EXIL-PARCOURS ∣ MARSEILLE 2013 - DEUTSCH

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EXIL-PARCOURS MARSEILLE 2013

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WWW.EXILPLAN.COM

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6 © Passage & Co., 2013


EXILPLAN Ein deutsch-französisches Erinnerungsprojekt von Passage & Co., Marseille/Berlin Unser projekttragender Verein Passage & Co. – Deutsch-französischer Kulturaustausch in Europa initiierte 2007 das deutsch-französische Multimediaprojekt EXILPLAN. Hier geht es um die künstlerische Aufarbeitung der Exilerfahrung, die deutsche Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler in den 30er / 40er Jahren in Frankreich nach ihrer Flucht aus Deutschland machten, und um die Beschäftigung mit der Aktualität von Exil- und Migrationsprozessen. Aus jahrelangen Recherchen und zahlreichen Experimenten mit der künstlerischen Annäherung an das Exilthema entstand ein Exil-Parcours in 10 Etappen durch Marseille, den wir hier als eBook aufbereitet vorstellen. Ein Projekt von Passage & Co., 2013. Mit großzügiger Unterstützung des Deutsch-Französischen Jugendwerks, im Rahmen des DFJWProjekts » 50 Jahre – 50 Projekte“. In Zusammenarbeit mit MarseilleProvence 2013. Projektleitung und Konzeption des eBooks: Sabine Günther 4 Projektmitarbeit und Übersetzung: Sarah Raquillet 4 Gestaltung und Layout: Oliver Schmoi 4

EXIL PLAN Marseille-Provence, 2013 europäische Kulturhauptstadt, war zwischen 1940 und 1944 ebenso ein Ort des antifaschistischen Widerstands als auch Schauplatz von Verfolgung und Zerstörung. Ulrich Fuchs, stellvertretender Generaldirektor von MP2013 und ehemaliger Kulturhauptstadtdirektor von Linz09, regte an, die öffentliche Resonanz der Kulturhauptstadt dafür zu nutzen, an die Geschichte der Stadt während des 2. Weltkriegs zu erinnern. Im Rahmen von ICI-MÊME wurden an 51 Stellen in der Innenstadt auf das 22 Straßenpflaster Markierungen in Form von Pochoirs aufgetragen.


INHALT T

TITEL

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EXILPLAN – EIN DEUTSCH-FRANZÖSISCHES ERINNERUNGSPROJEKT VON PASSAGE & CO., MARSEILLE/BERLIN

EINLEITUNG 1

FREITREPPE SAINT CHARLES

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AUSFLUG I – VILLA AIR-BEL

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BOULEVARD D'ATHÈNES – HÔTEL SPLENDIDE

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AUSFLUG II – SANARY-SUR-MER

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BOULEVARD D'ATHÈNES – HÔTEL NORMANDIE

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AUSFLUG III – LES MILLES

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RUE THUBANEAU – STRASSE DER FÄLSCHER

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RUE DE RELAIS – HÔTEL AUMAGE

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LA CANEBIÈRE

MATERIAL – PÄSSE, VISA, SAUF-CONDUITS, AFFIDAVITS

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RUE BEAUVAU – HÔTEL CONTINENTAL

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LITERATUR, BIOGRAFIEN

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10, COURS JEAN BALLARD – LES CAHIERS DU SUD

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EXILPLAN – CHRONIK DES PROJEKTS (2007 – 2013)

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CAFÉS AM ALTEN HAFEN

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DIE ZERSTÖRUNG DES PANIERVIERTELS

IMPRESSUM / DANKSAGUNGEN


EXIL

DAS MACHT EINSAM UND Tテ傍ET.


EINLEITUNG

Unmittelbar, nachdem Hitler im Jahre 1933 zum deutschen Reichskanzler gewählt worden war, setzte in Deutschland die Verfolgung jüdischer, antifaschistischer und kommunistischer Intellektueller, Künstler und Schriftsteller ein. Die meisten von ihnen verließen damals ihre Heimat und ließen sich in Frankreich nieder. Paris wurde ein bedeutendes kulturelles Zentrum des deutschsprachigen Exils, aber auch Sanary-sur-Mer Æ  III an der französischen Mittelmeerküste. Als Frankreich im September 1939 Deutschland den Krieg erklärte, wurden die deutschen Exilanten in Frankreich als » unerwünschte Ausländer « interniert. Eines dieser notdürftig für die kontrollierte Unterbringung tausender zu diesem Zeitpunkt in Südfrankreich lebender Deutscher und Österreicher war die ehemalige Ziegelei in Les Milles Æ  IV , bei Aix-en-Provence. Das Gefühl der Emigranten, in Frankreich nunmehr in einer Falle zu sitzen, aus der es vielleicht kein Entrinnen gab, wurde im Juni 1940 zu einer Gewissheit; das deutsch-französische Waffenstillstandsabkommen Æ  M , zu dem eine Liste der an die Nazis auszuliefernden Flüchtlinge gehörte, führte zu einer Massenflucht aus dem besetzten Norden in die sogenannte » freie Zone « im Süden. Marseille war ab Juni 1940 der einzige Hafen in Frankreich, aus dem Schiffe mit Flüchtlingen auslaufen konnten. Wer es nun bis Marseille geschafft hatte, war sich jedoch keinesfalls sicher, den vormarschierenden deutschen Truppen zu entrinnen und noch rechtzeitig aus Frankreich – auf welche Weise auch immer – herauszukommen.

August Sander, Porträt des Malers Anton Räderscheidt (1927). Anton Räderscheidt lebte in den 30er Jahren in Sanary-sur-Mer im Exil. 1942 emigrierte er in die Schweiz.

Das Schicksal zehntausender Emigranten lag in den Händen der Vichy-Regierung, die nunmehr offen mit den Nazis kollaborierte und aufgrund ihrer Auslieferungsverpflichtungen aus dem Waffenstillstandsabkommen bis Ende 1940 sowohl die Internierungslager von der Gestapo

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31 biographische Anmerkungen Lion Feuchtwanger | Varian Fry | Hans Natonek | Ernst Weiß | Walter Mehring | Hertha Pauli | Hans Sahl  |  Lisa und Hans Fittko  |  Daniel Bénédite  | Mary Jayne Gold | Heinrich Mann | Golo Mann |  Rudolf Breitscheid | Rudolf Hilferding | Carbone und Spirito | Anna Seghers | Alfred Kantorowicz |  Franz und Alma Mahler Werfel  |  Alfred Döblin  |  Walter Benjamin | Hannah Arendt | Soma Morgenstern | Siegfried Krakauer | Jean Ballard |  Ludwig Marcuse | Simone Weil | André Breton

Dieses Foto zeigt Lion Feuchtwanger 4 hinter dem Stacheldrahtzaun des Internierungslagers Les Milles. Als es 1940 in der amerikanischen Presse erschien, rüttelte es die Öffentlichkeit derart auf, dass das American Rescue Committee gegründet, Geld gesammelt und Varian Fry nach Marseille geschickt wurde.

durchkämmen ließ, als auch den Hafen von Marseille für die Ausreise nach Übersee dicht machte. Ohne eine französische Ausreiseerlaubnis Æ  M gab es bis Ende 1940 nur den illegalen Weg über die Pyrenäen zur französisch-spanischen Grenze und von dort aus weiter nach Lissabon. Um die zahlreichen in Marseille gestrandeten oder in Internierungslagern eingesperrten Emigranten, zu denen so berühmte Künstler, Intellektuelle, Politiker und Gewerkschaftsführer wie Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Franz Werfel, Max Ernst, André Breton, Anna Seghers, Alfred Döblin, Hans Sahl, Hannah Arendt, Walter Benjamin, Siegfried Krakauer, Walther Mehring, Rudolf Breitscheid, Rudolf Hilferding – um nur einige zu nennen – gehörten, zu retten, wurde mit ausländischer Hilfe ein Fluchthilfenetz aufgebaut. Als der amerikanische Journalist Varian Fry Æ  1 im August 1940 im Auftrag des American Rescue Committee in Marseille ankam, konnte er bei seiner Rettungsarbeit nicht nur auf Frank Bohn und Fritz Heine, sondern auch auf die Unterstützung des amerikanischen Vizekonsuls Hiram Bingham Æ  6 , vor allem jedoch des mexikanischen Konsuls Gilberto Bosques Æ  6 , sowie des tschechischen und chinesischen Konsulats in Marseille zählen. Allen in der Fluchthilfe engagierten Organisationen und Personen ging es darum, möglichst viele der 100 000 in Frankreich festsitzenden, zumeist mittellosen Exilanten so schnell wie möglich außer Landes zu bringen. Die Exilanten frequentierten die selben Cafés am Alten Hafen, wohnten zeitweise am selben Ort, wie der surrealistische Freundeskreis um André Breton, manche von ihnen arbeiteten in der von Sylvain Itkine gegründeten Kooperative Le Fruit Modroré mit. Anna Seghers Æ  5 begann an ihrem Roman Transit zu arbeiten, in dem von der Verzweiflung der damaligen Sans-papiers die Rede ist. Andere wiederum versuchten auf eigene Faust aus der » Mausefalle «, in der, so Hertha Pauli Æ  2 , alle beisammen saßen, herauszukommen.

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1. ETAPPE

FREITREPPE ST. CHARLES Der Bahnhof Saint Charles empfing während des 2. Weltkriegs zahlreiche Emigranten, die vor den Nazis geflohen waren. Mit dem Zug in Marseille angekommen, verließen viele Emigranten die Hafenstadt auf dem Seeweg.

22

1. ETAPPE


WER IST DIESER AMERIKANER IM FEINEN ANZUG, der am Morgen eines heißen Augusttages 1940 die große Bahnhofstreppe in Marseille zum Boulevard d‘Athènes hinabsteigt?

E

r heißt Varian Fry, ist 33 Jahre alt und wurde vom kürzlich in New York gegründeten Emergency Rescue Committee in die südfranzösische Hafenstadt geschickt. In seinem Koffer befinden sich eine Liste mit vorläufig 40 Namen berühmter Emigranten, und einige Dollarscheine. Sein streng geheimer Auftrag lautet: Rettung einer möglichst großen Anzahl von Künstlern und bekannten Persönlichkeiten vor den Nazis. Varian Fry, der niemals zuvor in Marseille gewesen ist, kommt durch Vermittlung seines amerikanischen Mitstreiters Frank Bohn im Hôtel Splendide auf dem Boulevard d‘Athènes unter. Dort richtet er im vierten Stock sein erstes Büro ein und macht sich umgehend an die Arbeit, denn sein Rettungsauftrag soll spätestens in sechs Monaten erfüllt sein.

Den ganzen Tag über strömten Soldaten und Flüchtlinge zur Gare St. Charles und wieder zurück, den Boulevard Dugommier und die Canebière hinauf und hinunter, in die Cafés und Restaurants an der Canebière und am Vieux Port hinein und wieder hinaus. Sie überfluteten die Straßen wie Fußballfans, die von einem Spiel kommen, verstopften die vorderen und hinteren Plattformen der Straßenbahnen und drängelten, schubsten und stießen, waren jedoch ganz ruhig dabei – lebendes Strand- und Treibgut, zurückgeblieben

nach

einer

großen Katastrophe.

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Varian Fry   Auslieferung auf Verlangen

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MEDIEN

BAHNHOF SAINT CHARLES

Æ Pochoir-Aktion Fotogalerie

Juli 2009 Æ  E – EXILPLAN-Happening auf der Bahnhofstreppe: Wir rollen ein Papierband aus und tragen mit Schablonen und Sprühdosen Pochoirs bekannter und unbekannter Exilanten auf. Nach dem Ende dieser Aktion laufen wir wie Sandwichmen mit selbstgefertigten ExilKarten vom Bahnhof bis zum Alten Hafen.

Æ Julien Blaine » Chute-Chut! « Video

Im Rahmen des Exilplan-Workshops im Sommer 2009 und in Vorbereitung unseres Happenings am Bahnhof Saint Charles treffen wir uns mit dem Performer-Fluxman-Dichter Julien Blaine im Musée d’Art Contemporain, wo gerade eine Blaine-Restrospektive läuft. Er führt uns durch die Æ Ausstellung, zu der auch der Film » Chute-Chut! « von 1962/1984 gehört.

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2. ETAPPE

BOULEVARD

D’ATHÈNES HÔTEL SPLENDIDE

Das ehemalige Luxushotel Splendide (heute Regionale pädagogische Dokumentationsstelle, CRDP ) war die erste Adresse für Varian Fry nach seiner Ankunft in Marseille im August 1940. Hier richtete er sein Büro ein und baute eine Arbeitsgruppe auf, die bei den legalen und illegalen Hilfsaktionen des neu gegründeten Centre Américain de Secours (CAS) half.

2. ETAPPE


IN DEN ANFANGSTAGEN DES BÜROS hielten wir unsere Konferenzen in meinem Zimmer im Hotel Splendide ab. Wer keinen Stuhl hatte, saß auf dem Bett oder auf dem Fußboden, während wir die Ereignisse des Tages durchsprachen und überlegten, was wir, wenn möglich, jeweils unternehmen konnten. Varian Fry

Das Hôtel Splendide lag ganz in der Nähe,

sei. Da hob der junge Mann wie zerstreut

Ecke Canebière und Boulevard d’Athènes.

den Kopf und warf mir durch seine Hornbrille

Zu meinem Erstaunen fand ich die Halle ganz

einen flüchtigen Blick zu.

leer, nur zwei Flics lauerten links und rechts

» M iss Pauli « , sagte er trocken, „well – Sie

in den Ecken. Ich wagte mich an ihnen vorbei

stehen auf meiner Liste“. […]

zum Portier. […]

Mein Name stand ganz oben, gleich zwischen

Ängstlich flüsterte ich ihm meinen Namen

»  H ans Natonek 4 , a Czech humorist « und

zu,

den

er

alsbald

durchs

Haustelefon

Durch

einen

dunklen

Korridor

»  E rnst Weiß 4 , a Czech novelist « . Natonek

strebte

schmetterte. Ich sah die Augen der Flics auf

ich einem lichten Punkt zu, und als ich

habe er schon gefunden, erklärte mir Fry.

mich gerichtet und erstarrte wie unter dem

durch eine offene Tür trat, wehte mir vom

» Was ist mit Ernst Weiß? « wollte er wissen.

Blick einer Schlange. Der Portier legte den

Fenster her eine frische Brise entgegen. Im

Ich gab Bescheid. Fry nahm einen Bleistift

Hörer hin und sagte ganz selbstverständlich:

Fensterrahmen, hoch über dem Vieux Port,

zur Hand und strich ihn von der Liste. (...)

» V ierter Stock, links, s’il vous plaît. «

hing als verschwommenes Bild die Silhouette

Gleich unter dem Strich durch Ernst Weiß

Die Halle mit den Flics drehte sich um

von Notre-Dame de la Garde.

stand » Walter Mehring 4 , a German poet « .

mich, während ich dem Aufzug zustrebte.

