Aufdruck »Stalingrad 43«, Geschichtszeitschriften (G/Geschichte, P.M. History), Schulbücher, Installationen aus Fundstücken … Die Gegenstände ermöglichen dem Besucher einen optischen und haptischen Zugang zur Erinnerungstätigkeit der interviewten Personen.
struktur: inhalte und gestaltung In einem ca. 100 qm großen Raum stellen wir verschiedene Praktiken vor, wie Vertreter und Vertreterinnen der dritten und vierten Generation in Russland und Deutschland mit der Erinnerung an die Schlacht von Stalingrad umgehen.
Gruppen + Piktogramme Die unterschiedlichen Reflexe auf Stalingrad präsentieren wir in neun Gruppen. Für die Einteilung ausschlaggebend sind u. a. der gemeinsame Handlungsrahmen (»Rekonstrukteure«, »Ausgräber/Sucher« oder »Hobbyhistoriker«), die Verwendung ähnlicher Medien (»Computerspieler «) oder gleichartiger Ausdrucksweisen (»Künstler« oder »Politaktivisten«). Diese Gruppeneinteilung ist gleichwohl nicht zwingend, die Trennlinien zwischen den Gruppen sind durchlässig.
An neun Stationen, die kreisförmig um eine weiße Sitzgelegenheit herum angesiedelt sind, werden 24 ausgewählte Interviews von Menschen im Alter von 15 bis 40 Jahren präsentiert. In den Interviews berichten sie von ihrer Weise und von ihren Motiven, sich mit der Schlacht von Stalingrad bzw. mit den Erinnerungsformen an diese Schlacht auseinanderzusetzen. Neben den Interviews finden sich in den neun Stationen Gegenstände, die die Erzählungen der Interviewpartner illustrieren. Zusätzlich sind hier weitere Materialien zu finden, die Hintergrundinformationen zu den interviewten Personen und ihren Reflexen liefern. Piktogramme markieren die neun Gruppen bzw. Stationen. Fragen, die sich aufgrund der Beschäftigung mit Geschichte im Allgemeinen und mit der Schlacht von Stalingrad im Besonderen formulieren lassen, bewegen sich durch den Raum.
Nach aktuellem Stand finden sich folgende Gruppen, die im Ausstellungsraum in willkürlicher Abfolge angeordnet werden: Rekonstrukteure – Schüler/Wache Nr. 1 – Ausgräber/Sucher – Souvenirhändler – Linke Politaktivisten – Subkulturen/»Neformaly« – Künstler – Hobbyhistoriker – Computerspieler.
Wie im Exkurs (Modul 8) beschrieben, basiert der Aufbau der geplanten Ausstellung auf der Synthese dreier konzeptueller Ansätze mit den Bausteinen »Gegenstände«, »Strategien« und »Fragen«. Ihnen kommt die Aufgabe zu, das Material handhabbar zu machen und zu klären, was wo und wie zu sehen ist.
Die an den Stationen exponierten Gruppen sind durch im Raum gut sichtbar aufgehängte Piktogramme gekennzeichnet. Sie sind den von den Befragten verwendeten oder produzierten Gegenständen nachempfunden. Das Megafon steht z.B. als Piktogramm für die Gruppe linker Politaktivisten, die bei ihren antifaschistischen Straßentheateraktionen zum 8. Mai große Megafone benutzten. Als Piktogramm für die Gruppe »Rekonstrukteure« wählen wir einen von Jugendlichen selbst genähten Militärmantel: Als Soldaten verkleidet stellen die Akteure Szenen der Stalingrader Schlacht nach, um heute das historische Ereignis, wie sie meinen, nachvollziehbarer zu machen.
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In den Aussagen haben wir verschiedene Strategien oder Motive der Auseinandersetzung ermittelt. Ein Motiv der Reflexe kann beispielsweise sein, die »Geschichte bewahren« oder »sich über Geschichte in der eigenen Biografie orientieren« zu wollen. Ein Beweggrund kann sein, »Geschichte emotional und körperlich zu erleben«. Es kann der Wunsch dahinter stehen, »Zusammenhänge, Hintergründe« oder auch »den Anderen verstehen« zu wollen. Indem wir für jedes Interview eine dominante Strategie herausstellen, unterstützen wir die Besucher bei ihrem interpretatorischen Zugriff auf das dargestellte Material und ihre Annäherung an die Frage des »Warum«. Begleittexte In den Interviews wird sichtbar, welche Motive die Befragten haben bzw. welche Strategien sie im Umgang mit der Erinnerung an die vergangenen Ereignisse entwickeln. In den Informationstexten zu den einzelnen Interviews finden sich unsere analytischen Herleitungen der jeweiligen Strategien. In den Überblickstexten zu der jeweiligen Gruppe werden die individuellen Strategien zusammengefasst und erläutert. Die verschiedenen Strategien und ihre Funktionen werden auch in einem Einführungstext vorgestellt.
An den Stationen befinden sich Multimediavorrichtungen für die Interviews, außerdem Exponate und Hintergrundinformationen zu den einzelnen Reflexen.
Die Vergangenheit zu befragen, um Aufschlussreiches für das Verständnis unserer gemeinsamen Gegenwart zu bekommen, ist u. a. ein wichtiger Zweck von Geschichtswerkstätten. Unser fragender Gestus ist vor dem Hintergrund monolithischer Erinnerungskulturen zu sehen, wie wir sie im Stalingrad-Projekt I für Deutschland und Russland ermittelt haben. Zum Beispiel sehen sich Museumsbesucher in Russland mit einer »Heldengeschichtsschreibung« konfrontiert, auch der deutsche Opferdiskurs ehemaliger Wehrmachtssoldaten ist in seiner Einseitigkeit davon geprägt. Fragen treiben auch unsere Interviewpartner an, meistens weil die Antworten im traditionellen Erinnerungsbetrieb unbefriedigend bleiben. Fragen sollen aber auch in der Ausstellung selbst einen Raum für die Auseinandersetzung mit dem hier präsentierten Umgang mit Geschichte eröffnen. Raum Für die Präsentation stellen wir uns einen möglichst offenen Raum vor, in dem sich die neun Stationen um eine weiße Sitzgelegenheit platzieren lassen. Sie symbolisiert die »weißen Flecken« in der Erinnerungskultur zu Stalingrad, die es in beiden Länder gibt. An diesem Ort können die Besucher ihr Feedback hinterlassen, die Ausstellung schriftlich kommentieren, ihre Meinungen per Videoaufzeichnung äußern oder Hinweise auf weitere Materialien hinzufügen.
Da sich die interviewten Personen selbstverständlich nicht in einem klar abgrenzbaren Bereich bewegen, werden die einzelnen Gruppen nicht durch sichtbare Begrenzungen voneinander getrennt. Die Besucher können sich zwischen den einzelnen Reflexen hin und her und damit von einer Facette des Erinnerns zur nächsten bewegen. Durch diese nicht-lineare Präsentation können die unterschiedlichen Stimmen auf diese Weise als einzelne Teile eines erinnerungskulturellen Diskurses wahrgenommen werden. »Laufende Fragen« Projiziert an Wände oder auf den Fußboden (als elektronisches Laufband, als Plakat, als freihängendes Schild, als Aufkleber) verbinden sie die Gruppenbereiche optisch und inhaltlich. Unsere somit sichtbar gemachte Herangehensweise regt die Besucher zum Befragen des Materials an.
Kann man aus Geschichte lernen? Verpflichtet uns die Vergangenheit? Ist das politisch korrekt? Wie war es wirklich? Kann man Geschichte anfassen?
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Описанное выше оформление является условным предложением реализации выставки. Данная концепция открыта для расширения и дальнейшего развития. В этом смысле она носит рабочий характер. Во время ее создания мы развивали ряд принципов, которые должны быть сохранены при реализации нашего замысла.
Die beschriebene Gestaltung ist ein erster Vorschlag zur Umsetzung der Ausstellungskonzeption. Sie bleibt offen für Anregungen und eine Weiterentwicklung und hat in diesem Sinne Laborcharakter. Während der Materialrecherche und der Konzeptionsentwicklung haben wir weitere Leitlinien gesammelt, die zur Orientierung wirksam bleiben sollen.
При группировке интервью и относящихся к ним предметов мы осознанно не придерживались хронологического и ценностного критериев. Что касается драматургии, то здесь мы отказались от линейного способа повествования: посетитель не начинает осмотр нашей выставки с установленного «логического» начала и не покидает ее в определенном нами конце. Свободной, не подчиненной жесткой схеме, организацией выставочного пространства мы отображаем субъективный процесс познания истории и памяти, который мы наблюдаем у молодых людей.
