K u lt u r & Kritik
Oberflächlichkeit Entgrenzung des Verdachts Cloud Alle Daten Pop-Import China
Heft 3 Herbst 2013
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Z eit s ch r ift
»POP. Kultur und Kritik« erscheint in zwei Ausgaben pro Jahr, im März und September. Jahresabonnement inklusive Versand: Deutschland: 30 Euro, International: 40 Euro Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht bis zum 1. Februar eines Jahres gekündigt wird. Bestellung und Abonnement: vertrieb @ transcript - verlag, Telefon: + 49 521 39379742, Fax: + 49 521 39379734 Weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de/pop Die Zeitschrift »POP. Kultur und Kritik« ist auch über jede Buchhandlung erhältlich.
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www.michaelitkoff.com
Heft 3 Herbst 2013
www.pop-zeitschrift.de
Ba n g k o k , Tha i l a n d # 1 1 , 2003 Š Michael Itkoff
POP . K u l t u r u n d K r i t i k
POP . K u l t u r u n d K r i t i k Heft 3 Herbst 2013
INha lt RUBRI K EN : Z u r Z e i t , E s s a y s u n d Forschungsbeiträge
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Zur Zeit Joseph Vogl Funktionale Entdifferenzierung
S. 10 Lars Koch Terror 3.0 – »Homeland« und die Entgrenzung des Verdachts
S. 17 Kai-Uwe Hellmann S e l e k t i v e W ah r h e i t e n u n d H ö f l i c hk e i t d e s Ma r k e t i n g S. 22
Wolfgang Ullrich Netzwerkbürger als Kunstpublikum
S. 28
Carolin Gerlitz Pa r t i z i p a t i v e Zah l e n . V o m W e r t d e r L i k e s
S. 34 Oliver Leistert M i e t m o d e l l S o f t wa r e A d o b e
S. 39 Thomas Hecken A l l e Da t e n
S. 43 Marcus S. Kleiner B u s h i d o u n d d e r d e u t s c h e K o n s e r va t i s m u s
S. 47 Thomas Hecken Cha r t - u n d La n d l u s t
S. 54 Monica Titton Sünder und Heilige, Tisci und Givenchy
S. 58 Robin Curtis V i s z e r alität u n d Monoton i e: » G i r l s « , » S p r i n g B r e ak e r s «
S. 66 Christian Huck Video-Dekompositionen
S. 71 Christian Rakow Th e a t e r a l s P o p k o n z e r t
S. 76 Moritz Baßler / Heinz Drügh All uns’re problems oder: ›W it t y, s e x y, g i m m ick y, g l a morou s ‹ h eute
S. 81 Heinz Drügh T V - S e r i e n - A n a ly s e n
S. 87
ESS A YS Jonathan Lethem E i n stü r z e n de Di stan z . Möchtegerns Liebeslied o d e r D e r A u t o r a l s Fa n
S. 94 Nicolas Pethes Pop-Wissen
S. 102 Thomas Hecken Z u r W ah l
S. 113
FO r SC H UNGS BEITRÄGE Ling Yang P o p - Ko n v e r g e n z . K u lt u r i m p o r t e , s t aa t l i c h e K o n t r o l l e u n d k u l t u r e l l e V i e l f a l t i n Ch i n a
S. 132 Torsten Hahn ›Wa llpa pe r A r t‹ . Z u r Ästh eti k s e r i e ll g e s ta lt e t e r O b e r f l ä c h e n
S. 156
Hinweis zu den Autorinnen und Autoren
S. 177 Impressum
S. 179
P r o s p e r i t y & D e c ay
220cm × 175cm × 32cm, Mixed media, Courtesy of the artist, 2006 © James Hopkins
www.jameshopkinsworks.com
Collage, 2013 Š Shahin Zarinbal & Sina Michalskaja
SEITE 8 – 91
Zur Zeit Welche Ereignisse der letzten Zeit lohnen einen Rückblick? Was verdient eine kritische Zusammenfassug? Welche Analysen oder Kommentare zählen nicht zum Konsens der aktuellen Berichterstattung? Feste Autorinnen und Autoren werden darauf Antworten geben, regelmäßig in den Bereichen Musik, Mode, Politik, Presse, Kunst, Internet, Multimedia, Technologie, Ökonomie, TV, Film, Marketing. Die Artikel dieser Ausgabe wurden von Mai bis Juli 2013 geschrieben.
