Corona Tagebuch 6

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CORONA

TAGEBUCH 23.04.20 bis 29.04.20

von Sepp Laner


CORONA TAGEBUCH 6


CORONA TAGEBUCH 6

DIE MASKE

UND DER MAULKORB

A

n Donnerstagen brauche ich keinen Wecker. Ich stelle ihn zwar immer am Abend zuvor ein, schalte ihn aber in der Früh aus, bevor er abgeht. Es sind die Müllwagen, die mich immer donnerstags zeitig in der Früh wecken, wenn sie durch die Fußgängerzone fahren und an den Sammelstellen die Kübel leerschütteln. Zuerst die schwarzen, dann die grünen. Wir haben heute also wieder einen Donnerstag, einen weiteren Corona-Donnerstag. Heute ist auch der Welttag des Buches. Gelesen wird in Corona-Zeiten angeblich viel. Telefoniert und gewhatsappt auch. Vielleicht wird in Zukunft auch ein internationaler WhatsApp-Tag eingeführt. Ich hätte nichts dagegen, denn das kostenlose, internetbasierte Telefonieren über WhatsApp ist seit dem Beginn der Corona-Zeit der tägliche Höhepunkt meiner Corona-Beschäftigungen. Mindestens eine Stunde pro Tag hänge ich mit meiner Frau an der virtuellen Strippe. Ihr Rückflug aus Brasilien war für Ende März geplant, wurde dann aber wegen Corona zweimal verschoben. Ende Mai soll es nun endlich klappen. Als ich ihr am 10. März mitteilte, dass ganz Italien Corona-Sperrzone ist und dass es jetzt untersagt sei, einander die Hand zu geben, auf die Wange zu küssen oder zu umarmen, meinte sie - mehr im Scherz - dass das nicht so schlimm sei, „denn ihr umarmt euch ohnehin selten. Viele von euch verstehen nicht, wie wichtig eine Umarmung sein kann.“ Dabei habe „um abraço forte“ heilende Wirkung. In der Zwischenzeit lebt auch der Großteil der Brasilianer über einen Monat ohne „abraço“ und ohne „bejo“. Nicht aber, weil ihr verrückter Präsident landesweit Einschränkungen verfügt hätte, sondern weil der Großteil der Menschen selbst verstanden hat, dass die soziale Distanz derzeit das einzige Mittel ist, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Der erste Coronavirus-Fall in Brasilien wurde am 26. Februar gemeldet. Nach Südamerika „importiert“ hatte das Virus ein 61-jähriger Mann, der sich kurz zuvor in der Lombardei aufgehalten hatte. Zum Stichtag 22. April, also gestern, belief sich die Zahl der Infizierten in Brasilien auf weit über 45.000 und jene der Todesfälle

auf fast 3.000. Die schrecklichen Corona-Bilder aus Italien, Spanien, Frankreich und anderen Ländern flimmerten auch in Brasilien über die Bildschirme. Ähnliche und zum Teil noch schlimmere Bilder gibt es jetzt auch in Brasilien selbst. Besonders betroffen sind unter anderem die vielen Armenviertel, wo Millionen von Menschen auf engstem Raum zusammenleben. In den am schlimmsten betroffenen Gebieten sind die Krankenhäuser überlastet. Infizierte Personen, unter denen sich auch junge Menschen befinden, können nicht mehr aufgenommen und behandelt werden, weil die wenigen Atmungsgeräte längst alle besetzt sind und zusätzliche nicht geliefert werden. Auch sonst fehlt es so gut wie an allem. Selbst den Bundesstaat TAG Amazonas und sogar die indigenen Gemeinschaften hat das Coronavirus schon längst erreicht. Der Präsident Bolsonaro, der das Coronavirus mehrmals als „kleine Grippe“ abtat, hat sich gewaltig 23.04.20 geirrt. Dasselbe kann man auch von seinem US-Amtskollegen Trump behaupten. Erinnern Sie sich noch, wie Trump vor einigen Wochen gesagt hat, dass das Virus verschwinden werde, sobald es wärmer wird? In Manaus zum Beispiel werden derzeit bis zu 30 Grad und mehr gemessen und das Virus grassiert munter weiter. Noch munterer weiter geht im Amazonas die Abholzung des Regenwaldes. Besonders jetzt, im Schatten von Corona, wenn fast niemand mehr hinschaut. Nun aber wieder zurück vom Amazonas zum Schlandraunbach. Auf der Höhe des Krankenhauses wird das Rauschen des Bachs zunehmend leiser. Und wenn man genau hinhört, kann man manchmal das Schreien von Blauen Pfauen hören, die am Hof des Struzer Leo ihre Räder schlagen. Die Pfauen brauchen keinen Mundschutz. „Die Hunde auch nicht, jetzt sind wir es, die einen Maulkorb tragen müssen“, meint eine Frau, die mit ihrem Vierbeiner vorbeispaziert.