Die Gruppierung der Interviews und der ihnen zugeordneten Exponate sowie die Anordnung der Gruppen im Raum gehorchen keiner Chronologie und keinen wertenden Kriterien. Wir haben uns gegen eine lineare Erzählweise entschieden: Der Besucher beginnt seinen Gang durch die Ausstellung weder bei einem interpretatorisch bedingten »logischen« Anfang, noch verlässt er sie an einem von uns definierten Ende. Mit diesen Freiräumen bilden wir die subjektiven Aneignungsprozesse ab, die wir an den Reflexen der Befragten beobachten.
Посетитель самостоятельно решает, что выбрать в качестве главной темы выставки: интервью, экспонаты или информационные тексты. Ему не обязательно изучать все интервью, экспонаты и сопутствующие тексты. Мы предполагаем, что при знакомстве с материалом посетитель будет следовать своей интуиции. Активация посетителя посредством специфической презентации материала и возможность добавить к выставке собственные рефлексии и мысли об историческом событии приводят к тому, что посетители начинают действовать / реагировать в духе послания «Задавайте вопросы!» уже на самой выставке.
Die Besucher können sich wahlweise über die Interviews, über die Exponate oder über die Informationstexte dem Ausstellungsthema nähern. Der Besucher muss nicht alle Interviews, Exponate und Informationen rezipieren, um sich mit der Thematik auseinandersetzen zu können. Ein intuitiver Zugang zum ausgestellten Material ist beabsichtigt. Durch Aktivierungsangebote und die Möglichkeit, eigene Reflektionen auf das historische Ereignis und Meinungen zur Ausstellung direkt einfließen zu lassen, ermöglichen wir es den Besuchern, bereits in der Ausstellung im Sinne der Botschaft »Stellt Fragen!« zu (re-)agieren.
Поэтому и само выставочное помещение мы представляем как динамичный (материальный) фонд, из которого посетитель может черпать ту информацию, которая его интересует.
Der Ausstellungsraum stellt sich so als dynamischer (Material)Fundus dar, aus dem die Besucher nach Interesse schöpfen können. Die von uns intendierte Offenheit beim thematischen Zugang ist damit konzeptionell auch in der Gestaltung verankert.
Презентуя материал, мы также отказываемся от сравнения по национальному признаку, а потому не разделяем немецкие и российские взгляды. Даже если мы наблюдаем достаточно различные традиции памяти, сравнение не является предметом выставки. Выставка фокусируется на современных коммеморативных практиках, при этом особое внимание уделяется поколенческой перспективе.
Wir verzichten auf eine national vergleichende Perspektive und trennen nicht in deutsche und russische Reflexe. Auch wenn wir durchaus unterschiedliche Erinnerungstraditionen beobachten können, soll nicht der nationale Vergleich zum Gegenstand der Ausstellung werden. Der Fokus bleibt in der aktuellen Erinnerungspraxis, die Aufmerksamkeit liegt auf der generationenspezifischen Perspektive.
Равноправная презентация материала на выставке дает возможность посетителям самим распознавать сходства и различия, также как и испытывать возможное удивление по этому поводу. Однако каждый сам решает для себя, какое значение этому придавать и выделять ли тот или иной аспект – гендерный, культурный, неонацистский. В этой связи на выставке не будет иметься предварительно подготовленного текста метауровня, который разъясняет, под каким углом зрения следует воспринимать представленный материал; все возможные способы рассмотрения приветствуются.
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Dem Besucher werden Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten im Nebeneinander der präsentierten Reflexe auffallen. Was an Erkenntnis entsteht und was vielleicht auch Verwunderung auslöst, soll dem Betrachter überlassen sein, ebenso die Möglichkeit, weitere Aspekte der Erinnerung – Gender, kulturelle Traditionen, Neonazismus – zu thematisieren. In der Ausstellung soll es daher in unserer Konzeption keinen vorgeordneten Meta-Text geben, der erläutert, aus welcher Perspektive das ausgestellte Material zu betrachten sei. Alle erdenklichen Betrachtungsweisen sind erwünscht und somit erlaubt.
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Hauptinformationen, die von den Besuchern auf den ersten Blick wahrgenommen werden
Weiterführende, etwas umfangreichere Informationen, die leicht sichtbar sind
Vertiefende Informationen, die die Besucher erst durch eigene Aktivität erlangen
beispiel: eine station der ausstellung
Wir beschreiben die Ausstellungsstruktur und ihre Elemente exemplarisch anhand der Gruppenstation »Ausgräber/Sucher«. Grundlage bilden die Interviews mit Stas P. (19 Jahre), Aleksej M. (30 Jahre) und Alexander K. (24 Jahre) sowie Materialien zu ihren Reflexen.
Der Betrachter sieht sich den abgebildeten Personen einer Ausgrabungsszenerie auf einem großformatigen Foto maßstabsgetreu gegenüber. Das Problem von Nähe und Distanz zum präsentierten Gegenstand wird durch ein Interaktionsangebot veranschaulicht: Der Besucher kann sich vor das Bild stellen und fotografieren lassen. Die Fotos können auf einer Fläche fixiert und kommentiert werden; oder sie werden als Souvenir mit nach Hause genommen. Dinge, die Stas, Aleksej und Alexander bei ihrer Beschäftigung verwenden – Metalldetektor, Camouflageanzug, kleine Schaufeln, Pinsel – sind für die Besucher zugänglich aufgestellt. Als einzelne Exponate sind sie mit Erläuterungen versehen und können von den Besuchern angefasst werden. Ein Klappspaten als Piktogramm markiert die Gruppe der »Ausgräber/Sucher«. Es ist gut sichtbar vor der Station angebracht.
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In großen Lettern sind charakteristische Zitate aus den Interviews bei »Stas«, »Aleksej« und »Alexander« an der Wand angebracht. Sie bringen die Strategie auf den Punkt, warum sich die befragte Person mit Stalingrad beschäftigt. Unter dem Piktogramm befindet sich ein Aufsteller mit dem Überblickstext zur Gruppenstation. Hier sind die Reflexe kurz beschrieben und die Strategien der Befragten dieser Gruppe zusammengefasst. Fragen »laufen« durch den Ausstellungsraum und durch die exemplarische Station – auf dem Boden oder an den Wänden entlang, zwischen den Gruppen und von Individuum zu Individuum: Wodurch verändert sich der Blick auf die Geschichte? Fehlt was? Ist das (politisch) korrekt? Wer entscheidet, was wichtig ist von der Vergangenheit? Verhilft das Verstehen von Geschichte zu mehr Empathie?
An den Multimediastationen, an denen die Besucher auf Kisten oder Camouflage-Klappstühlen sitzen, ähnlich der Sucher und Ausgräber auf ihren Exkursionen, können die Interviews sowie Lieder der Sucher angehört werden. Auf dem Tisch liegen die Liedtexte bereit. Weitere Objekte, die von den Suchern und Ausgräbern bei ihrer Tätigkeit eingesetzt werden oder die über sie berichten (militärische Karten der Schlachtenverläufe, Literatur, Zeitungsausschnitte usw.), liegen ebenfalls auf dem Tisch ausgebreitet.
Ausgrabungsfunde (wie Patronenreste, altes Essgeschirr u. a.) sowie »kunsthandwerkliche« Installationen aus Ausgrabungsfunden, die von Stas, Aleksej oder Alexander bzw. ihren Kollegen und Kolleginnen selber angefertigt werden, sind in Vitrinen untergebracht. Fotografien von den Ausgrabungsorten, aufgenommen von den Interviewpartnern selbst, werden an Stellwänden gezeigt. Die drei Interviews mit Stas, Aleksej und Alexander haben jeweils eine Länge von ca. 10 Minuten. Davon werden zwei als Audio- und eins als Videointerview präsentiert. Die Hörstationen sind in Tische integriert, die stilistisch der Szenerie auf dem Foto angeglichen sind. Das Videointerview ist separat auf einem Monitor zu sehen, der z. B. an der Wand untergebracht ist. Kurze Informationstexte liefern einen Überblick zu den Interviews mit Stas, Aleksej und Alexander. Sie benennen die jeweilige Art und Weise der Beschäftigung, die von uns erkannten Strategien und markante Aussagen aus den Befragungen. Sie sind den einzelnen Befragten direkt zugeordnet und somit an den Audio- bzw. Videostationen zu finden.