Die Wände waren ganz kahl; ein junger Mann

»  B ar Mistral  « , notierte Fry an den Rand.

Im engen Kasten hochgezogen, fühlte ich,

in Hemdsärmeln, der vor einem leeren Tisch

Dann

wie mir die Luft ausging. Gleich werden wir

saß, studierte ein Blatt Papier in seiner Hand,

abschließend an mich: » B ringen Sie Mehring

steckenbleiben, wusste ich. Da öffnete sich

statt mich zu beachten. Ich wartete verlegen

morgen mit. Au revoir. «

die Käfigtür – vierter Stock, links.

und fragte mich, ob ich wohl am rechten Ort

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wandte

sich

Buster

Keaton

Face

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Hertha Pauli   Der Riss der Zeit geht durch mein Herz

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alter Mehring versteckte sich mehrere Wochen lang in Frys Hotezimmer im Splendide. Dort schrieb er zur Jahreswende 1940  /  41 für Hertha Pauli fünf der zwölf »  Briefe aus der Mitternacht  «, in denen er seiner im Exil umgekommenen Freunde und Kollegen gedenkt: Erich Mühsam, Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Ernst Toller, Joseph Roth, Ernst Weiß, Theodor Lessing, Carl Einstein, Hans Olden und schließlich Walter Hasenclever, der sich ein halbes Jahr zuvor im 20 km entfernten Internierungslager Les Milles Æ  IV mit einer Überdosis Veronal das Leben genommen hatte.

Noch bevor meine erste Woche in Marseille zu Ende ging, hatte es sich offenbar in der gesamten

nicht

besetzten

Zone

herum-

gesprochen, daß ein Amerikaner aus New York gekommen war, wie ein Engel vom Himmel gefallen sei, Taschen voller Geld und Pässe habe, so daß er jedes beliebige Visum im Handumdrehen besorgen konnte. Varian Fry Auslieferung auf Verlangen Foto: Annette Riley-Fry

An meine Kammer, wo ich welk, Pocht zwölfmal an das neue Jahr, Spricht zugig hohl: Es war … es war … Hängt seinen Jahreskranz ans Gebälk, Verblüht – von Lügenluft erstickt – Erschlagen – von der Not geknickt Der beste Jahrgang deutscher Reben Ließ vor der Ernte so sein Leben … Porträt des Schriftstellers Walter Mehring, George Grosz (1925)

Walter Mehring Briefe aus der Mitternacht (Auszug)

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Sie

müssen

sich

vorstellen:

Die

Grenzen

waren gesperrt, man saß in der Falle. Jeden Augenblick konnte man von neuem verhaftet werden,

das

Leben

war zu Ende – und nun steht da plötzlich ein junger Amerikaner in Hemdsärmeln,

Geld voll, legt den Arm um dich und zischelt mit schlecht gespielter Verschwörungsmiene: es

gibt

Wege,

Sie herauszubringen « , während dammt

Fragt uns aus.

stopft

dir die Taschen mit

» O h,

Wir sind die Letzten.

dir,

ver-

noch

mal,

Wir sind zuständig. Wir tragen den Zettelkasten Mit den Steckbriefen unserer Freunde wie einen Bauchladen vor uns her. Hans Sahl

die Tränen über die Backen laufen, ja, scheußliche, richtige, dicke Tränen, und der Kerl, der gemeine, übrigens ein ehemaliger Harvard-Student, nimmt nun auch wirklich sein seidenes Taschentuch aus der Jacke, die über dem Stuhl hängt, und sagt: » H ier, nehmen Sie. Es ist nicht ganz sauber. Sie müssen schon entschuldigen. « Hans Sahl

4

Das Exil im Exil

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Einige der Mitarbeiter/innen des Centre américain de Secours (CAS) v.l.n.r.: Lisa und Hans Fittko 4, Daniel Bénédite 4, Mary Jayne Gold 4

Als wir Ende Mai [1941] eine Zwischenbilanz zogen, stellten wir fest, dass sich in weniger als acht Monaten über 15 0 00 Menschen persönlich oder schriftlich an uns gewandt hatten. Wir mussten jeden einzelnen Fall prüfen und eine Entscheidung treffen. In 1 8 00 dieser Fälle hatten wir entschieden, dass sie zu unserem Aufgabenbereich gehörten. Das bedeutete, dass es sich bei ihnen um politische Flüchtlinge oder Intellektuelle mit berechtigten Aussichten auf eine baldige Emigration handelte. In 560 von diesen 1 8 00 Fällen, hinter denen sich insgesamt etwa 4 0 00 Schicksale verbargen, hatten wir einen wöchentlichen Unterstützungsbeitrag gezahlt, und wir hatten mehr als 1 0 00 Flüchtlinge aus Frankreich herausgebracht. Für die übrigen haben wir getan, was wir konnten - von der Befreiung aus dem Internierungslager bis hin zur Hilfe bei der Suche nach einem Zahnarzt.

V

arian Fry stieg am 29. August 1941 in Begleitung französischer Gendarmen die große Treppe zum Bahnhof Saint Charles wieder hinauf. Aus Frankreich ausgewiesen, später in den USA von denen, die ihm ihr Leben zu verdanken hatten, vergessen, starb Varian Fry am 13. September 1967 an » gebrochenem Herzen «. Das CAS in Marseille arbeitete unter Leitung von Daniel Bénédite bis zu seiner polizeilich angeordneten Schließung Anfang Juni 1942 weiter und ermöglichte noch 300 Exilanten die Flucht.

Varian Fry

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MEDIEN

HOTEL FREI

Æ Aktion – Hotel Frei Video

April 2007 – Aktionstag in der Regionalen pädagogischen Dokumentationsstelle, CRDP (ehemaliges Hotel Splendide).

Gespielte Pressekonferenz des CAS, das von Schülern des Waldörfergymnasiums Hamburg, Projektassistenten und Künstlerinnen dargestellt wurde.

Treffen im CAS v.l.n.r.: André Breton, Jacqueline Lamba, Varian Fry, Max Ernst (hinten) Die drei » Klienten « von Fry wohnten 1940 / 41 mit ihm zusammen in der Villa Air-Bel, im Vorort La Pomme. Æ  I

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3. ETAPPE

BOULEVARD

D’ATHÈNES HÔTEL NORMANDIE

Das Hôtel Normandie, heute Hôtel Balladins, lag dem Hôtel Splendide auf dem Boulevard d’Athènes genau gegenüber. Hier logierten 1940 /  4 1 Heinrich Mann, seine Frau Nelly, sein Neffe Golo und die zwei von der Gestapo aktiv gesuchten Politiker der Weimarer Republik Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding.

3. ETAPPE


HEINRICH MANN UND SEINE FRAU waren ein paar Tage zuvor nach Marseille gekommen und hatten ein Zimmer im Hôtel Normandie gemietet, wo auch Breitscheid und Hilferding wohnten. Als ich ihnen von meinem Plan erzählte, willigten sie sofort ein. Varian Fry

K

urz nach Varian Frys Ankunft in Marseille wurde beschlossen, Heinrich 4 , Nelly und Golo Mann 4 , sowie das Ehepaar Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel Æ 6 , die auf der Canebière im Luxushotel Du Louvre et de la Paix logierten, von Perpignan aus über die Pyrenäen zur französisch-spanischen Grenze in Port-Bou zu begleiten.

Für den fast siebzigjährigen Heinrich Mann bedeutete der Gang über die Pyrenäen eine unglaubliche Anstrengung. Ich hatte seit Jahrzehnten keinen beträchtlichen Berg mehr bestiegen, war nunmehr ungeschickt und nicht jung: ich fiel recht oft auf die Dornen. In die Füße drangen sie ohnedies, fehlte noch, mit den Händen hineinzugreifen. Mehrmals unterstützte mein Neffe mich, dann überließ er es meiner Frau, die an sich selbst genug gehabt hätte. Heinrich Mann Ein Zeitalter wird besichtigt

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uch für Rudolf Hilferding 4 und Rudolf Breitscheid 4 waren bereits Schiffskarten für die Wyoming gelöst, als sie Anfang Februar 1941 verhaftet und an die Gestapo ausgeliefert wurden. Hilferding starb bereits am 12. Februar » auf ungeklärte Weise  « im Pariser Gefängnis La Santé, Breitscheid wurde deportiert und kam am 28. August 1944 im Konzentrationslager Buchenwald ums Leben.

Ein paar Tage später saß ich mit Rudolf Breitscheid in einem überfüllten Café an der Canebière. Breitscheid, ein auffallend gut aussehender Mann, schlank und groß, sprach mit lauter Stimme auf deutsch auf mich ein: » Ich denke gar nicht, daran zu fliehen. Ich poche auf mein Asylrecht, das man mir als politischem Flüchtling gewährt hat. « » N icht so laut «, sagte ich, » m an versteht jedes Wort am Nebentisch, wir müssen vorsichtiger sein. «

Das Schiffsticket bekam schließlich Walter Mehring.

» Ich denke gar nicht daran, vorsichtig zu sein « , sagte Breitscheid. » Ich mache eure Hysterie nicht mit. Mr. Fry hat mir bereits verschiedene

Pässe

angeboten.

Baby [Walter Mehring] fährt endlich ab.

Einen

Er hat alle Papiere für die Reise über

tschechischen, einen dänischen, was weiß

Martinique

ich, ich habe natürlich abgelehnt, und da

Schiffahrtsgesellschaft

daß ich als politischer Flüchtling Frankreich

in Martinique finanziell unabhängig zu sein).

bereits eine Republik verloren  « , sage ich,

Ich denke, dass ich ihm diese Summe als

»  j etzt werden Sie auch noch Ihr Leben

loan schuldig war.

verlieren. « Hans Sahl

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erlaubten

er versicherte, während seines Aufenthalts

Legalitätsglauben

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Transat

die Ausreise nur unter der Bedingung, dass

legal verlassen möchte… « Ihrem

fährt

Kaution (die französischen Behörden und die

Gesuch an Laval gerichtet und ihm erklärt,

mit

Schiff

Francs: 4 0 00 für die Reise, 5 0 00 Francs als

mitsamt den Matrosen – Unsinn. Ich habe ein

haben

das

morgen früh um 10 Uhr ab. Er brauchte 9 0 00

hat er mir ein ganzes Schiff mieten wollen

»  S ie

zusammen,

Daniel Bénédite Interne Mitteilung an das CAS, einen Tag vor der Abreise Walter Mehrings

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HÔTEL NORMANDIE

Æ Galerie Lochfoto-Workshop Mehr Fotos

Juni 2011 Æ  E – Fotoworkshop mit der Lochkamera in Marseille. Die Fotografin und Filmemacherin Pilar Arcilar hatte selbstgebaute Lochkameras mitgebracht und zeigte den WorkshopteilnehmerInnen aus Hamburg und Marseille, wie man damit Fotos macht und was dabei zu beachten ist.

Die Fotos entstanden während eines von Sabine Günther animierten Stadtrundgangs auf den Spuren der Exilanten, ausgehend vom ehemaligen Hôtel Normandie, das sich damals bereits im Wiederaufbau befand.

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4. ETAPPE

RUE THUBANEAU

STRASSE DER

FÄLSCHER

4. ETAPPE


IM MARSEILLER UNTERGRUND waren Passfälscherzentralen an der Arbeit. Es gab Papiere in allen Preislagen. Einen gestempelten Entlassungsschein aus einem der Internierungslager konnte man schon für 1 000 bis 1 500 Francs haben.

Eine Carte d’Identité oder ein sogenannter

deutschen Kontrollkommissionen, die die

Fremdenausweis, ein Certificat d’Identité et de

Ausreise oder Flucht von Männern im wehr-

Voyage pour les refugiés provenant d’Allemagne,

pflichtigen Alter und von solchen, die auf den

kostete je nach Ausführung zwischen 5  000

Auslieferungslisten standen, zu verhindern

und 20  000 Francs – die Preise schwankten,

hatten, die französische Gendarmerie, die

jedoch war die Tendenz steigend Æ  M . Ob die

auf unerwünschte Ausländer Jagd machte

Hilfskomitees selber für besonders Gefährdete

und

Ausweise, die auf andere Namen ausgestellt

französischen

waren, beschafften, weiß ich nicht.

brachte oder gegebenenfalls den Siegern

die nie ankamen und nie abfuhren, die

apportierte – darum also: falsche Papiere,

Papiere , Papiere ,

die

Beute

entweder Gefängnisse

in

eines

oder

der

Lager

die wie echte aussahen, man kam aus dem Kreislauf nicht hinaus.

Pässe, Ausreisevisen ,

Alfred Kantorowicz Exil in Frankreich

Transitvisen ,

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Einreisevisen , Grenzüberschreitung, Gespensterschiffe , T

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ie Rue Thubaneau war bis ins 19. Jahrhundert hinein eine angesehene Adresse, in der sich namhafte Hotels und Restaurants befanden. Hier tagte während der Französischen Revolution der lokale Club der Jakobiner, in dessen Mitte die Marseillaise entstand, die die Truppen der Freiwilligen bei ihrem Einmarsch in Paris sangen und die dann später zur französischen Nationalhymne wurde.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Belsunce-Viertel zum Einwandererviertel, aber auch zu einem Teil des von den Korsen Carbone und Spirito 4 , in den 20er Jahren aufgebauten Mafia-Netzwerks, zu dem das Fälschen von Papieren ebenso gehörte wie Drogenhandel und Prostitution. Die Straße und das Viertel wurden zum Anlaufpunkt für das CAS.

