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YOU ME AT SIX
from FUZE.98
Foto: Freddie Stisted
EINMAL RETRO UND ZURÜCK. Die britische Band schreibt ein Album, das sich anfühlt wie ein Roadtrip mit guten Freunden. Ein Gespräch mit Josh Franceschi über verschüttetes Bier und seine Verantwortung als Musiker.
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Wie würde der Josh von 2004 „Truth Decay“ finden? Ist das neue Album ein kleines Geschenk an dein jüngeres Ich? Exakt, genau das ist es. Einhundert Prozent. Ich glaube, das Album würde ihm ziemlich gefallen. Es würde ihm viel von dem geben, was er an Bands wie FINCH oder TAKING BACK SUNDAY mochte.
Das Album klingt so völlig anders als zum Beispiel „Suckapunch“ – ist das euer Beitrag zu einer Art Retrowelle? Die Rückkehr des Emo? Obwohl Bands wie TAKING BACK SUNDAY ja eigentlich nie richtig weg waren. Nein, aber ich denke, das Verlangen nach ihnen ist in demselben Maße verschwunden, wie MY CHEMICAL ROMANCE verschwunden sind, PARAMORE verschwunden sind. Am wichtigsten jedoch, das Gefühl der Gemeinschaft war weg. Damit eine Szene floriert und etwas passiert, braucht man Bands aus verschiedenen Bereichen des Lebens, aber unter einem Dach – um etwas zu kultivieren und zu schaffen. Wie bei der Vans Warped Tour, meinem All-time-favorite-Event. Als wir anfingen und erfolgreicher wurden, waren wir irgendwie bekannt als Emo-Pop-Punk-Band aus England. Das war einfach unser Label. Und als wir uns hingesetzt haben, um die neue Platte zu machen, wurde uns klar, dass wir nicht mehr wirklich wussten, was unsere Band überhaupt ist. Weil wir, vor allem nach „Suckapunch“, so viele verschiedene Dinge ausprobiert hatten, dass wir, glaube ich, ein bisschen unsere Identität verloren haben. Das erste Mal seit Jahren haben wir wieder zu fünft in einem Airbnb gehockt. Am Ende hatten wir jede Nacht fünf oder sechs verschiedene Ideen, an denen wir alle zusammen gearbeitet haben. Ich wollte eine Platte machen, bei der du dir deinen Kumpel schnappst und dir die Texte gegenseitig ins Gesicht brüllst, während du springst, dein Bier verschüttest und auf den Boden fliegst. Und siehe da, heraus kam eine Emo-Rock-Platte. Kilometer weiter ertrinken nahezu täglich Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer zu gelangen. Wie wirkt sich diese Zeit voller Krisen auf euch als Band oder Künstler aus? Ich sehe keinen Widerspruch zwischen dem Musikerdasein und einem moralischen Bewusstsein und dem Verständnis dafür, was in der Welt passiert. Dem Gefühl, dass es einfach überwältigend ist. Das ist für mich übrigens der Wert und die Währung der Musik, sie ist Eskapismus. Ich spreche regelmäßig mit meiner Partnerin darüber, dass wir Kinder haben wollen, wir gerne Eltern sein würden. Aber gleichzeitig möchte ich kein Kind in diese Welt setzen und sie mit dem Wissen verlassen, dass unsere Kinder oder Urenkel auf einem Planeten leben werden, der unbewohnbar ist.
ICH HABE DEN EINDRUCK, DASS DIE EMO-SZENE EINE ART RENAISSANCE ERLEBT. ICH WOLLTE EINFACH SEHEN, WIE SICH DAS ANFÜHLT.
Habt ihr als Künstler oder als Band mit eurer Reichweite einen Auftrag oder eine Verantwortung, Menschen zu beeinflussen? Ich denke, es ist vor allem meine Verantwortung, ein guter Mensch zu sein und auch andere zu ermutigen, gute Menschen zu sein. Und ich glaube nicht, dass die Welt darauf wartet zu erfahren, was Josh Franceschi über dies oder das denkt. Mein Großvater hat meiner Mutter immer gesagt: „Behandle die Menschen so, wie du selbst behandelt werden möchtest.“ Ich weiß nicht, ob Musiker die Verantwortung haben, sich für politische, wirtschaftliche oder ökologische Veränderungen einzusetzen, aber ich denke, sie haben die Pflicht, im wahrsten Sinne des Wortes sie selbst zu sein. Und wenn sie das Gefühl haben, dass sie etwas tun müssen und wollen, dann tun sie es.
Worauf freust du dich am meisten im neuen Jahr? Ehrlich gesagt sehnen wir uns danach, wieder von Menschen umgeben zu sein und mit ihnen zu interagieren. Wir haben zwar auf einer Handvoll Festivals in Europa gespielt, aber wir haben unsere Fans eigentlich seit 2019 nicht mehr richtig gesehen. Das ist das Schönste daran, in einer Band zu sein. Eine Live-Show ist der einzige Ort, an dem man die Leute wirklich in ihrem verletzlichsten Zustand antreffen kann – sowohl die Künstler als auch das Publikum. Ich hatte keinen Job mehr, seit ich mit 15 in einem Supermarkt gearbeitet habe. Ich führe also ein wirklich privilegiertes Leben. Ich darf etwas tun, das mir wichtig ist und vielleicht auch ein paar anderen Menschen. Das ist ein Geschenk in dem Sinne, dass das nicht jeder von sich sagen kann, dass er das so mit seinem Leben machen kann. Ich glaube, das ist das, worauf ich mich immer am meisten freue: all die Menschen zu sehen und ihnen alles zu geben, was ich habe, weil sie mir die Möglichkeit gegeben haben, zu reisen, finanziell unabhängig zu sein, im Grunde keinen Chef zu haben. Es gibt so viele Dinge, die wir als Band zusammen erleben dürfen, und Erfahrungen, die wir mit unseren Partnern, unserer Familie und unseren Freunden teilen können, wegen dieser Band und dieser Musik. Es geht also vor allem darum, live zu spielen. Außerdem haben wir jetzt direkt zwei Alben, die eigentlich noch niemand richtig live gehört hat. „Suckapunch“ und „Truth Decay“, es gibt einen riesigen Nachholbedarf und jede Menge Vorfreude. Ich habe es immer gehasst, in den USA zu touren. Und trotzdem hatte ich die beste Zeit, die ich je hatte, weil ich dachte, das könnte das letzte Mal sein. Man sollte dafür sorgen, dass man jeden einzelnen Tag, jede einzelne Show, alles, jedes einzelne Land mit offenen Armen, offenen Augen und einem offenen Herzen genießt. Und das habe ich getan. Gründlich. Ich habe es genossen. Heute in Berlin zu sein und abends in Paris, das ist schon irgendwie ein wildes Leben. Ich fühle mich also gut. Yasmin Ranjbare