Ök o n o m i e
Funktion a l e E ntdifferen z i e ru n g Joseph Vogl
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ier Tage im amerikanischen Herbst 2008. Am Freitagmorgen, 12. Septem ber, stand die New Yorker Investmentbank Lehman Brothers vor dem Bankrott und löste einen schnellen Takt von Krisensitzungen zwischen amerikanischen und britischen Regierungsstellen, Notenbankchefs, internationalen Großbanken und Privatinvestoren aus. Bereits im März 2008 musste die Invest mentbank Bear Stearns mit Staatsgarantien von 29 Milliarden Dollar zur Übernahme durch JP Morgan gezwungen werden. Nachdem die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac mit 140 Milliarden gerettet worden waren, schloss US-Finanzminister Henry Paulsen die Bereitstellung weiterer Gelder für Lehman aus. Noch am Freitagabend wurde den Vertretern internationaler Banken die Notwendigkeit einer privatwirtschaftlichen Lösung klar gemacht. Verschiedene Investoren sollten beteiligt, Risiken gestreut werden. Die Bank of America und Barclays mit Sitz in London waren interessiert. Inzwischen meldete auch der Versicherungskonzern A.I.G. Liquiditätsprobleme, und am Samstagmorgen war erkennbar, dass das »Wohl des globalen Finanzsystems« auf dem Spiel stand, wie einer der beteiligten Manager bemerkte. Gleichzeitig suchte die angeschlagene Investmentbank Merrill Lynch nach neuen Kapitalbeteiligungen. Sie wurde nach kurzen Verhandlungen von der Bank of America übernommen, die somit für eine Rettung von Lehman nicht mehr bereitstand. Im Laufe des Samstags musste man einsehen, dass die Ausfälle von Lehman größer als angenommen waren. Zudem kamen die Bemühungen zur Übernahme durch Barclays nicht voran. Zwar konnte die britische Bank einen plausiblen POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 3 Herbst 2013 ◆ S . 10–16 ◆ © transcript
POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 3 Herbst 2013 ◆ Joseph Vogl ◆ Funktionale Entdifferenzierung
Finanzplan vorlegen, benötigte aber bis zur Zustimmung ihrer Aktionäre finan zielle Garantien von bis zu 60 Milliarden Dollar, die kein Investor bereitstellen wollte. Die Zeit bis Geschäftsbeginn am Montag wurde knapp. In Telefonaten, die am Sonntag, 14. September, zwischen amerikanischem Finanzministerium, New Yorker Notenbank, Barclays, britischem Schatzkanzler und der britischen Finanzaufsichtsbehörde geführt wurden, ergab sich, dass London ohne Finanzgarantie dem Geschäft nicht zustimmen würde. Gegen Mittag zerschlug sich die Barclays-Option. Begleitet von der Hoffnung, die Finanzmärkte wären angesichts der kritischen Lage auf diesen Fall vorbereitet, ging Lehman Brothers in der Nacht zum Montag, 16. September 2008, in den Konkurs. Auch wenn die letzte Finanzkrise mit den Engpässen im Interbankenhandel 2007 begann, konnte sie erst nach dem ›Lehman Weekend‹ zum globalen Systemkollaps eskalieren. Was dann geschah, ist bekannt und führt in das Reich jener Lösungen, die die Probleme verschärfen. Der Lehman-Konkurs zog 80 Insolvenzverfahren in 18 verschiedenen Ländern nach sich. Bis zum Jahresende 2008 verschwanden 53 Banken oder wurden verstaatlicht. In der Folge kollabierten internationale Geldmarktfonds, der Handel mit Geldmarktpapieren, Kapital- und Kreditmärkte brachen ein, Kreditzinsen und Risikoprämien stiegen, von den USA ausgehend breitete sich die Spirale von Liquiditätslöchern, Kreditklemmen, Insolvenzen und Rettungspaketen weltweit aus. Der Kollaps auf den Finanzmärkten wurde zur Weltwirtschaftskrise mit rückläufigem Welthandel, schrumpfenden Bruttoinlandsprodukten, Steuerausfällen und steigender Arbeitslosigkeit. Bis hin zu den Verwerfungen in der Euro-Zone hat sich die Wirksamkeit des Herbstwochenendes 2008 fortgesetzt und über Schuldenbremsen und Austeritätsprogramme das Regierungshandeln