Foto rechts und zweites von rechts: Pascale-Hélène Martinez

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Beamish (eigentlich: Albert O. Hirschman)

dazugehörigen Geburts- und Wohnort sowie

hatte drei Nüsse zu knacken. Erstens mußte

eine Wohnadresse. Doch wenn ich dann die

er neue Quellen für Pässe ausfindig machen;

eigenhändige

zweitens war ein ausreichender Vorrat an

draufsetzte, war das Kunstwerk noch nicht

Ausweisen anzulegen; drittens galt es, Mittel

vollendet. Denn je nach Austellungsdatum

und Wege zu finden, wie man beträchtliche

sollte der Ausweis mehr oder weniger alt und

Geldsummen

einführen

abgegriffen aussehen. Ein paar Kaffeeflecken,

konnte, ohne daß die Behörden erfuhren,

etwas Staub, Wassertropfen, einige Klopfer

woher sie kamen oder wohin sie flossen. […]

mit der Schuhsohle halfen da wirkungsvoll

Beamish entdeckte einen Wiener Karika-

nach. Und schließlich trampelte ich noch mit

turisten, der uns mit gefälschten Personal-

nackten Füßen darauf herum.

nach

Frankreich

Unterschrift

des

ausweisen versorgte, Bill Freier hieß und vor

Komissärs

Bil Spira

4

dem Krieg einer der beliebtesten Zeichner in Frankreich gewesen war. Bei Kriegsausbruch mußte auch er das Übliche durchmachen:

Er gab mir Spezialtinten, mit denen ich die

Internierung in einem Lager, Ausbruch, Flucht

benötigten Stempel in ihren Originalfarben

nach Marseille. Er war ein liebenswerter

anfertigen sollte. Mit so einem Paß besaß

kleiner Kerl, und schien (davon bin ich

dessen neuer Inhaber eine neue, beglaubigte

überzeugt) ein absolut aufrichtiger junger

Vergangenheit. Auch Identitätskarten lernte

Mann zu sein, der seinen Mit-Flüchtlingen

ich fabrizieren. Normalerweise kaufte man

helfen und zugleich soviel Geld verdienen

so

wollte, daß er davon leben konnte.

schrieben, in der Tabaktrafik. Damit ging Varian Fry

man

eine

Karte,

aufs

vorgedruckt,

aber

Polizeikommissariat

unbe-

und

ließ

sie dort ausfüllen und stempeln. Um den Schützlingen des Komitees zu einer neuen plausiblen Identität zu verhelfen, versah ich

ihre

Karten

mit

ihren

Photos

und

Zeichnungen von Bil Spira Selbstporträt (oben) Mann im Café (unten rechts)

einem elsässischen Stempel. Sie bekamen einen im Elsaß üblichen Namen und den

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MEDIEN STRASSE DER FÄLSCHER Æ Straßenaktion – Rue des faussaires Video

April 2008 Æ  E – Im Rahmen eines deutsch-französischen Exilplan-Workshops begaben sich 15 Schülerinnen und Studentinnen mit 30 selbstgebastelten leeren Pässen und unzähligen Stempeln in die Rue Thubaneau. Ein Teil der engen Straße wurde mit Laken abgesperrt, dann ein Tisch aufgebaut und Passanten eingeladen, sich einen falschen Pass ausstellen zu lassen.

Der Andrang war groß, so dass nach einer halben Stunde alle Pässe vergeben waren. Fehlte ein Stempel, mussten die Mitspieler zum » Schwarzmarkt « gehen und ihre Geschichte vom Exil erzählen.

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STRASSE DER FÄLSCHER SCHWARZMARKTPROTOKOLL ABDELNOUR LIA Algerier, ohne Aufenthaltsgenehmigung. Ist Französin albanischer Herkunft. Nachdem vor 5 Jahren mit einem Touristenvisum nach DIE BESITZERIN sie uns mehrmals versichert hat, dass Frankreich gekommen. Macht SchwarzDES HOTELS AIDA sie keine Geschichte zu erzählen habe, arbeit. Er hat in Marseille zwei Cousinen, die Sie war 4 Jahre lang ohne Papiere, sagt sie plötzlich, dass ihre Eltern illegal mit Franzosen verheiratet sind. Er sagt, dass hat aber aufgrund des neuen nach Frankreich eingereist er in Frankreich in Migrationsgesetzes wegen ihrer seien. Ihr Vater war 8 Jahre KARIM der Klemme stecke, schulpflichtigen Kinder schließalt, als er mit seinen Eltern In Marseille geboren, in Marseille denn wenn er nach lich eine Aufenthaltserlaubnis auf einem Esel emigriert aufgewachsen, leidet in Marseille. Algerien zurückfahren bekommen. Um ihrer Tochter für ist. In Frankreich sind sie Sagt: es gibt 6 Milliarden Menschen, würde, könnte er niedieses Glück zu danken, hat sie als politische Flüchtlinge die außerhalb ihrer Grenzen leben. mals mehr nach Frankihr Hotel nach ihr benannt. Ich anerkannt worden. Mein Inneres steht mit meinem reich kommen. Er danke ihr jeden Tag, sagt sie noch. äußeren Leben im Widerspruch. sagt, dass er keine Dummheiten gemacht MOHAMMED habe, dass er beispielhaft sei. … von den Komoren. Er sagt, dass Er sieht in seinem Pass aus der MÉZIANE er ein » Pass-Franzose « sei. Er » Straße der Fälscher « einen ist vor 5 Jahren aus Algerien nach erzählt uns die Geschichte seiner Glücksbringer, denn er hofft, Marseille gekommen. Hat 4 Monate nicht zustande gekommenen Heirat. dass er eines Tages richtige für die Reise gebraucht – über Ungarn, Papiere bekommen wird. Tschechien, Österreich und Italien. Darüber könnte er Bände erzählen.

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5. ETAPPE RUE DU RELAIS HÔTEL AUMAGE Hier wohnte die deutsche Schriftstellerin Anna Seghers während ihres Transits in Marseille. Ihr Ehemann war in Les Milles interniert und ihre Tochter sowie ihr Sohn in Marseille eingeschult. Die Familie konnte im März 1941 auf einem Schiff in Richtung Antillen abreisen.

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5. ETAPPE


MAN SCHICKTE MICH IN DIE RUE DU RELAIS, eine winzige Gasse am Cours Belsunce. Dort wohnte im Aumage auf 83 ein ehemals berühmter Arzt, der frühere Leiter des Dortmunder Krankenhauses.

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n diesem Haus, dem ehemaligen Hôtel Aumage, wohnte im Winter 1940 / 41 die Schriftstellerin Anna Seghers 4 mit ihren beiden Kindern Pierre (15) und Ruth (13). Während ihr Ehemann Johann-Lorenz Schmidt im Internierungslager Les Milles Æ  IV saß und die Kinder in Marseille zur Schule gingen, kümmerte sich Anna Seghers um die nötigen Ausreisepapiere. Beim Warten und Anstehen vor den Konsulaten nahm

eine Buchidee Gestalt an: ein junger Emigrant wird auf der Suche nach einer Frau durch Marseille treiben und Zeuge einer Lebenssituation werden, die zuerst vorläufig und vorübergehend schien, dann aber zum Dauerzustand einer zur Ewigkeit erstarrten Flucht wird. Der Roman Transit erschien 1944 zuerst auf spanisch, 1948 in deutscher Sprache. Das Hôtel Aumage taucht im Roman als der vorübergehende Wohnort des ehemaligen Direktors des Dortmunder Krankenhauses auf. Der Ich-Erzähler wird eines Tages auf der Suche nach einem Arzt in die Rue du Relais Nr. 3 geschickt.

Anna Seghers Transit

Ich hatte in jener Nacht kaum auf das Haus geachtet. Von außen stand seine Fassade schmal und schmutzig in der hässlichen Rue du Relais. Doch war das Hotel überraschend tief mit einer Unmenge von Zimmern. Sie lagen an schmalen Gängen, die auf das hohe Treppenhaus mündeten. Im Erdgeschoß auf dem Seitenflur stand ein kleiner Ofen mit einem bis in den zweiten Stock gewundenen Rohr, das etwas Wärme abgab. Verschiedene Gäste des Hotels Aumage saßen um den Ofen herum und trockneten Wäsche, ein großer Kübel stand auf der Ofenklappe. Man hatte auch kleine Gefäße mit Wasser in die Windungen des Rohres gestellt. Die Leute sahen bei unserem Eintritt neugierig auf. Es war ein Haus, von dem man sich sagt: Man hält es aus, weil man abfährt. Anna Seghers

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uf dem Frachter Capitaine Paul Lemerle fuhren außer der Familie Seghers auch Friedel und Alfred Kantorowicz 4 und der Soziologe Gottfried Salomon mit. Von französischer Seite waren Claude Lévi-Strauss, André Breton, dessen Frau und Tochter und Emigranten aus dem surrealistischen Freundeskreis mit an Bord: Tristan Tzara, André Masson, Wifredo Lam und Victor Serge. In letzter Minute passierte Alfred Kantorowicz das, wovor sich alle fürchteten:

Wir legten am Hafenamt dem Beamten, der den

dem Kasten und rief: » Vous êtes arreté  «.

vous a parlé de nous. Moi, je suis Alfred

allerletzten Stempel auf unsere Reisepapiere

Die Gendarmen umringten uns sogleich,

Kantorowicz. « Er sah auf, verglich unsere

zu drücken hatte, die Belegstücke vor. Er

tasteten mich nach Waffen ab und geboten

Passfotos mit uns und sagte: » A h, c’est vous

warf einen Blick darauf, ergriff den Stempel

uns, ihnen ohne Widerstand zu folgen. Also

– alors…! « Dann nahm er den Stempel des

und blätterte schläfrig in einer Kartei, die

war es aus. Es war wirklich aus. In dieser

Hafenamtes, drückte ihn auf die Visen, die

neben ihm auf dem Tisch stand. Er zog

Minute gab ich auf. Man würde mich in ein

somit die allerletzte Beglaubigung erhielten,

eine Karteikarte halb hervor, verglich den

Auslieferungsgefängnis

dort

riß den Haftbefehl gegen uns in Fetzen und

Namen, sein Blick wurde wachsam. » Vous

der Gestapo überstellen. Ich hatte verloren,

brüllte uns an » F ichez le camps! Macht, daß

êtes Kantorowicz, Alfred, né le 12 août

meine Kraft war verbraucht. Jeder weitere

Ihr rauskommt, so schnell wie möglich. «

1899 à Berlin? « Ich bejahte. Er warf den im

Kampf war unnütz […]

Wachraum anwesenden Gendarmen einen

Noch prüfte der Kommandant den Haftbefehl

Blick zu, zog meine Karteikarte wie einen

gegen mich, da sagte ich leise, aber sehr

Steckbrief – er war ein Steckbrief! – aus

eindringlich: » M on Colonel, le Colonel Riverdi

bringen

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und

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Alfred Kantorowicz

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MEDIEN

HOTEL ANNA

Æ Straßenaktion – Hotel Anna Video

April 2008 Æ  E – Im Rahmen des EXILPLAN-Projekts führten wir mit deutschen und französischen Schüler/innen und Student/innen die Straßenaktion Hotel Anna in der Rue du Relais durch. Über die heruntergelassenen Rollläden wurde ein Tuch gespannt und der Titel der Straßenaktion in großen Lettern aufgemalt. Ein dritter Rollladen diente als Schreibfläche für die Biografie von Anna Seghers.

Im Anschluss daran lasen wir auf dem Cours Belsunce aus Transit vor, zeigten den Passanten einen mit Texten und Objekten bestückten » Exilkoffer « und ein von der Künstlerin Catherine Ricoul hergestelltes übergroßes » Exil-Buch «.

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MEDIEN

HOTELS IM BELSUNCE-VIERTEL

Æ Straßenaktion auf dem Cours Belsunce 2007

Æ Hotels im Belsunce-Viertel 2009

Video

Fotogalerie Video-Installation von Gesa Matthies

Sommer 2007 Æ  E – Deutsche und französische Jugendliche gingen zum Abschluss eines ExilplanWorkshops in Marseille erstmals auf die Straße und traten mit Passanten im Belsunce-Viertel in einen spielerischen Dialog über die Herkunft von Wörtern, Dingen und Menschen.

2008 / 2009 Æ  E – Die zahlreichen kleinen Hotels im Belsunce-Viertel, das heute vornehmlich von Einwanderen, arabischen und chinesischen Händlern bewohnt wird, waren im Rahmen des EXILPLAN-Projekts mehrmals Gegenstand von Workshops, Straßenaktionen und Kunst-Installationen. Es entstanden zahlreiche Fotos und eine Video-Installation.

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6. ETAPPE LA CANEBIÈRE

Die Canebière ist bis heute die Magistrale der Hafenmetropole. Zur Zeit des 2. Weltkriegs gab es hier noch viele der reichdekorierten Cafés aus dem 19. Jahrhundert und einige Luxushotels, wie das Hôtel du Louvre et de la Paix, wo Alma MahlerWerfel und Franz Werfel logierten. Unweit von der Canebière befand sich auch das amerikanische Konsulat, vor dem die Emigranten nach einem Visum Schlange standen.

6. ETAPPE


DIE HAUPTSTRASSE VON MARSEILLE wurde 1940 lebhaft kontrolliert von französischer Polizei, wenn auch in höherem Auftrag. Wen wollten sie eigentlich noch festnehmen, die Verschwörer regierten schon! Varian Fry

Aber Papiere: wer keine Papiere oder nicht

zu tragen. Die Gelegenheit empfahlt mir

die richtigen hat, wird aus dem Grand Café

dringend, etwas vorzustellen, womöglich

geholt. Es gleißt mit überlebensgroßen

den Präfekten der Bouches-du-Rhône. Der

Stukkaturen und Gemälden der weiblichen

Kommandant des Ordnungsdienstes glaubte

Typen, die 1890 die reizvollsten waren. Sie

es mir, er ließ von mir ab, wir waren vorüber.

lächeln aus den Spiegeln, schwelgerisch

Heinrich Mann

umfängt ihr verjährtes Bild den Verzehrer von 1940, vor seinem prozentual herabgesetzten

Hans und Lisa Fittko auf der Canebière

Alkohol, der dreimal wöchentlich erlaubt ist – und gleich wird jemand nach Papieren gefragt.

Wir gingen die Canebière hinunter. Hans

Eines schwülen Abends blieben wir zu lange

ging immer am Rand des Bürgersteigs. Das

auf der Straße sitzen. Wir sahen eine Truppe

hatte er sich seit 1933 als Illegaler in Berlin

gegen uns anrücken, es blieb nur übrig, ihr

angewöhnt und es war ein Instinkt geworden.

die Stirn zu bieten. Als wir aufbrachen, hielt

Man hat eine bessere Übersicht, sagte er, und

sie den Rand des Gehsteiges besetzt, der

im Fall einer Razzia kann man sich leichter

Offizier spähte jedem Passanten unter den

aus dem Staub machen.

Hut, der bei einigen tief im Gesicht saß. Ich

Lisa Fittko Mein Weg über die Pyrenäen

fand es geraten, den Kopf höher als sonst

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iner der allerersten Erledigungen von Varian Fry nach seiner Ankunft in Marseille war ein Besuch beim Ehepaar Werfel 4 im Hôtel du Louvre et de la Paix auf der Canebière. Sie standen ganz oben auf seiner »  First list  « der zu rettenden Persönlichkeiten.

Am Abend traf ich mich mit den Werfels zum Essen. Ihre Adresse hatte ich von Werfels Schwester bekommen, die ich in Lissabon getroffen hatte. Sie wohnten unter dem Namen von Alma Werfels erstem Mann, dem Komponisten Gustav Mahler, im Hotel du Louvre et de la Paix an der Canebière. Im Hotel tat man sehr geheimnisvoll und ich musste eine ganze Weile warten, bis man

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on der Canebière aus gelangte man über die Rue Saint-Ferréol zum amerikanischen Konsulat. Dort hatte das CAS im Vizekonsul Hiram » Harry « Bingham von amerikanischer Seite seine einzige Stütze bei der Entwicklung illegaler Fluchtwege und Rettungsaktionen. Bingham half Varian Fry zum Beispiel, Lion Feuchtwanger aus dem Internierungslager St. Nicolas herauszuholen und versteckte ihn wochenlang in seiner Wohnung in Marseille, bevor die Feuchtwangers im September 1940 illegal über die französisch-spanische Grenze gebracht wurden. Alfred Döblin 4 erzählte später in seinen Memoiren, dass auch er sich in die Schlange der Wartenden vor dem amerikanischen Konsulat auf der Place Félix Baret, nahe der Préfecture, einreihen musste.