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„MASCHGERA GIAN“ „Jetzt müssen wir halt für einige Zeit ‚Mascherga gian’“. Das sagt mir heute am Morgen eine Frau, die zum Einkaufen geht. Sie trägt eine selbstgenähte Mund- und Nasenmaske und Handschuhe, „die ich früher auch bei der Arbeit benutzte und die noch immer gute Dienste leisten.“ Mit den hauchdünnen Plastikhandschuhen, wie man sie im Laden bekommt, könne sie wenig anfangen. Resigniert gibt sich die Frau wegen der Corona-Geschichte nicht. Es werde schon wieder alles gut werden, sagt sie, und bahnt sich auf der Straße an Arbeitern vorbei, die mit Grabungsarbeiten beschäftigt sind und die ihre Masken zum Großteil nur um den Hals tragen. Auf das Tragen von Masken werden wir uns wohl für längere Zeit einstellen müssen. Vor allem, wenn wir aus dem Haus gehen, uns im öffentlichem Raum aufhalten, Geschäfte betreten und Bus, Bahn oder Seilbahn benutzen. Und natürlich auch, wenn wir in ein Gasthaus gehen oder zum Friseur. „Bis die Gastbetriebe tatsächlich öffnen können, werden noch einige Wochen vergehen“, mutmaßt ein Gastwirt, der soeben die Zeitung kauft. Es bringe wenig, vorschnelle Hoffnungen zu wecken. Der Druck wachse indessen Tag für Tag. Der Druck steigt mittlerweile in allen Bereichen. Auch der Druck auf die Politik. Alle fordern, alle wollen, allen flehen. Täglich stärker wird auch der Drang nach der „alten“ Freiheit. Der Großteil der Bevölkerung zieht es offensichtlich vor, Mund- und Nasenmasken zu tragen sowie die soziale Distanz und weitere Regeln zu beachten, anstatt noch länger eingesperrt zu bleiben mit allen damit verbundenen Belastungen. Worauf alle hoffen, ist natürlich ein Impfstoff. Je früher ein solcher entwickelt und auf den Markt gebracht werden kann, desto kürzer dürfte

die Masken-Phase ausfallen. Dass die Impfgegner dieses Mal lauthals auf die Straßen gehen werden, wage ich zu bezweifeln. Viel wichtiger ist es, dass der Impfstoff, sobald er einmal da ist, allen Menschen auf der Welt zu gleichen Bedingungen zugänglich gemacht wird und dass ärmere Länder nicht auch in diesem Punkt erneut durch den Rost fallen. Gerade die Corona-Krise zeigt, dass die gesamte Weltgemeinschaft gefordert ist, um Situationen wie diese einigermaßen in den Griff zu bekommen. Politische Aufrufe dieser Art verhallen aber leider oft ungehört. Dasselbe gilt auch für die eindringlichen Appelle des Papstes, der nicht müde wird, zum Beispiel für einen weltweiten Waffenstillstand einzutreten. Ein dauerhafter Weltfriede ist immer noch das Ziel, das sich Diplomaten aus 50 Ländern vor genau 75 Jahren beim Auftakt der GrünTAG dungsversammlung der Vereinten Nationen auf die Fahne geschrieben haben. Derzeit gehören der UNO 193 Staaten an. Wenn es aber wirklich hart auf hart geht - wie es derzeit bei der 24.04.20 Corona-Krise der Fall ist - scheint mir diese Staatengemeinschaft ein bisschen wie eine Schachtel ohne Inhalt zu sein, eine Maske, die nicht wirklich schützt und hilft.