diktiert. Dabei erscheint es bemerkenswert, dass die Entscheidung über den LehmanKonkurs keine Entscheidung war. Viel eher setzte sich ein Gesetz der unbeabsichtigten Folgen durch und lieferte mit den Ereignissen vom September 2008 den Stoff zu einer Finanz-Novelle, deren Dynamik Kleist’schen Charakter gewann. Ernsthafte Absichten, trügerische Hoffnungen, Fehleinschätzungen, widrige Umstände, ein Gemenge aus Geschäftsinteressen, öffentlichen und politischen Rücksichten, Missverständnisse und kleine Sturheiten ergaben ein Ereignisformat, das die beteiligten Akteure ebenso verantwortlich wie bar jeder Zurechnung erscheinen ließ. So sehr die unerhörte Begebenheit von 2008 das globale Wirtschaftsgeschehen bestimmte, so wenig stößt man bei ihrer Rekonstruktion auf einen verlässlichen Grund. Ähnlich wie am Ende von Karl Kraus’ »Die letzten Tage der Menschheit« die Stimme eines ratlosen Gottes zum Desaster des Ersten Weltkriegs bemerkte: »Ich habe es nicht gewollt«, musste einer der Protagonisten vom September 2008 abschließend resümieren: »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.« Wenn das Septemberwochenende 2008 dennoch als prägnanter Moment im jüngeren Wirtschaftsgeschehen angesehen werden kann, d.h. als eine Konstellation,
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in der sich die Determinanten ebendieses Geschehens versammeln, so liegt das daran, dass die in ihm wirksamen Prozesse und Agenturen zu jenen Bestandteilen gehören, die an der Formierung polit-ökonomischer Handlungsmacht beteiligt sind. Was im September 2008 passierte, muss als exemplarisches Entscheidungsspiel begriffen werden, als Schaubild für die Verfertigung von Entscheidungsprozessen im finanzökonomischen Regime. Ein Konsortium aus öffentlichen und privaten Akteuren, improvisierte Meetings, geheime Absprachen und ein Zeitdruck, der von den Bewegungen der Finanzmärkte diktiert wird – all das hat seit 2008 das gouvernementale Handeln und das Geschick gegenwärtiger Gesellschaften bestimmt. Von den hektischen Verhandlungen über die Rettung von Lehman bis zur europäischen Krisenpolitik lässt sich eine Infor malisierung relevanter Entscheidungen in der Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik verzeichnen, eine Informalisierung ihrer Prozeduren und ihrer Instanzen. Expertenkomitees, Ausschüsse oder Troikas hatten die Regierungsgeschäfte übernommen und waren nur durch besondere Situationen und Zwangslagen legitimiert. Seit 2008 hat sich also das Programm einer Notstandspolitik formiert, deren Eigenart sich durch folgende Merkmale auszeichnet: durch Ausnahmesituati onen, die außerordentliche Maßnahmen verlangen; durch Abstimmungsprozesse, die sich hinter verschlossenen Türen vollziehen, vom Takt der Finanzmärkte bestimmt werden und mit der Langwierigkeit formeller Verfahrenswege kollidieren; durch eine Entscheidungsnot, die zur beherzten Gewichtung unterschiedlicher Interessenlagen zugunsten eines allgemeinen Besten zwingt; schließlich durch den informellen Charakter von Entscheidungsinstanzen, die mit ihrer Handlungsmacht wohl den Titel von ›Wohlfahrtsausschüssen‹ oder ›Finanzsowjets‹ verdienen. Man mag in diesem Politikstil eine Krise des Regierens erkennen, die sich durch eine unklare Verteilung von Handlungskompetenzen zwischen staatlichen Instanzen und ökonomischen Akteuren auszeichnet und die gesetzte Form von Institutionen und Verfahren erodiert. Dieses Handlungsprofil ist aber nicht neu. Es verweist zunächst auf das ältere Fach der Staatsräson und somit auf eine politische Vernunft, die sich seit der frühen Neuzeit den Fragen nach den Mitteln zur Selbstbehauptung bestehender Ordnungsgefüge verschreibt; notgeborene Interventionen werden durch die Sicherung des Staatswohls legitimiert. Eine genauere Fassung erhält dieses Verfahren allerdings durch einen Begriff, mit dem man seit Anfang des 17. Jahrhunderts effektive Krisenmanagements und die Überschreitung regelkonformen Agierens angesichts akuter Gefahren umriss. So hat der französische Kardinalssekretär Gabriel Naudé in seinen »Considérations politiques sur les coups d’états« von 1639 verschiedene politische Notlagen durchmustert und unter dem Begriff des ›Staatsstreichs‹ jene Komponenten versammelt, die auch die Dramen des jüngsten Krisenregimes charakterisieren. Demnach muss man zwei Formen politischer
