PRESSTEST OKTOBER 2016
UNABHÄNGIGES MAGAZIN ZU DEN JUGENDMEDIENTAGEN 2016 IN DRESDEN, HERAUSGEGEBEN VON DER JUGENDPRESSE DEUTSCHLAND E.V.
Foto, Titelfoto: Vera Deleja-Hotko
EDI TOR I A L
MEDIEN IN SYRIEN ZEIGEN NICHT DIE WAHRHEIT – WIR
DIE MEDIEN IN DEUTSCHLAND
SOLLTEN KÄMPFEN, DAMIT
KÖNNTEN ÖFTER ÜBER
SIE DIE WAHRHEIT ZEIGEN.
POSITIVE ENTWICKLUNGEN
ZAKARYA IBRAHEM, SYRIEN
BERICHTEN. SANDRA KLUCK, DEUTSCHLAND
AUF IN DIE ZUKUNFT
WARUM DIE MEDIEN FÜR ALLES VERANTWORTLICH GEMACHT WERDEN UND WESHALB POLITIKORANGEREDAKTIONSMITGLIEDER TROTZDEM BEGEISTERTE JOURNALISTINNEN UND JOURNALISTEN SIND, ERKLÄREN BARAA ALKURDI UND ANASTASIA STARK.
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ünfzehn Meinungen, ein gemeinsames Anliegen: Wir als politikorange-Redaktion der Jugendmedientage 2016 interessieren uns alle für die Zukunft der Medien. Als junge Journalistinnen und Journalisten haben wir die Möglichkeit, unsere Meinung frei und kritisch zu äußern. Wir wollen mit ehrlichem Interesse recherchieren und unsere Leserinnen und Leser zum Denken herausfordern.
KEIN OHR FÜR DIE LEISEN STIMMEN Doch es fällt uns nicht leicht, diesen Wunsch umzusetzen, denn es gibt einen Ton, der uns manchmal unerträglich laut vorkommt: Es ist der Lärm der Hassreden von Strömungen wie Pegida oder der AfD. Für sie gilt: Wer am lautesten schreit, bekommt Aufmerksamkeit
– während all die leiseren Stimmen übertönt werden. Allerdings haben wir die Möglichkeit, das zu ändern: Wenn wir den Mut finden, Ereignisse von allen Seiten zu betrachten und die Angst vor Komplexität verlieren, können wir dem Krawall ein klares Zeichen entgegensetzen. Als Journalistin oder Journalist haben wir die Aufgabe, unsere Leserinnen und Leser zu informieren und zu bilden. Dazu gehört eine breite Vielfalt an Themen – auch kleine Geschichten haben es verdient, gehört zu werden. Zurzeit sind viele Menschen unzufrieden mit der Berichterstattung. Aber warum ist das so? Sind sie wirklich wütend auf die Medien oder verzweifeln sie vielmehr an der aktuellen politischen Situation? Eine gute Journalistin oder ein guter Journalist erzählt keine Mär-
chen. Sie oder er denkt sich nichts aus – sondern schreibt über Beobachtungen und Erfahrungen. Da ist kein Platz für Luftschlösser und Spinnereien.
GEGEN HASS UND VORURTEILE
gemeinsame Leidenschaft und wir wollen zeigen, dass die Zeitungen keine Märchenbücher sind: Unsere Ausgabe der politikorange ist gefüllt mit eigenen Eindrücken, Recherchen und Erfahrungen. Die Zukunft der Medien interessiert uns, denn die Medien sind unsere Zukunft.
Anstatt die Nachrichtensendungen für Inhalte verantwortlich zu machen, sollte der Inhalt für sich verantwortlich gemacht werden – und da bei uns in Deutschland jeder die Gelegenheit hat, selbst aktiv zu werden und sich gegen Hass, Angst und Vorurteile zu stellen, kann auch jeder die Berichterstattung beeinflussen. Wir als junge Medien machende haben uns, trotz der Kritik an der Presse, dazu entschlossen, eine Zeitung zu machen. Journalistisches Arbeiten ist unsere
Medien- oder Märchenland? Wenn wir uns diese Frage stellen müssen, ist klar: Die Medien werden mit Vorwürfen konfrontiert. Die Anschuldigungen kommen aus verschiedenen Teilen der Bevölkerung, vor allem von Mitgliedern rechtspopulistischer Gruppierungen. Aber auch jenseits dieser Stimmungsmacher und Stimmungsmacherinnen steigt die Zahl der Menschen, die der Presse nicht mehr vertrauen. Jetzt ist es die Aufgabe der Medien, diese Vorwürfe zu widerlegen und Vorurteile abzubauen. Ein "Presstest" quasi. Die Presse steht auf dem Prüfstand. Vor einem kleinen Presstest stand auch die Redaktion dieser Ausgabe von politikorange. Sechs Geflüchtete und neun Jugendliche mit Deutsch als Muttersprache hatten in vier Tagen viel vor: dieses Heft, Online-Beiträge, Videos und Social Media-Posts produzieren. Von morgens bis abends besuchten sie Workshops und Erzählcafés der Jugendmedientage, einem mehrtägigen Treffen von 350 jungen Medienmachern und Medienmacherinnen. Die Redakteurinnen und Redakteure dieses Magazins machten Umfragen, interviewten Experten und Expertinnen und suchten nach den richtigen Worten. Auf Deutsch, Arabisch, Russisch und Persisch. Da kam es schon einmal vor, dass sie zwei Stunden lang einen Text auf Hocharabisch ins Deutsche übersetzten oder Russisch übers Englische ins Deutsche. Dafür war Kreativität, Einfühlungsvermögen und eine große Portion Telepathie nötig.
Foto: Vera Deleja-Hotko
DIE POLITIKORANGE-REDAKTION WIRFT EINEN BLICK IN DIE ZEITUNGSBRANCHE.
Liebe Leserinnen und Leser,
Und dann war auch das Thema eine Herausforderung: Wie berichtet man als Vertreter oder Vertreterin der Presse über die Vorwürfe, mit denen die Medien konfrontiert werden? Und wie drücken Geflüchtete ihre Gedanken aus, in der Sprache einer Nation, die sie zwar aufgenommen hat, aber in der sie mancherorts nicht erwünscht sind? Die Teilnehmenden haben diese Fragen für sich beantwortet. Und ihre Antworten aufgeschrieben, die ihr in diesem Heft nachlesen könnt. Hat die Redaktion den Presstest bestanden?
Baraa Alkurdi 21, Leipzig
Sandra Schaftner und Laura Hackl (Chefredakteurinnen)
Anastasia Stark 17, Abenberg ... kämpfen für vielfältigere Inhalte in den Medien.
IN HALT
»Traumberuf«
»Integration«
»Monster«
Mythen um die Journalistenausbildung auf den Zahn gefühlt Seite 7
Medienmachende aus Syrien wollen mehr Berichte „mit“ statt „über“ Geflüchtete Seite 12
Wie bestimmte Begriffe für Hass und Hetze sorgen Seite 14
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WENN DIE MEDIEN SOZIAL WERDEN
TRAGEN BLOGS UND SOZIALE NETZWERKE ZUR INFORMATIONSGEWISSHEIT ODER UNGEWISSHEIT BEI? VIER JOURNALISTEN SPRECHEN ÜBER DIE GLAUBWÜRDIGKEIT VON ONLINENACHRICHTEN. TATJANA TIEFENTHAL HAT MITGESCHRIEBEN.
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nter "Medien" darf man heute längst nicht mehr nur Zeitung, Radio und Fernsehen verstehen. Immer wichtiger wird vor allem das Internet. Digitalisierung nennt sich die Entwicklung in der Fachsprache. Und sie ist so wichtig, dass ihr auf den Jugendmedientagen 2016 in Dresden eine eigene Podiumsdiskussion gewidmet wurde. Dabei diskutierten die Journalisten Cornelius Pollmer, Rayk Anders, Philip Oltermann und Boris Reitschuster. Wenn die sozialen Netzwerke immer wichtiger werden, machen sie den klassischen Medien auch Konkurrenz. Auf der einen Seite gibt es in Deutschland noch relativ viele Zeitungen, zumindest mehr als etwa in Großbritannien, berichtet Philip Oltermann. Er leitet das Deutschlandbüro der englischen Tageszeitung „The Guardian“. Auf der anderen Seite beobachtet er eine Abwanderung der Leserinnen und Leser zu sozialen Medien. Reitschuster spricht sogar von einem massiven Umbruch, da beispielsweise Facebook und Twitter über eine größere Reichweite verfügen würden als die Print-Zeitungen.
RECHERCHE IN DEN SOZIALEN NETZWERKEN? Danach sprachen die vier Journalisten darüber, wie sie in ihrem Arbeitsalltag mit sozialen Netzwerken umgehen. Am Anfang jedes journalistischen Beitrags steht immer die Recherche. Dabei ist zu beachten:
Als erstes solle man alle unseriösen Quellen aussortieren, rät Rayk Anders, Produzent des Youtube-Formats „Armes Deutschland“. Für ihn ist vor allem die Verwendung von zahlreichen Quellen entscheidend. Der Russland-Experte Boris Reitschuster sieht die Erfahrung, die man mit der Zeit gewinnt, als zentrale Voraussetzung, um Quellen richtig einschätzen zu können.