Wir

gelangten

auf

einen

großen,

lang-

gestreckten Platz, dessen eine Hälfte im Schatten prächtiger Bäume lag. […] Der Platz war Endstation für eine Tramlinie. In

der

Nähe

des

Häuschens,

vor

dem

die Elektrischen hielten, teilten sich die Menschen

in

zwei

Gruppen;

die

einen

drängten zu der Elektrischen, die anderen aber zogen sich zu einem Haus herüber, das ein kleines Messingschild trug mit der Inschrift: » A merikanisches Konsulat « . […] Noch etwas anderes: Zwischen uns Exilierten besteht keine Solidarität. Wir hatten schon vorher sehr privat unser Privatleben geführt; jetzt dichteten wir uns noch besonders ab. Man sah den andern auf dem Konsulat und nickte: » A ha, du bist auch hier « , und keiner verriet, was er vorhatte und auf wen

mir schließlich erlaubte, zu ihren Zimmern

er rechnete. Man bewahrte sein Geheimnis.

hinaufzugehen. […]

Misstrauen,

Werfel sag genau so aus wie auf den Fotos:

sich an dieselbe Stelle wenden und ihm

groß, untersetzt und bleich – wie ein zur

zuvorkommen.

Hälfte gefüllter Mehlsack. […] Er schien

Furcht,

der

andere

könnte

Alfred Döblin Schicksalsreise. Bericht und Bekenntis

sehr froh, mich zu sehen, war aber zugleich ängstlich besorgt, jemand anders könnte erfahren, wo er sich aufhielt. Varian Fry

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m oberen Ende der Canebière, auf dem Cours Joseph Thierry Nr. 15, befand sich das mexikanische Konsulat, das ab 1940 von Gilberto Bosques geleitet wurde. Bosques stellte 40 000 Flüchtlingen – Juden, Antifaschisten, spanischen Republikanern und Interbrigadisten Visa für Mexiko aus und ermöglichte auf diese Weise unter anderem Anna Seghers und Egon Erwin Kisch die Flucht nach Mexiko. Obwohl er dazu nicht ermächtigt war, erteilte er auch Einreiseerlaubnisse an Personen, die interniert waren. In zwei französischen Schlössern in der Umgebung von Marseille wurden Verfolgte untergebracht, solange sie auf eine Überfahrt nach Mexiko warteten. Im Mai 1942 trat Mexiko auf Seiten der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg ein. Bosques und sämtliche Konsulatsangestellte wurden von der Gestapo gefangen genommen und in Bad Godesberg unter Hausarrest gestellt. Nach über einem Jahr wurden sie gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht. Als Bosques im März 1944 mit dem Zug in Mexiko-Stadt eintraf, bereiteten ihm tausende Menschen, die ihm ihr Leben verdankten, einen triumphalen Empfang.

Der mexikanische Konsul Gilberto Bosques rettete hunderte spanischer Republikaner, Interbrigadisten und Juden. Nach dem Einmarsch der deutschen Armee in die unbesetzte Zone wurde er zuerst in Frankreich, dann in Deutschland unter Hausarrest gestellt.

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7. ETAPPE

RUE BEAUVAU HÔTEL CONTINENTAL

Hier wohnten 1940 zwei bedeutende Persönlichkeiten, die sich vielleicht in der Hotelhalle gekreuzt haben: Mary Jayne Gold, eine steinreiche junge Amerikanerin, die aus Liebe zu einem desertierten Fremdenlegionär in Marseille hängenblieb und zu einer der engsten Mitarbeiterin des Fry-Komitees wurde, und Walter Benjamin, berühmter deutscher Kulturtheoretiker, für den ab Sommer 1940 ein amerikanischer Pass zur Abholung im amerikanischen Konsulat bereitlag.

7. ETAPPE


ICH FAND SCHLIESSLICH EIN ZIMMER IM CONTINENTAL, einem Hotel der mittleren Kategorie, aber ziemlich sauber und gemütlich.

1939 war ich eine junge Frau aus der

Aber es kam anders: in den ersten Tagen nach

protestantischen

High

meiner Ankunft in Marseille verliebte ich

Society, die in Paris in einem sehr eleganten

mich in einen jungen Abenteurer, der gerade

Appartement auf der Avenue Foch wohnte. Ich

aus der Fremdenlegion desertiert war. Einige

teilte meine Zeit zwischen Paris, London und

Wochen darauf trat ich als Mitarbeiterin in

den angesagten Ferienorten auf und fühlte

das Centre américain de Secours von Varian

mich in Cannes, Biarritz und auf Mallorca

Fry ein, das die Rettungsaktion »  M ouron

genauso zu Hause wie in Sankt Moritz. Der

Ecarlate « plante. Sie beinhaltete die geheime,

Beginn des Krieges läutete das Ende dieses

mit legalen und illegalen Mitteln vorbereitete,

Goldenen Zeitalters ein.

Emigration

Das im Zuge der französischen Niederlage

jüdischer und nichtjüdischer Flüchtlinge.

eingetretene

Durcheinander

dazu,

Angesichts dieser Situation, die in nichts

Postkarte des Hôtel Continental in den 60er Jahren

dass

zusammen

tausenden

dem ähnelte, was ich schon erlebt hatte,

anderen französischen und ausländischen

entschied ich mich auf der Stelle, in Marseille

Flüchtlingen nach Marseille kam. Eigentlich

zu bleiben.

Herzlichen Dank an Alain Paire, Galerist, Kunstkritiker und Autor zahlreicher Essais über das künstlerische Leben in Marseille in den 30er und 40er Jahren.

ich,

amerikanischen

mit

führte

wollte ich nur meine Papiere in Ordnung bringen und in die USA zurückkehren.

hunderter

antifaschistischer,

4

Æ Galerie Alain Paire

Mary Jayne Gold   Marseille, années 40

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uch Walter Benjamin 4 wohnte Mitte August 1940 im Hôtel Continental. Auf Initiative der beiden Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die bereits in den USA lebten, war beim amerikanischen Konsulat in Marseille ein Visum für die USA für Walter Benjamin hinterlegt worden. In den Tagen seines Marseille-Aufenthalts traf er die Philosophin Hannah Arendt 4 , der er wichtige Manuskripte anvertraute. Der Schriftsteller Soma Morgenstern 4 , der ebenfalls einige Zeit im Hôtel Aumage Æ  5 logierte, begegnete eines Tages Walter Benjamin auf der Canebière und erkannte ihn kaum wieder.

Zeichnung von Frédéric Pajak aus dem Buch Manifeste incertain, tome 1 Avec Walter Benjamin, rêveur abîmé dans le paysage, 2012 Æ Les éditions Noir sur Blanc

Er hatte sich einen Bart wachsen lassen,

Wir begrüßten ihn und – was war das ständige

hatte einen schwarzen Hut auf und sah wie

Thema in Marseille? Visa. Spanisches Visum,

ein Geistlicher aus. Sein erste Wort war: » A uf

Portugiesisches

der Straße sprechen wir nur französisch. « Das

Jeder von uns hatte schon das und jenes, und

fiel mir auf. Denn es war auf der Canebière,

zwar mehrmals gehabt. Aber eins überlebte

der vielleicht lärmendsten Straße der Welt,

das

wo man damals so viel Deutsch hören konnte,

französischen

als wäre man noch im Lager. […]

kam. Krakauer war gerade das portugie-

In Marseille gingen wir eines Tages zusammen

sische

zur

spanische.

Préfecture,

um

wieder

einmal

zur

andere,

Visum,

alles

in

Ausreisevisum.

Erwartung

Ausreisevisums,

Visum

ausgegangen,

Ehe

wir

das

eines nicht

mir

weitergingen,

das fragte

Kenntnis zu nehmen, daß unsere Hoffnung

ich Krakauer: » Was wird aus uns werden,

auf ein Ausreisevisum vergeblich war. Auf

Krak? « Darauf er, ohne lange nachzudenken,

dem Weg, vor einem Café, saß unser Freund

erstaunlich schnell und apodiktisch : » S oma,

Siegfried Krakauer 4 , eifrig schreibend…

wir werden uns alle hier umbringen müssen « . Soma Morgenstern

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vor Walter Benjamin den illegalen Weg über die Pyrenäen antrat, fuhr er zur Fluchthelferin Lisa Fittko in die Nähe der spanischen Grenze und testete mit ihr gemeinsam den Weg, den die Gruppe einige Zeit später nehmen sollte.

Benjamin wanderte langsam und gleichmäßig, In regelmäßigen Abständen – ich glaube, es waren zehn Minuten – machte er Halt und ruhte sich für etwa eine Minute aus. Dann ging er in demselben gleichmäßigen Schritt weiter. Er hatte sich das, wie er mir erzählte, während der Nacht überlegt und ausgerechnet. Lisa Fittko

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nde September war es dann soweit. Als Hannah Arendt vier Wochen später vom Tode Walter Benjamins erfuhr, schrieb sie Walter Benjamin machte sich gemeinsam mit den Exilanten Frau Gurland an dessen Freund Gershom Scholem nach Palästina: und ihrem Sohn in Begleitung von Lisa Fittko auf den Weg nach Cerbère, dem französischspanischen Grenzort in den Die Juden sterben in Europa und Pyrenäen. Kurz vor der Abreise hatte er auf der man vergräbt sie wie Hunde. Canebière seinen Vorrat an Gift mit dem Schriftsteller Arthur Koestler geteilt. Die Gruppe konnte die französische Grenze passieren, aber wurde am spanischen Grenzposten abgewiesen. Daraufhin kehrte Walter Benjamin in Portbou zum Hotel zurück und nahm sich in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 das Leben.

Zeichnung von Elric Dufau (Mitte) Sicht aus dem Inneren des begehbaren Walter-Benjamin-Memorials Passagen des Künstlers Dani Karavan am Friedhof von Portbou (rechts)

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8. ETAPPE 10, COURS JEAN BALLARD

LES CAHIERS DU SUD In der vierten Etage des Cours du Vieux Port (heute: Cours Jean Ballard) befanden sich die Redaktionsräume der von Jean Ballard geleiteten literarischen Revue Les Cahiers du Sud. In den Jahren 1940-42 war es ein Zufluchtsort für viele französische und ausländische Schriftsteller, die in den Jahren zuvor in der Revue veröffentlicht hatten.

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8. ETAPPE


GANZ IN DER NÄHE DES ALTEN HAFENS befand sich die Redaktion der von Marcel Pagnol und Jean Ballard  4 gemeinsam gegründeten Revue Les Cahiers du Sud. In den 20er Jahren wurden hier die ersten Texte der Surrealisten veröffentlicht.

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n der Zeit des 2. Weltkriegs versteckte sich hier zeitweise der Schriftsteller Ernst Erich Noth und publizierte auch in den Cahiers du Sud. Trotz Papiermangel und Zensur bestand die Revue weiter und brachte unter Leitung der französischen Philosophin und Widerstandskämpferin Simone Weil 4 1943 sogar eine Sondernummer zur okzitanischen Kultur und Literatur heraus.

Cover der Sonderausgabe der Cahiers du Sud » Le Génie d'Oc «

In Noths Memoiren eines Deutschen findet sich eine Anekdote, die viel über Marseille und über die Situation deutscher Exilanten in Südfrankreich verrät; Noth ist zu einem ersten Treffen mit Ballard in den Redaktionsräumen verabredet, die zu finden ihm jedoch Schwierigkeiten bereitet:

es beherberge eine weltbekannte Zeitschrift, in der damals bereits die angesehensten Namen

der

französischen

und

auslän-

dischen Literatur erschienen.

Der Treppenaufgang im Innern muss noch abenteuerlicher gewesen sein, denn Noth berichtet weiter:

Als ich endlich die angegebene Adresse gefunden hatte: 10, Cours du Vieux-Port,

Ludwig Marcuse 4 , den ich etwa ein Jahr

schüttelte ich ungläubig den Kopf, ging

später

weiter,

um,

selbe Haus begleitete, hat mir danach mit

verglich die Hausnummer noch einmal mit

halb verlegenem, halb schalkhaftem Lachen

derjenigen, die Ballard mir gegeben hatte:

gestanden, in diesem unheimlichen Aufgang

ein Irrtum war nicht möglich. Das Haus –

sei ihm der scheußliche, aber plötzlich

Fassade, Treppenaufgang – alles machte

plausible Verdacht gekommen, ich könnte

einen so heruntergekommenen Eindruck,

ein Gestapoagent sein und ihn in einen

daß ich mir einfach nicht vorstellen konnte,

Hinterhalt gelockt haben.

kehrte

dann

aber

zögernd

zu

einem

Redaktionsbesuch

ins

Ernst Erich Noth

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9. ETAPPE

CAFÉS AM ALTEN HAFEN Im Café Au Brûleur de Loups auf dem Quai des Belges trafen sich im 2. Weltkrieg viele der nach Marseille geflüchteten Intellektuellen, Schriftsteller und Künstler. Das Café wurde insbesondere von den Surrealisten frequentiert.

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9. ETAPPE


ICH KONNTE VON MEINEM PLATZ AUS DEN ALTEN HAFEN ÜBERSEHEN. Ein kleines Kanonenboot lag vor dem Quai des Belges. Die Nachmittagssonne stand über dem Fort. Hatte der Mistral wieder begonnen?

Die vorübergehenden Frauen hatten ihre

um. Wodurch? Ich weiß nie, wodurch bei

Wunderbarer, uralter Hafentratsch, der nie

Kapuzen hochgezogen. Die Gesichter der

mir dieser Umschlag kommt. Auf einmal

verstummt ist, solange es ein Mittelländisches

Menschen, die durch die Drehtür herein-

fand ich all das Geschwätz nicht mehr

Meer gegeben hat, phönizischer Klatsch

kamen, waren gespannt von Wind und von

ekelhaft, sondern großartig. Es war uraltes

und kretischer, griechischer Tratsch und

Unrast. Kein Mensch bekümmerte sich um

Hafengeschwätz, so alt, wie der Alte Hafen

römischer,

die Sonne über dem Meer, um die Zinnen

selbst und noch älter.

alle geworden, die bange waren um ihre

niemals

waren

die

Tratscher

der Kirche Saint-Victor, um

Schiffsplätze und um ihre Gelder, auf der

die Netze, die auf der ganzen

Flucht vor allen wirklichen und eingebildeten

Länge

Schrecken der Erde.

zum

des

Hafendamms

Trocknen

lagen.

