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Teil 1 unserer neuen Kurzgeschichte Hochwürdens Ende
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von Ralph D. Wienrich
Es wurde der 13. Juli 1563 geschrieben. Bischof Diego de Arnedo hatte gerade den Bau einer neuen Kirche angeordnet, als der Campesino Juan Serra Mestre in der kleinen, dem Abbruch geweihten Pfarrkirche zu Artà, Gott für seinen stillen Kampf gegen die Aristokraten und Großgrundbesitzern zu gewinnen suchte. Die Mächtigen dieses Pueblos residierten in ihren prächtigen Stadtpalästen Can Cardaix, Can Sureda, Can Ragala, Es Roco und Can Moragues. Sie kannten nur Ausbeutung und Unterdrückung. Mestre gehörte zu den ganz wenigen Bauern, die ihren Kopf zu gebrauchen in der Lage waren. Blinden Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, den Mächtigen, sowie dem Klerus, lehnte er temperamentvoll ab. In der Region von Artà, Sant Llorenç, Muro, Santa Margalida, Sa Pobla und Alcúdia musste der Knechtschaft endlich ein Ende gemacht werden, das schwere, traurige Schicksal nunmehr in die eigenen Hände genommen werden, um sich gegen Ausbeutung und Tyrannei zur Wehr zu setzen.
Auge um Auge... Die Zeit schien Juan und seinen verschworenen Freunden günstig, machten doch schon über Monate türkische und maurische Piraten weite Teile der Insel unsicher. Gott sollte wissen, dass er mit seiner heimlich gegründeten Bruderschaft „Ses Paises“ dem herrschenden Adel und dem mächtigen Klerus in dieser Region ab sofort nach dem Leben trachten werde. Gott war nicht mehr auf der Seite der Campesinos. Juan beschlich überdies die böse Ahnung, dass ihr Beichtgeheimnis nicht mehr gewahrt werde. Das tragische Schicksal seines Cousins in Muro war für ihn trauriger Beweis genug! In Muro musste der Cousin drei Tage nach seiner Beichte bei Don Fernando Ruíz sein armseliges Leben am Galgen beenden. Nein, sie sollten künftig vor Angst nicht mehr in den Schlaf kommen. Damit, so ließ er Gott in seinem Gebet wissen, sei jetzt Schluss. Die Bruderschaft werde nach dem Alten Testament handeln: Auge um Auge, Zahn um Zahn!
Magdalena und ihr Baby Demütig kniete Juan vor der Madonna mit dem Jesuskind auf dem Arm, als erneut Tränen der Erinnerung in seine Augen traten. Unaufhörlich quälten ihn die entsetzlichen Schreie seiner Schwester Magdalena, die verzweifelt um Gnade bat, nein, die um Gnade für ihr Baby und für sich gefleht hatte. Einem der vier unbarmherzigen Aufseher, der die Campesinos und Tagelöhner auf den Ländereien sa Duaia, und sa Cova, des ehemaligen arabischen Landgutes Aubarca in den Bergen von Artà mit beaufsichtigte, hatte Juans Schwester ihr zehn Monate altes Baby zu lange gestillt. Wie alle Landarbeiterinnen hatte auch Magdalena ihr Kind in einer schattigen Akkerfurche während der Arbeit abgelegt. „Leg das Balg ab“ brüllte er unbeherrscht und begann sofort wütend auf Mutter und Kind einzuschlagen. Magdalenas entsetzliche Schreie um Gnade und um Hilfe hielten den Aufseher nicht von seinem brutalen Tun ab. Erst als er Juan mit einigen Campesinos auf sich zu stürmen sah zog er sich von der jungen Mutter und dem Baby zurück. Erschüttert kniete der Bruder vor seiner wimmernden Schwester nieder, ihr Kind aber, das sie gerade noch gestillt hatte, war tot. Mit einer stummen Geste schob er die Freunde beiseite und nahm der Schwester zärtlich das erschlagene, blutüberströmte Baby von der Brust.