DAS DIREKTE GESPRÄCH ALS BESTE QUELLE Es zeigt sich, dass die Journalisten unterschiedliche etablierte Zeitungen bevorzugen: zum Beispiel die FAZ und das Handelsblatt. Bei der Verwendung von sozialen Netzwerken als Informationsquelle sind sie sich jedoch einig: Diese können ihrer Meinung nach dazu dienen, zu beobachten, welche Themen aktuell diskutiert werden, sind aber meinungslastig. Sie bringen Anregungen, sollten jedoch nicht als Faktengrundlage und ausführliche Quelle verwendet werden. Die glaubwürdigste Quelle ist für die vier immer noch das direkte Gespräch mit Menschen und Vertreterinnen und Vertretern von Institutionen vor Ort. Ein großes Problem in den sozialen Netzwerken ist auch, dass manche Menschen dort absichtlich falsche Meldungen verbreiten. „Egal in welche Richtung man geht, es gibt immer Menschen, die Interesse daran haben, die Nachricht
FACEBOOK UND CO.: SOZIALE MEDIEN SIND KEINE AUSREICHENDEN QUELLEN.
zu verfälschen. Gerade von Propagandabeiträgen sollte man sich nicht beeindrucken lassen.“ Davon ist Rayk Anders überzeugt. Philip Oltermann ergänzt, dass Fehlinformationen in sozialen Netzwerken in den Köpfen hängen bleiben, weil mögliche Korrekturen die Nutzerinnen und Nutzer nicht erreichen. Das liegt an der Art, wie sich Nachrichten in den sozialen Netzwerken verbreiten. In einem Newsfeed erhalten die Nutzer viele einzelne Beiträge von verschiedenen Seiten, die interessant für sie sein könnten. Je nachdem, wie viele Reaktionen, zum Beispiel Likes oder Tweets, ein Beitrag be-
kommt, desto mehr Nutzerinnen und Nutzer sehen ihn auf ihrer Seite. Korrekturen erreichen durch diesen Mechanismus oft nicht so viele Leserinnen und Leser. Das heißt, viele Nutzerinnen und Nutzer, die den falschen Beitrag gesehen haben, erfahren später nichts von der Korrektur. Der Sachsen-Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung, Cornelius Pollmer, übt noch eine ganz andere Kritik. „Soziale Medien anekdotisieren Diskurse.“ Diskussionen oder Statements würden mit Anekdoten verknüpft oder emotionalisiert, da dies die Reichweite enorm vergrößere.
Foto: Jonas Walzberg
Pollmer glaubt zudem, dass eine gesamtgesellschaftliche Diskussion, in welcher Qualität wir uns informieren wollen, schon lange aussteht.
Tatjana Tiefenthal 18, Hagen …findet, dass jeder Journalist oder jede Journalistin selbst für eine intensive Recherche verantwortlich ist.
ZUHÖREN STATT EINFACH NUR HÖREN VON DEN SCHICKSALEN GEFLÜCHTETER WERDEN IN DEN DEUTSCHEN MEDIEN MEIST NUR AUSSCHNITTE SICHTBAR. BARAA ALKURDI PLÄDIERT DAFÜR, DASS JOURNALISTINNEN UND JOURNALISTEN MEHR IN DIE TIEFE GEHEN.
HÖRENSWERT: DER WEG VIELER GEFLÜCHTETER IST STEINIG UND KALT. IN DEN MEDIEN WERDEN OFT NUR AUSSCHNITTE DAVON GEZEIGT.
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ei manchen Nachrichten im Fernsehen und in den Zeitungen liegt die Frage nahe, was davon wahr und richtig ist, ob das nur leere Aussagen sind oder sie wirklich eine Bedeutung haben. Teil des Berufs von Journalistinnen und Journalisten ist es, mit Themen zu arbeiten, die sie gar nicht miterlebt haben. So schreiben zum Beispiel deutsche Journalistinnen und Journalisten täglich Berichte
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über den Krieg in Syrien, obwohl sie nie mit eigenen Augen gesehen haben, was im Krieg passiert: Jeden Tag sterben unschuldige Menschen. Menschen, die keine Zukunft mehr sehen. Die Medien aber zeigen nur kleine Ausschnitte davon, die meistens auch nicht die tatsächliche Brutalität zeigen. Das kann aber auch daran liegen, dass es einfach nicht angebracht ist, mehr von dem zu zeigen,
Foto: Vera Deleja-Hotko
was in Syrien passiert, und die Journalistinnen und Journalisten Angst davor haben, Probleme zu bekommen.
ZUHÖREN UND MITDENKEN Baraa findet, dass es einen Unterschied zwischen „Hören“ und „Zuhören“ gibt. Hören bedeutet für ihn, etwas aufzunehmen, ohne viel darüber nachzudenken. Am
nächsten Tag hat man es schon wieder vergessen. Zuhören hingegen heißt, sich auch Gedanken darüber zu machen und sich mit etwas zu beschäftigen. Einen Text über etwas zu schreiben, das man gehört hat, ist nicht schwer, und auch schlimme Sachen kann man auf diese Weise ganz einfach darstellen. Aber Geschichten zuzuhören, sie zu verstehen und sie zu veröffentlichen, das macht selten jemand. Der Weg vieler Geflüchteter wird meist nur sehr oberflächlich beschrieben – den wirklichen Geschichten wird nicht zugehört. Der Weg, der als einfach beschrieben wird, ist eigentlich viel härter: Geflüchtete sind gezwungen, ihr Land zu verlassen. Sie haben alles aufgegeben, haben ihre Häuser verlassen, ihr Besitztum und alles, was sie sich aufgebaut haben, zurückgelassen. Alles, um ein neues Leben zu suchen. Diese Menschen sind vor dem Tod weggelaufen und dennoch sterben viele auf dem Weg. Sie sind
wochenlang unterwegs – Kinder, Frauen und Männer – und leiden, bis sie endlich ankommen. Dabei sind es nicht nur die momentan Fliehenden, denen man zuhören kann: Es gibt noch eine Generation Deutscher, die im Krieg waren und verstehen können, wie sich diese Situation anfühlt und wie schwer es ist, zu fliehen. Die Absicht dahinter ist auch bei den heutigen Geflüchteten ähnlich: Sie wollen mit den Menschen in der neuen Heimat zusammenleben und eine positive Zukunft aufbauen.
Baraa Alkurdi 21, Leipzig … ist hier als eine Stimme, die gehört werden möchte, weil sie das Leid der geflohenen Menschen vertritt.
PLURALISMUS ADE?!
DEN DEUTSCHEN MEDIENMARKT BEHERRSCHEN IMMER WENIGER UNTERNEHMENSGRUPPEN. DAS HAT NEGATIVE FOLGEN – NICHT NUR AUS KARTELLRECHTLICHER SICHT. LUISE MARTHA ANTER HAT NACHGEFORSCHT.
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eulich im Bahnhofsbuchhandel: Alles so schön bunt hier! So viele verschiedene Titel! Auszeit, emotion, flow oder momente? LandLust, LandLiebe, LandKind oder doch lieber LandGarten? Kein Wunder, dass Dirk Benninghoff, Chefredakteur der Content-MarketingAgentur fischerAppelt, während des Auftaktpodiums der Jugendmedientage vom „wahnsinnig vielfältigen Angebot“ der deutschen Medienlandschaft schwärmte. Was für ein schönes Märchen. Letzteres nimmt ein jähes Ende, wagt man den Blick ins Innere all der Zeitungen und Magazine – um genau zu sein: ins Impressum. Dort wird man ziemlich oft die gleichen Verlagsnamen finden: Burda, Funke, Springer, Gruner + Jahr, Bauer, DuMont.
Berlin Kommunikationstheorie und Medienwirkungsforschung lehrt, produzierten außerdem keinen eigenen überregionalen Teil – also Politik, Sport, Wirtschaft und mitunter Kultur – mehr, sondern lassen sich mit einem sogenannten Mantelteil beliefern: Die Dresdner Neuesten Nachrichten und die Leipziger Volkszeitung beispielsweise haben denselben überregionalen Teil. Ei-
Konzentration im Medienbereich“ (KEK), in dem auch die Verhältnisse auf dem Fernsehmarkt als „eng“ und „oligopolistisch“ bezeichnet werden.