An einer gesondert aufgestellten Videostation wählen die Besucher aus drei Dokumentationen über die Sucher und ihre Bewegung aus.
Ausführliche Informationen zu Stas, Aleksej und Alexander und ihren Reflexen liegen in farbigen Ordnern bereit; sie sind in Rollcontainern direkt neben dem Tisch mit den Hörstationen bzw. neben der Videostation untergebracht. Die Ordner enthalten u.a. die vollständigen Transkripte der (geschnittenen) Interviews, einen Text zur Geschichte der Sucherbewegung im Wolgograder Gebiet und Zeitungspublikationen zum Thema. Das Farbschema der Ordner ist für alle Gruppenstationen der Ausstellung einheitlich: beispielsweise sind in roten Ordnern die Interviewtranskripte zu finden, in grünen Ordnern werden Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Personen und deren Reflexen von uns bereit gestellt, in blauen Ordnern finden die Besucher Sekundärquellen zum entsprechenden Thema.
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Цитата Zitat Выставочный отдел Multimediastation Экспонат Exponat Витрина Vitrine Обзорный текст Überblickstext Выдвижной ящик Rollcontainer
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Аудио/Видео Audio/Video
Бегущие вопросы Laufende Fragen
Фотокамера с принтером Kamera mit Drucker
Монитор для просмотра видео Videostation
»Das ist vor allem Adrenalin, ein Gefühl der Befriedigung, dass ich das mache, zeige, damit die Leute wissen, verstehen, was das ist – Krieg.« Stas P. / Стас П.
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Aleksej M./ Алексей М.
«В нашей жизни растет равнодушие к истории.»
«Все это есть адреналин, само чувство удовлетворения о том, что я это делаю, показываю, чтоб люди знали, понимали, что это такое война.»
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»Bei uns nimmt die Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte zu.«
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»Ich kenne kein aufregenderes Gefühl als wenn mir da irgend so was aus der Erde entgegen springt.«
Alexander K. / Александр K.
«Я не знаю более острых ощущений, чем когда что-нибудь этакое выпрыгивает из земли.»
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Eine wichtige Besuchergruppe sind Jugendliche aus beiden Ländern. Wir setzen nicht voraus, dass die Besucher ein umfangreiches historisches Vorwissen mitbringen. Dennoch liegt der Konzeption die Annahme zugrunde, dass die Besucher mit dem Ausstellungsthema in Berührung gekommen sind – beispielsweise über Medien wie TV, Kinofilme, Computerspiele oder durch den Schulunterricht. Im Wesentlichen eröffnet sich den Besuchern der thematische Zugang über die persönliche Ebene der Interviews. Insbesondere Jugendliche können sich über die in den Interviews geschilderten Erfahrungen das Material leicht erschließen.
besuchergruppen: an wen sich die ausstellung richtet Die Ausstellung soll in Russland und Deutschland einem breiten Publikum präsentiert werden.
Mit den Ereignissen rund um die Schlacht beschäftigen sich vor allem männliche Jugendliche. Die von uns interviewten Mädchen und jungen Frauen, die sich mit der Geschichte der Schlacht auseinandersetzen, werfen zwar ein Licht auf die Frage, ob sich genderspezifische Aussagen bezüglich der Erinnerungspraktiken zum Zweiten Weltkrieg machen lassen. Wir setzen in der Struktur und Gestaltung der Konzeption jedoch keine pointiert geschlechterspezifischen Schwerpunkte, wir machen es uns also nicht zur Aufgabe, männliche und weibliche Erinnerungsstrategien getrennt voneinander zu thematisieren. Vielmehr zielt die gleichwertige Präsentation der Interviews und der Reflexe darauf, mögliche Erwartungshaltungen der Besucher zum Genderaspekt diskutierbar zu machen.
Gleichzeitig sind Besucher der älteren Generationen, Lehrer, Eltern und Großeltern eingeladen, sich ein Bild davon zu machen, welche Fragen junge Menschen bei der Beschäftigung mit Geschichte umtreiben, welche Standpunkte sie vertreten und welche Strategien sie entwickeln, um sich der Vergangenheit anzunähern. Besonders interessant dürfte dies für die noch lebenden ehemaligen Kriegsteilnehmer in beiden Ländern sein. Sie waren einst die Protagonisten der historischen Ereignisse. Es ist uns bewusst, dass das Ausstellungsmaterial gerade bei dieser Besuchergruppe auch auf Unverständnis stoßen kann. Zum einen, weil die Gruppe der Zeitzeugen mit den »Neuen Medien« weniger vertraut ist. Zudem wird ihnen in der offiziellen Erinnerungskultur beider Länder die Aufgabe der »Zeugenschaft« zugewiesen, sie sollen über die vergangenen Ereignisse Auskunft geben. Und besonders in Russland ist eine Ehrung der »Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs« wesentlicher Bestandteil öffentlicher Gedenkrituale. Im Ausstellungskontext ist die Gedenktradition zur »Ehrung der Verteidiger Stalingrads« formal nicht integriert. Zwar zeigen wir beispielsweise die Beteiligung von Jugendlichen am Zeremoniell der »Wache Nr. 1« an dem zentral gelegenen »Ewigen Feuer« in Wolgograd, aber zugleich wird mit den Interviews dieses Ritual be- und hinterfragt. Die Veteranenehrung ist explizit kein Anliegen des Konzepts. Wir sehen hingegen in der Präsentation verschiedener Perspektiven und Praktiken den Vorteil, im Rahmen der Ausstellung den Austausch zwischen den Generationen zu fördern. Die Ausstellungsthematik bedingt den Umstand, dass auch die Reflexe von Anhängern der »Neonaziszene« in den Fokus geraten. Allerdings stellen Neonazis als Besucher, die sich vom Thema Stalingrad angezogen fühlen, für uns ein Problem dar. Wir befürchten, sie könnten freie Diskussionen erheblich stören. Daher ist zu diskutieren, wie das Themenfeld »Stalingraderinnerung und Neonazismus« in der Ausstellung behandelt werden kann.
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Es ist davon auszugehen, dass die präsentierten Informationen von den Besuchern unterschiedlich aufgenommen und interpretiert werden. So konzipieren wir den Ausstellungsraum als gemeinsame Lern- und Diskussionsplattform. Die vermittelte Vielfalt gleichberechtigter Standpunkte soll getreu der Botschaft »Stellt Fragen!« eine aktive Auseinandersetzung mit den dargestellten Inhalten provozieren. Meinungen, Kommentare und Fragen der Besucher zu den einzelnen Teilaspekten – wie Gender, Generation, kulturelle Traditionen, Neonazismus – sind somit ausdrücklich erwünscht und bilden ein ergänzendes Element in der Ausstellung. Zusätzlich zur Ausstellung können thematische Einführungsveranstaltungen beispielsweise für Schulklassen sowie Führungen und ein Begleitprogramm angeboten werden.
sofija …
nikolaj …
kattrin und marlene…
… beteiligt sich an sogenannten Rekonstruktionen, d. h. an dem möglichst originalgetreuen Nachstellen von Ereignissen der Schlacht von Stalingrad.
… nimmt an Ausgrabungen teil, bei denen die sterblichen Überreste von Soldaten der Roten Armee geborgen werden.
… sind Teilnehmerinnen eines Jugendtheaterprojekts. Sie beteiligten sich an einer öffentlichen »Antikriegsaktion« zum Jahrestag des Kriegsendes am 8./9. Mai 2008.
Was machst du? Ich beschäftige mich mit der Rekonstruktion des Großen Vaterländischen Krieges. Das ist nicht meine erste Rekonstruktion. Seit acht Jahre hab ich dieses Hobby. Zuerst waren wir Slawen, Skandinavier; aber wie das eben in der Regel läuft, danach kamen andere Epochen. Zurzeit habe ich für den Zweiten Weltkrieg dreizehn Garnituren: die gesamte Bekleidung, die gesamten Schuhe, alle möglichen Accessoires. Die erste Rekonstruktion, in der ich mitgemacht habe, das war eine Veranstaltung in Rostow 2008 im August: der Durchbruch an der Miusfront. Damals haben wir meine Uniform zusammengestellt, ... die Moskauer gaben die Hosen, von jemandem kam das Soldatenhemd, von irgendwem der Helm – das war ein schöner Mix, weiß heute gar nicht mehr, von wem was kam. Aber das war toll. Jetzt, wo ich mich eben mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftige, verstehe ich, wie armselig bei uns Geschichte unterrichtet wird.
interviews: 1, 2, 3
Sofija, du nennst das »Hobby«. Ist das tatsächlich ein Hobby für dich? Hast du versucht, rauszubekommen, was für dich die Rekonstruktionen bedeuten? Die Rekonstruktionen – das ist wahrscheinlich mein halbes Leben. Alles andere ist die zweite Hälfte. Welche Funktion hast du auf dem Schlachtfeld? Ich fahre immer als Fotograf mit, aber allmählich merke ich, dass ich den Fotoapparat gern ablegen und mit den anderen mitlaufen möchte. Das heißt, du hast noch nie direkt teilgenommen? Nein, ich bin immer nur der Fotograf. Ich habe meine Nische gefunden, viele sagen, dass ich das gut mache.
