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Annette Keller, Direktorin JVA Hindelbank, im Porträt
«Man sollte nicht nur die Tat, sondern auch den Menschen sehen.» Das sagt Annette Keller. Die 60-Jährige ist Direktorin der einzigen Justizvollzugsanstalt für Frauen in der Deutschweiz, der JVA Hindelbank. Zusammen mit ihrem Team setzt sie tagtäglich alles daran, dass die Insassinnen nach ihrer Haftentlassung nicht mehr straffällig werden.
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Die JVA Hindelbank, die einzige Justizvollzugsanstalt für Frauen in der Deutschschweiz, feiert sein 125-Jahr-Jubiläum. Auch ein Jubiläum, wenn auch ein kleineres, feiert die Direktorin der JVA: Annette Keller leitet das Frauengefängnis seit zehn Jahren. Wenn sie von ihrer Arbeit im Gefängnis erzählt, ist vor allem eines heraus zu spüren und hören: ihre grosse Menschlichkeit. «Wertschätzung, Respekt, eine klare Kommunikation, Transparenz und andere menschenwürdig behandeln, das sind für mich die wichtigsten Werte, die in der JVA Hindelbank gelebt werden sollen», sagt Keller. Und damit meint sie die Mitarbeitenden genauso wie die Insassinnen.
107 Plätze hat die JVA Hindelbank. Die «Frauen», wie Annette Keller die Insassinnen nennt, kommen aus vielen verschiedenen Nationen. Von den über 100 Eingewiesenen sind knapp 50 Prozent Schweizerinnen. Die 107 Plätze sind immer belegt, es gibt gar eine Warteliste. Die Durchschnittshaftstrafe in der JVA Hindelbank beträgt drei Jahre. Hier sitzen Frauen, verurteilt wegen Mordes, Einbruch, Überfall und anderen Delikten, häufig auch im Zusammenhang mit Drogen. Zwei Drittel der Insassinnen sind Mütter. In der JVA gibt es eine kleine Mutter-Kind-Abteilung, aber die meisten Kinder von Verurteilten leben draussen bei anderen Familienmitgliedern oder in Pflegefamilien. In den letzten zehn Jahren lag die Rückfälligkeit bei etwa 20 Prozent. Wobei man nur Zahlen von Schweizerinnen kennt, da Ausländerinnen oft nach der Haftstrafe ausgewiesen werden und nicht mehr in der Statistik vorkommen. «Wie die Insassinnen zu ihrer Tat stehen, wie sie ihre Schuld einsehen, das ist ein Prozess. Oft ein langer Prozess», sagt Annette Keller. Sie müssten lernen zu akzeptieren, dass sie getan haben, was sie getan haben und dass das nun zu ihrer Geschichte gehört.
Ein Rucksack gepackt mit Einsicht und Zuversicht
«Ein Gefängnis muss so sein, dass die Menschen drin möglichst so leben können wie draussen», erklärt die Direktorin. Die Insassinnen müssten ihre Fähigkeiten und ihre Eigenständigkeit behalten und soziale Kontakte nach draussen pflegen können. Wie Annette Keller sagt, hat eine Inhaftierte vor 70 Jahren mal gesagt: «Ich muss als Mensch hier leben dürfen, wenn ich als Mensch hier heraus kommen soll.» Annette Keller bestätigt dies: «Es ist alles darauf ausgerichtet auf den Moment, wenn die Eingewiesenen wieder rauskommen, dass dann keine neuen Schäden entstehen und es keine neuen Opfer geben wird.» Auch wenn sie eine Strafe verbüssten, seien sie vollwertige Menschen und hätten die gleichen Grundbedürfnisse wie alle anderen: sie wollen und brauchen Sicherheit, Kontakt, Selbstwert und sie müssen sich entwickeln können. «Wenn die «Frauen» die JVA Hindelbank verlassen, sollen sie einen Rucksack haben, gepackt mit Einsichten, Fähigkeiten und der Zuversicht, dass sie es draussen schaffen», so die 60-Jährige.