WENIGER LESER, GLEICHE PRODUKTIONSKOSTEN „Der Punkt ist jetzt: Was heißt das für die Meinungsbildung?“ Barbara
Auswirkungen auf die Meinungsvielfalt habe. Trotzdem fordert sie, Meinungsmacht durch gesetzliche Regulierungen zu verhindern – zum Beispiel durch die Verpflichtung eines Anbieters, sich von einer Beteiligung an „meinungsrelevanten Angeboten“ zu trennen. Barbara Pfesch hingegen sieht die Konsumentinnen und Konsumenten in der Pflicht – die nämlich lesen im-
ZEITUNGEN IM ZEITALTER DES TEILENS Ein Zustand, der nicht auf den Markt der Zeitschriften und Magazine beschränkt bleibt. „Im Moment haben wir eine ganz schwierige Situation, vor allem der Presse.“ Die Kommunikationswissenschaftlerin Barbara Pfesch ist eine ruhige Frau, spricht mit leiser Stimme, wählt ihre Worte mit Bedacht. Von ihrer Drastik nimmt ihnen das nichts: Sie spricht von einer „Konzentrationswelle“, die man vor allem auf lokaler Ebene erlebe. Dort haben Tageszeitungen häufig eine Monopolstellung innerhalb ihres Verbreitungsgebietes. Viele Lokalzeitungen, so die Professorin, die an der Freien Universität
DER STAPEL SCHRUMPFT: DIE ZAHL UNABHÄNGIGER TRADITIONELLER MEDIEN NIMMT AB.
ner Analyse des Leibniz-Institutes von 2012 zufolge wiesen in Deutschland 120 von 336 Lokalzeitungen keine eigene Mantelredaktion auf. Auch die Straßenverkaufszeitungen, also BILD und Konsorten, sind von der Konzentration betroffen: Fast 80 Prozent der Verkaufsauflage entfallen auf die Axel Springer AG. Zu lesen ist das im Jahresbericht der „Kommission zur Ermittlung der
Fesch beugt sich vor, nimmt ihre rote Lesebrille in die Hand, setzt sie wieder auf. „Weniger unabhängige Journalistinnen und Journalisten, weniger unabhängige Redaktionen – das heißt weniger unabhängige Berichterstattung, weniger unabhängige Kommentare“. Aus normativer Sicht sei das „ein riesiges Problem.“ Zwar stellt die KEK fest, dass die Konzentration keine erheblichen
den, egal wie viele Zeitungen verkauft werden. Zudem sinkt mit der Auflage auch die Attraktivität für Werbekunden. Und damit die Einnahmen. Wendet man den Blick jedoch ab von den klassischen Medien, dann finden sich in den neuen Medien Informationsquellen in Hülle und Fülle. Also alles halb so wild? Pfesch hält das für naiv. „Netzkommunikation kann die öffentliche Aufgabe der Presse nicht erfüllen.“ Sie hofft stattdessen, dass die Zahlungsbereitschaft für „Meinungen und Informationen von hohem Niveau“ steigt – vor allem auch bei der jungen Generation. Die bekomme eine Push-Meldung nach der anderen auf ihr Smartphone – aber reflektiere den Inhalt häufig nicht. „Junge Leute müssen sich Gedanken machen.“ Damit es im Bahnhofsbuchhandel irgendwann richtig bunt wird – auch abseits all der Hochglanz-Bilder.
Foto: Vera Deleja-Hotko
mer weniger Tageszeitungen, sind immer weniger bereit, für journalistische Inhalte zu zahlen. Schließlich fusionieren Medien nicht aus Langeweile oder Experimentierfreudigkeit. Sondern aus ökonomischem Kalkül, ja, aus ökonomischer Notwendigkeit: Auch wenn die Auflagen sinken – die Produktionskosten bleiben gleich. Journalistinnen und Journalisten müssen bezahlt wer-
Luise Martha Anter 20, Dresden …liest jetzt immer das Impressum zuerst.
FRUCHTFLEISCH Was können Medien tun, damit die Menschen ihnen Vertrauen schenken? »DIFFERENZIERT SCHREIBEN«
»FAKTEN ABWARTEN«
Foto: Alisa Sterkel
»TRANSPARENT SEIN«
LEA STRATMANN, 17 JAHRE, SCHÜLERIN, HANNOVER
GESINE STAUCH 17 JAHRE, SCHÜLERIN, DRESDEN
JOHANN STEPHANOWITZ 18 JAHRE, STUDENT, BERLIN
SIE SOLLTEN AUF JEDEN FALL TRANSPARENT SEIN UND SICH MÖGLICHST AUTHENTISCH DARSTELLEN. FÜR MICH IST DER ERSTE SCHRITT, DASS MAN VON DEN JOURNALISTEN, VON DENEN MAN NORMALERWEISE NUR DEN NAMEN AUS DER ZEITUNG KENNT, TATSÄCHLICH AUCH EIN GESICHT VOR AUGEN HAT.
ICH DENKE, SIE SOLLTEN AUF JEDEN FALL SEHR DIFFERENZIERT SCHREIBEN, BEIDE SEITEN BELEUCHTEN UND VERSUCHEN, DIE EIGENE MEINUNG ZU VERMEIDEN. SIE SOLLTEN MEHR DIE MEINUNGEN DER LEUTE WIEDERGEBEN.
ICH DENKE, DAS PROBLEM DER MEDIEN IST HEUTE, DASS SIE SCHNELL DEN NACHRICHTEN HINTERHERHECHELN UND DANN OFTMALS AUS WIRTSCHAFTLICHEN GRÜNDEN OHNE KONKRETE FAKTENLAGEN EINFACH SACHEN BERICHTEN.
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MACHT DER SPRACHE VERA DELEJA-HOTKO ERKLÄRT, WARUM BESTIMMTE METAPHERN EIN NEGATIVES BILD ERZEUGEN, UND BEGRÜNDET DAS STREICHEN DES WORTES „FLÜCHTLING“ AUS IHREM VOKABULAR. EIN KOMMENTAR.
WORT FÜR WORT: OBWOHL SPRACHE WOHL EINES DER STÄRKSTEN KOMMUNIKATIONSMITTEL IST, WIRD SIE HÄUFIG UNÜBERLEGT IM ÖFFENTLICHEN DISKURS VERWENDET.
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lüchtlingswelle, Flüchtlingsstrom, Flüchtlingsflut. Wassermetaphern scheinen in der Berichterstattung eine neue Modeerscheinung geworden zu sein. Es wirkt, als würde der deutsche Wortschatz nicht ausreichend Alternativen bieten. Die auf den ersten Blick harmlosen Begrifflichkeiten verbergen eine Vielzahl an unterschwelligen Meinungsmachern und erzeugen Bilder der Bedrohung in den Köp-
fen der Rezipierenden. Die ankommenden „Wassermassen“ können nur mit „dem Dichtmachen der Schotten“ abgewehrt werden. Instinktiv möchte sich jeder und jede vor der „anrollenden Flut“ schützen. Wasser wird als bedrohliche Metapher für Menschen auf der Flucht verwendet. Aufgrund des Gebrauchs solcher Begriffe in der Berichterstattung schleichen sich diese in den alltäglichen Sprachgebrauch der Lesenden. Übrig bleiben negativ
konnotierte Wortgefüge, welche nur schwer aus dem emotionalen und sprachlichen Gedächtnis des Sprechenden zu streichen sind. Hinzu kommt das Wort „Flüchtling“. Das Suffix –ling wird verwendet, um die Verbindung des Wortstamms mit der benannten Person zu verdeutlichen. Häftling, Schädling, Pflegling, Winzling, Schwächling, Feigling. Eine Vielzahl von Begriffen mit der Endung –ling verbirgt eine negative Ver-
ortung. Die benannte Person wird ironisch verlieblicht und ihre Probleme schöngeredet. Eine schwache, feige, pflegebedürftige, kleine Person. Eine geflüchtete Person. An einer Flucht gibt es nichts Schönes. Verblümte Begriffe ermöglichen es dem Sprechenden, sich von der angesprochenen Person emotional zu distanzieren. Es handelt sich um Menschen, die Brutalität und Kampf erlebt haben. Geflüchtete Menschen. Oder kurz: Menschen.
GEDANKEN ÜBER DIE REALITÄT IN SYRIEN DER FILM „SÜCHTIG NACH JIHAD“
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Foto: Hubertus Koch
er Journalist Hubertus Koch ist 2014 auf eigene Faust nach Syrien gereist und hat die Lage vor Ort und seine eigenen Gefühle dokumentiert. Aus diesem Material hat er den Film „Süchtig nach Jihad“ produziert, den sich Bahara aus Afghanistan und Muhannad aus Syrien bei den Jugendmedientagen angesehen haben. Weil sie selbst vor weniger als einem Jahr geflohen sind, können sie die Situation der Menschen im Film gut nachvollziehen: Krieg, Zerstörung und Verzweiflung. Als sie im Film die Armut der Menschen sehen, sind ihre Gedanken: „Wenn es den Menschen gut geht, wollen sie immer mehr: besseres Essen oder ein gemütlicheres Bett. Aber wenn sie wenig haben, sind sie auch mit geringerer Qualität zufrieden. Wenn sie sehr müde von der
SCHONUNGSLOS: DER FILM „SÜCHTIG NACH JIHAD“ VON HUBERTUS KOCH ZEIGT DIE ZUSTÄNDE IN SYRIEN.
Arbeit nach Hause kommen, ist jeder Schlafplatz für sie bequem. Und wenn sie erst spät Zeit zu essen haben und sehr hungrig sind, dann schmeckt ihnen jedes verfügbare Essen. Aber viele Menschen in Syrien haben aktuell gar nichts: keinen Schlafplatz und kein Essen. Vor dem Krieg hatten sie eine normale Lebensweise, sie wohnten in Häusern und hatten genug zum Leben, bis sich Mord und Unterdrückung ausbreiteten.“ Als sie die Kriegsszenen sehen, sind ihre Gedanken: „Waffen sind dazu da, die Heimat, das ganze Volk, zu verteidigen. Aber in Syrien ist das aktuell anders. Viele kämpfen mit den Waffen im Namen der Religion oder Ideologie. Jihad ist ein heiliges Wort, aber der IS hat es schmutzig gemacht. Wenn wir
Vera Deleja-Hotko 23, Wien ...ist der Meinung, dass die Bedeutung und Wirkung von Worten zu wenig Bedeutung im öffentlichen Diskurs einnehmen.