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Warum machst du das? Ohne Rekonstruktionen wäre ich nicht in so vielen Städten gewesen: ich war in Kaliningrad, ich war in Kiew, ich war in Moskau, ich war in Pensa, Saratow, Rostow, alles nahe gelegene Städte. Das hab ich alles dank der Rekonstruktionen gesehen. Und ich habe viele Freunde gefunden, es ergab sich die Möglichkeit, irgendwohin zu fahren und sich dort umzuschauen. Die Augen der Kinder leuchten, besonders wenn sie zwischen 10 und 15 Jahre sind, das finden die doch so interessant, sie schauen alles an, nehmen alles in die Hände, nicht wie im Museum, wo alles hinter Glas ist. Das ist alles echt, alles live. Auch wir sind live, wir laufen herum. Soviel wie ein durchschnittlicher Rekonstrukteur weiß, weiß nicht jeder Geschichtslehrer und kann es nicht so lebendig erzählen. Niemand schreibt, dass sie so waren, wie wir. Das klingt eher nach trockenen Worten, trockenen Zeilen, auf die man stößt, die man kurz anschaut und dann weitergeht. Aber ich beschäftige mich mit unserer Rekonstruktion und erfahre, was für ein Mensch das war. Geschichte sollte lebendig sein. Das, womit wir uns beschäftigen, hat einen zweiten Namen – living history, das bedeutet: lebendige Geschichte.
Was hat Sie zur Sucherbewegung gebracht? Mein Urgroßvater, der an der Schlacht von Stalingrad teilgenommen hat, ist bei Budapest umgekommen. Mein zweiter Opa ist ebenfalls gefallen. Der Krieg hat in unserer Familie seine Rolle gespielt. Das Gedächtnis an den Krieg wurde in unserer Familie immer bewahrt, ich habe sehr genau nachgefragt, und überhaupt war das einfach interessant. Dann habe ich von den Sucheinheiten erfahren. In diese Einheit hier bin ich freiwillig gekommen. Als ich anfing, mich für die Sucherbewegung zu interessieren, hat mich sofort erstaunt, wie groß der Unterschied zur offiziellen Deutung der Verluste in der Stalingrader Schlacht ist. Was ist Ihre Meinung nach der Unterschied zur offiziellen Darstellung? Die Schulbücher sind bei ihren Darstellungen der Schlacht weit weg von der Wirklichkeit der Geschichte. Die Geschichte war immer näher am Staat, aber nicht an der Bevölkerung. Deswegen ähneln sich alle Schulbücher. Was würden Sie in den Schulgeschichtsbüchern ändern, hinzufügen, streichen? Was soll das Ziel moderner Historiographie über die Schlacht sein? Die jungen Leute meiner Generation in anderen Ländern denken, dass die UdSSR überaus wenig zum Sieg beigetragen hat. Es gibt die Meinung, dass die Amerikaner den größten Beitrag geleistet haben. Wir sollten mehr darüber nachdenken, wie man unseren Sieg retten kann. Welchen Eindruck hat der erste Einsatz im Feld auf Sie gemacht? Wurden Ihre Erwartungen erfüllt? Ja, die Tatsache, dass es Überreste von Soldaten sind, die in meinem Alter waren. Was hat auf Sie den stärksten emotionalen Eindruck gemacht? Nun, ich war schockiert … von der Zeremonie »Das letzte Geleit«. Was ist für Sie bedeutsam an der Arbeit? Die sterblichen Überreste, die entsprechend dem orthodoxen Brauch beerdigt werden sollten. Anmerkung »Das letzte Geleit« (Poslednij stroj) ist eine Zeremonie der Sucher, die zum Ende der »Ehrenwache« (Vachta pamjati) am Ausgrabungsort veranstaltet wird. In ihr wird der Abschied von den sterblichen Überresten der Soldaten inszeniert und ihnen die letzte Ehre erwiesen. Dabei werden die Überreste eines jeden gefunden Soldaten geordnet in einer Linie (»im Glied« [stroj]) auf der Erde ausgebreitet. Auf diese Weise entsteht ein Rechteck aus geordneten Gebeinen. Manchmal sind es die Überreste von mehr als 100 gefundenen Soldaten. In der letzten Nacht der »Ehrenwache« wird eine Kerze oder Öl in einer Konservendose vor jedem Gefallenen entzündet.
Was habt ihr bei euren Aktionen gemacht? M.: Wir haben auf Stahlfässern und Plastikfässern getrommelt und wir haben Kurzreden gehalten. Es wurden Flugblätter verteilt, Spenden gesammelt usw. K.: Es ging uns zum einen darum, Krach zu machen, um die Leute in ihrem Alltag zu stören. Zum anderen wollten wir die Verbindung vom Heute zum »Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus« herstellen. Das Thema »Weltkrieg« und gerade die Frage »Krieg von deutschem Boden aus« ist für uns nichts Vergangenes. Durch den Einsatz der Deutschen Bundeswehr im Ausland ist diese Frage eine ganz aktuelle. Unserer Meinung nach fangen ganz viele Traditionen aus dem Faschismus wieder an, eine Rolle zu spielen. Wir haben den Zuschauern das in den Kurzreden geschildert und sie aufgerufen, zur Veranstaltung zu kommen. Wie hilft euch das Theaterspiel bei eurer Projektarbeit? Warum Theaterspiel? K.: Für uns ist Kultur eine Waffe, eine politische. Das ist nur einfach untypisch. Und für uns ist das einfach eine andere Art der Agitation. Für mich ist es die viel spannendere Art Politik zu machen. Ein Theaterstück ist natürlich etwas, bei dem man es schafft, einen Menschen nicht nur mit Informationen, sondern auch mit normalen menschlichen Gefühlen wie Trauer, Wut, Freude in Kontakt zu bringen – dadurch, dass er Musik hört, dadurch, dass er ein Bild kriegt und nicht nur ein gesprochenes Wort. Auf eurer Veranstaltung war auch ein russischer Veteran anwesend und hat eine Rede gehalten. Wie hat seine Anwesenheit auf euch gewirkt? K.: Das ist natürlich eindrucksvoll, wenn jemand da von Angesicht zu Angesicht erzählt. Das sind Dinge, die erfährt man nur von solchen Leuten. Das würde einem keiner in der Zeitung oder im Fernsehen erzählen. Ein Geschichtslehrer nur, wenn er wirklich viel Ahnung hat und aus Überzeugung Antifaschist ist, was glaube ich nicht oft vorkommt. M.: Ich glaube, das sind Erlebnisse, die nicht vergessen werden dürfen, die unglaublich wichtig sind. Erfahrungen, die wir sicherlich gut brauchen können. Und die uns kein anderer erzählen wird, als die Menschen, die es selber erlebt haben. Es ist nicht ausschließlich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, um die es uns geht, sondern auch der Kampf um heute. Und da ist es sehr hilfreich, mit Veteranen gesprochen zu haben und ihre Aussagen zu haben. Um damit weiter auf die Straße gehen zu können. Es ist aber nicht lebensnotwendig, sondern der Kampf geht auch ohne sie weiter. Welches Ziel verfolgt ihr mit euren Aktionen? M.: Das ist einmal der Punkt, wo wir sagen: Wir wollen die Erinnerung wach halten und so. Wir wollen aber auch auf Umstände hinweisen, die einfach wieder da sind, obwohl sie in diesem Land verboten wurden, weil Deutschland den Zweiten Weltkrieg und auch schon den Ersten Weltkrieg angefangen hat. Dinge, die sich jetzt wiederholen. Vor allem darauf wollen wir aufmerksam machen. Denn es kann nicht sein, dass wir eine Generation sind, die den Dritten Weltkrieg erlebt. Ich möchte das eigentlich nicht.
bodil …
schüler und schülerinnen …
anna …
… schenkt ihrem Freund ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Stalingrad 43«.