Sie

Anna Seghers

schwatzten alle unaufhörlich von

ihren

ihren

abgelaufenen

von

Dreimeilenzone

Dollarkursen,

Transits,

von

von

Pässen, Visa

und de

Sortie und immer wieder von Transit. Ich wollte aufstehen und fortgehen. Ich ekelte mich.

Umschlag der französischen Ausgabe von Anna Seghers' Transit

– Da schlug meine Stimmung

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Mütter, die ihre Kinder, Kinder,

Ich trat danach in

Ihr

die

verloren

das nächste Café –

worden, deshalb verfraß sie ihr Reisegeld.

hatten. Reste aufgeriebener

was sollte ich sonst

Doch gab es kaum etwas anderes zu kaufen

Armeen,

Sklaven,

tun? Das Café hieß

als Wein und Muscheln. – Der Nachmittag

aus allen Ländern verjagte

Brûleur de Loups…

schritt vor.

Menschenhaufen, die schließ-

Es gibt [hier] manch-

Die Konsulate wurden geschlossen. Jetzt

lich am Meer ankamen, wo

mal echte Franzosen.

überschwemmten die Transitäre, von Furcht

sie sich auf Schiffe warfen,

Sie

statt

gepeinigt, die Brûleur de Loups und jeden

um neue Länder zu entdecken, aus denen

von Visen von vernünftigen Schiebungen.

denkbaren Ort. Ihr tolles Geschwätz erfüllte

sie wieder verjagt wurden; immer alle auf

Ich hörte sogar ein gewisses Boot nach

die Luft, das unsinnige Gemisch verwickelter

der Flucht vor dem Tod, in den Tod. Hier

Oran erwähnen. Während im Mont Vertoux

Ratschläge und blanker Ratlosigkeit. Das

mussten immer Schiffe vor Anker gelegen

Mont Vertoux [in Wirklichkeit: Mont Ventoux]

dünne Licht der einzelnen Anlegestellen

haben,

an

die Besucher alle Umstände der Passage

bestrich

Stelle,

weil

breitraten, verhandelten diese Leute hier über

Fläche des alten Hafens. Ich legte mein

Europa

zu

alle Umstände der Kupferdrahtladung. Der

Geld auf den Tisch, um in den Mont Vertoux

Alte Hafen war blau. Sie kennen ja das helle

hinüberzuwechseln.

ihre

dieser hier

Mütter geflohene

genau

Ende war und das

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sprechen

Meer hier einzahnte,

Nachmittagslicht, das kalt in alle Ecken der

immer hatte an dieser Stelle eine Herberge

Welt hineinscheint, und alle Ecken der Welt

gestanden, weil hier eine Straße auf die

sind öde. An meinem langen

Einzahnung mündete.

Tisch

Ich fühlte mich uralt, jahrtausendalt, weil ich

dicke Person. Sie fraß unzählige

alles schon einmal erlebt hatte, und ich fühlte

Austern. Sie fraß aus Kummer.

saß

eine

Visum

war

schon

ihr

die

endgültig

verweigert

dunkler

werdende

Anna Seghers

großfrisierte

mich blutjung, begierig auf alles, was jetzt noch kam, ich fühlte mich unsterblich. Doch dieses Gefühl schlug abermals um, es war zu stark für mich Schwachen. Verzweiflung überkam mich, Verzweiflung und Heimweh. Mich jammerten meine siebenundzwanzig vertanen, in fremde Länder verschütteten Jahre. […]

Postkarte, die den Vieux Port zeigt, wie er aus den Cafés heraus gesehen wurde. Im Hintergrund der berühmte Pont Transbordeur.

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10.ETAPPE ETAPPE 10. DIE ZERSTÖRUNG DES

PANIERVIERTELS

Am 24. Januar 1943 evakuierten deutsche Soldaten und SS-Leute mit Unterstützung der französischen Polizei das alte Hafenviertel. Fast 15 0 00 Menschen wurden zum Bahnhof von Arenc und von dort aus in Zeltlager nach Fréjus gebracht.

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10. ETAPPE


NIEMALS ZUVOR WURDE SO ZU MITTAG GELÄUTET wie am 1. Februar 1943 – ein Hornsignal auf dem Quai. Ein deutscher Offizier mit Stahlhelm kommt aus einer der Gassen in der Nähe des Pont Transbordeur herausgerannt und verschwindet hinter dem Eingangstor eines Hafengebäudes. Einige Sekunden lang ist es am Quai totenstill. Artikel aus der Marseiller Tagespresse

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m November 1942 besetzte die deutsche Armee auch den südlichen Teil Frankreichs und marschierte in Marseille ein. Zu diesem Zeitpunkt lagen auf französischer Seite die Pläne für die Zerstörung des Panier, dem ältesten Viertel der Stadt, schon bereit. Es bedurfte nur einer kurzen Abstimmung zwischen dem deutschen Generalstab und dem französischen Polizeiapparat, um die Sprengung vorzubereiten. Die französische Polizei evakuierte

daraufhin die Bevölkerung aus dem Panierviertel und leitete im Ergebnis der größten Razzia, die jemals in Frankreich durchgeführt worden ist, die Deportation von fast 800 Einwohnern des Panierviertels ein. Durch die von der deutschen Armee im Februar 1943 duchgeführten Sprengungen wurden 14 Hektar des Hafenviertels dem Erdboden gleichgemacht. Auch der berühmte Pont Transbordeur wurde dabei teilweise zerstört.

Merkwürdigerweise überstand das Hôtel de Cabre in der Rue Caisserie die Zerstörung. Als ältestes Haus der Stadt sollte es nach dem Krieg bewahrt werden und wurde deshalb auf Schienen gestellt, gedreht und dem neuen Straßenverlauf angepasst.

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STOLPERSTEINE IN MARSEILLE

Im Rahmen einer Berlinreise mit dem EXILPLAN-Projekt (Æ Diashow) trafen wir im Februar 2009 Christiane TrümperPortella, die in der Revaler Str. 6 einen Stolperstein für Otto Oldenburg bei Æ Gunter Demnig in Auftrag gegeben hatte. Wir führten ein Interview mit Frau Æ Trümper-Portella und schrieben einen Artikel über die Stolpersteine für das französische Stadtmagazin Æ Berlin Poche.

Im Juli 2010 führten französische und deutsche Schüler/innen und Student/innen im Rahmen des EXILPLAN-Projekts eine Stolpersteinverlegung als Kunstaktion im Panier-Viertel durch.

Im Juli 2009 trafen wir uns in Marseille während eines EXILPLAN-Workshops mit Jessica Cohen, der damaligen Stolperstein-Koordinatorin für Frankreich. Sie berichtete uns, dass es bisher noch niemandem gelungen sei, einen Stolperstein in Frankreich verlegen zu lassen. Daraufhin wurde beschlossen, die Stolpersteine mit einer Straßenaktion im Panierviertel bekannt zu machen.

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KUNSTAKTION MA PIERRE DANS LE PANIER

Æ Kunstaktion – Ma Pierre dans le Panier Fotogalerie

Juli 2010 Æ  E – Zum letzten Workshoptag hatte jeder 2 Steine vom Strand mitgebracht. Auf einen der beiden Steine wurde etwas Persönliches geschrieben. Zur Vorbereitung der Straßenaktion suchte sich jeder auf einem Stadtteilplan vom Panier-Viertel einen Ort aus, an dem er seinen Stein hinlegen wollte. Während imaginäre Karten von diesem Viertel und dem Verlegungsort gezeichnet wurden, trugen wir zusammen, was wir über die Stolpersteine und über die Geschichte von Marseille im 2. Weltkrieg wussten. Jeder schrieb diese Geschichte auf ein Blatt Papier und wickelte darin einige Bonbons ein. Das sollte das Dankeschön für die Leute im Panierviertel sein, die bei unserer Straßenaktion mitmachen würden.

Schließlich wurde die Route festgelegt, mit den verschiedenen Stationen, an denen die Workshopteilnehmer/innen ihren Stein zusammen mit der imaginären Karte ablegen wollten. Dann machten wir uns auf den Weg zum Panier-Viertel. Bei jedem Halt gingen wir auf Passanten zu und baten sie, etwas Persönliches auf den zweiten Stein, den jeder bei sich trug, zu schreiben. Dann wurden beide Steine nebeneinander auf der imaginären Panier-Karte abgelegt.

Was danach geschah, wissen wir nicht, aber wir hoffen, das manch einer über die merkwürdigen Steine und deren Inschriften gestolpert ist.

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VILLA AIR-BEL

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ary Jayne Gold Æ 7 , eine der amerikanischen Mitarbeiterinnen von Varian Fry, fand im Herbst 1940 ein baufälliges Herrenhaus im östlichen Randbezirk La Pomme: die Villa Air-Bel. Ursprünglich als Wohnort von Varian Fry Æ 2 und seiner Mitarbeiter gedacht, wurde das Haus mit 18 Zimmern sogleich von Victor Serge und André Breton 4, ihren Frauen und Kindern in Beschlag genommen. Am Wochenende füllte sich der Garten und das Haus mit Künstlerfreunden, die sich mit fiktiven Kunstversteigerungen und der Erfindung eines surrealistischen Kartenspiels, dem Jeu de Marseille, bei Laune hielten. Foto der Villa Air-Bel (Mitte) André Breton (oben rechts) Breton-Porträt von André Masson (unten rechts)

André

Breton,

ehemals

ungezogener Dadaist, dann König

des

Surrealismus,

hatte während des Krieges als

Arzt

sischen

in

der

Armee

franzögedient.

In der Villa Air-Bel legte er

verschiedene

Samm-

lungen an: Insekten, vom Seewasser

polierte

zellanscherben

Por-

und

alte

Magazine. Er konnte großartig und immer unterhaltsam über alles und jeden reden. Sonntag

nachmittags

veranstaltete

er

Surrealisten-Treffen, zu denen die gesamte Deux-Magots-Meute erschien, verrückt wie eh und je. Varian Fry

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JEU DE MARSEILLE

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as Jeu de Marseille wurde von den Künstlern Victor Brauner, André Breton, Oscar Dominguez, Max Ernst, Jacques Hérold, Wifredo Lam, Jacqueline Lamba André Masson und Fréderic Delanglade 1940 / 41 in Marseille in der Villa Air-Bel auf der Grundlage eines einfachen Kartenspiels à 52 Karten und 2 Joker, hier von König Ubu verkörpert, entworfen. König, Dame und Bube wurden durch Genie, Seejungfrau und Zauberer ersetzt. Aus dem Kreuz wurde das schwarze Schlüsselloch des Wissens, aus Karo der rote Blutfleck der Revolution, aus Pik der schwarze Stern des Traums und aus Herz die rote Flamme der Liebe. Das Kartenspiel wurde erst 1983 von André Dimanche im gleichnamigen Marseiller Verlag veröffentlicht. Die Editions André Dimanche befinden sich in den ehemaligen Räumen der Literaturzeitschrift Les Cahiers du Sud. Æ  8 T

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VILLA AIR-BEL UND JEU DE MARSEILLE

Æ  Virtuelle Rekonstruktion der Villa Air-Bel

Æ  Fotogalerie Jeu de Marseille

Webseite der Hochschule für Architektur (ENSA), Marseille, www.villaairbel1940.fr

Das Exilplan-Kartenspiel wurde von Schüler/innen des Waldörfergymnasiums, Hamburg im Sommer 2008, nach dem Modell des surrealistischen Jeu de Marseille hergestellt und in Hamburg ausgestellt.

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SANARY-SUR-MER HAUPTSTADT DER DEUTSCHEN LITERATUR M EXIL

wischen 1930 und 1941 wohnten in dem kleinen Hafenstädtchen an der Côte d'Azur so berühmte Schriftsteller und Intellektuelle wie Lion Feuchtwanger, die Familie Mann, Franz Werfel und AlmaMahler-Werfel, René Schickele, Franz Hessel, Friedrich Wolf u.v.a. Seit Anfang der 90er Jahre gibt es in Sanary einen Gedenkpfad mit Text-Foto-Tafeln an den Häusern der Exilanten.

www.sanarysurmer.com Æ

Bisweilen war ein guter Teil der besten deutschen Literatur im Dorf und saß im Marine oder bei Witwe Schwab. Sanary

Im

Exil

wird

das

war ein sehr umfangreiches Romanisches

kontinuierlichen

Café, mit Marmor-Tischen und Badehosen.

Dutzend Exilländern im Café und es war

Namentlich im Sommer wurde das Nest

immer dasselbe Café, am Meer, zwischen

überfüllt von literarischen Kaisern. Die Luft

Bergen, in London, in Paris, an den Grachten

war geschwängert mit originellen Aperçus,

von Amsterdam, zwischen den Klöstern von

Indiskretionen und Krächen.

Brügge.

Ort.

Café

zum

Ich

saß

einzigen in

einem

Ich saß im

Ludwig Marcuse

zur Wiege der Illusionen und zum Friedhof.

Kaffeehaus

einsam und tötet.

schrieb.

Im Exil wird das Café zu Haus und Heimat, Kirche und Parlament, Wüste und Wallstatt,

Das Exil macht des Exils und Freilich belebt es auch und erneuert.

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Hermann Kesten

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SANARY-SUR-MER

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m die spannende Geschichte dieser EmigrantenGemeinde einem jungen Publikum nahe zu bringen, haben wir einen Exilrundgang durch Sanarysur-Mer entwickelt, bei dem es, wie bei einer klassischen Schnitzeljagd, darum geht, die Orte der Exil-Schriftsteller zu finden und anhand von Textauszügen, die vor laufender Kamera in Szene gesetzt werden, die Atmosphäre der Exilzeit wieder lebendig zu machen.

Æ Schnitzeljagd in Sanary-sur-Mer 2010 (Video) Mit Wegbeschreibung und geschulterter Videokamera in Sanary-sur-Mer. Video-Dokumentation der Schnitzeljagd in 10 Etappen.

Æ Fotogalerie

Æ Exil à Sanary (Film) 2013 Eine Filmreportage über das Exil in Sanary-sur-Mer von Maëlys Meyer und Stéphanie Clopin, im Rahmen des Europaseminars (Grundtvig), Februar 2013

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LES MILLES DAS EHEMALIGE INTERNIERUNGSUND DEPORTATIONSLAGER

a die Exilerfahrung nicht allein ein historischer Fakt, sondern die gelebte Erfahrung von Millionen von Menschen ist, die heute aus wirtschaftlichen, politischen und klimatischen Gründen ihre Heimat verlassen müssen, hilft uns die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dabei, die Gegenwart zu verstehen und mit kritischen Augen zu sehen.

Dem ehemaligen Internierungs- und Deportationslager in Les Milles bei Aix-en-Provence kommt dabei eine besondere Bedeutung zu: Als Lager für » unerwünschte Ausländer « (1939 / 40), später Transitlager (1941) für die auf ihre Ausreisepapiere wartenden Emigranten und am Ende (August  /  September 1942) als Sammellager für 1928 jüdische Kinder, Frauen und Männer, die von Les Milles über Drancy nach Ausschwitz deportiert wurden, birgt die ehemalige Ziegelfabrik eine unerhörte Geschichtslektion! Bis in die achtziger Jahre hinein wussten in Frankreich nur Wenige, dass in diesem Lager aus Deutschland geflüchtete Nobelpreisträger neben Philharmonikern und bedeutenden Schriftstellern und Künstlern unter schlimmsten Umständen leben mussten.