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DES JOURNALISTEN HUBERTUS KOCH ZEIGT DIE REALITÄT IN SYRIEN. DIE GEFLÜCHTETEN BAHARA TAHERI UND MUHANNAD RASOL SPRECHEN ÜBER IHRE GEDANKEN ZUM FILM.
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Foto: Vera Deleja-Hotko
inzwischen an Jihad denken, denken wir an etwas Schlechtes. Das stimmt aber eigentlich nicht. In Syrien haben sogar Kinder Waffen. In dieser Situation ist den Menschen das Leben nicht mehr so viel wert.“
Bahara Taheri 17, Berlin Muhannad Rasol 25, Berlin … denken, dass die Wahrheit manchmal schmerzt. Doch sie sollte immer klar sein.
Dschihad heißt wörtlich: sich bemühen, anstrengen, kämpfen für den Weg Gottes. Die meisten islamischen Gelehrten unterscheiden zwischen zwei Arten des Dschihad. Der sogenannte "große Dschihad" bezeichnet das Ringen des und der Gläubigen mit sich selbst und sein Bemühen um Vervollkommnung. Der "kleine Dschihad" bezeichnet hingehen den Kampf mit Waffengewalt zur Verteidigung und Verbreitung des Islam. Der Dschihad ist Pflicht jedes Muslims und jeder Muslimin und ist ein Glaubensgebot. Wenn die Gläubigen zum Dschihad aufgerufen werden, ist es ihre Pflicht, zu folgen und in den Kampf zu ziehen. Protest-, Befreiungs- und Terrororganisationen verwenden den Begriff zur Legitimation ihres Kampfes. So bezeichnet die Terrororganisation Al-Kaida sogar das Köpfen von Menschen als Dschihad. Quelle: Julia Gerlach "Zwischen Pop und Dschihad: Muslimische Jugendliche in Deutschland"
REIN IN DEN JOURNALISMUS – ABER WIE? „WENN ICH JOURNALISTIN ODER JOURNALIST WERDEN WILL, DARF ICH KEINESFALLS JOURNALISTIK STUDIEREN“: ALLERHAND MYTHEN RANKEN SICH UM DIE JOURNALISTENAUSBILDUNG. ANASTASIA STARK GEHT IHNEN AUF DEN GRUND.
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ournalismus ist ein Handwerk, das man am besten mit praktischer Arbeit lernt“, erklärt Rudolf Porsch, stellvertretender Direktor der Axel-Springer-Akademie. Im Erzählcafé „Erfolg im Beruf als Journalist“ auf den Jugendmedientagen gibt er Jugendlichen einen umfangreichen Einblick in den möglichen Werdegang von Medienmacherinnen und Medienmachern. Als angehende Journalistin oder angehender Journalist wird man nämlich mit allerhand Mythen rund um den Berufseinstieg konfrontiert: "Freie Journalistinnen oder Journalisten verdienen mehr Geld": Diese Behauptung hat Louisa Martens, Teilnehmerin der Jugendmedientage, schon öfter gehört. Freiberuflerinnen und Freiberufler könnten ihre Arbeiten gleichzeitig an mehrere Verlage und Sender verkaufen und würden so Gewinn machen. Dieser Behauptung widerspricht der Unternehmensberater Michael Zetzsche: „In der Regel haben freie Journalisten ein geringeres Einkommen“. Denn um sich mit Erfolg selbstständig machen zu können, sollte man sich zunächst mit einigen wirtschaftlichen Grundsätzen befassen: „Nicht jeder ist ein Unternehmertyp“, erklärt er im Erzählcafé zum Thema Existenzgründung in der Medienbranche. Wer sich nicht gut strukturieren könne, solle lieber nach einer Festanstellung suchen.
„Das Internet verdrängt die Printmedien“ – auch das ist ein Mythos, der viel diskutiert wird. Lina Ramm, die ebenfalls an den Jugendmedientagen teilnimmt, hat dazu eine klare Meinung: „Crossmedial zu arbeiten ist heutzutage wichtig, um mit der Zeit zu gehen“, erklärt sie. „Aber ich mag es einfach, etwas in der Hand zu halten und durchzublättern.“ Rudolf Porsch bestätigt, dass aber auch soziale Medien zum Journalismus gehören: „Habt Mut zur Veränderung“, appelliert er an seine Zuhörerinnen und Zuhörer. Auch auf die Frage nach dem Nutzen eines Journalistikstudiums hat er eine Antwort: „Studiert, was euch begeistert, und habt dabei immer ein klares Ziel vor Augen“. Das sei ein guter Weg, um in der Medienbranche Erfolg zu haben.
Anastasia Stark 17, Abendberg … hat gar keine Lust, Journalistik zu studieren. EIN GROSSES FRAGEZEICHEN TUT SICH AUF, WENN JUNGE MENSCHEN HERAUSFINDEN WOLLEN, WIE SIE AM BESTEN IN DEN JOURNALISMUS EINSTEIGEN.
Foto: Vera Deleja-Hotko
Wie lesen wir morgen? Was ist deine Antwort? Wir brauchen deine Ideen und Kreativität, um gemeinsam den Journalismus der Zukunft zu entwickeln. Bei MADSACK machst du mehr als Zeitung: in der Ausbildung, im Traineeprogramm, Volontariat oder Dualen Studium.
Regional erfolgreich in einem starken Verbund
madsack.de/karriere
DIE MEDIEN IN…
DEUTSCHLAND, SYRIEN, AFGHANISTAN UND RUSSLAND SIND SICHERLICH VERSCHIEDEN. AUS DIESEN LÄNDERN KOMMEN DIE REDAKTEURINNEN UND REDAKTEURE DIESES HEFTES. SIE HABEN GESAMMELT, WAS SIE ÜBER DIE MEDIEN IN IHRER HEIMAT DENKEN.
DIE MEDIEN IN DEUTSCHLAND SIND NOCH NICHT VIELFÄLTIG GENUG. LILLI, DEUTSCHLAND
DIE LOKALEN MEDIEN IN DEUTSCHLAND HALTEN SICH MIT IHRER POLITISCHEN MEINUNG MEIST ZURÜCK. ANASTASIA, DEUTSCHLAND
DIE DEUTSCHEN MEDIEN SIND BESSER ALS IHR RUF. TEILWEISE. LUISE, DEUTSCHLAND DIE MEDIENLANDSCHAFT IN SYRIEN IST SEHR AUFGETEILT, DA ES VERSCHIEDENE ARMEEN GIBT, DIE EIGENE MEDIENSYSTEME ZU IHREM EIGENEN VORTEIL AUFGEBAUT HABEN. BARAA, SYRIEN
Grafik: Benedikt Bungarten
DIE MEDIEN IN RUSSLAND KÖNNEN NICHTS GEGEN DIE OFFIZIELLE MEINUNG SCHREIBEN. DIESE MEINUNG IST: RUSSLAND IST DAS BESTE LAND UND DIE RESTLICHE WELT IST SCHLECHT. SERGEI, RUSSLAND
DIE MEDIEN IN DEUTSCHLAND SIND FREI. JONATHAN, DEUTSCHLAND
DIE MEDIEN IN AFGHANISTAN SIND ALLE PRIVAT AUSSER „MELI“. DAS IST DAS STAATLICHE MEDIUM UND GLAUBWÜRDIGER ALS DIE ANDEREN. BAHARA, AFGHANISTAN
DIE MEDIEN IN SYRIEN VERSCHWEIGEN VIELE EREIGNISSE, ZUM BEISPIEL BOMBEN IN DER HAUPTSTADT. SAAD, SYRIEN
IN SYRIEN BERICHTEN EINIGE MEDIEN ÜBER EREIGNISSE, LASSEN ABER DINGE WEG ODER FÜGEN ETWAS HINZU. MUHANNAD, SYRIEN
JOURNALISMUS FÜR ALLE – VON ALLEN?
BLOGS, TWITTER UND CO.: NOCH NIE WAR ES SO EINFACH, JOURNALISTISCHE INHALTE ZU PUBLIZIEREN. DAS IST CHANCE UND RISIKO ZUGLEICH, WIE LUISE MARTHA ANTER HERAUSFAND.
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resden ist ein Mekka des Journalismus. Nicht, weil allmontäglich Journalistinnen und Journalisten aus Deutschland und der Welt an die Elbe pilgern, um besorgte Bürgerinnen und Bürger zu beobachten. Sondern, weil hier ein Projekt ins Leben gerufen wurde, das jede oder jeden zur Journalistin oder zum Journalisten macht – zumindest theoretisch. Der Twitter-Account „Straßengezwitscher“ liefert Berichte und Live-Ticker rechter Demos und ihrer Gegenproteste aus ganz Sachsen – doch da die Gründer Johannes Filous und Alexej Hock nicht gleichzeitig an all diesen Orten sein können, stammen viele der Informationen von Bürgerinnen und Bürgern. „Wenn wir das können“, ist Alexej Hock überzeugt, „dann kann das jeder.“ So einfach ist das.