Auch wenn Annette Keller und ihre 112 Mitarbeitenden Hoffnungsträger für die Insassinnen sein wollen, so ist es doch enorm wichtig, dass die «Frauen» sich auch mit ihren Taten und ihrer Schuld auseinandersetzen. Denn es ist und bleibt ein Gefängnis. «Sie müssen hinschauen und sich fragen, wie es soweit kommen konnte und was sich ändern muss, dass so etwas nicht wieder passiert», sagt Annette Keller.
In der ganzen Schweiz wird mit allen Insassinnen und auch männlichen Häftlingen ein sogenannter Vollzugsplan erstellt. Dort wird das Delikt behandelt aber auch geschaut, was sind die Eigenschaften und Fähigkeiten dieser Person, was sind Denkmuster, was lag an Beziehungen und dem Umfeld, dass sie im Gefängnis gelandet sind. Laut Keller geht es darum, gewisse Lebensumstände zu ändern, evt. gewisse toxische Beziehungen aufzugeben, die in die Kriminalität geführt haben. Es werden ganz individuelle Zielsetzungen gesetzt, um Stärken und Ressourcen der Person zu fördern und sie kontinuierlich auf die Entlassung und das Leben draussen vorzubereiten.
Pointierte Fragen des Lebens
Annette Keller selber hat nicht mehr sehr häufig direkt mit den Insassinnen zu tun. Bei grösseren Krisen oder Spezialfällen wird sie miteinbezogen, ebenso bei einem Erstgespräch mit neuen Insassinnen. Dennoch ist Kommunikation der grösste Teil ihrer Arbeit als Direktorin: mit den Mitarbeitenden, im Kanton, mit Behörden des Justizvollzugs der ganzen Schweiz. Die 60-Jährige hat schon vor ihrer Anstellung als Direktorin in der JVA Hindelbank gearbeitet. Im Jahr 2000 wollte die ehemalige Lehrerin und Pfarrerin in die Sozialarbeit wechseln. «Ich arbeite gerne mit Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen und Brüche in ihrer Biografie haben.» Sie wurde Betreuerin in der JVA Hindelbank, während sie ihre Ausbildung in Sozialarbeit machte, danach war sie fünf Jahre Bereichsleiterin im Vollzug. Bevor sie 2011 zurück kehrte und Direktorin wurde, sammelte Annette Keller noch Erfahrung in anderen Organisationen. Sie leitete den Sozialdienst einer psychiatrischen Klinik und war nebenberuflich als Wahlbeobachterin fürs EDA tätig.
Weshalb ging sie zurück in die JVA Hindelbank? «Ich habe schon immer sehr gern hier gearbeitet. Die Vollzugsanstalt ist ein Ort, an dem sich Grundfragen des Lebens pointiert stellen, wo es um Versagen, um neue Chancen geht und darum, sich zu entwickeln.»
Annette Keller ist es wichtig, nicht nur die Tat, sondern den Menschen zu sehen. «Es gibt wenige Frauen, die sogenannte «kriminelle Energie» haben. Oft führen Beziehungskonstellationen, Überforderung oder auch eigene Gewalterfahrungen zu den Taten.» Wichtig ist ihr, dass zwischen ihren Mitarbeitenden und den Insassinnen jederzeit eine professionelle und respektvolle Beziehung herrscht. Liebesbeziehungen sind ein absolutes Tabu. «Gleichzeitig muss man Empathie entwickeln können, wenn jemand in einer schwierigen Situation ist.» Gewisse Fälle oder Vorfälle gehen bestimmt auch der Direktorin nahe. Wie geht sie damit um? «Natürlich gibt es Fälle, die mich beschäftigen. Abgrenzung ist wichtig. Ich habe ein gutes Umfeld, genügend Zeit, mich zurück zu ziehen, mache gerne Sport, das gibt mir eine gute Balance.» Ebenso helfe ihr ihre Lebenserfahrung und ihre Vergangenheit als Pfarrerin sowie der Austausch mit ihren Mitarbeitenden. •• text: carole bolliger, fotos: zvg. JVA Hindelbank