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Lion Feuchtwanger schrieb nach seiner Ankunft im amerikanischen Exil 1940 den Bericht über seine Lagerzeit Der Teufel in Frankreich. Anfang der neunziger Jahre erschienen erste wichtige Recherchen von Historikern wie Jacques Grandjonc, Theresia Grundtner und Doris Obschernitzki. Dann legten Kunsthistoriker die übertünchten Wandmalereien im ehemaligen Refektorium des Lagerwachpersonals frei. 2012 wurde nach jahrelangen umfangreichen Rekonstruktionsarbeiten in der ehemaligen Ziegelei von Les Milles eine nationale Gedenkstätte eröffnet. Æ  www.campdesmilles.org

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LES MILLES

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m Rahmen unserer deutsch-französischen ExilplanWorkshops, der Weiterbildungsseminare für Erwachsenenbildner sowie der Europaseminare haben wir seit 2005 ausgehend von unseren Besuchen im ehemaligen Internierungslager literarische Texte, imaginäre Karten kreiert und ein Fotoarchiv angelegt.

Æ Exil und Poesie. Ein Bericht von Ulrike Müller www.exilarchiv.de, mp3

Æ Fotogalerie

Æ ���� – Die Maler von Les Milles Radio-Feature von Sabine Günther, Deutschlandradio, 1997. Dauer: 19:52

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MATERIAL Wer sein Leben als Bewohner eines Landes verbringt, das niemals durch innere Wirren, Krieg, Besetzung erschüttert worden ist, der weiß nicht, welche Rolle ein Identitätspapier, ein Stempel im Leben eines Menschen spielen kann. Es ist gewöhnlich ein lächerliches Stück Papier, ein lächerlicher Stempel, von einem belanglosen Schreiber gefühllos hingesetzt. Doch wie viele Zehntausende, Hunderttausende, Millionen jagen einem solchen Stück Papier, einem solchen Stempel nach. Lion Feuchtwanger Der Teufel in Frankreich

MATERIAL


AUSLIEFERUNGSKLAUSEL IM WAFFENSTILLSTANDSABKOMMEN

PAPIERE

N

H

ach dem Sieg der Hitlerarmeen und dem Waffenstillstand von Compiègne wurde Frankreich zur Falle für die deutschen Emigranten. Aufgrund des Artikels 19 Absatz 2 des Waffenstillstandsvertrages mußte Frankreich sämtliche Personen deutscher Herkunft ausliefern, die Deutschland nannte. Somit war das Asylrecht sowohl im besetzten Nordfrankreich als auch in der Vichy-Zone aufgehoben. Die Emigranten galten, soweit sie nicht interniert waren, als vogelfrei. Der einzige Ausweg der Nichtinternierten aus Frankreich zu entkommen, war die Flucht über Spanien und Portugal in die USA, zu dieser Zeit das Hauptasylland.

atte man Marseille erreicht, eine Aufenthaltsgenehmigung und mit viel Glück und Unterstützung das amerikanische Einreisevisum erhalten, musste ein spanisches Transitvisum beantragt werden, welches wiederum erst die Grundlage für die portugiesische Durchreiseerlaubnis bildete. Das amerikanische, das spanische und das portugiesische Visum waren wiederum die Voraussetzung für die französische Ausreisegenehmigung, welche praktisch nur mit der Devisenzuteilung und der Devisenausfuhrgenehmigung der Banque de France zu benutzen war. Da das amerikanische Einreisevisum auf ein halbes, später ein ganzes Jahr befristet war und innerhalb dieses Zeitraums die Einreise erfolgen mußte, das Beschaffen aller anderen Dokumente aber viele Monate Zeit kostete, verfielen mit dem US-Visum auch sämtliche sich darauf beziehenden Papiere. Sie mussten entweder erneuert oder ganz neu beantragt werden. Viele Flüchtlinge verzweifelten an dieser Situation. 1940 begingen beispielsweise Carl Einstein, Walter Hasenclever und Walter Benjamin Selbstmord.

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SAUF-CONDUIT

TRANSIT-VISUM

Der fette Beamte musterte uns, ein Häuflein Menschen

Ein Mann dieses Namens war ohne Zweifel schon längst

mit allerhand Visenbestätigungen in den Händen und

erwartet, sein Dossier war vorbereitet, seine Passage war

abgelaufenen

Lagerentlassungs-

bezahlt, für ihn, den Korsen, stand nichts im Weg, einen

scheinen, als kämen wir nicht von anderen Ländern,

Schiffsplatz für diesen Mann zu buchen, wenn er nur zum

sondern von anderen Sternen, und nur für den seinen, den

Visum sein Transit beschaffte. Zuerst das amerikanische,

eigenen, bevorzugten, gelte das Vorzugsrecht eines ewigen

die Durchreise durch Spanien und Portugal sei danach ein

Aufenthalts.

Kinderspiel.

Sauf–conduits

und

Anna Seghers

Anna Seghers

A

uch Flüchtlingen, die nicht in Internierungslagern festsaßen, war es nicht gestattet, ohne ausdrückliche Genehmigung der Behörden ihren Aufenthaltsort zu verlassen. Wollten sie sich dennoch an einen anderen Ort begeben, mussten sie das im Zitat erwähnte Saufconduit beantragen. Ein solches Papier war bereits dann notwendig, wenn der Flüchtling z.B. den Arzt des Nachbarortes aufsuchen wollte. Die unerlaubte Entfernung konnte unterschiedlich bestraft werden. Im günstigsten Fall drohte dem Emigranten eine Geldstrafe, nicht selten wurden die Verstöße aber mit erneuter Haft in einem Internierungslager geahndet. Natürlich konnte das Sauf-conduit verweigert werden. In solch einem Fall hatten die Emigranten nur noch die Möglichkeit, Frankreich ohne diesen Passierschein zu durchqueren. Das barg ein hohes Risiko, denn Straßen und öffentliche Verkehrsmittel wurden überwacht.

Sauf-Conduit für Soma Morgenstern, der, wie Anna Seghers, in der Rue du Relais Nr. 3 wohnte

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US-VISUM UND AFFIDAVIT

Ich hatte bereits ein Billett für die Export–Linie. Mein amerikanisches Visum war bewilligt. Doch als ich mich zur Verlängerung neuerdings zu dem Konsul begebe, da heißt es, ich brauche ein neues, ein einwandfreies Affidavit, eine moralische Bürgschaft, das Zeugnis amerikanischer Bürger, dass ich völlig makellos sei. Wo sollte ich, eine Frau, die immer allein lebt, zwei amerikanische Bürgen hernehmen,

Die Flüchtlinge, die keine guten Freunde auf dem amerikanischen Kontinent besaßen, konnten wenig Hoffnung hegen, alle notwendigen Papiere jemals ausgestellt zu bekommen. Hinzu kam, dass es nicht nur immer schwieriger wurde, Affidavitgeber zu finden; die Erteilung von Visa stieß zunehmend auf eine oppositionelle Haltung der amerikanischen Behörden.

die für mich ihre Hand ins Feuer legen, dass ich nie Geld unterschlagen

habe,

den

Russenpakt

verdamme,

den

Kommunisten nicht gewogen bin, nicht war und nicht sein werde, keine fremden Männer in meinem Zimmer empfange, ein sittliches Leben führe, führte und führen werde? Anna Seghers

F

ür die Bewilligung eines US-Visums mussten im Vorfeld zwei rechtskräftige Affidavits beschafft werden. Ein moralisches und ein finanzielles Affidavit bedeutet Bürgschaft eines Staatsangehörigen für einen Einwanderer. Aus diesem Grund war es für den Emigranten von großem Nutzen, wenn er persönliche Freunde besaß, die amerikanische Staatsbürger waren. Häufig wurden Affidavits auch von den Hilfskomitees selbst beschafft.

Das Affidavit of financial support sollte absichern, dass der Einreisende niemals der öffentlichen Wohlfahrt der Vereinigten Staaten zur Last fallen würde. Daher musste ein amerikanischer Staatsbürger oder ein bereits eingereister, gut situierter Emigrant für den Antragsteller bürgen und seinen materiellen Status offen legen. Zeitweise wurde ein jährliches Mindesteinkommen von $5 0 00 beim Bürgen vorausgesetzt - damals eine beträchtliche Summe. Das Affidavit of moral support galt als Ersatz für ein polizeiliches Führungszeugnis. Mit dieser Erklärung, die ein amerikanischer Bürger vor einem Notar abgeben musste, bürgte er für die politische und moralische Unbeflecktheit des Antragstellers.

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LITERATUR BIOGRAFIEN

Foto: Dรถrthe Behnke, Marseille 2013


BÜCHER, AUS DENEN WIR IM EXILPLAN-BOOK ZITIEREN. AUTOREN IN DER REIHENFOLGE IHRES ERSCHEINENS:

Varian Fry

Alfred Kantorowicz

Ernst Erich Noth

Auslieferung auf Verlangen, Frankfurt am Main 1997

Exil in Frankreich, Bremen 1971

Erinnerungen eines Deutschen, Hamburg-Düsseldorf 1971

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Anna Seghers  Ludwig Marcuse

Transit, Berlin 1954 Hertha Pauli Der Riß der Zeit geht durch mein Herz, Wien-Hamburg 1970

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Mein zwanzigstes Jahrhundert, München 1960

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Walter Mehring

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Lisa Fittko  Hermann Kesten

Mein Weg über die Pyrenäen, München 2004

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Dichter im Café, München-Wien-Basel, 1959

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Briefe aus der Mitternacht, Heidelberg 1971

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Hans Sahl  Das Exil im Exil, Hamburg 1994

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Alfred Döblin

Lion Feuchtwanger

Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis, Olten 1980

Der Teufel in Frankreich, Berlin 1982

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Maurice Lemoine

Mary Jayne Gold  Heinrich Mann  Ein Zeitalter wird besichtigt, Berlin 1973

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North Side Story, in: Marseille. Histoires de famille, Revue Autrement n° 36, Paris 1989

Marseille année 40, Paris 2001

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Soma Morgenstern  Daniel Bénédite  Archiv des CAS

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Flucht in Frankreich, Berlin 2000

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* Übersetzung: Sabine Günther

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31 BIOGRAPHISCHE ANMERKUNGEN

Lion Feuchtwanger Lion Feuchtwanger (1884 – 1958), berühmter deutscher Romanschriftsteller, ging 1933 ins Exil nach Frankreich. Von 1933-39 wohnte er zusammen mit seiner Frau Martha und seiner Sekretärin Lola Humm-Sernau in Sanary-sur-Mer Æ  III . Im September 1939 wurde er in der ehemaligen Ziegelei von Les Milles Æ  IV interniert. Im Sommer 1940 kam er mit Hilfe des amerikanischen Vize-Konsuls Hiram Bingham aus dem Lager St. Nicolas frei und wurde mehrere Wochen lang in Marseille versteckt. Das Centre Américain de Secours unter Varian Fry sorgte im Herbst 1940 für die Ausreise und Emigration der Feuchtwangers in die USA. Feuchtwangers Bericht Der Teufel in Frankreich vollzieht die Jahre des Exils in Sanary-sur-Mer und die mehrmalige Internierung in Frankreich nach.

Varian Fry Mit Unterstützung von Eleonore Roosevelt, Thomas und Erika Mann u.a. wurde im Juni 1940 in New York die Fluchthilfeorganisation Emergency Rescue Committee (ERC) gegründet. Bedrohten Schriftstellern, Künstlern, Komponisten, Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern sollte zur Flucht aus Frankreich in die USA verholfen werden. Marseille war zu diesem Zeitpunkt der einzige Ausreisehafen aus Frankreich; tausende von Emigranten befanden sich in der Stadt und wollten Frankreich so schnell wie möglich verlassen, ehe die deutsche Armee auch den südlichen Teil Frankreichs besetzen würde. Das ERC beauftragte den 34-jährigen Publizisten Varian Fry (1907 – 1967), vor Ort Fluchthilfe zu leisten. Ab August 1940 konnten dank ihm und seinen Mitarbeitern über zweitausend Künstler, Schriftsteller und Politiker emigrieren. Darunter waren unter anderem Hannah Arendt, André Breton, Mac Chagall, Max Ernst, Marc Chagall, Lion

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Feuchtwanger, Arthur Koestler und Victor Serge. Am 15. August 1941 wurde Varian Fry von der Vichy-Regierung aus Frankreich ausgewiesen, weil er, wie es offiziell hieß, » Juden und Nazigegnern geholfen hatte «. Varian Fry wurde 1966 in die französische Ehrenlegion aufgenommen. In den USA erhielt er 1991 die Eisenhower Liberation Medal. Die Gedenkstätte Yad Vaschem ehrte ihn 1996 mit einem Baum in der » Allee der Gerechten der Völker «. Die Bundesrepublik Deutschland würdigte Fry durch einen Straßennamen in Berlin und durch eine kleine Gedenktafel an der Bushaltestelle am Potsdamer Platz. In Marseille wird an Varian Fry mit einer Stele vor dem amerikanischen Konsulat erinnert.

Seine Memoiren erschienen 1995 auf deutsch unter dem Titel Auslieferung auf Verlangen und 2008 in einer französischen Neuübersetzung unter dem Titel » Livrer sur demande… «.

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31 BIOGRAPHISCHE ANMERKUNGEN

Hans Natonek Hans Natonek (1892  –  1963), Feuilletonist, Kritiker, Schriftsteller. Er floh mit Hertha Pauli und Walter Mehring im Juni 1940 aus Paris und kam über Lourdes und Toulouse nach Marseille. Ende August 1940 floh er mit Hilfe des CAS über die Pyrenäen nach Spanien und Portugal. Im Januar 1940 kam er auf dem Flüchtlingsschiff Manhattan in New York an.

Freundschaft verbinden sollte. 1938 floh sie nach Paris und schrieb von dort aus im Juni 1940 zusammen mit Walter Mehring, Ernst Weiss und Hans Natonek einen Brief an Thomas Mann, mit der dringenden Bitte um Hilfe für die in Frankreich festsitzenden Exilanten. Dieses Schreiben führte zur Gründung des Emergency Rescue Committee. Hertha Pauli verließ als eine der ersten Emigranten auf illegalem Wege Frankreich. Ende August 1940 ging sie gemeinsam mit Hans Natonek und der ehemaligen Weltbühne-Mitarbeiterin Hilde Walter den Weg über die Pyrenäen. Von Lissabon aus erreichte sie am 12. September 1940 per Schiff New Jersey.