JOURNALISMUS STATT KATZENVIDEOS
teil. Und: Sie handeln nicht aus ökonomischem Kalkül, sondern, – zumindest der Idee nach – aus Interesse, aus Neugierde. Aber soll deshalb, wie die Moderatorin Luisa Meisel beim Abschlusspodium der Jugendmedientage fragte, „jeder, der ein Smartphone oder einen Stift hat, Journalistin oder Journalist werden können?“ Wer bürgt dafür, dass die Informationen relevant sind, dass sie richtig sind? Schließlich nimmt man seine Welt zu einem großen Teil durch die Medien wahr – entsprechend groß ist die Bedeutung derjenigen, die die
Foto: Vera Deleja-Hotko
Der Graswurzel- oder Bürgerjournalismus, er macht kein geringeres Versprechen als die Demokratisierung der Medienproduktion. Statt Katzenvideos zu schauen, beteiligen sich Bürgerjournalistinnen und Bürgerjournalisten am gesellschaftlichen Leben, nehmen aktiv daran
SIND HEUTE ALLE MENSCHEN JOURNALISTINNEN UND JOURNALISTEN?
Informationen auswählen. Manch einer oder eine fordert deshalb, den Beruf zu schützen. Arzt oder Ärztin kann sich schließlich auch nicht jeder oder jede nennen. Doch Artikel 5 des Grundgesetzes sichert die Informations- und Meinungsfreiheit aller Deutschen – und damit ihre Möglichkeit, sich journalistisch zu betätigen. Am Grundgesetz rütteln, um Informationssicherheit zu garantieren? Für den StraßengezwitscherGründer Andrej Hock ein Unding. Der Presseausweis sei zwar vernünftig – mehr Hürden aber lehnt er ab. „Wir verstehen uns ja selbst als
Luise Martha Anter 20, Dresden … legt sich jetzt endlich einen TwitterAccount an.
WIE ÜBERPRÜFST DU, OB DIE NACHRICHTEN DER WAHRHEIT ENTSPRECHEN? DIESE FRAGE HAT LILLI KERSTEN DEN TEILNEHMERINNEN UND TEILNEHMERN DER JUGENDMEDIENTAGE GESTELLT.
illary Clintons E-Mail-Affäre, Skandal um Trumps Äußerungen zur sexuellen Belästigung von Frauen, immer wieder neue Entwicklungen in der sog. Flüchtlingskrise und im Krieg in Syrien. Die Schreckensnachrichten prasseln nur so auf uns ein. Es ist schwer, den Überblick über die Masse der Behauptungen, Informationen und Ereignisse zu behalten. Was ist wahr, was falsch? Besonders bei heiklen Themen ist es wichtig, die Tatsachen zu kennen und sie von verfälschten Behauptungen zu unterscheiden. Doch wie informiert man sich über Nachrichten, überprüft sie auf ihren Wahrheitsgehalt? Wir haben Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jugendmedientage 2016 in Dresden befragt, wie sie überprüfen, ob Berichte den Tatsachen entsprechen.
JUGENDLICHE BEZIEHEN NACHRICHTEN ÜBER SOZIALE NETZWERKE
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Journalisten und nicht nur als Aktivisten.“ Nun könnte man einwenden: Klar, dass Hock dagegen ist. Eine Art Zugangsbeschränkung würde ihn schließlich ins journalistische Mark treffen. Doch auch die Landesvorsitzende der Jugendpresse Sachsen, Claudia Hammermüller, findet: „Es braucht kein Siegel!“ Entscheidend sei vielmehr die Fähigkeit des Rezipienten oder der Rezipientin, zu unterscheiden: zwischen „evidence und gossip“, zwischen tagesschau. de und Russia Today. Journalistinnen und Journalisten müssten deshalb nach klaren und vor allem nach-
HÄLTST DU DICH FÜR GUT INFORMIERT?
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GUTE QUELLE SCHLECHTE QUELLE: DIE TEILNEHMENDEN DER JUGENDMEDIENTAGE WÄGEN AB.
Foto: Vera Deleja-Hotko
vollziehbaren Richtlinien arbeiten. Auch Hock und Filou stellen solche Richtlinien auf. Neutralität, klare Begriffe, Vier-Augen-Prinzip. Aber es sind eben sie selbst, die diese Regeln aufstellen. Man wird kaum jemanden finden, der sich klar gegen Bürgerjournalismus stellt, das ist zum Abschlusspodium deutlich geworden. Am besten zusammengefasst hat das wohl Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, während des Podiums am Samstag. „Wir brauchen professionellen Journalismus, aber müssen den Rezipienten als ernst zu nehmenden Partner behandeln – als Koproduzent von Inhalten.“ Dem, sagt Hock, würde er sich anschließen.
Ein Großteil der Jugendlichen ist auf Facebook, Instagram und Twitter aktiv – von diesen Kanälen beziehen sie auch ihre Nachrichten. Einige geben sich damit zufrieden, nehmen hin, was in ihrem Newsfeed
steht. Klar, diese Plattformen sind gut, um herauszufinden, was an Geschehnissen vor sich geht. Dies reicht aber bei Weitem nicht aus, meinen einige Teilnehmende der Jugendmedientage. Um vielseitig informiert zu sein, wird bevorzugt auf viele verschiedene Medien zurückgegriffen. Man sieht Nachrichtensendungen, liest Zeitungen. Die jungen Menschen halten es für wichtig, sich nicht ausschließlich auf ein Medium zu verlassen: Vergleiche müssen gezogen werden. Was berichtet der Spiegel? Welche Meinung vertritt die ZEIT? Was schreiben unabhängige Journalistinnen und Journalisten? Die Einstellung spielt eben falls eine Rolle. Eine Teilnehmerin erzählt, sie verlasse sich bei der Informationenprüfung hauptsäch lich auf ihren ge sun den Men schenverstand. Unstimmigkeiten in der Berichterstattung fallen auf. Dann sind weitere Recherchen notwendig. Wichtig sei, kritisch zu bleiben. Informationen sollen zwar nicht von vornherein als falsch angesehen, doch zumindest hinterfragt werden. Dabei sei es wichtig, auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Jeden Tag die Zeitung zu lesen und
Nachrichtensendungen zu sehen, sorge dafür, dass man den Anschluss an die Ereignisse nicht verliert. Die Mehrzahl der Befragten gibt an, sich für gut informiert zu halten, Informationslücken werden jedoch eingeräumt. Die Wahrheit an sich, so eine Teilnehmerin, gebe es ohnehin nicht. Vieles sei Interpretationssache und hänge von den eigenen moralischen Verständnissen sowie der persönlichen Beziehung zu den Ereignissen ab. Die Umfrage unter den jungen Medienmachenden zeigt: Richtig informiert zu sein, erfordert Arbeit und den Willen, die Wahrheit statt undurchsichtiger Behauptungen zu kennen. Deshalb ist nicht nur korrekte Berichterstattung, sondern auch der richtige Umgang mit Nachrichten wichtig.
Lilli Kersten 19, Oppenweiler ...findet es wichtig, verschiedene Quellen zu nutzen und zu vergleichen, um nicht einseitig informiert zu sein.
ZENSUR IM NETZ
WAS DARF MEINUNG? AUF FACEBOOK WIRD ZEITUNGEN DIE ZENSUR VON KOMMENTAREN VORGEWORFEN. STIMMT DAS? JONATHAN FRITZ HAT SICH EIN URTEIL GEBILDET. EIN KOMMENTAR.
J
eder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ So lautet der Artikel 5 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, in Kraft getreten am 24. Mai 1949. Hier wird deutlich, wie wichtig Presse- und Meinungsfreiheit sind: so wichtig, dass sie im Grundgesetz festgehalten werden. Aber was darf Meinung alles? Auch das ist im Grundgesetz genau definiert: Sie darf nicht gegen die allgemeinen Gesetze verstoßen. Und genau darum geht es. Es geht um den Hass, welcher tagtäglich in Facebook-Kommentaren aus gedrückt wird, und auch die eigene Meinung beeinflusst. Jede Zeitung muss gesetzeswidrige Kommentare löschen, sobald sie auf sie aufmerksam geworden ist. Das ist aber nicht so einfach, weil es bei den
vielen Kommentaren schwierig ist, den Überblick zu behalten. Durch die Anonymität des Internets werden besonders bei brisanten Themen, wie zum Beispiel Flucht und Migration, sehr viele Leserinnen und Leser dazu animiert, ihre Meinung in Kommentaren auszudrücken.
SCHIMPFEN, DROHEN, HETZEN Viele der Kommentare, die sich tagtäglich unter Artikeln von Nachrichtenseiten oder auf Facebook finden, sind menschenverachtend und verfassungswidrig. Es wird beschimpft, bedroht und gehetzt, es werden Todesdrohungen gegen Politikerinnen und Politiker sowie Privatpersonen verfasst. Denn es prallen Meinungen aufeinander, weshalb hitzige Diskussionen darüber entstehen, wessen Meinung die einzig Richtige ist. Der Hass gegen Andersdenkende wird immer weiter genährt.