… Gruppeninterview mit einer 12. Klasse in Hamburg, die Geschichte als Leistungskurs hat.
Was ist denn die Geschichte von dem T-Shirt, erzähl’ die mal! Ich hab’s gekauft und er hat’s halt angezogen und ist damit zur Arbeit gegangen. Und er arbeitet in einer Schule und ist halt von Schülern angesprochen worden, »hey, was is’n das für’n T-Shirt?“ Worauf hin er sich gar nicht bewusst war, was er im Moment anhatte und dann aber versuchte, den Ausweg zu machen und nur sagte, „das ist ’ne Fußballmannschaft, ’ne deutsche Fußballmannschaft, die hat mal gegen Russland verloren.« Damit waren die Schüler dann zufrieden.
Habt ihr die Schlacht von Stalingrad im Unterricht durchgenommen? Schülerin: In der Mittelstufe, also irgendwann zwischen der 7. und 10. Klasse, aber ich kann mich an gar nichts mehr erinnern, was wir da besprochen haben.
… ist Teilnehmerin des »Studententheaters für Miniaturen« der Wolgograder Staatlichen Universität. 2008 erarbeitete ihr Theater auf der Grundlage von Feldbriefen das Stück »Chronik der Gefühle«.
Wie erinnert das T-Shirt an Stalingrad? Die T-Shirts waren besonders verbreitet in antifaschistischen Gruppen. Nicht nur in Gruppen, die sich darauf beziehen, dass sie antideutsch sind, sondern auch weil es natürlich jedem Rechten ein Dorn im Auge ist, wenn du mit so einem T-Shirt auftauchst. Antideutsch heißt für mich eine klare Haltung gegenüber dem Deutschsein. Ich verstehe darunter eine klare und auch abgeklärtere Form der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte.
interviews: 4, 5, 6
Wofür steht Stalingrad in deinem Verständnis, was wird darüber erzählt? Ich finde, dass in Deutschland Stalingrad bislang immer als sehr deutsche Opferschaft wahrgenommen wird, … also dass es damit verbunden ist: da sind die Deutschen die Opfer, sie haben gelitten, wieviele sind nicht zurückgekommen. Wo soll man an Stalingrad erinnern? Ein Denkmal in Deutschland? Ich kann mich einfach besser damit identifizieren mit dem Zeigefinger auf der Brust, mit dem T-Shirt rumzulaufen, zu sagen, vergesst das nicht, als einen Ort zu gestalten. Wie gestalte ich den denn?
Habt ihr schon mal was von der Stadt Wolgograd gehört? Schüler: Das ist ja Stalingrad, wie es seit dem Ende des Stalinismus in der Sowjetunion dann hieß. Wie stellt ihr euch denn diese Stadt vor? Schülerin: Kalt, grau … Schüler: Ich glaub jetzt ist das eine ganz normale Stadt, nicht mehr irgendwelche Steinhäuser, die unbeheizt und kalt sind, sondern ich glaub das ist eine ganz normal funktionierende Stadt inzwischen. Schüler: Ich glaub eher, dass diese Stadt, ja, bestimmt haben die ein Denkmal oder eine Statue errichtet, weil das haben die Russen so ein bisschen, weil das machen die andauernd. Also ich kann mir gut vorstellen, dass da eine Statue steht, Lenin oder so, und die da bestimmt gefeiert wird. Interessiert ihr euch zum Beispiel auch für die Militärgeschichte der Schlacht von Stalingrad? Schülerin: Die Schlacht an sich finde ich jetzt nicht interessant, sondern eher den Sinn und Zweck, den man in so einer Schlacht gesehen hat. Nicht wie sie vorgegangen sind oder wie sie gekämpft haben, mit welchen Waffen, sondern welche Wurzeln eigentlich diese Schlacht hatte. Warum das eigentlich so zustande gekommen ist und welche Auswirkungen das hatte, was sich dadurch vielleicht auch verändert hat. Das finde ich viel interessanter, als mir jetzt zum Beispiel im Fernsehen irgendeine Schlacht anzugucken. Schülerin: Was ich noch sehr wichtig finde, ist, dass die Geschichte eigentlich nicht abgeschlossen ist, weil es noch Überlebende gibt, weil ich denke, so lange man es noch kann, muss man die Gelegenheit nutzen, mit diesen Leuten zu sprechen. Beschäftigt ihr euch denn in eurer Freizeit mit Geschichte, mit dem Zweiten Weltkrieg? Schülerin: Ich finde es hat einen größeren Effekt, wenn man vor Ort ist, also es wäre für mich viel interessanter, wäre ich in Wolgograd, als irgendwie hier im Museum irgendwas darüber so zu erfahren. Ich würde auch gerne wissen, wie die Leute heute da leben, wie die heute jetzt darüber nachdenken. Das finde ich viel interessanter als Fakten zu kennen.
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Was erinnern junge Leute für gewöhnlich, wenn es um Stalingrad geht? An was erinnert ihr mit eurem Theaterstück? Es gibt viele Quellen, auch in den Museen werden Fakten überliefert, viele Zahlen, aber das wahre Bild können sie nicht vermitteln. Wir wissen, dass es eine grandiose Schlacht war, dass sie der Preis für unser eigenes Leben war, dafür, dass wir leben. Ja, es gab irgendwelche Heerführer. Die Leute merken sich trockene Zahlen, irgendwelche Namen, um das Examen zu bestehen. Wir aber wollten zeigen, dass es im Krieg Liebe gab und Hass. Wir wollten das Wesentliche des Kriegs bloßlegen, die Erinnerung an die Menschen bewahren. Wir haben Ausstellungsstücke aus unserem Museum verwendet. Wir haben uns einen erhalten gebliebenen Soldatenmantel von einem Veteranen geholt. Und welche Bedeutung hatte das? Die eigene Kleidung steckt voller Gedanken. Museumsbesucher machen sich manchmal sogar lustig, sie gehen durch die Ausstellung und ein Helm, zum Beispiel, ruft keinerlei Emotionen hervor. Doch ziehen sie den Mantel an und spüren sie die Wärme des Menschen, der ihn getragen hat … das ist wirklich eine ganz andere Sache. Unseren Leuten hat das geholfen und die Zuschauer konnten empfinden, wie eine Epoche in die andere übergeht. Im Stück zeigen wir mehrere Epochen, wie zuerst die Studenten ins Museum kommen, dann den Mantel anprobieren und damit in die Vergangenheit versetzt werden, an die Front. Wie unterscheidet sich die Erinnerung an die Schlacht von Stalingrad bei jungen Leuten in Russland und in Deutschland? Kann es dieselbe Erinnerung geben? Nein, natürlich nicht, das ist unmöglich. Der Grund sind die Irrtümer, die von der älteren Generation hervorgebracht wurden. Wir wurden mit diesen Irrtümern groß und die deutsche Jugend auch. Niemand kann sagen, wo Wahrheit, wo Lüge ist. Selbst die Veteranen können das nicht sagen, denn auch die waren in den Irrtümern gefangen. Wir werden den Vertretern der deutschen Ideologie nie verzeihen, was in unserem Land geschah, daher wird unsere Erinnerung nie dieselbe sein.
exkurs: über die entstehung der konzeption Der Weg zur vorliegenden Konzeption war keinesfalls vorgezeichnet, das Ergebnis war nicht von vornherein abzusehen. Der Verlauf zeigte sich an vielen Stellen offen und wurde bestimmt durch die Vielfalt der Perspektiven und Meinungen. Wir erlebten die von uns befragten Menschen als eigenständige Persönlichkeiten mit teils auch unerwarteten Einstellungen. Und auch unsere deutschrussische Geschichtswerkstatt besteht aus Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlichen Geschlechts, die in unterschiedlichen Gesellschaften und mit unterschiedlichen Geschichtsbildern aufgewachsen sind. Wir haben an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet, dessen Inhalte und Ziele von uns diskursiv erschlossen wurden – u. a. durch Recherchen, bei gemeinsamen Arbeitstreffen und in ausstellungsdidaktischen Methodenseminaren. In ausführlichen, teilweise kontroversen Diskussionen näherten wir uns einander schrittweise an. Um diese Entwicklung von der Projektidee zum fertigen Ausstellungskonzept nachvollziehbar zu machen, berichten wir anhand fünf ausgewählter Arbeitsschritte vom Entstehungsprozess dieser Konzeption.