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VIELES HÄNGT DERZEIT

IN DER LUFT.

FOTO: SEPP


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GESCHOREN UND MARKIERT

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ieder geöffnet. Pralinen im Angebot. Diese „süßen“ Hinweise leuchten mir von einem Plakat entgegen, das hinter dem Schaufenster des Tee-Shops in der Fußgängerzone hängt. Mich überkommt die Lust auf Süßes. Heute muss ich aber verzichten, weil das Geschäft geschlossen ist. Es ist Feiertag, der Tag der Befreiung. Heute ist es fast noch ruhiger und stiller wie an einem normalen Corona-Sonntag. Der italienische Nationalfeiertag am 25. April symbolisiert das erfolgreiche Ende des Kampfes gegen Faschismus und Nationalsozialismus. Der Gedenktag kann heuer wegen der ganzen Corona-Geschichte zwar nur stark eingeschränkt begangen werden, aber das Wachhalten der Erinnerung an die unbeschreiblichen Gräueltaten der faschistischen und nationalsozialistischen Regierungen ist notwendiger denn je. Man braucht sich nur anzuschauen, wie der Rechtsextremismus in vielen Ländern wieder zunehmend an Boden gewinnt. In Deutschland zum Beispiel, aber nicht nur. Sogar die Corona-Krise wird benutzt, um in sozialen Netzwerken rechtsradikale und menschenverachtende Botschaften zu streuen. Es liegt an uns allen, die Fühler ausgestreckt zu halten und mutig gegenzusteuern. Immer und überall. – An der Mauer gegenüber dem Tee-Shop hängen in „normalen“ Zeiten immer viele Plakate, auf denen Fußballspiele, Lesungen, Konzerte, Feste und weitere Veranstaltungen angekündigt werden. Heute sehe ich dort nur zwei Plakate. Eines in deutscher und

eines in italienischer Sprache. Die Botschaft ist dieselbe: „Gegen Gewalt an Frauen – Wehrt euch. ES GIBT HILFE!“ Auch Telefonnummern von Stellen, an die man sich wenden kann, sind angeführt. Etwas weiter zu meiner Linken steht ein Zigarettenautomat. Ich berühre - aus purer Neugier - die Schaltfläche. Dreimal schreit mir der Automat nach: „Scrollen Sie nach oben.“ Beim letzten „Aufruf“ biege ich schon bei der Spitalkirche links ab. Es geht hinauf auf die Gröbmmauer. Wo die Mauer endet, führt eine Holzbrücke über den Schlandraunbach. Auf der Priel-Wiese gegenüber der Gröbmmauer grasen Schafe. Ziemlich einige. Auch etliche Lämmer sind dabei. Vor drei Tagen TAG habe ich die Schafe noch in voller Wolle gesehen. Jetzt sind sie geschoren und mit Farben markiert. In spätestens eineinhalb Monaten werden sie auf irgendeiner Alm sein. 25.04.20 Die „Sehnsucht“ nach der Sommerweide ist manchen Muttertieren schon jetzt anzumerken. Wie der Sommer für uns Menschen heuer sein wird, weiß niemand genau, obwohl uns das Virus bereits ganz schön „geschoren“ hat, und auch „markiert“. Nicht mit Farben, sondern Masken.