Löschen also Zeitungen rechts widrige Kommentare, weil sie beleidigend oder ehrverletzend sind, ernten sie häufig Kritik. Die Kommentierenden sehen das oft als Zensur und werfen den Medien vor, parteiisch zu sein. Es ergibt sich die Frage, ob das Zensur ist oder nicht. Auf der einen Seite wird das Löschen von Kommentaren im Volksmund oft als Zensur bezeichnet, immerhin wird eine Meinung, obwohl Kom mentarfunktionen für die Mei nungen der Leserinnen und Leser normalerweise offen sind, entfernt beziehungsweise nicht veröffentlicht.
rechtswidrige Kommentare entfernt, da nicht nur die Verfasserinnen und Verfasser deshalb angezeigt werden können, sondern auch die jeweilige Zeitung für das Veröffentlichen von gesetzeswidrigen Inhalten verantwortlich gemacht werden kann. Das Entfernen der Kommentare ist also, wenn wirklich nur diese umstrittenen Aussagen gelöscht werden, keine Zensur – sie werden mit gutem Recht entfernt. Und auch zum Schutz der Kommentierenden.
ZUM SCHUTZ ALLER BETEILIGTEN
Jonathan Fritz 18, Stuttgart
Auf der anderen Seite werden die Kommentare nicht ohne Hin tergedanken entfernt: Viele Zeitungen versuchen durch das Löschen von beleidigenden Kommentaren die Diskussion unter den Artikeln zu kontrollieren. Außerdem werden
… findet, dass Hass keine Meinung ist.
I NFO Hasskommentare auf Facebook sind grundsätzlich strafbar. Man darf andere Menschen oder Menschengruppen nicht beleidigen oder gar gegen sie hetzen. In erster Linie haften natürlich die Verfasserinnen und Verfasser für ihre Kommentare. Doch in Internetforen und sozialen Netzwerken wie Facebook haften unter bestimmten Bedingungen auch die Betreiberinnen und Betreiber der Seite. Diese sind zwar nicht dazu verpflichtet, alle Kommentare zu lesen und zu prüfen. Aber es gilt: Sobald sie beleidigende Kommentare zur Kenntnis genommen haben, müssen sie diese löschen.
Quelle: Prof. Dr. Tobias Gostomzyk
K(L)EINE BÜHNE ZWISCHEN NEUTRALITÄT UND
IMAGERETTUNG: WIE GEHEN DRESDNER JOURNALISTINNEN UND JOURNALISTEN MIT PEGIDA UM? LUISE MARTHA ANTER HAT SICH UMGEHÖRT.
Foto: DMG/Dittrich
DRESDENS IMAGE HAT SICH VERÄNDERT.
E
s ist der 3. Oktober 2016, abends. Die Facebook-Timeline verrät, dass die Einheitsfeierlichkeiten in Dresden ein bisschen mehr waren als Bier und Bratwurst und heile Volksfestwelt. Die Posts zeigen Pöbeleien, zeigen Wut, schlicht Hass. Und dann plötzlich dieses Video, in dem ein Reporter der Zeitung „Die Welt“ sehr ernst und sehr besorgt sagt: Er sei froh, wieder in Berlin zu sein. Weg aus dieser dunkeldeutschen Hauptstadt, weg aus Dresden. Der Stadt mit dem Image-
problem. An die Stelle von Frauenkirche, Zwinger und Eierschecke ist im kollektiven Synonym-Wörterbuch ein einziges Wort getreten. Das P-Wort. Kein Wunder, möchte man meinen, schließlich berichteten die Medien von Anfang an gern und viel über die Bewegung. Manch einer findet gar: Es waren die Medien, die Pegida groß gemacht haben. Die Medien sehen das gerade aber ein bisschen anders. In Gestalt von Cornelius Pollmer und Henrich
Löbbers sitzen sie beim Erzählcafé der Jugendmedientage und berichten von ihrer Arbeit an der PegidaFront.
PLÖTZLICH PEGIDA „Die Medien“, betont der Mitteldeutschland-Korrespondent der Süddeutschenzeitung, Pollmer, „können Tendenzen verstärken. Was sie nicht können: Ereignisse kreieren oder totschweigen.“ Hat die Art und Weise der Berichterstattung zum
Imageverlust der Stadt beigetragen? Gerade am Anfang, das beklagen viele, hätten die Medien Pegida als rechtsextreme Bewegung behandelt, die man bekämpfen muss, hätten zu sehr Partei ergriffen für die Gegenseite. Heinrich Löbbers von der Sächsischen Zeitung gibt zu, dass man den Umgang mit Pegida erst lernen musste. „Erst waren wir völlig irritiert. Wir hatten diese Leute gar nicht auf dem Schirm.“ Doch plötzlich waren sie da, die Unzufriedenen. Trugen Montag für Montag ein Weltbild durch die Dresdner Straßen, das dem Grundkonsens einer demokratischen Gesellschaft die kalte Schulter zeigt. Und immer wieder: „Lü gen pres se!“ Die Medien – korrupt, un glaubwürdig, kontrolliert. Was macht man da als Journalistin oder Journalist? Kann man da noch kühl analysieren? Eine „chirurgische Distanz“, sagt Pollmer – die habe er nicht. Erst recht nicht, da er selbst Dresdner ist. Doch er trennt zwischen der emotionalen und der beruflichen Seite. Über allem steht das Ziel einer „sachgerechten Berichterstattung“. Und das heißt vor allem: die Bühne für Pegida nicht überproportional groß werden lassen. Wenn montagabends 5000 Menschen durch die Straße ziehen, dann sind das 5000 von 500 000 Dresdnerinnen und Dresdnern. Ein Prozent. Ein Prozent, das nicht selten einen weit größeren Anteil der Aufmerksamkeit bekam als die restlichen 99 Prozent. Es hat nun einmal einen hohen Nachrichtenwert, wenn „Merkel weg muss“ – und einen noch
höheren, wenn ihr Galgen durch die Gegend getragen wird. Dann kommen die Journalistinnen und Journalisten aus ganz Deutschland, aus der ganzen Welt und berichten über die „Morddrohung“, ziehen weiter zum nächsten Skandal. Helikopter-Journalismus nennt sich so etwas – und ist das Gegenteil von dem, was die Journalistinnen und Journalisten vor Ort versuchen.
EIN BISSCHEN FÜR EINE GUTE SACHE Die Sächsische Zeitung begegnet Pegida mittlerweile mit bestimmten Prinzipien. Mit den Organisatorinnen und Organisatoren geht man hart ins Gericht. Den Mitläuferinnen und Mitläufern hingegen will man Raum bieten, sie vielleicht verstehen. Und was ist mit der Gegenseite? Mit denen, die für ein weltoffenes Dresden werben? Denen, so Löbbers, begegne man mit „passiver Sympathie“. Aus Interesse an der Stadt. Manchmal macht sich ein Journalist oder eine Journalistin vielleicht doch mit einer guten Sache gemein – ein kleines bisschen.
Luise Martha Anter 20, Dresden …blickt jetzt optimistischer in die (Medien-) Zukunft. Ein bisschen zumindest.
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ZU DEN PER SONEN Mahmoud Serhan (37) und Amloud Alamir (40), aus Syrien Mahmoud Serhan kam mithilfe der Organisation "Reporter ohne Grenzen" nach Deutschland und lebt seit fast zwei Jahren hier. Praxiserfahrung sammelte er beim Handelsblatt. Amloud Alamir ist vor fast drei Jahren nach Deutschland gekommen und war bisher für Deutschlandradio Kultur und das rbb-Kulturmagazin „Stilbruch“ aktiv.
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Foto: Vera Deleja-Hotko
»DEUTSCHE MEDIEN SOLLTEN DEN DINGEN NOCH TIEFER AUF DEN GRUND GEHEN.« IGNORANZ STATT LÜGEN
DIE JOURNALISTIN AMLOUD ALAMIR UND DER JOURNALIST MAHMOUD SERHAN SPRECHEN IM INTERVIEW MIT SANDRA KLUCK ÜBER PRESSEFREIHEIT, OBJEKTIVITÄT UND IHREN WUNSCH, EIN SPRACHROHR FÜR DIE MENSCHEN IN SYRIEN ZU SEIN.
FRAU ALAMIR, HERR SERHAN, ZURZEIT ARBEITEN SIE BEIDE FÜR DEUTSCHE MEDIEN. WIE SIND SIE AN DIESE JOBS GEKOMMEN? Amloud Alamir: Über Beziehungen. Wir haben an vielen Workshops teilgenommen, um Journalistinnen und Journalisten kennenzulernen, unter anderem über Journalists Network und Neue Deutsche Medienmacher. So bin ich damals an mein Praktikum beim rbb gekommen. Mahmoud Serhan: Reporter ohne Grenzen haben mir dabei geholfen, Beziehungen zu vielen Journalistinnen und Journalisten hier aufzubauen. Der Chefredakteur vom Handelsblatt hat mir ein Praktikum angeboten. Da habe ich natürlich sofort zugesagt.