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Klugheit unterscheiden und einräumen, dass die üblichen politischen Regeln nicht für den ›casus extremis necessitate‹ gelten können. Dieser Notstand zeichnet sich dadurch aus, dass plötzliche Unabsehbarkeiten und potenzielle Bedrohungen den schnellen Vorgriff auf künftige Beschwernisse erzwingen. Auch hier geht es um ungewöhnliche Wege und Maßnahmen. Auch hier geht es um die »Ueberschreitung des gemeinen Rechts wegen des gemeinen besten«; und auch hier werden »kühne und außerordentliche Dinge« verlangt, derer sich die Regierungen »in schweren und gleichsam verzweiffelten Händeln / ohn Beobachtung der Gerechtigkeit und dem gemeinen Rechte zu wieder / zugebrauchen gezwungen seyn / also daß sie die Wohlfahrt eines oder des anderen gegen das gemeine beste in die Schantze schlagen«. (»Gabriel Naudé, Politisches Bedenken über die Staatsstreiche«, Leipzig u.a. 1678, S. 89) Begreift man Naudés ›Staatsstreich‹ weniger als polemischen Titel denn als Terminus technicus im politischen Wissen der Neuzeit, so muss man das »bitter-süße« Verfahren als einen Extremfall »guten Regierens« verstehen, als äußerstes Mittel politischer Rationalität, das an der Sorge um den Erhalt der herrschenden Ordnung orientiert ist und defensiven wie konservativen Charakter besitzt. Anders als seine moderne Version ist der frühneuzeitliche Staatsstreich keineswegs durch Putsch, Umsturz und die Beseitigung bestehender Herrschaftsgewalt definiert. Seinen prekären Status erhält er allenfalls dadurch, dass er zwar Aktionen im Sinne des öffentlichen Wohls umfasst, aber nicht durch allgemeine Prinzipien gerechtfertigt werden kann. Er verlangt eine situative und gleichsam kasuistische Abschätzung konkreter Sachlagen im Zeichen des Extremen. Er formiert sich im Verborgenen, operiert »aus dem Stehgreiff«, er unterbricht den Bezug zu verlässlichen Regeln; er löst sich von prozeduralen, juristischen oder institutionellen Fassungen und manifestiert sich in purer Informalität. In ihm verdichtet sich ein ungewöhnliches Wissen für unerhörte Aktionen in außerordentlichen Situationen. Über alle Entfernungen hinweg geben die Korrespondenzen von barocker Machttheorie und jüngster Regierungspraxis einige Hinweise dafür, wie sich die Gegenstände, Verfahren und Instanzen von Entscheidungsprozessen im aktuellen finanzökonomischen Regime situieren lassen. Sie haben sich in einer allgemeinen Notstandsmentalität formiert. Das Diktat ungewöhnlicher Maßnahmen, informelle Gremien, geheime Beschlüsse, die Aussetzung formaler Verfahrenswege, die Einklammerung rechtlicher Rücksichten, die Sorge um den Erhalt bestehender Ordnungssysteme – all das hat einen politischen Entscheidungsstil geprägt, der sich mit seiner transgressiven Dynamik im Umkreis eines kontinuierlichen ›Staatsstreiches‹ bewegt. Dabei geht es nicht allein darum, wie man unter dem Druck ökonomischer Zwangslagen parlamentarische Beteiligungen umgehen, demokratische Gepflogenheiten preisgeben und die bestehende Marktordnung vor der »Diktatur der zufälligen Mehrheit« (Knut Wicksell) bewahren kann. Es treten vielmehr zwei
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Ch r i s t m a s D i n n e r 1
C-Type Print, 180cm × 120cm, 2013 © Nikolas Ventourakis www.ventourakis.co.uk