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Erstens: Aussage(n) »Wir wollen wie Perlentaucher nach interessanten Statements suchen«, heißt es in dem Thesenpapier »Trüffelschweine« der beiden Initiatorinnen unseres Projekts. Darin ist die Grundidee für die Projektarbeit beschrieben: Aussagen von Jugendlichen sammeln und darüber in einer Ausstellung informieren, um anhand dieses Themas gesellschaftspolitische Diskussionen anzustoßen. Die Besucher einer solchen Ausstellung sollen mit den dargestellten Meinungsbildern konfrontiert werden und sich aufgefordert fühlen, sie selbstständig zu hinterfragen. Doch welche Kernaussage transportiert unseren Anspruch an die Besucher? Welche Botschaft wollen wir in der geplanten Ausstellung vermitteln? Am Beispiel der »Stolpersteine« fanden wir Anschlussmöglichkeiten für unser Projektvorhaben: Bei einem Stadtteilrundgang mit der Hamburger Historikerin Birgit Gewehr informierten wir uns über diese Erinnerungsform, die in Deutschland inzwischen recht verbreitet ist. Besonders die russischen Teilnehmer interessierten sich sehr für diese Initiative von Bürgern, da es in der russischen Gedächtniskultur nichts Entsprechendes gibt. Die »Stolpersteine« sind eine alternative Form des Gedenkens, sie regen zum Nachdenken und Nachforschen an, wobei durch die alltägliche Situation eine unmittelbare Verbindung zwischen den Ereignissen der Vergangenheit und der Gegenwart hergestellt wird. Auch wir beschäftigen uns mit alternativen, teils alltäglichen Erinnerungsweisen, fordern zum Nachfragen auf und wollen mit der Ausstellung einen Raum für eigenständige Erkundungen und gemeinsame Diskussionen schaffen. Wir konkretisierten daraufhin unsere Aussage während des ersten gemeinsamen Arbeitstreffens im April 2009 in Hamburg und formulierten die Botschaft »Stellt Fragen!«.
Drittens: Methodik Die Museumsdidaktikerin und Ausstellungskuratorin Nina Holsten unterstützte uns bei der Konzipierung der Ausstellung. Sie leitete unser erstes Methodenseminar »Über das Machen einer Ausstellung« und lieferte uns die entsprechenden Hintergrundinformationen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits erste Material gesammelt und erste Interviews geführt. Es war jedoch noch unklar, wie wir dieses Material strukturieren, wie wir die Interviews auswerten und weitere Befragungen durchführen. Brauchen wir einen verbindlichen Interviewleitfaden? Welche Informationen wollen wir in welcher Form in die Ausstellung aufnehmen? Unser Anspruch an das Seminar war also zunächst grundsätzlich methodischer Natur.
Zweitens: Umsetzung und Gestaltung Die ersten kreativen Umsetzungsideen wurden schon bald rege diskutiert: In einem Entwurf steht die Gruppe der Rekonstrukteure im Mittelpunkt der Ausstellung und weiteres Material ordnet sich um dieses Zentrum. Eine Vorstellung, der viele Teilnehmer kritisch gegenüberstanden, da doch alle von uns Befragten und zu Befragenden samt ihrer Auseinandersetzung mit Erinnerung eine gleichwertige Bedeutung haben. Allerdings war die Idee für einen zentralen Ort im Ausstellungsraum geboren. Ein allgemein verbindendes Element soll in diesem Zentrum stehen, das den Umgang der jugendlichen Interviewpartner mit der Erinnerung symbolisiert: eine weiße Sitzgelegenheit als Symbol für die »weißen Flecken« in den Erinnerungskulturen beider Länder.
Ein allgemeines Schema von drei Rezeptions- bzw. Aufmerksamkeitsebenen, das sowohl in Neuengamme zur Anwendung kommt als auch im Seminar methodisch erläutert wurde, halten wir für besonders nützlich für die Strukturierung und Präsentation unseres Materials: – auf der ersten Ebene werden Hauptinformationen (Schlüsselobjekte, Überschriften, Kernaussagen) gezeigt, – weiterführende Informationen (Dokumente, Texte, Beschriftungen etc.) sind Teil der zweiten, gut sichtbaren Ebene, – die dritte Ebene besteht aus vertiefenden Informationen, die erst durch die eigene Aktivität der Besucher erlangt werden können (z. B. Objekte und Lesemappen in Schubladen).
Als Inspiration für die Gestaltung einer historischen Ausstellung wählten wir die ständige Ausstellung »Zeitspuren« in der KZGedenkstätte Neuengamme. Zum einen thematisierte unsere Projektgruppe hier noch einmal die Unterscheidung von Gedenken und Erinnern: In Neuengamme existiert eine auch räumliche Trennung von Gedenken und Erinnern, während beispielsweise im Wolgograder Panorama-Museum beides miteinander verzahnt ist. Zugleich studierten wir in der Ausstellung zahlreiche Präsentationsmöglichkeiten und Wirkungsweisen von Exponaten (Ikonizität von Bildern, Zeitzeugeninterviews, Informationen in drei Sprachen etc.). Zwei strukturelle Kriterien nahmen wir aus dieser Ausstellung mit, um sie in unserer Konzeption anzuwenden: die Möglichkeit für die Besucher, sich frei und selbstbestimmt durch die Ausstellung zu bewegen, und den Anspruch nach einer verständlichen, klar gestalteten Gesamtstruktur. Bei unserem Blick auf die Realisierung einer Ausstellung interessierte uns darüber hinaus, wie der konzeptionelle Werdegang der Ausstellung verlief und welche alternativen Vorschläge von den Mitarbeitern eingebracht, schließlich aber verworfen wurden.
Die Aufmerksamkeit sollte in erster Linie den Interviews gelten, da über sie der Zugang zum Thema möglich wird. Für die Auswertung und Präsentation der Interviews nahmen wir das von uns bereits erdachte eingängige Schema (»Was, wo, wie und warum wird erinnert«) zu Hilfe. Einen allgemein verbindlichen Leitfaden lehnten wir hingegen ab; stattdessen einigten wir uns auf die Form des sogenannten »Narrativen Interviews« für zukünftige Befragungen: Die Befragten sollten weitgehend unvoreingenommen und von uns wenig beeinflusst berichten können. In Arbeitsgruppen und im Plenum analysierten wir, wie unser Material in einer möglichen Ausstellung wirken könnte, wie und was wir einsetzen wollen, um unsere Botschaft zu vermitteln. Wir ordneten das Material, d. h. insbesondere die Interviews, nach Gruppen. Diese Gruppen sollten schließlich auch für die gesamte Ausstellungsstruktur leitend sein. Weitere Exponate und Informationsmaterialien sollten dann den Gruppen und einzelnen Interviews zugeordnet werden.
Weitere Diskussionsthemen bzw. noch offene Fragen blieben auch am Ende des ersten Seminars bestehen: Ist ein Vergleich der deutschen und russischen Erinnerung sinnvoll? Existiert ein deutsches Äquivalent zur Gruppe der »Neformaly« (eine subkulturelle Gruppe, die mit Attributen und Symbolen der Neonazi-Szene hantiert)? Sollten evtl. zwei national getrennte Ausstellungen geplant werden?
Viertens: das leitende Ordnungsprinzip Nina Holsten, die wir erneut als Begleiterin für den zweiten Workshop im Oktober 2009 in Wolgograd gewinnen konnten, bat uns, die geführten Interviews zur Vorbereitung nach folgenden Fragen zu bearbeiten: – Welcher Titel lässt sich für das Interview finden? – Welche Kernaussage enthält es? – Welche Schlüsselexponate ergänzen das Interview?
Mit diesem Analyseschritt stellten wir die Vergleichbarkeit des Interviewmaterials sicher, um eine übergreifende Interpretation möglich zu machen. Auf dieser Basis und in einem mehrstufigen Prozess legten wir nun Ordnungsprinzipien fest, die für die inhaltliche und dramaturgische Struktur der Ausstellung leitend sein sollten. In einer freien Sammlung von Ideen kristallisierten sich fünf Vorschläge (später Bausteine) für die Konzeption heraus: 1. »Individualität«: Die Exponate der Ausstellung werden nicht in Untergruppen geordnet, sondern das einzelne Individuum und seine individuellen Aussagen stellen das leitende Strukturprinzip dar. 2. »Gegenstände«: Die Interviewpartner werden anhand der Gegenstände gruppiert, mit denen sie sich befassen oder die ihr Medium für die erinnernde Tätigkeit in Bezug auf die Schlacht von Stalingrad darstellen (versinnbildlicht in einem entsprechenden Piktogramm). 3. »Lebendige Geschichte/Living history/Strategien«: Die Motivation der Befragten ist hier das Kriterium. Warum beschäftigen sie sich mit dem Thema der Schlacht von Stalingrad, was sind ihre offensichtlichen Strategien? 4. »Thematische Unterteilungen«: Die einzelnen Betätigungen der Interviewpartner werden jeweils übergeordneten politischen, kulturellen, gesellschaftlichen Sphären zugerechnet (z. B. »Freizeit«, »soziale und gesellschaftliche Initiativen«, »Politik«, »Kultur« u. a.). 5. »Fragen«: Der strukturierende Aspekt sind hier Leitfragen bzw. wichtige Fragen, die die Beschäftigung der Befragten mit der Vergangenheit charakterisieren. Nach diesem denk- und argumentationsintensiven Arbeitsschritt, der auch dank der Übersetzung durch Christine Gölz produktiv verlief, zog es uns von unserem Arbeitszimmer an das Wolgaufer, um dort die Varianten in einem imaginären Ausstellungsraum auszuprobieren.
