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Ungers Krebs, Teil 1

Aus dem Roman “Wie viel ist ein Leben wert?”

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von Ralph D. Wienrich

Sven Unger beobachtete den winzig kleinen Pickel auf seiner linken Wange bereits mehrere Monate. Er war verwundert, ganz untypisch für ihn, eine, aus ästhetischer Sicht störende Hautunreinheit mit diesen merkwürdigen rot-weißen Rändern in seinem makellosen Gesicht entdeckt zu haben. Weder der Einstich eines banalen Insektes noch ein Ausschlag der ordinären Art kamen als Ursache dafür in Frage. Nachdenklich stimmte ihn nur die Widerstandsfähigkeit dieses vier Quadratmillimeter großen Flecks. Die Salbe, mit der er bis dato, ohne einen Arzt konsultiert zu haben, kleinere Wunden oder – seltener noch – Hautunreinheiten binnen weniger Tage nachhaltig in den Griff bekam, sollte es richten. Sven hielt an der Überzeugung fest, dass diese Wundersalbe, die ihm ein befreundeter Apotheker aus einer geheimen Kräutermischung zusammengemixt hatte, den erwünschten Erfolg kurzfristig bringen würde. Hartnäckig schmierte Unger also weiter regelmäßig die Salbe auf die betroffene Stelle, ohne das allerdings eine Veränderung eintrat! Die „Hautverunreinigung” blieb.

Es ist Hautkrebs! Die Zeit verging. Bis eines Abends, auf einer Party der nicht hypochondrisch veranlagte Freund Chris, heute Architekt, ehemals abgebrochener Medizinstudent, es knallhart aussprach: „Sven, Du hast Hautkrebs!” Es mussten jedoch noch einige Monate ins Land gehen, bevor der Jungbanker einen Facharzt ins Vertrauen zog. Als ihm schließlich tatsächlich das Laborergebnis „Krebs” mitgeteilt wurde, reagierte Sven jedoch alles andere als zu Tode erschrocken. Weder geriet er in Panik, noch brach er zusammen. Ihn beherrschte vielmehr ein undefinierbares Gefühl der Sicherheit, mein Leben ist nicht in Gefahr, das fühlte er – Krebs hin oder her. Entspannt wartete er ab, was der Hautarzt, einer mit großem Namen, ihm jetzt vorschlagen würde, was geschehen müsse, um den Hautkrebs wirkungsvoll zu bekämpfen. Mit neugierigem Interesse registrierte er, dass bei einer weiteren Untersuchung ein prominenter Hautspezialist anwesend war, der ihm als Professor Doktor Doktor Bertram vom Hautklinikum Hamburg vorgestellt wurde. Auch als dieser nahezu die gleichen Untersuchungen an ihm vornahm, wie zuvor Dr. Schneider, der Spezialist der Mainmetropole, reagierte Sven gelassen. Von diesem kleinen, nun mehr als achtzehn Monate existierenden roten Punkt, ging für ihn keine lebensbedrohende Gefahr aus. Eine kraftvolle Ruhe führte den jungen Bankier nie in die Versuchung, seine Krebserkrankung als Katastrophe anzusehen. Sven wusste, der Tod lauerte hier nicht auf ihn. Mit Sicherheit nicht! Er existierte einfach, dieser Fleck. Unterlag keiner Veränderung, noch verschwand er. Quälende Untersuchungen und Tests der verschiedensten Art erduldete er stoisch. Und das im ersten halben Jahr jede wirkungsvolle Behandlung ausblieb, auch keine Chemo erfolgte, sah er als völlig normal an. Sven fühlte sich alles andere als krank. Nur die Diagnose sprach von Erkrankung, von Krebs.

Der Vielumschwärmte Unger sonnte sich in der eleganten Arroganz des Erfolgreichen. Strahlend nahm die Weiblichkeit ihn, diesen Himmelsstürmer, zur Kenntnis. Jedes Mal, wenn er sich im überdimensionalen Spiegel seines mondänen Badezimmers begegnete, verstand er selbstzufrieden die weibliche Begeisterung, der er sich hier in Frankfurt ausgeliefert fühlte. Der 31-jährige zwei-Meter-Mann wurde zur Kenntnis genommen und schwärmerisch akzeptiert. Nie musste er sich um Wahrnehmung bemühen. New York, die rüde Finanzmetropole, hatte Unger zum knallharten Investmentbanker gemacht. Diese internationale Erfahrung, gepaart mit erfolgversprechender Skrupellosigkeit, bildete jetzt das Fundament seiner beeindruckenden Karriere bei einer der größten Frankfurter Banken. Kontostand und sozialer Aufstieg gingen bei ihm Hand in Hand. Nach deutschem Bankverständnis verdiente er es als ausgekocht, als abgebrüht, ja, durchaus auch als skrupellos bezeichnet zu werden. Nach amerikanischer Lesart hingegen als hoch qualifiziert und mega erfolgreich. Aufgrund der Tatsache, dass er ledig war und folglich auch keine Verantwortung für Frau und Kinder hatte, beunruhigte ihn seine gesundheitliche Situation also nicht im Geringsten. Weder Aufregung noch Besorgnis drängten ihn, sein Leben in der Erkenntnis dieser Diagnose neu zu überdenken. Für ihn blieb es dabei: Die Zukunft war ihm gewiss, seine Gegenwart Gewissheit. So, wie er in der Regel bei den meisten Investment Geschäften seiner Ratio folgte, verließ er sich auch hier auf seinen inneren Ratgeber. Und dieser sagte ihm immer wieder aufs Neue: lebe dich selbst, lebe dein Leben. Ihm war der Unterschied zwischen leben und existieren wichtig. Maxime, gewissermaßen. All das, was diese Existenz, und es war eine wohl sortierte, üppig ausgestattete Existenz, ausmachte, betrachtete er nie mit dem Blick eines baldigen Abschieds.

Adios Wall Street Eine düstere Vorahnung hatte ihn rechtzeitig der Wall Street den Rücken kehren lassen. Das Explodieren der Immobilienblase in den Staaten hatte Sven bereits vor Monaten erwartet. Wenngleich er nicht in der Lage war, einen konkreten Zeitpunkt ins Auge zu fassen, war ihm rein vom Gefühl her klar, dass das große Abkassieren einem dramatischen Kollaps entgegen schlidderte. Unger glaubte, erkannt zu haben, dass der Markt, gesteuert von Gier und Wunschdenken, sich verselbstständigt hatte, und aus dem Ruder zu laufen drohte. Und das heraufziehende dicke Ende in Wahrheit nur menschliches Machwerk widerspiegelte. So viel Realist war er dann doch noch, um den eigenen Albtraum zu realisieren, dass seine eigenen, lukrativen Schweinereien, einmal ihr unrühmliches Ende finden mussten.

Fortsetzung folgt ...

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