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wesentliche Aspekte hervor. Erstens hat die gouvernementale Vernunft eine intergouvernementale Reichweite beansprucht und insbesondere in Europa neue Maßstäbe für die Exekution des Außerordentlichen gesetzt. Von der Suspendierung nationaler Budgetrechte bis hin zur Exekutivgewalt von verschiedenen EU-Gremien haben sich Figuren exzeptioneller politischer Macht über Staatsgrenzen hinweg ausgeprägt. Das Gelegenheitsfenster der letzten Krise wurde dazu genutzt, Handlungsspielräume zu erweitern, politische Prioritäten zu setzen, die Interessen der Finanzindustrie zu sichern und über konstitutionelle Bedenken hinweg Entscheidungsmacht neu zu sortieren. Die damit verbundenen Ausnahmebefugnisse wurden sogleich auf Dauer gestellt: sei es durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus, dessen Organe bei der Entscheidung über Notkredite völlige Immunität genießen und außerhalb jeder parlamentarischen und judikativen Kontrolle stehen; sei es durch den europäischen Fiskalpakt, der die EU-Kommission und den europäischen Rat in besonderen Situationen zum unmittelbaren Durchgriff auf die Haushaltspolitik von Einzelstaaten ermächtigt. Unter Zeitdruck und im Sinne einer »ungeschriebenen Notstandsverfassung« (Florian Rödl) wurden europarechtliche Gesetzgebungsverfahren umgangen. Zweitens konnte man im Zeichen der jüngsten Notlage Einblicke in die ›arcana imperii‹ der Finanzökonomie nehmen und bemerken, dass deren Funktionsweise nicht einer strengen Aufteilung in politische und ökonomische Zuständigkeitsbereiche entspricht. Ihre Effizienz zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass staatliche und finanzwirtschaftliche Agenturen eine hohe Organisationsdichte herstellen und sich mit ihren Aktivitäten wechselseitig durchdringen. Diese Verflechtungsintensität gilt auf allen Ebenen und reicht von einer systemischen, wo es um die Angleichung von Regierungspraxis und ökonomischer Governance geht, bis zu einer personellen, die von einer Rotation des üblichen Funktionspersonals zwischen Großbanken, Regierungsposten und Zentralbanken bestimmt ist. An den Dispositionen und Manövern des jüngsten Krisenmanagements lässt sich der Modus einer polit-ökonomischen Machtfigur verfolgen, die nicht in Begriffen funktionaler Differenzierung darstellbar ist. Das gilt auch für die Herkunft des aktuellen Finanzsystems. So mag man an die heftigen politischen Interventionen erinnern, mit denen unter Thatcher und Reagan die Fundamente für die Finanzialisierung moderner Volkswirtschaften gelegt wurden. Als erster Testfall dafür konnte jener 11. September 1973 angesehen werden, an dem der Militärputsch in Chile die Doppelfigur von autoritärem Regime und radikalem Marktliberalismus möglich gemacht hatte. Bereits am 12. September lag ein 500-seitiges Wirtschaftsprogramm vor, das von der Schule von Chicago diktiert worden war und die bekannte Auftragsliste enthielt: Privatisierung von Staatsunternehmen, Bildung, Gesundheitswesen und Altersversorgung, Kürzung von Sozialausgaben, Deregulierung von Märkten, Zerschlagung von Gewerkschaften. Einerseits kann man hier die
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Form eines autoritären Kapitalismus erkennen, der auch bei neoliberalen Ökonomen die Ahnung aufkeimen ließ, dass die »guten Dinge – wie Demokratie und marktorientierte Wirtschaftspolitik – nicht immer zusammenpassen« (Stephen Haggard). Andererseits stellt sich die Frage, ob der Dualismus von Wirtschaft und Politik überhaupt hinreicht, die Arbeitsweise des finanzökonomischen Regimes zu erfassen. Es ist wohl einer eingeübten Denkfigur des Liberalismus geschuldet, dass die politische Theorie seit zweihundert Jahren am Gegensatz zwischen Staatsmacht und