Wir prüften nun alle fünf Vorschläge auf ihre Eignung, auf ihr »Funktionieren« in einer Ausstellung. Aus den Pro-und-ContraArgumenten für jede einzelne Variante ergab sich die nachfolgende Liste von Indikatoren, mit deren Hilfe wir die Vorschläge gewichteten: – Umgang mit den Interviews/Befragten: Wie wollen wir uns zu den Interviews verhalten? Ist der Befragte für uns ein unteilbares, ganzheitliches Individuum oder dürfen wir sein Interview in Teile »zerschneiden«? – Materialzuordnung: Nach welchen Merkmalen und Kriterien wird das gesammelte Material in der Ausstellung geordnet? – Nachvollziehbarkeit der Struktur für den Besucher: Inwiefern ist die Ausstellungsstruktur zu schwierig oder zu einfach für die Wahrnehmung durch die einzelnen Besucher? – Interpretationszugänglichkeit: In welchem Maß wollen wir als Ausstellungsmacher unsere eigene Interpretation zeigen bzw. nicht zeigen? Wie sieht unsere Interpretation aus? Wie, wo und wodurch findet sie ihren Ausdruck? – Erzeugen von Aufmerksamkeit durch die Exponate: Wie können wir das Interesse der Besucher aktivieren? In welchem Maße ist das Material selbsterklärend präsentiert? An dieser Stelle einigten wir uns auf zwei Maßgaben: die Persönlichkeit der Interviewpartner zu erhalten und daher von verschiedenen Personen stammende Interviewteile nicht miteinander zu kombinieren; Besuchern die Möglichkeit zu gewähren, sich frei – d. h. nicht thematisch oder durch eine Chronologie gebunden – durch die Ausstellung zu bewegen. Im Ergebnis des Auswahlverfahrens bewerteten wir die Vorschläge »Gegenstände«, »Living History/Strategien« und »Fragen« als gleichwertig gut geeignet. Nun hatten wir die Anzahl der Strukturvarianten zwar reduziert, eine endgültige Festlegung stand aber noch aus. Aus einer erneuten intensiven Diskussion entsprang die Idee, eine Synthese aus den verbliebenen Varianten zu entwerfen. Dieser Vorschlag erwies sich als produktiv, denn jeder Leitidee kam nun die Rolle eines speziellen Bausteins innerhalb der Gesamtkonzeption zu. Die »Gegenstände« sollten der Präsentation dienen, die »Strategien« ordneten wir der Ebene der Interpretation des Materials zu und die »Fragen« wollten wir für die Besucheraktivierung einsetzen. Nun untersuchten wir diese Kombination nochmals mithilfe der genannten fünf Indikatoren und machten sie abschließend zum leitenden Prinzip bei der Konkretisierung der Konzeption.
Fünftens: Kontroverse »Ereignisgeschichte« Damit war nur noch ein »Dauerbrenner« unserer offenen und strittigen Fragen übrig geblieben: Wie wollen wir mit dem historischen Ereignis der Schlacht von Stalingrad umgehen? Soll es im Rahmen der Ausstellung kontextualisiert werden? Sollen Daten und Fakten genannt werden? Wenn ja, welche, wie, wo und in welchem Umfang?
Insbesondere für die jüngeren Ausstellungsbesucher nahmen wir den Bedarf oder mindestens das Bedürfnis an, die Reflexe der Befragten anhand »neutral« vermittelten Wissens zum geschichtlichen Ereignis einzuordnen. Schließlich liegt im vergangenen Geschehen der Auslöser für die Auseinandersetzungen in der Gegenwart. Es wurde erwogen, einen Ausstellungsbereich zu schaffen, in dem wir Informationen zur Schlacht präsentieren, die wir auf der Basis deutschen und russischen, vornehmlich wissenschaftlichen Materials zusammenstellen würden. Dieser Einschätzung wurde entgegengehalten, dass der Gegenstand der Ausstellung eben nicht die Geschichte der Schlacht sein soll, sondern die Erinnerung an das Ereignis und die Auseinandersetzung junger Menschen mit der Schlachtengeschichte bzw. der Erinnerung an sie. Daher lautete die Empfehlung, Erläuterungen, Daten und Fakten nicht in die Ausstellung aufzunehmen. Der Blick des Besuchers auf die eigene Positionierung zu den Reflexen der Interviewten solle in der Ausstellung frei bleiben, denn die Handlungen und Motive innerhalb der präsentierten Reflexe blieben auch ohne die ereignisgeschichtlichen Bezüge verständlich. Ein zweites Argument speist sich aus der von uns formulierten Botschaft: Diese basiert u. a. auf der Annahme, dass es nicht eine Wahrheit, eine Perspektive und Bewertung in der Interpretation von historischen Ereignissen geben kann, sondern dass sich die Geschichte als Ansammlung von Narrativen verstehen lässt. Jedes dieser Narrative hat seine subjektive Sicht und Wertung der historischen Fakten, wobei diese unter Umständen von »offiziellen« Auslegungen abweichen können. Als Alternative zur genannten Umsetzungsidee wurde vorgeschlagen, Stationen zu integrieren, an denen von uns unkommentiertes Informationsmaterial (allgemeine Nachschlagewerke, Schulbücher, wissenschaftliche Veröffentlichungen, elektronische Ressourcen usw.) zum Selbststudium bereitgestellt wird. So ließe sich eine subjektive Vorauswahl von Fakten vermeiden und Distanz zu den etablierten Erinnerungsformen aufbauen. Der Kompromiss bestand schließlich darin, dass wir einen knappen Abriss der Geschichte der Stalingrader Schlacht anbieten, dabei aber zugleich einen kurzen Kommentar zu den kontroversen und uneinheitlichen Erinnerungskulturen mitliefern. Als Umsetzungsvorschlag diskutierten wir einen Einleitungstext zur Ausstellung, einen Flyer bzw. Abdruck auf den Eintrittskarten.
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An der deutschrussischen Geschichtswerkstatt nehmen teil: Anton Artamonow, Dmitri Below, Rebekka Blume, Peter Bukowski, Thorsten Hoppe, Henning Horch, Elena Ogarkowa, Martin Podolak, Anastasia Schulschenko, Ksenija Srednjak, Constanze Stoll, Denis Zoj
Ereignis Die Schlacht von Stalingrad ist eines der zentralen Ereignisse im Deutsch-Sowjetischen Krieg. In der deutschen Literatur häufig »Vernichtungskrieg« oder – neutraler – »Russlandfeldzug« genannt, wird er in der russischen Literatur traditionell als »Großer Vaterländischer Krieg« bezeichnet. Von 1941 bis 1945 war die deutschsowjetische Front der größte Kriegsschauplatz Deutschlands im Zweiten Weltkrieg.