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UM DEN FOTOAPPARAT

VOR IHRER NASE SCHERT SICH DIESE KATZE NICHT. IHR INTERESSE GILT DEM HUND, DER SICH AUS DER FERNE NÄHERT. FOTO: SEPP


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POLITIK

IM KULTURHAUS

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eute beginne ich mit gestern. Es war kurz vor 19 Uhr, als ich durch das offene Fenster ein sonderbares Geräusch hörte. Es war nicht laut, sondern eher ein dumpfes, gleichmäßiges Dröhnen. Ich eile auf den Balkon und schaue in den Himmel: tatsächlich, ein Flugzeug. Ein weißer Punkt zwischen weißen Wolken mit einem langen, weißen Schweif im Schlepptau. Die Flugrichtung dürfte Südosten sein. Genau kann ich es nicht sagen. Von wo kommt das Flugzeug her und wo fliegt es hin? Ich weiß es nicht. Hat es Passagiere an Bord oder transportiert es Atmungsgeräte und Schutzmaterial? Auch das weiß ich nicht. Fast genau 12 Stunden nach der Sichtung des Flugzeugs stehe ich wieder auf dem Balkon. Es ist bald 7 Uhr. Ein neuer Corona-Sonntag beginnt. Im Dorf wohnt die Stille. Nur der eine oder andere Spaziergänger steht maskiert vor den Auslagen der Geschäfte. Schauen, was es Neues gibt, und schauen, wieviel es kosten täte. Dass es zunächst noch abzuwarten gilt, wissen alle. Abwarten, bis die Politik endlich klar sagt, was zu welchem Zeitpunkt hochgefahren werden darf. Die Begriffe des Hochund Runterfahrens erinnern mich immer ein wenig an die Arbeit eines Diskjockeys am Mischpult: alle Töne runter, einen etwas rauf, den anderen noch mehr, jenen ein bisschen runter und jetzt fast alle rauf, aber nicht ganz. Das Publikum reagiert entsprechend. Es wird dirigiert und richtet sich nach dem Tun des Diskjockeys. Die CoronaMusik wird von den Politikern gemacht, die sich ihrerseits auf die „CD’s“ von Experten und Wissenschaftlern verlassen, sofern sie nicht beratungsresistent sind. Zum vollen Durchbruch haben es in relativ kurzer Zeit auch die englischen Begriffe Lockdown oder Shutdown gebracht. Auch wer kein Freund von Fremdwörtern ist, weiß inzwischen, dass es etwas mit Abriegelung, Ausgangssperre, Stilllegung, Abschaltung und Quarantäne zu tun hat. Wenn sich die Politik jetzt dazu entschließt, die verschiedenen „Musiktöne“ nach und nach hochzu-

fahren, ist das mit der Arbeit des Diskjockeys nur bedingt vergleichbar. Während der DJ damit rechnen kann, dass das Publikum auf sein Tun reagiert, verhält es sich beim Mischpult der Politik anders. So dürfte es mitunter schwer werden, etwas hochzufahren, was es zum Teil schon gar nicht mehr gibt. Apropos Politik 1: ist das Gehalt der Volksvertreter seit dem Ausbruch des Coronavirus eigentlich dasselbe geblieben? Ich vermute ja. Apropos Politik 2: nachdem seit fast zwei Monaten keine Einladungen mehr zu irgendwelchen Terminen oder Veranstaltungen in der Redaktion eingetroffen sind, hat sich das nun - zum Glück - geändert. An gleich zwei Abenden finden TAG am 29. und 30. April Gemeinderatssitzungen statt, einmal in Laas und einmal in Schlanders. Zu den Besonderheiten gehören die Orte der Sitzungen. In Laas ist es das Josefshaus, in 26.04.20 Schlanders das Kulturhaus. Das Coronavirus braucht Platz.

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BLEIBT GESUND! CORONA TAGEBUCH 6

#ichbleibezuhause

Der nächste

der Vinschger erscheint am: 6. MAI 2020

AKTUELLE NEWS: www.dervinschger.it


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MIT 500 LIRE AUF DIE AUTOBAHN