Blutige Rache Juan wollte gerade Magdalenas blutverschmiertes Gesicht reinigen als sich die Schwester plötzlich wütend und kraftvoll erhob. Ihr blau-schwarzes Haar, das die bronzefarbenen Schultern berührte, rahmte Magdalenas schmerzverzerrtes wunderschönes Gesicht eindrucksvoll ein. Und ihre dunklen Augen forderten dramatisch den Mörder ihres Kindes zum Kampf auf Leben und Tod. Die dreizinkige Gabel, die sie blitzschnell in ihre Hände gebracht hatte, schien den Aufseher, der mit einem höhnischen wie bösen Grinsen nur zwei drei Schritte breitbeinig drohend vor ihr stand, nicht zu ängstigen. Erst nachdem sich die Gabel mit einem wuchtigen Stoß in seinen Bauch gebohrt hatte, starrte er entsetzt in die Runde der Campesinos. Als sich Magdalena erneut mit einem wilden Schrei auf ihn stürzte wich sein bösartiges Grinsen einem angstvollen Staunen. Diesen Angriff schien er Magdalena nicht zugetraut zu haben. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sah er bestürzt, wie Magdalena gnadenlos ihm die Gabel ein weiteres Mal, nun aber wesentlich tiefer, in den Unterleib rammte und ihm so seine Manneskraft zerfetzte. Erst jetzt schien der Aufseher zu begreifen, was gerade mit ihm geschah. Er sackte nach vorn auf die Knie, als Magdalena die Gabel aus seinem Leib zog, um sie erneut hinein zu rammen. So vor Magdalena kniend durchbohrte sie ihn noch ein drittes Mal.
Erschöpft ließ sie schließlich von dem Mörder ihres Babys ab. Drehte sich diesem jedoch noch einmal zu und zerrte ihn, dem in diesem Moment das Augenlicht brach, an dessen Haaren hoch. Sie schrie außer sich: “Das ist für mein totes Kind!“ Juan kehrte mit seiner Schwester und den engsten Freunden nicht mehr nach Artà zurück. Sie zogen sich in ihr sorgfältig vorbereitetes Rückzugsgebiet zwischen den beiden Bergen sa Tudosa und s’Atalaia zurück, wo sie in gut versteckten Casitas sicheren Unterschlupf fanden.
Die Beerdigung Der 562 Meter hohe s’Atalaia Freda erlaubte ihnen einen kompletten Blick auf den gesamten Küstenstrich, die Bucht von Alcúdia und die Serra de Tramuntana bis hin zum markanten Berg Gottes, Randa, wo der mallorquinische Philosoph und Franziskaner Ramón Llull 1263 eine eindrucksvolle Gottesvision hatte: Er sah den gekreuzigten Christus neben sich stehen. Juan sandte Boten nach Sant Llorenç des Cardassar, Artà, Sa Pobla, Muro, Santa Magalida und Alcúdia und ließ zum Kampf rufen. Mit einfallender Dunkelheit, es war abnehmender Mond, bestiegen Juan und dessen engste Freunde Miguel und Rafael am sicheren Strand von sa Font Celada ein kleines Segelboot, um das tote Baby seiner Schwester an einem würdigen Ort zur letzten Ruhe zu betten. Auf dem Friedhof zu Artà war dies nicht mehr möglich. Mitternacht war drei Stunden vorüber, als Miguel das Segel einholte und das Boot am Strand von der Necropolis de Son Real auslaufen ließ. Juan wusste um diese Jahrhunderte alte Begräbnisstätte. Die Gräber liegen auf einer Landzunge, direkt am Meer und sind alle in Sandstein gehauen. Fünf flache Stufen führen in eine intakte Grabkammer, in der sich auf halber Höhe eine Mulde befand, in die sie den kleinen, in weiße Leinentücher gewickelten Körper behutsam betteten. Danach sprachen sie ein „Vater Unser“ und verschlossen sorgfältig die Grabkammer mit großen Steinen und segelten wieder zurück. Fortsetzung folgt...
Ralph D. Wienrich
Historischer Hintergrund Im Jahre 1523 führte Joanot Colom auf Mallorca eine Bruderschaft in den Kampf gegen die Großgrundbesitzer und den allmächtigen Adel. Sein Ziel war es, die erbärmliche Lage der Sklaven und der Landarbeiter zu verbessern. Aber die königlichen Truppen schlugen den Aufstand nieder und Colom wurde für Monate in den Kerker des Castell Bellver gesperrt. Schließlich wurde er geköpft und sein Körper zur Vierteilung durch die gesamte Stadt bis zur Porta Pintada, nahe der heutigen Plaça d Espanya geschleift.