Die Schlacht von Stalingrad wird als Teil der Sommeroffensive der deutschen Streitkräfte und ihrer Verbündeten im südlichen Abschnitt der Ostfront 1942 betrachtet, nachdem der Vormarsch im Frontabschnitt Leningrad/Moskau/Sewastopol im Winter 1941/42 durch die Rote Armee gestoppt worden war. Ziel der militärischen Operationen, festgehalten im »Fall Blau«, war die Eroberung der Ölfelder im Nordkaukasus und die Kontrolle über die Wolga, die als wichtigste Transportader den europäischen Teil der UdSSR mit Transkaukasien und Zentralasien verband.
fakten und debatten: begleittext
Nach den Planungen der Sommeroffensive sollten die deutschen Heeresgruppen »Nord« und »Mitte« die bislang eroberten Positionen halten, während die Heeresgruppe »Süd« in einem Schlag vom Gebiet Kursk/Charkow aus in Richtung Woronesch und weiter gen Süden vorstoßen sollte. Dazu wurde die Heeresgruppe »Süd« in zwei Gruppen geteilt: Die Gruppe »A« übernahm die Hauptaufgabe, nach Süden zum Kaukasus vorzustoßen. Die Gruppe »B«, zu der die 6. Armee der deutschen Wehrmacht und die Armeen der rumänischen, italienischen und ungarischen Verbündeten gehörten, sollte zur Wolga vorrücken und Stalingrad einnehmen. Die Umsetzung des »Plan Blau« begann ab Mitte Juni 1942. Während in der deutschen Literatur in der Regel kein genaues Datum für den Beginn der Offensive genannt wird, nennen russische Historiker den 17. Juni als den Tag, an dem die ersten Kampfhandlungen zwischen der 62. und 64. Armee auf sowjetischer Seite mit der Vorhut der deutschen 6. Armee einige hundert Kilometer vor Stalingrad stattfanden. Das Kräfteverhältnis in den Kämpfen, die unmittelbar im Stadtgebiet von Stalingrad und in der näheren Umgebung stattfanden, war zum großen Vorteil für die deutschen Streitkräfte. Sie verfügten über ein Vielfaches an Panzern, Artillerie und Flugzeugen im Vergleich zu den sowjetischen Verteidigern. Was die Anzahl der Soldaten betrifft, belief sich das Verhältnis auf rund 1 zu 1,9. 90.000 Soldaten der Roten Armee trafen auf 170.000 deutsche Soldaten. Die Schlacht wird üblicherweise grob in zwei Phasen unterteilt: in die des deutschen Angriffs bis Mitte November 1942 mit der fast vollständigen Einnahme der Stadt und in die Phase der Gegenoffensive der sowjetischen Streitkräfte von Mitte November 1942 bis zum 2. Februar 1943, die mit der Kapitulation der deutschen Angreifer endete.
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Folgen Infolge schwerster Flächenbombardements von Wohnvierteln und Fabriken durch Flugzeuge der deutschen Luftflotte 4 starben an einem einzigen Tag, dem 23. August, mehr als 40.000 Zivilisten. Die ersten Häuserkämpfe begannen am 13. September 1942. Am 19. November startete die Gegenoffensive der sowjetischen Streitkräfte, mit der es gelang, im Gebiet der Stadt Kalatsch-na-Donu den Ring um die deutsche 6. Armee zu schließen. Im sogenannten »Kessel« blieben 250.000 bis 300.000 Soldaten zurück. Der Versuch der deutschen Heeresgruppe »Don«, die Einkesselung aufzubrechen und die 6. Armee aus der Umzingelung zu befreien, blieb erfolglos. Schließlich ergaben sich am 31. Januar 1943 die Reste der 6. Armee mit ihrem kommandierenden Generalfeldmarschall Friedrich Paulus und begaben sich trotz des ausdrücklichen »Führerbefehls« »zum Kampf bis zum Letzten« in Gefangenschaft. Einige Truppenteile der deutschen Streitkräfte hielten ihren Widerstand bis zum 2. Februar 1943 aufrecht.
Heute dient Stalingrad als Symbol für das unerträgliche Leiden der Menschen in dieser militärischen Auseinandersetzung. Die Frage nach der Anzahl der getöteten Menschen in dieser Schlacht ist noch immer nicht endgültig geklärt. Archivmaterial wurde lange geheim gehalten, das Thema war stets hoch politisiert, die Opfer wurden in den chaotischen Kriegsjahren willkürlich und nicht nachvollziehbar gezählt. Um an größere Essensrationen zu gelangen, wurden Zahlen getöteter russischer Soldaten nach unten manipuliert, und noch immer mangelt es an qualifizierten Datenerhebungsinstrumenten und Analysemethoden. So herrscht bis heute in Bezug auf die Verluste ein disparates Bild. Nach letzten offiziellen russischen Angaben sind bei den Kämpfen um Stalingrad mehr als 1,1 Millionen Soldaten der Roten Armee ums Leben gekommen. Die Zahl der Getöteten unter der Zivilbevölkerung von Stalingrad und dem Stalingrader Gebiet beträgt mehr als 300.000 Menschen, berücksichtigt man ausschließlich die erhalten gebliebenen Dokumente. Die Opferzahlen auf deutscher Seite schwanken zwischen 700.000 und 800.000 Soldaten. Nur 25.000 verwundete Wehrmachtssoldaten konnten aus dem »Kessel« evakuiert werden – von dem Ort, der bis heute im deutschen Gedächtnis den mythologischen Charakter der Schlacht und den »Untergang einer ganzen Armee« bezeichnet. Der »Kessel« bestand Ende Januar 1943 aus zwei Teilen, einer im Zentrum der Stadt und ein zweiter nördlich davon gelegen. Von den 170.000 eingeschlossenen Soldaten der Wehrmacht kamen 60.000 in den Kämpfen am Ende der Schlacht ums Leben. Von den 110.000 überlebenden Soldaten nach der Kapitulation starben weitere 17.000 auf dem Weg in die Kriegsgefangenenlager. Von den ungefähr 93.000 in Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten kehrten nicht mehr als 5000 zurück. Bedeutung Die militärischen, sozialen und politischen Folgen der Schlacht von Stalingrad im Besonderen und des Zweiten Weltkriegs im Allgemeinen beeinflussen bis heute die Identität von Russen und Deutschen. Aus erinnerungskultureller Perspektive betrachtet, werden die Ereignisse bis heute verschieden interpretiert. Während die Augen- und Zeitzeugen die Schlacht von Stalingrad als ausschlaggebende Wende im militärischen Verlauf des Zweiten Weltkriegs bewerteten, wird aktuell ihre militärisch-strategische Bedeutung als entscheidendes Moment im Zweiten Weltkrieg als Ganzem eher relativiert – zumindest was die westliche Geschichtsschreibung angeht. Aus der Distanz von über 65 Jahren stellt Stalingrad in der heutigen deutschen Historiographie einen Aspekt der Erkenntnis dar, dass das Ziel der deutschen Führung durch den Krieg gegen die Sowjetunion, »Lebensraum« im Osten zu erobern, von vornherein nicht zu erreichen war. Diese Auslegung, die im nationalsozialistischen System selbst die Gründe für den Kriegsverlauf sieht, ruft in Russland Widerspruch hervor, da sie die Überzeugung konterkariert, der Sieg über den Faschismus sei entscheidend der Sowjetunion und der Roten Armee zu verdanken.
Bis heute lässt sich an der Erinnerungskultur in Bezug auf die Schlacht um Stalingrad eine Tendenz zur Mythologisierung dieses Ereignisses beobachten. Ein Vorgang, dessen Anfänge bereits während der Kampfhandlungen zu beobachten sind. Die nationalsozialistische Propaganda verbreitete ihr Heroenepos »Stalingrad« mit dem Ziel, das schlecht vorbereitete und in die Katastrophe führende Unternehmen zu einer tragischen und erhabenen Heldentat des ganzen deutschen Volkes umzudeuten. Das deutsche Volk sollte glauben, dass die »Opferung« der 6. Armee eine alternativlose Pflicht für das Vaterland im Krieg darstellte. Auch die sowjetische Propaganda trug ihrerseits zur Heroisierung der Schlacht von Stalingrad bei und konnte sich dabei mit einiger moralischer Berechtigung auf den Umstand stützen, dass die Rote Armee und die Stalingrader Bevölkerung einen Verteidigungskrieg führten.
Die intensiven und kontroversen Diskussionen über die Frage, welchen Stellenwert die Schlacht von Stalingrad im Ausstellungskonzept einnehmen soll, endeten mit einem Kompromiss: Es wurde der vorangehende Text entworfen, der einen knappen Abriss der Geschichte der Stalingrader Schlacht sowie einen Einblick in die geschichtspolitischen Deutungsdebatten und den unterschiedlichen erinnerungspolitischen Umgang mit dem Ereignis liefert. In Form z. B. eines Flyers ermöglicht er den Besuchern die Beschäftigung mit dem Thema auch über den Ausstellungsbesuch hinaus. Der Begleittext kann mit Zusatzinformationen erweitert werden: zum einen über die seit 2006 bestehende deutschrussische Geschichtswerkstatt und zum anderen über das Projekt »Mythos, Helden, Untergang. Und was denken die Jungen über Stalingrad?«, in dessen Rahmen die Ausstellungskonzeption entstand.