Walter Mehring Walter Mehring (1896  –  1981), ehemaliger Dadaist, Mitarbeiter der Weltbühne und einer der besten Texter der zwanziger Jahre. Er emigrierte 1933 zunächst nach Wien, 1938 nach Paris. Beim Einmarsch der deutschen Armee in Paris flüchtete er mit Hertha Pauli nach Marseille. Am 3. Februar 1941 reiste er auf der Wyoming aus Marseille in Richtung Martinique-Miami ab.

Ernst Weiß Ernst Weiß (1882 – 1940), Schriftsteller, ging 1933 ins Exil, zuerst nach Prag, dann nach Paris. Er wurde von den Schriftstellern Stefan Zweig und Thomas Mann finanziell unterstützt. Er brachte sich am Tag des Einmarsches der deutschen Truppen in Paris um. Anna Seghers widmete ihm ihren Roman Transit.

Hertha Pauli Hertha Pauli (1909  –  1973), österreichische Schauspielerin und Autorin. Sie lernte in den dreißiger Jahren in Wien Walter Mehring kennen, mit dem sie eine lebenslange

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31 BIOGRAPHISCHE ANMERKUNGEN

Lisa und Hans Fittko Hans Sahl Hans Sahl (1902 – 1983), eigtl. Hans Salomon; Pseudonyme: Franz Floris, Peter Munk, Salpeter, entstammte einer großbürgerlichen jüdischen Familie. Er wuchs in Berlin auf und machte sich dort nach dem Studium in Breslau mit Literatur-, Theater- und Filmkritiken für das Tage-Buch, den Berliner Börsen-Courier und den Montag Morgen sehr schnell einen Namen. Er wohnte damals in der Künstlerkolonie Wilmersdorf. 1933 floh Hans Sahl vor den Nationalsozialisten über Prag und Zürich nach Paris, wo er gefangen genommen und in Südfrankreich im Lager Le Ruchard interniert wurde. Es gelang ihm die Flucht nach Marseille und - dank Varian Frys Emergency Rescue Committee – über Lissabon in die Vereinigten Staaten. Hans Sahl verarbeitete diese Erfahrungen später in seinem autobiografischen Roman Die Wenigen und die Vielen (1959) und setzte damit Varian Fry und seinem Hilfskomitee ein literarisches Denkmal.

Mary Jayne Gold

Lisa Fittko (1909  –  2005) und Hans Fittko (1903  –  1960) kundschafteten in Frys Auftrag die F-Route über die Pyrenäen zur französisch-spanischen Grenze in Port-Bou aus, die über 300 Flüchtlinge beschritten.

Mary Jayne Gold (1909 – 1997), eine reiche Amerikanerin, spendete Geld und fand für Fry die Villa Air Bel im östlichen Randbezirk La Pomme, wo er sich am Wochenende erholen konnte. Sie entstammte einer reichen amerikanischen Familie. Ihre Jugend verbrachte sie in Europa, entschied sich aber im August 1940 in Marseille, dem CAS beizutreten und sich aktiv an der Rettungsarbeit des FryKomitees zu beteiligen. Sie trug zum Erfolg vieler Rettungsaktionen durch hohe Geldspenden bei. Im Herbst 1941 kehrte sie, nachdem Varian Fry aus Frankreich ausgewiesen worden war, in die USA zurück. Dort blieb sie mit Varian Fry weiterhin in Kontakt. 2001 erschien, auf englisch und französisch, ihr Erinnerungsbuch Marseille année 40.

Daniel Bénédite Daniel Bénédite (1912  –  1990) gehörte ab November 1940 als Geschäftsführer des CAS zum engsten Mitarbeiter- und Freundeskreis von Varian Fry. Er besorgte leere Pässe auf dem Schwarzmarkt, die er zum Fälschen an den Zeichner Bil Spira weitergab.

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31 BIOGRAPHISCHE ANMERKUNGEN

Heinrich Mann Heinrich Mann (1871  –  1950), Schriftsteller, wurde 1933 gezwungen, aus der Preussischen Akademie der Künste auszutreten und wurde aus Deutschland ausgebürgert. Im Pariser Exil nahm er die tschechische Staatsbürgerschaft an. 1940 konnte er, zusammen mit seiner Frau Nelly und dem Neffen Golo Mann mit Varian Frys Hilfe aus Frankreich in die USA fliehen.

Golo Mann

Rudolf Hilferding

Golo Mann (1909  –  1994), Historiker und Schriftsteller, drittes Kind von Thomas Mann, lebte ab 1933 in der Schweiz und in Frankreich. 1936 wurde der Familie Mann die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. 1940 schloss sich Golo Mann als Kriegsfreiwilliger einer tschechischen Einheit in Frankreich an, wurde jedoch bald in Les Milles Æ  IV interniert. Durch die Intervention von Varian Fry kam er frei und trat im September 1940 zusammen mit seinem Onkel Heinrich Mann und dessen Frau Nelly die Flucht über die Pyrenäen an. Einen Monat später erreichten sie auf dem Schiff Nea Hellas New York.

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Rudolf Hilferding (1877  –  1941) war 1923 und 1928 Reichsfinanzminister. 1933 floh er zuerst nach Zürich, dann nach Prag und Paris, 1940 nach Marseille. Nach Ablehnung seines Asylantrags in der Schweiz fürchtete er sich, Frankreich illegal zu verlassen. Im Februar 1941 wurde er verhaftet und an die Gestapo ausgeliefert. Einige Tage später starb er im Pariser Gefängnis Santé.

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Rudolf Breitscheid Rudolf Breitscheid (1875  –  1944) war ab 1928 Vorsitzender der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion. 1933 floh er mit seiner Ehefrau nach Paris, 1940 nach Marseille. Die Schweiz lehnte seinen Antrag auf politisches Asyl ab. Breitscheid wollte Frankreich jedoch nicht illegal verlassen und schlug deshalb die Hilfe von Varian Fry aus. Im Februar 1941 wurde er zusammen mit Rudolf Hilferding von der französischen Polizei verhaftet und an die Gestapo ausgeliefert. 1944 kam er im KZ Buchenwald ums Leben.

Carbone und Spirito inspirierten Eugène Saccomano, dessen Buch Banditen in Marseille 1970 von Jacques Deray unter dem Titel Borsalino, mit Alain Delon alias Roch Siffredi und Jean-Paul Belmondo alias François Capella in den Hauptrollen, verfilmt wurde.

Carbone und Spirito Paul Carbone (1894  –  1943) und François Spirito (1900 – 1967) legten in den zwanziger Jahren mit dem Import von Opium und dessen Weiterverarbeitung zu Heroin den Grundstein für ihr Mafiaimperium, der sogenannten French Connection. Durch den Heroin-Export nach Amerika binnen kurzem steinreich geworden, bauten die Gangsterbosse in Marseille ihren Machtbereich derart aus, dass neben den üblichen Geschäften mit Prostitution, Schwarzhandel und Diebstahl auch eine enge Zusammenarbeit mit den korsischen Brüdern in der Politik begann. Im Frühjahr 1939 wurde Marseille für unregierbar erklärt und an die Stelle des Bürgermeisters ein staatlicher Verwalter gesetzt.

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Bil Spira Bil Spira (1913  –  1999), österreichischer Zeichner. Er emigrierte 1938 nach Paris und nannte sich Willy Freier. Ab 1940 in Marseille, trat er als Pass- und Dokumentenfälscher in Frys Dienste. Von einem Doppelagenten namens Drach denunziert, trat Spira im November 1940 die Reise in die Hölle deutscher Vernichtungslager an: Auschwitz, Buchenwald, Teresienstadt. Im Mai 1945 wird er von russischen Soldaten befreit.

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Anna Seghers Die Erzählerin Anna Seghers (als Netty Reilung 1900 in Mainz geboren), floh 1933 aus Deutschland und lebte sieben Jahre mit ihrer Familie im Pariser Exil. Ihr Ehemann, der ungarische KPD-Funktionär und Wirtschaftswissenschaftler László Radványi – ab 1925 nannte er sich JohannLorenz Schmidt – leitete bis zu Beginn des 2. Weltkriegs die von ihm mitbegründete Freie Deutsche Hochschule in Paris. Im Januar 1940 in Paris verhaftet, kam er zuerst ins Internierungslager Le Vernet, dann nach Les Milles Æ  IV . Nach knapp drei Monaten Transit in Marseille konnte Anna Seghers mit ihrer Familie Ende März 1941 den Frachtdampfer Capitaine-Paul-Lemerle besteigen, auf dem sich etwa 350 Emigranten, davon 50 Klienten des Fry-Komitees, befanden. Über Oran, Casablanca, Martinique und New York erreichte die Familie von Anna Seghers Mitte 1941 Mexiko.

Alfred Kantorowicz

Alma Mahler Werfel und Franz Werfel

Alfred Kantorowicz (1899  –  1979), Jurist, Journalist und Kritiker. 1933 emigrierte er nach Frankreich und wurde ausgebürgert. Nach seiner Internierung im Lager Les Milles Æ  IV wohnte er ab Januar 1941 in der Feuchtwanger-Villa Valmer in Sanary-sur-Mer Æ  III , dann in der ehemaligen Wohnung von Franz und Helen Hessel. Friedel und Alfred Kantorowicz hielten sich ab Juni 1940 in Marseille auf und konnten im März 1941 in die USA ausreisen.

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Alma Mahler-Werfel (1879  –  1964), Komponistin und Wiener Salondame. Nachdem sie mit Gustav Mahler und Walter Gropius verheiratet war, lernte sie 1917 den 11 Jahre jüngeren Schriftsteller Franz Werfel kennen, den sie ebenfalls heiratete und mit dem sie 1938 nach Frankreich ins Exil ging. Franz Werfel (1890 – 1945), österreichischer Schriftsteller. 1933 wurden seine Bücher verbrannt. Von 1935 bis 1937 lebte er in den USA, dann emigrierte er zusammen mit seiner Ehefrau Alma Mahler-Werfel nach Frankreich. Da in Marseille im September 1940 keine Ausreiseerlaubnis aus Frankreich erwirkt werden konnte, trat das Ehepaar Werfel Mitte September, gemeinsam mit Heinrich, Nelly und Golo Mann den illegalen Weg über die Pyrenäen an. Während ein Mitarbeiter des CAS die Gruppe begleitete, fuhr Varian Fry die 12 Koffer der Werfels zum Grenzposten. 4

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Alfred Döblin Alfred Döblin (1878  –  1957), Arzt und Schriftsteller. Sein 1929 veröffentlichter Roman Berlin Alexanderplatz wurde zu einem Welterfolg. 1933 emigrierte er zunächst in die Schweiz, dann nach Frankreich. Im Sommer 1940 floh er mit seiner Frau und dem jüngsten Sohn von Paris nach Marseille und bekam auf märchenhafte Weise das Geld für die Schiffsreise von Lissabon nach Amerika von einem ihm unbekannten französischen Beamten geschenkt.

Walter Benjamin

Hannah Arendt

Walter Benjamin (1892-1940), Kulturhistoriker und –theoretiker, emigrierte 1933 nach Paris. In den 20er Jahren war er mehrmals in Marseille gewesen und stand in Kontakt mit den Cahiers du Sud. Zu Beginn des 2. Weltkriegs wurde er mehrmals interniert. Im August 1940 kam er nach Marseille, um sein amerikanisches Einreisevisum in Empfang zu nehmen. Der illegale Grenzübertritt nach Spanien scheiterte im September; daraufhin nahm sich Walter Benjamin im Grenzort Portbou das Leben.

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Hannah Arendt (1906  –  1975), politische Theoretikerin und Publizistin. Sie emigrierte 1933 nach Paris, wo sie 1936 Heinrich Blücher kennenlernte. Zu dessen Freundeskreis gehörten Walter Benjamin und der Nervenarzt Fritz Fränkel. Hannah Arendt unterstützte Walter Benjamin in der Pariser Zeit finanziell und nahm später in Marseille wichtige Manuskripte von ihm an sich. Zusammen mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher und ihrer Mutter konnte sie im April 1941 in die USA emigrieren.

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Soma Morgenstern Soma Morgenstern (1890  –  1976), Schriftsteller und Kulturkorrespondent für führende deutsche Tageszeitungen. Er stammte, wie sein Freund Joseph Roth, aus Ostgalizien. Er floh 1938 aus Wien nach Paris. Im Krieg wurde er mehrmals interniert und erreichte im Juli 1940 Marseille. Dort wohnte er im Hotel Aumage, Rue du relais 3 Æ  5 . Im Februar 1941 gelang ihm mit Hilfe des CAS die Abreise aus Marseille. Im April 1941 kam er in New York an. Er überlebte als einziger seiner Familie den Holocaust.

Siegfried Krakauer

Ludwig Marcuse

Siegfried Krakauer (1893 – 1966), Architekt, Publizist, Soziologe. Er emigrierte mit seiner Frau Lili Krakauer 1933 nach Paris. Im Juni 1940 flohen sie nach Marseille, wo Siegfried Krakauer an einer Theorie des Films weiterarbeitete. Nachdem im September 1940 ein Fluchtversuch über die Pyrenäen scheiterte, flüchteten sie im Februar 1941 über Spanien nach Lissabon. Ende April 1941 erreichten sie New York.

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Ludwig Marcuse (1894  –  1971), Philosoph und Schriftsteller. Er emigrierte 1933 aus Deutschland und wohnte bis 1939 in Sanarysur-Mer Æ  III . Im selben Jahr gelang ihm die Flucht in die USA.

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André Breton André Breton (1896  –  1966), Dichter und Papst der surrealistischen Bewegung. Linksrevolutionärer Intellektueller, der in der Zeit des Vichy-Regimes auf dem Index stand. Nach symbolistischen und dadaistischen Anfängen veröffentlichte Breton 1924 das erste Manifest des Surrealismus und bildete eine Künstlergruppe, zu der u.a. Paul Eluard, Louis Aragon, Antonin Artaud, Georges Bataille, Max Ernst, Oscar Dominguez, Hans Bellmer, Salvador Dali gehörten. 1934 heiratete Breton die Malerin Jacqueline Lamba. Mit ihr und der gemeinsamen Tochter Aube wohnte er 1940 in Marseille in der Villa Air-Bel und emigrierte an Bord des Frachters Capitaine Paul Lemerle im Frühjahr 1941 über die Antillen in die USA.

Jean Ballard

Simone Weil

Jean Ballard (1893 – 1973), Eichmeister auf dem Marseiller Großmarkt, gründete 1913 in Marseille zusammen mit Marcel Pagnol die Literaturzeitschrift Fortunio, aus der 1924 Les Cahiers du Sud wurde. Ballard brachte in den zwanziger Jahren die ersten Schriften der Surrealisten heraus. Die Revue blieb ihnen und den vielen anderen Künstlern, die auf der Flucht nach Marseille kamen, treu und veröffentlichte ihre Schriften trotz Papiermangel und Zensur weiter.