Markt laboriert. Demnach steht dem Staat als Ensemble von rechtlichen und administrativen Praktiken eine bürgerliche Gesellschaft gegenüber, die ihre natürliche Ordnung in den Gesetzen des Marktes findet. Es wird ein klar aufgeteiltes Terrain vorgestellt, auf dem eine Begrenzung von Staatsmacht durch Märkte, die Zähmung des Markts aber von staatlichen Autoritäten erhofft wird. Die Struktur dieser theoretischen Legende will es, dass man sich gegen einen übermächtigen Leviathan auf das Spiel freier Wirtschaftskräfte, gegen die Wildnis der Märkte aber auf einen vorsorgenden Souverän beruft. Dabei erzeugt diese Antinomie von Politik und Ökonomie selbst einen blinden Fleck und verstellt die Brüchigkeit der Systemgrenze. Die Notstandpolitik der letzten Jahre hat auf das Eskalationspotenzial von Machtgefügen an der Naht zwischen Staatsform und Wirtschaftsprozess aufmerksam gemacht, und gerade die Finanzindustrie stellt ein wesentliches Relais in der Vermittlung von politischer und ökonomischer Weltorganisation dar. Hier steht die Wirkungsweise einer Indifferenzzone auf dem Spiel, in der polit-ökonomische Entscheidungsmacht sich in kontinuierlichen Übergängen, Allianzen, Fluktuationen und wechselseitigen Verstärkungen zwischen beiden Polen formiert. Damit ist ein Feld für künftige Analysen abgesteckt: Es wird darum gehen, mit einer stereoskopischen Perspektive die Ko evolution von politischen Strukturen und ökonomischen Dynamiken zu verfolgen und jenen Ort aufzusuchen, an dem sich die Organisation von Macht mit der Abschöpfung von Werten verknüpft.
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T e r r o r 3.0 »Homeland« und die Entgrenzung des Verdachts Lars Koch
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omeland« schlägt ein neues Kapitel auf in der popkulturellen Beschäftigung mit 9/11, dem ›war on terror‹ und den Feldzügen in Afghanistan und Irak. Die Serie läuft seit 2011 beim US-amerikanischen Sender »Showtime«, ihre dritte Staffel ist für Januar 2014 angekündigt. Als Adaption der israelischen Serie »Hatufim« (dt. »Die Entführten«; bislang zwei Staffeln, seit 2010), die von der Rückkehr zweier israelischer Kriegsgefangener aus libanesischsyrischer Gefangenschaft erzählt, zeichnet sie die individual- und kollektivpsychologische Signatur der ›Post-Irak-Ära‹ nach. »Homeland« führt vor Augen, wie eine von der phantasmatischen Figur des Schläfers initiierte Entgrenzung des Verdachts zu einer Politik und Lebenspraxis der (Proto-)Paranoia führen kann. Zugleich ist »Homeland« ein Archiv all jener im Fernsehen versammelten popkulturellen Narrationen, die nach 9/11 den ›paranoid style of american media‹ konfiguriert haben, wie etwa »Alias« (2001–2006) oder »Sleeper Cell« (2005 – 2006). Ganz direkt ist »Homeland« aber vor allem so etwas wie eine Antwort auf die Fox -Serie »24« (2001–2010), was umso mehr überrascht, als mit Howard Gordon und Alex Gansa zwei der »24«-Macher auch an »Homeland« federführend mitwirken. Gegenüber den popkulturellen Terrornarrativen der letzten zehn Jahre markiert »Homeland« einen neuen Einsatz, weil hier mehr und mehr die mit Angstlust besetzte Gewalt-Aktion in den Hintergrund und im Gegenzug das emotionale Profil der Akteure in den Vordergrund tritt. Während die Serie um Jack Bauer in einer ersten Phase nach 9/11 mit der Ausfabulierung verschiedener terroristischer Worst-Case-Szenarien predigte, POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 3 Herbst 2013 ◆ S . 17–21 ◆ © transcript
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Neuerscheinungen bei transcript www.transcript-verlag.de
Ein ganzer Schrank voll nichts zum Anziehen? Hier hilft das »Querformat«! Die Themen dieses Heftes reichen von Streetwear in Afrika über Mode als Reise und Sehnsuchtsort bis hin zu Hightech-Fashion.