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ie Wiesen, Felder und Wälder dürsten nach Wasser. Schon seit vielen Wochen. Die Menschen lechzen nach Freiheit. Schon seit vielen Wochen. Heute am Morgen sieht es danach aus, als würde es in nächster Zeit tatsächlich regnen. Für die Freiheit der Menschen hingegen scheint es vorerst noch weitgehend „trocken“ zu bleiben. Jedenfalls jetzt noch. Der Detailhandel soll italienweit am 18. Mai öffnen, Bars und Restaurants erst in 5 Wochen. Vorausgesetzt wird, dass sich die Corona-Zahlen nicht verschlechtern und die Vorsichtsmaßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden. Also Abstand, Maske usw. Auch die Haare müssen voraussichtlich bis zum 1. Juni weiterwachsen. Dem einen oder andern dürften bis dahin ein paar Haare ausgefallen sein, Friseure nicht ausgenommen. In Südtirol gelten ab heute zwar einige zusätzliche Lockerungen - etwa das Radfahren auf Radwegen, das Joggen, die Möglichkeit für Gastbetriebe, Mahlzeiten zum Mitnehmen anzubieten und andere Lockerungen mehr -, aber der große Wurf ist das noch lange nicht. Die Kritik aus Südtirol, wonach die Regierung Conte die Lockerungen der Corona-Schraube zu spät und zu zaghaft auf den Weg bringt, ist sicher nicht unberechtigt. Wahr ist auch, dass die Regierung zu zentralistisch vorgeht und den Regionen bzw. Autonomen Ländern so gut wie keine Entscheidungsbefugnisse einräumt. Alle und alles über einen Kamm scheren, geht nie gut. Auch nicht im Fall der derzeitigen Corona-Krise. Ein Vorstadtviertel in Rom ist eben nicht dasselbe wie ein Tal in einem Berggebiet oder ein Kleindorf auf einer Insel. Wenn bestimmte Regionen und Provinzen imstande sind, die Corona-Schraube schneller und besser zu lockern als andere, ohne dabei Gefahr zu laufen, eine zweite Infektionswelle in Gang zu bringen, müsste ihnen diese Möglichkeit eingeräumt werden. Dass im Notfall wieder sofort zurückgerudert werden müsste, liegt auf

der Hand. So oder so ähnlich äußern sich auch einige Geschäftsleute und Bürger, die ich in der Fußgängerzone treffe. Manche sperren ihre Läden nur deshalb auf, um nach dem Rechten zu sehen oder zu putzen. Die derzeitigen Corona-Wochen sind für alle schon längst viel zu lang. Für die Kinder, die Eltern, die mittlerweile „arbeitswütigen“ Unternehmer und Arbeiter und nicht zuletzt für die „eingesperrten“ Bewohner der Wohn- und Pflegeheime. Alles brennt nach Freiheit. Nach der Freiheit, wie es sie vor Corona gab. Die „große Freiheit“ war das aber auch nicht. Ich jedenfalls hatte von der „großen Freiheit“ immer eine andere Vorstellung. Als wir noch jung waren, TAG träumten wir von einer anderen Freiheit. Nicht von einer, wie wir sie bis zum Ausbruch des Coronavirus kannten, sondern von einer, wie wir sie eigentlich nie wirklich gefun27.04.20 den haben. Versucht haben wir es aber immer wieder. Damals zum Beispiel, als uns urplötzlich in den Kopf schoss, kurzerhand abzuhauen. Einfach weg. Zu dritt in einem alten gelben Opel auf die Autobahn. Mit einem fast leeren Tank und 500 Lire in den Hosentaschen.