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Simone Weil (1909 – 1943), Philosophin, hielt sich mit ihren Eltern ab Sommer 1940 zwanzig Monate lang in Marseille auf. 1942 bestieg sie das vorletzte Schiff, das vor dem Einmarsch der deutschen Armee in Marseille nach Amerika abfuhr. Neben ihrer antifaschistischen Untergrundarbeit und der Mitarbeit im Fry-Komitee schrieb Simone Weil in Marseille 11 ihrer berühmten Cahiers und brachte eine Sondernummer der Cahiers du Sud über die okzitanische Geschichte, Kultur und Sprache heraus. Nach einem kurzen Aufenthalt in den USA ging sie nach Europa zurück, um sich in England der Befreiungsarmee unter Charles de Gaulle anzuschließen. Sie starb an willentlicher Unterernährung.

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LIEBER IN DER ALS IM EXIL.

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Seit 26 Jahrhunderten lebt diese rebellische Stadt zwischen den Polen Wohlstand und Desillusionierung. Ein außergewöhnliches Beispiel für die Beständigkeit des Vorübergehenden. Von der Geschichte des Transits, der Migration, des Hin und Her und der Vermischung gezeichnet. In dieser Stadt schreibt sich der Reisende in eine uralte Geschichte des Exils ein und lebt zwischen Welten und Kulturen. An diesem immer noch geheimnisvollen und unübersichtlichen Ort, der Brücken zwischen Europa, Amerika und Afrika schlägt, wollen wir die Spuren der Zeit sichern. Sie zeigen sich hier nicht an Gebäuden oder Denkmälern, sondern in den Augen derer, die durch Marseille hindurchgegangen sind.

EXILPLAN CHRONIK


Die erste Station ist immer Marseille, ein

die Canebière. Die strahlende Sonne wärmte

ziemlich bedeutender Hafen am anderen Ufer

ihm den Leib, die Sterne glichen denen

des Mittelmeers. Er fand hier niemanden,

da drüben, wo er herkam. Und da fühlte

kannte niemanden und niemand kannte ihn.

er sich endlich angekommen. Er machte

Nein, sagte er sich, ich muss meinen Weg

Zufallsbekanntschaften von Männern, die,

fortsetzen. Er nahm also Kurs auf Grenoble,

wie er, arabisch sprachen. Er tauschte mit

wo er auf die Hilfe entfernter Bekannter

ihnen Neuigkeiten aus seiner Heimat aus.

hoffte. Dort überall Schnee, und deshalb

Er ging nun auch in arabische Geschäfte,

hielt es ihn nur für kurze Zeit in diesem

in arabische Cafés und machte sich mit

merkwürdigen

Die

allem Arabischen bekannt. Seine Stimmung

weiße Saison war noch nicht vorbei, als er

wurde besser, er erholte sich von seinen

Mourhad, seinem neuen Freund, erklärte: ich

Depressionen. Und diese noble Unbekannte,

gehe nach Marseille zurück, und zwar heute

mit dem sanften Namen Marseille, hatte ihren

noch. Und dieses zweite Mal entdeckte er

Teil daran.

winterkalten

Gebirge.

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eit 2007 beschäftigen wir uns im Rahmen des deutsch-französischen Multimediaprojekts EXILPLAN in Marseille nicht nur mit der Erinnerung an das Exil der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts aus Deutschland vertriebenen Künstler und Intellektuellen. Von dieser Geschichte ausgehend fragen wir uns, was es heute für zahlreiche Menschen bedeutet, ihre Heimat freiwillig oder gezwungenermaßen zu verlassen und gehen ihrem Leben in Marseille auf die Spur.

Æ Migreurop – Observatoire des frontières

Maurice Lemoine North Side Story

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Europäisches und afrikanisches Netzwerk, in dem sich Aktivisten und Soziologen dafür einsetzen, den fortschreitenden und von der EU gezielt geförderten Ausschluss von Ausländern sowie die Ausweitung des Lagersystems bekannt zu machen und etwas dagegen zu unternehmen.

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CHRONIK DES KUNSTPROJEKTS EXILPLAN 2007 – 2013 SOMMER 2007

APRIL / JUNI 2008

Deutsche und französische Jugendliche gingen zum Abschluss eines EXILPLAN-Workshops in Marseille erstmals auf die Straße und traten mit Passanten im Belsunce-Viertel in einen spielerischen Dialog über die Herkunft von Wörtern, Dingen und Menschen.

Im Mittelpunkt des fünftägigen Workshops in Marseille, an dem über 20 deutsche und französische Jugendliche (Schüler/innen und Student/innen) und junge Künstler/innen teilnahmen, stand die Realisierung mehrerer künstlerischer Straßenaktionen. Weiterhin entstanden Foto- und Videoinstallationen, Objekt-Bücher, imaginäre Stadtpläne, ein Kartenspiel, Exil-Koffer und Texte, die im Juni 2008 in Hamburg ausgestellt wurden.

Æ  Video der Aktion

Æ  Videos I – V

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FEBRUAR 2009 10 französische Jugendliche und KünstlerInnen trafen sich mit Schüler/innen und Künstler/innen in Berlin. Neben zahlreichen Begegnungen der französischen Jugendlichen mit ihren Berliner Korrespondenten stand die gemeinsame kreative Auseinandersetzung mit den Themen Exil, Aus- und Einwanderung, Leben in der Fremde im Vordergrund. Es wurden in Berlin unter anderem die Spuren des französischen Einwanderers und deutschsprachigen Dichters Adelbert von Chamisso, der Revolutionäre Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, der Kreuzberger Jugend- und Kulturszene, der Mauer und der Stolpersteine gesichert. Im Februar 2009 zeichnete Radio Grenouille den Æ  Exil-Rundgang mit Sabine Günther auf. Æ  Video Æ  www.tell-me-tours.com

JULI 2009 Deutsche und französische Jugendliche nahmen in Marseille an einem EXILPLAN-Workshop teil, in dem es vorrangig ums Fotografieren der letzten noch vorhandenen Einwandererhotels im Belsunce-Viertel, ums literarische Porträtieren und ums Fotografieren von Graffitis und Pochoirs ging. Am letzten Tag des Workshops diskutierten wir mit Jessica Cohen (damals Koordinatorin der Stolpersteinverlegungen in Frankreich) über unser Projekt einer Stolpersteinverlegung in Marseille und führten am Bahnhof Saint Charles ein Happening mit Pochoirs berühmter Exilanten und selbstgebastelten Bild-/Texttafeln durch, die wir anschließend als » Sandwichmen « durch die Innenstadt trugen. Æ  Fotogalerie

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Weitere Highlights der Workshopwoche waren die Begegnung mit dem Performance-Künstler und Dichter Julien Blaine im Musée d’Art Contemporain und die Einweihung einer interaktiven Schnitzeljagd in Sanary-surMer Æ  III zu den Häusern der Exilschriftsteller.

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OKTOBER 2009 Im Rahmen unseres zusammen mit La Ménagerie initiierten deutsch-französischen Theaterpojekts Entre 2 chaises / Zwischen 2 Stühlen fand in Marseille eine deutschfranzösische Theaterschreibwerkstatt statt. Sechs gerade in Marseille angekommene Jugendliche und sieben deutsche Jugendliche mit Migrationshintergrund schrieben gemeinsam Texte über ihre zwischen-kulturellen Erfahrungen. Daraus ging der Theatertext Entre 2 chaises von Marine Vassort hervor, der im Juli 2010 von der Theatertruppe La Ménagerie im Centre Français in Berlin uraufgeführt wurde.

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Æ  Video Æ  Buch

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FEBRUAR 2010 UND FEBRUAR 2013 Wir führten in Marseille im Rahmen des Grundtvig-Europaprogramms für lebenslanges Lernen ThemenWerkstätten zur künstlerischen Bearbeitung des Exilthemas durch.

JULI 2010 Zwanzig junge Erwachsene aus Deutschland und Frankreich setzten sich in Marseille mit imaginären Karten und der multimedialen Darstellung von Tagesereignissen und Geschichte auseinander. Zum Abschluss des Workshops wurden unter dem Titel Ma pierre dans le Panier die ersten Stolpersteine in Frankreich als Kunstaktion » verlegt «. Æ  Materialmappe des Grundtvig-Ateliers 2010 und Æ  Materialmappe 2013 Happening La Ligne jaune, Æ  unter Leitung von Antonella Fiori, 2010 Video

Videos Æ  Passage & Co. – Abendshow Æ  Lesung von Workshoptexten Interview mit der Autorin Marine Vassort Æ

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JUNI / SEPTEMBER 2011 / JUNI 2012 Begegnung mit Damien Taillard, der Schallplatten mit Musik aus dem Belsunce-Viertel sammelt.

Schüler/innen aus Hamburg und Berlin, Student/innen aus Berlin nahmen in Marseille an deutsch-französischen EXILPLANWorkshops teil, in denen der künstlerische Ansatz des Projekts mit Unterstützung von Künstler/innen weiterentwickelt wurde.

Æ Phocéephone

2013 Das Jahr der europäischen Kulturhauptstadt MarseilleProvence bot die Gelegenheit, das Exilplan-Projekt zahlreichen Marseille-Besuchern aus dem In- und Ausland im Rahmen der von Sabine Günther angebotenen Literaturrundgänge vorzustellen. Im Oktober 2013 erarbeiteten wir eine interaktive Projektdokumentation in Form eines eBooks, mit dem das sechsjährige künstlerische Experiment einer deutsch-französischen Auseinandersetzung mit den Themen Exil und Migration zu seinem vorläufigen Abschluss kam.

unten: Gespräch mit Ulrich Fuchs, dem künstlerischen Direktor der europäischen Kultur-hauptstadt MarseilleProvence 2013

Æ  Foto/Text-Dokumentation zur Projektgeschichte

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DAS HERAUSGEBER-KOLLEKTIV STELLT SICH VOR Das vorliegende eBook zum EXILPLAN-Projekt entstand im Oktober 2013 in Marseille. Es wurde von Sabine Günther inhaltlich konzipiert, von Oliver Schmoi graphisch umgesetzt und von Sarah Raquillet ins Französische übersetzt.

Sabine Günther Marseille/Berlin Autorin, Literaturkritikerin, Kulturmanagerin Sabine Günther ist Projektverantwortliche des seit 1996 in Marseille ansässigen Vereins für deutsch-französischen Kulturaustausch Passage & Co. Im Namen des Vereins initiiert und leitet sie Künstlerprojekte (Nord-Süd-Passage, Exilplan), deutsch-französische Kreativwerkstätten, europäische Weiterbildungsseminare, Kulturreisen und literarische Rundgänge.

Sarah Raquillet Berlin Kulturmanagerin, Übersetzerin Sarah Raquillet arbeitet seit September 2012 als Kulturmanagerin und Übersetzerin in Berlin. Seit Juli 2013 betreut sie die Öffentlichkeitsarbeit des Vereins Passage & Co. in Berlin. Sie nahm an der Vorbereitung des Exilplan-Projekts teil und übersetzte das eBook ins Französische.

Oliver Schmoi Berlin Grafikdesigner Oliver Schmoi studiert Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Potsdam. Er gestaltete das eBook.

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IMPRESSUM EXILPLAN – projekteigene Fotos und Videos

Die Fotos Æ  Flickr und Videos Æ  Vimeo aus dem EXILPLANProjekt sind in Web-Sammlungen zusammengefasst. Quellen des Fotomaterials Die Fotos zur Illustration stammen aus öffentlich zugänglichen Fotoarchiven im Internet. Die Benutzung des aus dem Internet stammenden Fotomaterials dient keinem kommerziellen Zweck.

Passage & Co. Sabine Günther / Projektleitung 109, Chemin de la Porte rouge F – 13530 TRETS Tel. 0033 (0) 4 42 29 34 05 E-Mail passage.co@gmail.com

Das eBook wurde im Auftrag von Passage & Co. im OktoberNovember 2013 in Marseille und Berlin in deutscher und französischer Sprache hergestellt und auf der Webseite Æ  www.exilplan.com veröffentlicht. Der Inhalt des als pdf-Datei lesbaren eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Das Herunterladen des eBooks ist nur auf Anfrage möglich.

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DANKSAGUNGEN Am deutsch-französischen Kunstprojekt EXILPLAN arbeiteten zwischen 2007 und 2013 über 150 deutsche und französische Jugendliche, junge Erwachsene und Künstler/innen mit. Die Workshopteilnehmer/innen trugen mit Fotos, Filmen, Karten, Texten, Kunstobjekten und Straßenaktionen nicht nur zum Gelingen des Projekts bei, sondern waren auch dessen Haupt-Akteure. Wir bedanken uns besonders beim Hamburger Waldörfer Gymnasium für die mehrjährige fruchtbare Zusammenarbeit, die zu Projektpräsentationen und Workshops in Hamburg und Berlin führte. Weiterhin arbeiteten wir mit der KöniginLuise-Stiftung, dem Werner-von-Siemens-Gymnasium, der Leibniz-Schule und der Beethoven-Schule in Berlin, dem Fachbereich für Europäische Ethnologie an der Berliner Humboldt-Universität und dem Germanistischen Institut der Universität Aix-Marseille zusammen.

Zahlreiche Künstler/innen folgten unserer Einladung und gestalteten Workshops, aus denen teilweise eigene künstlerische Arbeiten hervorgingen: Pilar Arcilar, Eric Cartier, Antonella Fiori, Dorothée Volut, Marine Vassort, Nicolas Facenda, Paula Bonneaud, Gesa Matthies, Michèle Sainte-Beuve, Marc Seestaedt, Stéphanie Marini, Clément Carvin, Catherine Ricoul, Fleur Duverney-Prêt, Damien Taillard, Valérie Mitard, Martin Flament, Guillaume l’Hôte, Marie Rotkopf, Guillaume Fayard

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DANKSAGUNGEN Das EXILPLAN-Projekt wäre ohne die tatkräftige Unterstützung zahlreicher Praktikant/innen nicht denkbar gewesen: Nina Pollard, Aïda Benhadid, Tugba Ural, Rebecca Dovergne, Benedikt Frantz, Mieke Timm, Lara Samuel, Lina Pelz, Kerstin Pätzold, Dana Lupu, Thea Göhring, Laurianne Gobillard, Martina Arnold, Levent Özdil, Nicola Martin, Sabine Ohlenbusch, Veronika Metzger, Jérôme Babize, Camille Saraben Wir bedanken uns für die großzügige finanzielle Unterstützung, die wir ab 2007 kontinuierlich vom DeutschFranzösischen Jugendwerk erhielten! Weiterhin wurden wir unterstützt von der Robert-BoschStiftung, der Alfred Toepfer Stiftung und der Europäischen Kommission im Rahmen des Grundtvig-Programms für lebenslanges Lernen. Für die kollektive Erarbeitung des Theatertextes Entre 2 chaises erhielten wir finanzielle Unterstützung von Seiten der Direction Régionale des Affaires culturelles PACA, im Rahmen des Programms Identités Parcours & Mémoire (IPM, Marseille).

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