WAS SIND ZURZEIT IHRE GRÖSSTEN HERAUSFORDERUNGEN IM JOB? Alamir: Die Sprache! (lacht) Serhan: Eine weitere Herausforderung ist es, die journalistischen Standards und Grenzen kennenzulernen. Als Journalist im Exil fallen mir viele Themen ein, die ich besprechen möchte, aber interessiert das auch meine Chefredaktion? Wir haben aber die Pflicht, unsere Arbeit hier weiter zu verfolgen und dabei die Menschen in Syrien nicht zu vergessen.
WORIH UNTERSCHEIDEN SICH SYRISCHE UND DEUTSCHE MEDIEN? Alamir: In der Freiheit. Du kannst in Deutschland über alles recherchieren, was dich interessiert, es gibt keine Tabus. Hier hast du die Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen. In Syrien ist das schwierig. Serhan: Wir sind damals mit der Erwartung
hergekommen, einen sehr großen Toleranzbereich vorzufinden. Es zeigt sich aber immer erst, wie es um die Pressefreiheit bestellt ist, wenn es um kritische Auseinandersetzungen geht. Es gibt immer irgendwo eine Grenze, aber ich weiß noch nicht, wo sie sich hier befindet. Alamir: Ich habe einmal einen Artikel über Deborah Feldman, eine jüdische Autorin, geschrieben. Sie hat einen chassidischen Hintergrund und äußerte sich kritisch über ihre Gemeinde. Viele beschreiben sie als Antisemitin. Ich habe immer die Sorge, wenn ich über jüdische Personen schreibe, dass die Leute es antisemitisch finden, sogar hier. In jeder Gesellschaft gibt es Grenzen. Bisher habe ich die Grenzen hier aber noch nicht kennengelernt. Alles, was ich geschrieben habe, wurde akzeptiert.
DEN DEUTSCHEN MEDIEN WIRD VON EINIGEN VORGEWORFEN, EINE „LÜGENPRESSE“ ZU SEIN. WIE DENKEN SIE DARÜBER? Serhan: Ich denke nicht, dass die Medien lügen, aber sie ignorieren. Ich spreche nicht genügend Deutsch, um Medien zu vergleichen, aber meinen Erfahrungen beim Handelsblatt nach wird für gewöhnlich nur an der Oberfläche gekratzt. Ignoranz wirkt sich auf Menschen aus: Wenn die Medien etwas Bestimmtes über den Krieg in Syrien berichten, dann vertrauen Menschen darauf, dass es stimmt. Deutsche Medien sollten den Dingen noch tiefer auf den Grund gehen. Alamir: Ich finde, wenn du nur über kleine Aspekte sprichst und das große Ganze ignorierst, ist es eine Art von Lüge.
WAS DENKEN SIE ÜBER DIE BERICHTERSTATTUNG ÜBER GEFLÜCHTETE IN DEUTSCHLAND?
Alamir: Ehrlich gesagt finde ich, dass sie nicht gut genug ist. Die Medien versuchen „über“ Geflüchtete zu reden, anstatt „mit“ ihnen. Man braucht aber ein umfassendes Bild von einer Thematik, nicht nur Teilaspekte. Serhan: Journalistinnen und Journalisten berichten nie völlig objektiv. Der eine verlässt seine Redaktion, um zu zeigen, dass Geflüchtete schlecht sind, und findet etwas, das es beweist. Ein anderer Journalist geht raus und möchte zeigen, dass Geflüchtete gut sind. Oft ignorieren die Medien jene Menschen, die leiden. Das Gesetz zum Familiennachzug von Geflüchteten hat viel Schmerz verursacht. Hast du etwa einen deutschen Bericht dazu gelesen? Falls ja, ist das wunderbar. Aber grundsätzlich war es so: Mehrere Monate nach Beschluss fingen sie an, darüber zu berichten. Warum? Wenn sie berichten, dann berichten sie zu spät. Der Sinn von Medien liegt darin, aktuelle Geschehnisse zu reflektieren und die Möglichkeit einer Korrektur zu schaffen.
Serhan: Zu allererst brauchen ausländische Journalistinnen und Journalisten Praktika, um die journalistische Arbeit hier zu verstehen. Es ist wichtig, dass die Medien ihre Pforten öffnen und ihnen einen richtigen Job anbieten können. Welchen Nutzen hat die Erfahrung aus dem Praktikum, wenn man diese nicht nutzen kann? Wir sind angewiesen auf einen richtigen Job, um nicht abhängig von staatlicher Unterstützung zu sein.
IN WENIGEN WORTEN: WELCHE PLÄNE HABEN SIE FÜR IHRE BERUFLICHE ZUKUNFT? Serhan: Ich möchte meiner Pflicht als Journalist nachkommen und den Europäern die Lage im Nahen Osten erklären. Diese Pflicht ist nicht an eine Nation gebunden, es geht um allgemeine Menschenrechte. Alamir: Es ist mir wichtig, offen über die Lage in Syrien zu sprechen, aber auch den Menschen in Berlin dabei zu helfen, gegenseitiges Verständnis aufzubringen.
INWIEFERN KÖNNEN DEUTSCHE MEDIEN VON AUSLÄNDISCHEN JOURNALISTEN UND JOURNA LISTINNEN PROFITIEREN? Alamir: Sie können die Situation in ihrem Heimatland nachvollziehen und erklären. Sie kennen die Kultur, die Hintergründe und die Menschen. Stereotypen existieren nicht wirklich. Nicht alle Frauen in Syrien tragen ein Kopftuch oder sind ungebildet, wenn sie eines tragen. Das bereichert die Berichte.
WIE KANN DIE INTEGRATION AUSLÄNDISCHER JOURNALISTEN UND JOURNALISTINNEN IN DEN DEUTSCHEN ARBEITSMARKT VERBESSERT WERDEN?
Sandra Kluck 22, Hannover ... möchte spätestens nach diesem Interview den Punkt „Arabisch lernen“ auf ihre Bucket List setzen.
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HASS UND HETZE – HÖRT AUF DAMIT!
Foto: Vera Deleja-Hotko
DEN MEDIEN WIRD VORGEWORFEN, IMMER WIEDER EIN VERZERRTES BILD DER REALITÄT ZU ZEIGEN. BESONDERS ÜBER GEFLÜCHTETE WIRD HÄUFIG NEGATIV BERICHTET. ZAKARYA IBRAHEM, DER AUS SYRIEN KOMMT UND IN WIEN LEBT, MÖCHTE NICHT MEHR ALS MONSTER GESEHEN WERDEN. EIN KOMMENTAR.
MONSTER, FLÜCHTLING ODER MENSCH: IN DEN MEDIEN KANN DIE WORTWAHL ENTSCHEIDEND SEIN.
I
ch schaue kein fern, lese keine Zeitung und höre kein Radio. Nicht in deutscher Sprache. Auch nicht in österreichischem Dialekt. Warum? Medien, die ich alltäglich in meiner neuen Heimatstadt Wien sehe, lese oder höre, zeigen immer dasselbe Bild. Ein verzerrtes Bild. Wir Geflüchtete werden als Monster, Terrorostinnen und Terroristen und radikale Islamistinnen und Islamisten an den Pranger gestellt und in eine Schublade mit dem Übel der Welt gesteckt. Doch so bin ich nicht. Jeden Morgen sehe ich in der U-Bahn bei meinen Sitznachbarn und Sitznachbarinnen die Schlagzeilen des Tages. Sie drehen sich um Menschen auf Flucht, oder in anderen Worten, um Monster, ohne Moral und Verstand, die aus Jux und Tollerei Frauen belästigen. Es wird über junge Männer geschrieben. Mitte Zwanzig, ohne Frau und Kind. So, wie ich einer bin. Vor zwei Jahren habe ich zu Fuß die österreichische Grenze überquert und um Asyl gebeten. Ich bin aus Syrien geflohen, um Krieg
und Hass hinter mir zu lassen, und habe in Österreich meine zweite Heimat gefunden. Hier kann ich ein Leben in Freiheit führen und ohne Furcht durch die Straßen gehen. Einen Schrecken bekomme ich nur, wenn ich morgens einen Blick auf die Schlagzeilen der österreichischen Boulevardblätter "Krone", "Österreich" und "Heute", also die reichweitenstärksten Tageszeitungen in Österreich, die täglich 54,5% der Bevölkerung erreichen, werfe. Diese Geflüchteten sind wir – und ich – nicht.
WIR, DIE GATTUNG MENSCH Wer sind überhaupt "wir" und wer seid überhaupt "ihr"? Es wird debattiert, wie unvereinbar beide Kulturen miteinander sind. Abendland und Morgenland. Sind wir nicht alle Individuen der Gattung Mensch? Menschen mit Gefühlen? Ich empfinde Trauer und Unverständnis, wenn ich diese Vorurteile schwarz auf weiß lesen muss. Egal, woher jemand
kommt, egal, woran jemand glaubt, für mich zählt der Mensch an sich. Ich kam nach Österreich, um in einer Gemeinschaft, ohne Hass und Hetze, zu leben. Ich fühle mich von dieser Darstellung verdinglicht. Geflüchtete Menschen sind keine Objekte, sondern Teil der Gemeinschaft. Ich bin Journalist und möchte meine Sichtweisen in den reichweitenstärksten Medien einbringen, um Geflüchteten den Zugang zu lokalen Medien zu erleichtern. Ich möchte nicht über, sondern mit geflüchteten Menschen berichten.