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TIERISCHE ZWEISAMKEIT

ZWISCHEN ZWEI APFELBAUMREIHEN. FOTO: SEPP


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TRÜB

UND HEITER

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rübsal blasen ist eigentlich nicht mein Hobby. Heute in der Früh aber muss ich eine Ausnahme machen. Es ist wohl das trübe Wetter, das mich etwas grau stimmt. Wenn mindestens ordentlich Wasser vom Himmel käme. Trüb ist auch das Kalender-Blatt an der Wand. Ich habe so langsam die Schnauze voll vom abgebildeten Kunstwerk, das eine „verschwommene“ Frau darstellt. Keine klaren Umrisse, keine Schärfe. Schon seit dem 1. April starrt mich dieses Bild an. Es wird jeden Tag trüber. In zwei Tagen aber wird sich das Blatt wenden. Dann ist der 1. Mai. Der Tag der Arbeit. Heuer wohl eher der Tag der Nicht-Arbeit. Und am 10. Mai ist Muttertag. Eine junge Mutter treffe ich auf der Straße. Sie ist Lehrerin. Und sie macht ihrem Ärger Luft: „Was viele Frauen seit dem Beginn der Quarantäne zwischen Beruf, Familie und Kindern leisten und meistern müssen, stößt so langsam an die Grenzen.“ Nicht unbedingt fröhlich wirkt auch ein Pensionist mit einer übergroßen Maske. Erst beim näheren Hinschauen und nach einem Gruß erkenne ich ihn. Die Quarantäne hat ihm ganz schön zugesetzt. Von der Anzahl der Tage her müsste man ein neues Wort erfinden, denn 40 (quaranta) Tage sind schon längst vorbei. Was halten Sie von Quintäne oder Sestäne? Seit man wieder einigermaßen frei in der Natur unterwegs sein darf, sind auf Steigen und Wanderwegen außergewöhnlich viele „QuarantäneFlüchtlinge“ anzutreffen. Nicht etwa Gäste, sondern Einheimische. „Hier oben sind jetzt viele Leute zu sehen. Manche kommen schon in den frühen Morgenstunden herauf“, erzählte mir vorgestern ein junger Bio-Bauer auf Schlandersberg. Nicht wenigen Menschen, die während der Corona-Wochen zu Fuß aus ihren eigenen vier Wänden ausreißen, dürfte erst jetzt so richtig bewusst werden, wie schön doch das Fleckchen Erde ist, auf dem wir leben dürfen. Vor allem, wenn man das menschliche Treiben - dem das Coronavirus einen saftigen Dämpfer verpasst hat - ein Stück

weit hinter sich zurücklässt. Ich wage es kaum zu sagen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass uns Hand in Hand mit dem Wiederaufflackern des gewohnten Arbeits- und Alltagslebens etwas verloren gehen wird, das wir erst während der Corona-Zeit neu entdeckt und erlebt haben. Es ist etwas, das mit Ruhe zu tun hat, mit Stille, Demut und auch mit mehr Menschlichkeit und Gemeinschaftssinn. Ich glaube, dass viele Menschen einander etwas näher gekommen sind und dass so manche Nachbarn einander besser oder gar zum ersten Mal richtig kennengelernt haben. Der heutige Dienstag geht für mich persönlich auch deshalb als heiter in die Geschichte ein, TAG weil ich seit dem 11. März zum ersten Mal wieder einen „halböffentlichen“ Macchiato getrunken, Pardon abgeholt habe. Beim Ludi im Cafe Stainer. „Halböffentlich“ des28.04.20 halb, weil der Macchiato und alles andere vorerst nur im Take-away-Modus angeboten werden kann oder auf die to-go-Art, um es in einem noch besseren Deutsch auszudrücken. Gemeint ist immer dasselbe: Sie bekommen den Kaffee in einem Becher zum Mitnehmen und dürfen ihn nicht vor Ort trinken. Das Fazit von Ludi: „Ich bin froh, dass die Leute kommen und ich bin froh, dass sie wieder gehen, denn bleiben dürfen sie nicht.“ Übrigens: teurer geworden ist der Macchiato nicht.

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„WENN SCHON, DANN NUR ALS SPIDERMAN“, HATTE SICH DIESER JUNGE MANN GEDACHT. DIE MUTTER KAM SEINEM WUNSCH NACH. FOTO: SEPP