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A n z i e h e n . T r a n s k u lt u r e l l e M o d e n Q u e r f o r m at. Z e i t s c h r i f t f ü r Z e i t g e n ö s s i s c h e s , K u n s t, P o p u l ä r k u lt u r , H e f t 6
Birgit Haehnel, Alexandra Karentzos, Jörg Petri, Nina Trauth (Hg. , Oktober 2013, ca. 100 Seiten, kart., zahlr. Abb., 14,80 E, ISBN 978-3-8376-2512-7
Gibt es einen kulturwissenschaftlichen Habitus? Die pointierten Beiträge des Bandes geben vielgestaltige Einblicke in die Betriebsgeheimnisse der Kulturwissenschaften. Ü b e r d i e P r a x i s d e s k u l t u r w i s s e n s c ha f t l i c h e n Arbeitens. Ein Handwörterbuch
Ute Frietsch, Jörg Rogge (Hg.), August 2013, 528 Seiten, Hardcover, 39,80 E, ISBN 978-3-8376-2248-5
Welche Kräfte wirken in der Popkultur? Ob Musik, Lifestyle oder Clubszene: Das Popgeschehen folgt kulturellen, politischen und ökonomischen Dynamiken, die dieses Buch rekonstruiert. G r av i t a t i o n s f e l d P o p W a s ka n n P o p ? W a s w i l l P o p k u l t u r w i r t s c ha f t ? Konstellationen in Berlin und anderswo
Uwe Breitenborn, Thomas Düllo, Sören Birke (Hg.), Oktober 2013, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 E, ISBN 978-3-8376-2451-9
Thema des ZfK-Heftes sind die epistemologischen Konzeptualisierungen und historischen Verlaufsformen, die Reinigungsarbeiten – im Sinne Latours – in den Kulturwissenschaften angenommen haben. Reinigungsarbeit Z e i t s c h r i f t f ü r K u l t u r w i s s e n s c ha f t e n , H e f t 1 / 2 0 1 3
Nacim Ghanbari, Marcus Hahn (Hg.), Juli 2013, 216 Seiten, kart., 8,50 E, ISBN 978-3-8376-2353-6
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Ma n n a u f Ba n k , New York 1977 Š Gerhard Vormwald
www.gerhard-vormwald.de
A u t o r i n n e n
◆ Moritz BaSSler ist Mitherausgeber dieser Zeitschrift und Professor für Germanistik an der Universität Münster. ◆ Robin Curtis ist Mitherausgeberin dieser Zeitschrift und Professorin für Theorie und Praxis Audiovisueller Medien an der Universität Düsseldorf. ◆ Heinz Drügh ist Mitherausgeber dieser Zeitschrift und Professor für Germanistik an der Goethe- Universität Frankfurt. ◆ Carolin Gerlitz ist Assistent Professor of New Media an der Uni versität Amsterdam. ◆ Torsten Hahn ist Professor für Deutsche Philologie an der Uni versität zu Köln. ◆ Thomas Hecken ist Mitherausgeber dieser Zeitschrift und Professor für Germanistik an der Universität Siegen. ◆ Kai-Uwe Hellmann ist Privatdozent am Institut für Soziologie der TU Berlin. ◆ Christian Huck ist Professor für Kultur- und Medienwissenschaft am Englischen Seminar der Universität Kiel. ◆ Marcus S. Kleiner ist Medienund Kulturwissenschaftler an der
und
A ut o r en