Zakarya Ibrahem 26, Wien Vera Deleja-Hotko 23, Wien … haben keine Angst vor Monstern.
FREI, ABER NICHT UNGEBUNDEN
PRESSEFREIHEIT ODER ABHÄNGIGKEIT: VIER MEDIENMACHER DEBATTIEREN, TATJANA TIEFENTHAL ZIEHT EIN RESÜMEE DER PODIUMSDISKUSSION.
D
irekt zu Beginn wird deutlich: Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Presse in Deutschland sehr gut aufgestellt. Es gibt keine Barrieren bei der Gründung von Medien. Jeder kann morgen anfangen, Journalistin oder Journalist zu werden. Aber: „Die Frage ist nicht, wie frei die Presse ist, sondern wie vielfältig“, findet Dirk Benninghoff, Chefredakteur bei der Kommunikationsagentur fischerAppelt. In der Diskussion wird deutlich, dass man dem „Zwang der Leser“ unterliegt. Journalisten und Journalistinnen haben ein Interesse daran, dass ihre Artikel gelesen werden, haben jedoch keinen Einfluss auf die Einstellung der Menschen. Sie richten sich nach dem, was die Leserinnen und Leser haben möchten.
Foto: Jonas Walzberg
DIGITAL STATT GEDRUCKT
DISKUSSION: MEDIENMACHER DIRK BENNINGHOFF (MITTE) MEINT, DASS DIE PRESSE VOR ALLEM VIELFÄLTIG SEIN MUSS.
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Die Medien befinden sich in einem „Transformationsprozess“; Zeitungen verlagern sich ins Netz und werden digital. Die Wege, Medien zu veröffentlichen, sind vielfältiger geworden. Wir befinden uns in einem goldenen Zeitalter der Informationsvermittlung, dies kann die journalistische Arbeit sowohl erleichtern als auch erschweren. „Man ist aktuell extrem fehleranfällig“, sagt Robert Kuhne, Chefredakteur der Morgenpost Sachsen. Dies liege an der Schnelligkeit, in der Nachrichten produziert und verbreitet werden. Da jeder ein Medium gründen kann,
gibt es „die Presse“ nicht. Vielmehr besteht sie aus vielen verschiedenen Journalistinnen und Journalisten. Die Wahrheit steckt in jedem einzelnen Menschen. Gesellschaftliche Strömungen nehmen durchaus Einfluss auf die Themen, über die berichtet wird. Eine Einigkeit großer Zeitungen sollte jedoch nicht als Gleichschaltung gewertet werden.
"FILTER-BUBBLE" UND "LÜGENPRESSE" Der Verantwortliche für Kommunikation der Friedrich-NaumannStiftung, Boris Eichler, glaubt, dass einige Menschen sich in einer „Filter-Bubble“ einschließen, durch die sie nur Informationen lassen, die ihrem Weltbild entsprechen. „Lügenpresse zu schreiben, ist eine hervorragende Ausrede, um Medien nicht mehr wahrnehmen zu müssen“. Der Reporter Hubertus Koch ist jedoch auch davon überzeugt, dass Betroffene oftmals zu wenig befragt werden, obwohl sie so gut zu erreichen sind wie nie zuvor.
Tatjana Tiefenthal 18, Hagen ... ist davon überzeugt, dass die digitalen Medien enorm zur Pressefreiheit beitragen.
F R I S CH , F RU C HTIG, S E L BS TGE P R E S S T – M IT M ACHEN @PO LIT IK O RAN G E.DE
I MPR ESSUM Diese Ausgabe von politikorange entstand während der Jugendmedientage 2016, die vom 27. bis 30. Oktober in Dresden stattfanden. Herausgeber und Redaktion: politikorange c/o Jugendpresse Deutschland e.V., Alt-Moabit 89, 10559 Berlin www.politikorange.de
P
rintmagazine, Blog und Videos: politikorange erreicht sein Publikum über viele Kanäle und steht neuen Wegen offen gegenüber. Junge, kreative Köpfe berichten in wechselnden Redaktionsteams aus einer frischen Perspektive. Ob aktuelle Themen aus Politik und Gesellschaft oder die kritische Begleitung von Veranstaltungen – politikorange ist mittendrin.
POLITIKORANGE – DAS MULTIMEDIUM politikorange wurde 2002 als Veranstaltungszeitung ins Leben gerufen. Rund 130 Ausgaben wurden seither produziert. Seit Anfang an gehören Kongresse, Festivals, Parteitage und viele weitere Events zum Programm. 2004 kamen Themenhefte hinzu, die aktuelle Fragen aus einer jugendlichen Sichtweise betrachten. 2009 nahm politikorange Video und Blog ins Portfolio auf und präsentiert spannende Beiträge unter den Labels politikorange TV und blog.politikorange.de.
WO KANN ICH POLITIKORANGE LESEN? Gedruckte Ausgaben werden direkt auf Veranstaltungen und über die Landesverbände der Jugendpresse Deutschland e.V. verteilt. Im Online-Archiv auf politikorange.de können digitalisierte Magazine durchgeblättert und Videos aufgerufen werden. Printausgaben können kostenlos nachbestellt werden – natürlich nur, solange der Vorrat reicht. Für das Stöbern auf dem Blog genügt der Aufruf von blog.politikorange.de.
WARUM EIGENTLICH POLITIKORANGE? Welchen Blick haben Jugendliche auf Politik und gesellschaftliche Veränderungen? politikorange bietet jungen Menschen zwischen 16 und 26 Jahren eine Plattform für Meinungsaustausch und den Ausbau eigener Fähigkeiten. Engagement und Begeisterung sind die Grundpfeiler für journalistisch anspruchsvolle Ergebnisse aus jugendlicher Perspektive. Frei nach dem Motto: frisch, fruchtig, selbstgepresst.
DIE REDAKTION TAUCHTE NUR FÜR DIESES FOTO IN DAS MÄRCHENLAND EIN.
WER MACHT POLITIKORANGE? Junge Journalistinnen und Journalisten – sie recherchieren, berichten und kommentieren. Wer neugierig und engagiert in Richtung Journalismus gehen will, ist bei politikorange an der richtigen Adresse. Genauso willkommen sind begeisterte Fotografinnen und Fotografen, Videoredakteurinnen und -redakteure sowie kreative Köpfe fürs Layout. politikorange funktioniert als Lehrredaktion: Die Teilnahme ist kostenlos und wird für jede Ausgabe neu ausgeschrieben – der Einstieg ist damit ganz einfach. Den Rahmen für Organisation und Vertrieb stellt die Jugendpresse Deutschland. Du willst dabei sein? Infos gibt es unter politikorange.de, in unserem Newsletter und via Facebook und Twitter. mitmachen@politikorange.de
edien- oder Märchenland“ war das Motto der Jugendmedientage 2016. Außer für dieses Foto tauchten unsere Redakteurinnen und Redakteure jedoch nicht in Märchenlandschaften ab. Auch bei den Podiumsdiskussionen und Workshops hatten Unwahrheiten nichts zu suchen. Insgesamt 350 Jugendliche nahmen an dem großen Kongress in Dresden teil. Dazu kamen zahlreiche erfahrene Journalistinnen
und Journalisten sowie Expertinnen und Experten, die ihr Wissen weitergaben. Die Redakteurinnen und Redakteure dieses Hefts recherchierten auf der Veranstaltung. Außerdem berichteten sie live auf Facebook über das große Event. Sie waren nicht nur mit Stift, Block und Fotokamera unterwegs, sondern auch mit einem Aufnahmegerät und einer Videokamera. So entstanden ein Video und Audio-
Redaktion: Luise Martha Anter, Tatjana Tiefenthal, Anastasia Stark, Sandra Kluck, Lilli Kersten, Jonathan Fritz, Vera Deleja-Hotko, Sergei Gubanov, Bahara Taheri, Muhannad Rasol, Zakarya Ibrahem, Saad Agh, Baraa Alkurdi Bildredaktion: Vera Deleja-Hotko (vera.deleja-hotko@hotmail.com) Layout: Benedikt Bungarten (b.bungarten@jugendpresse.de) Projektleitung: Inga Dreyer (i.dreyer@jugendpresse.de) Druck: Leipziger Verlags- und Druckereigesellschaft mbH & Co. KG. Auflage: 1500 Stück
Foto: Jonas Walzberg
DIE JUGENDMEDIENTAGE
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Chefredaktion (V.i.S.d.P.): Sandra Schaftner (sandra.schaftner@t-online.de) Laura Hackl (laura.hackl@yahoo.com)
Umfragen, die zusammen mit ein paar anderen Texten im politikorange-Blog stehen. Alle Beiträge produzierten die Redakteurinnen und Redakteure vor Ort - in einem kleinen Redaktionsbereich mitten im Messegebäude. Dabei kamen insgesamt fünf Sprachen zum Einsatz: Deutsch, Englisch, Arabisch, Farsi und Russisch. Eine kleine Kostprobe findet ihr in der Mitte dieses Heftes.
MACH MIT! L U S T A U F J OU R NA L I S M U S ? OB A L S A U TOR , L AY OU TE R , F OTOG R A F OD E R CH E F R E D A K TE U R – BE I P OL I TI K OR A NG E K A NNS T A U CH D U A K TI V W E R D E N!
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