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DIE ERSTEN METER

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in sanfter Schubs der Mutter und ab geht die Post. Nach ein paar Metern ist die erste, völlig selbstständige Fahrradfahrt zwar schon zu Ende, aber für das kleine Mädchen ist es ein gewaltiges Erfolgserlebnis. Ich sehe es im Glanz der kleinen Augen, die unter dem rosafarbenen Helm hervorlachen. Das Mädchen hat es geschafft. Ganz allein und ohne Seitenräder. Ich bin überzeugt, dass dem Mädchen diese ersten Meter stärker in Erinnerung bleiben werden, als die Zeit, während sie das Radfahren gelernt hat: die CoronaZeit. Für die „großen“ Menschen steht die Corona-Krise seit Wochen im Mittelpunkt des Denkens, Bangens und Handelns, ja des ganzen Lebens. Viele können nur schlecht oder überhaupt nicht schlafen. Existenzängste treibt sie um und die Ungewissheit, wie die Zukunft sein wird: Werde ich meinen Arbeitsplatz verlieren? Werden wieder Kunden in mein Geschäft kommen, wenn ich es endlich wieder aufmachen darf? Wird mir die Bank den Kredit gewähren, ohne den ich die nächsten Monate nicht über die Runden komme? Wer soll unsere Kinder betreuen, wenn wir wieder zur Arbeit gehen? Wird mir die Miete gestundet? Wann darf ich endlich wieder meine alte Mutter im Altersheim besuchen? Wir schaffe ich es, in unserer ohnehin kleinen Bar, den Abstand zwischen den wenigen Tischen einzuhalten? Werden wir weiterhin gesund bleiben? Wird es gelingen, eine zweite Infektionswelle zu verhindern? Werden im Sommer wieder Gäste kommen? Haben die Touristen überhaupt noch Geld für den Urlaub? - Etwas Hoffnung aufkommen lässt bei vielen Menschen das politische Streben nach einem Südtiroler Sonderweg während der „Phase 2“, also während des Zeitraums der schrittweisen Lockerungen der Corona-Schraube. Vor allem die Wirtschaft pocht auf ein möglichst rasches Hochfahren in mehreren Bereichen unter der Einhaltung strenger Sicherheitsvorkehrungen. Unabhängig davon, ob Rom dem

Land Südtirol und anderen Regionen bzw. Ländern freie Hand lässt oder nicht, bleibt die ganze Geschichte eine Gratwanderung. Denn wenn die Situation kippt, sprich die Infektionszahlen wieder ins Negative ausschlagen, heißt es sofort zurückrudern. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es besser ist, etwas länger zu warten und zu „leiden“, als etwas zu riskieren, was alle am meisten fürchten: eine zweite Welle, einen zweiten Lockdown, eine zweite Massenquarantäne. Welches Ende das Ganze genommen haben wird, wird unsere kleine Radfahrerin irgendwann in der Schule lernen. Sie wird sich schwer tun, die komischen Wörter Covid-19 oder Coronavirus SARS-CoV-2 zu verinnerlichen. TAG Auch die Zahlen der Toten wird sie sich nicht leicht merken. Und auch nicht die Geldsummen und Maßnahmen, die es weltweit brauchte, um das Virus zu besiegen und sich 29.04.20 nach der internationalen Wirtschaftskrise wieder einigermaßen aufzurappeln. Nie vergessen wird sie hingegen ihre ersten Meter auf dem Fahrrad.

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CORONA-VORSORGE. ZUHAUSE BLEIBEN, RUHE BEWAHREN! Bitte befolge die Hygiene- und Verhaltensregeln und nimm diese ernst. Das schützt dich und andere. 1M

WASCHE dir häufig die Hände.

Halte mindestens einen Meter ABSTAND zu anderen.

VERMEIDE Umarmungen und Händeschütteln.

BEDECKE beim Niesen oder Husten MUND und NASE.

FASSE dir NICHT an Augen, Nase oder Mund.

Mach TELEARBEIT oder nimm dir FREI.

GEH NUR DANN INS KRANKENHAUS, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

REINIGE OBERFLÄCHEN gründlich mit DESINFEKTIONSMITTELN auf Alkohol- oder Chlorbasis.

WICHTIGE VORSCHRIFTEN! Menschenansammlungen sind verboten. Eingeschränkte Bewegungsfreiheit: Das eigene Zuhause darf nur aus triftigen Gründen verlassen werden.

DU DENKST, DU BIST INFIZIERT?

BLEIB ZU HAUSE UND RUF DEINEN HAUSARZT AN. Für allgemeine Informationen zur Corona-Vorsorge kannst du dich an die Grüne Nummer 800 751 751 wendenn. Mehr Infos online unter provinz.bz.it/coronavirus


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