Popakademie Baden-Württemberg, Mannheim. ◆ Lars Koch ist Leiter einer EuropeanResearch-Council-Forschergruppe zum Thema »The Principle of Disruption« an der Universität Siegen. ◆ Oliver Leistert ist Postdoktorand am Graduiertenkolleg »Automa tismen« der Universität Paderborn. ◆ Jonathan Lethem ist freier Autor (Claremont). ◆ Nicolas Pethes ist Mitherausgeber dieser Zeitschrift und Professor für Germanistik an der Universität Bochum. ◆ Christian Rakow ist freier Autor (Berlin). ◆ Monica Titton ist Promovendin am Institut für Soziologie der Universität Wien. ◆ Wolfgang Ullrich ist Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. ◆ Joseph Vogl ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft / Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin. ◆ Ling Yang ist Assistant Professor of Chinese an der Xiamen University.
Weitere Angaben zu den Autorinnen und Autoren finden Sie auf der Internetseite pop-zeitschrift.de in der Rubrik »Magazin/Archiv«.
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A R K A DIEN , Odessa 2011 Š Sinaida Michalskaja
www.sinamichalskaja.de
I m p r es s u m H erau sgeber gr em ium
Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Thomas Hecken, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch Beirat
Ralf von Appen, Andy Bennett, Natalie Binczek, Karin Bruns, Diedrich Diederichsen, Jan Engelmann, Brigitte Frizzoni, Elke Gaugele, Hans Ulrich Gumbrecht, Richard Hebdige, Achim Hölter, Tom Holert, Anton Kaes, Douglas Kellner, Gabriele Klein, Ruth Mayer, Angela McRobbie, Stephan Moebius, Bodo Mrozek, Klaus Neumann-Braun, Sylvia Paletschek, Heike Paul, Bernhard Pörksen, Susanne Regener, Eckhard Schumacher, Detlef Siegfried, Urs Stäheli, Tanja Thomas, Niels Werber, Hartmut Winkler, Rainer Winter R e d ak t i o n
Thomas Hecken (V.i.S.d.P.), Sinaida Michalskaja (Redaktionsassistenz Fotografie), Marcel Wrzesinski (Redaktionsassistenz Text) Redaktionsanschrift: »Pop. Kultur und Kritik«, c/o Thomas Hecken, Vormholzerstraße 48, 58456 Witten, thomashecken@gmx.de G e s t a l t u n g u n d Sa t z
Charlotte Cassel, Sinaida Michalskaja Lektorat: Melanie Horn, Cornelia Sonnleitner Druck: Die Produktion, Agentur für Druckrealisation GmbH Wir danken allen, die uns Bilder zur Verfügung gestellt haben. Falls trotz intensiver Nachforschungen Rechteinhaber nicht berücksichtigt worden sind, bittet die Redaktion um eine Nachricht. Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft
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POP . K u l t u r u n d K r i t i k Heft 3 Herbst 2013
www.pop- zeitschrift.de
A u s d e m I n ha l t
Nicolas Pethes: Pop-Wissen Carolin Gerlitz: Likes Jonathan Lethem: Autor als Fan
Wolfgang Ullrich: Netzwerkbürger als Kunstpublikum Monica Titton: Givenchy
Thomas Hecken: Zur Wahl und zwölf weitere Aufsätze
( D ) 16,80 EUR (A ) 17,30 EUR ( CH ) 22,90 CHF
Heinz Drügh: TV-Serien-Analysen
POP. Kultur und Kritik Heft 3 Herbst 2013 ISBN 978-3-8376-2485-4 ISSN 2194 - 6981
Joseph Vogl: Funktionale Entdifferenzierung