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Die Wahrheit übers Lügen
Die Wahrheit über das Lügen
Kinder flunkern. Und dafür gibt es viele, auch gute Gründe. Wir Erwachsenen lügen übrigens auch wesentlich häufiger, als uns bewusst ist. Über kleine und größere Kinderlügen, warum sie paradoxerweise ein Zeichen von sozialer Kompetenz sind und wie man am besten damit umgeht.
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von eva maria wagner
Mit der Wahrheit ist es so eine Sache. Schön brav soll man sich bedanken und so tun, als würde man sich freuen, wenn die Tante Jetti ein schreckliches Geschenk bringt. Aber wenn man behauptet, man habe schon Zähne geputzt, obwohl die Zahnbürste noch trocken im Becher steht, bekommt man gleich eine Rüge. Lügen darf man nicht! Da soll man sich noch auskennen. Was ist denn jetzt wahr und was nicht? Und überhaupt, hat nicht Mama letztens ihren Termin abgesagt, weil sie meinte, ich sei krank, und dabei bin ich pumperlgesund?
Unehrlichkeit will gelernt sein Hie und da eine kleine Notlüge, dort eine kleine Schwindelei aus Höflichkeit. Jeder Mensch, ob groß oder klein, bleibt dann und wann nicht ganz bei der Wahrheit. Wobei, so ganz stimmt das auch wieder nicht: Kleinkinder bis zu einem Alter von etwa vier Jahren sind wirklich noch unbescholten. Sie leben in ihrer eigenen Realität und gehen, vereinfacht gesagt, davon aus, dass alle Menschen das denken, was sie selbst denken. Nicht umsonst gibt es den Spruch „Kindermund tut Wahrheit kund“. Psychologinnen und Psychologen zufolge können Kleinkinder Situationen noch nicht umfassend überblicken und unterschiedliches Verhalten aufeinander beziehen. Sie sind also kognitiv noch gar nicht in der Lage zu schwindeln. Außerdem fehlt ihnen noch ein bestimmtes Rüstzeug für eine bewusste Schummelei. Die Fähigkeit, die es dazu noch braucht, ist eine der wichtigsten sozialen Kompetenzen: Es ist die Fähigkeit, sich in die Gedanken der Mitmenschen hineinversetzen zu können und deren Perspektive einzunehmen. Das Lügen kommt also mit der Empathie. Ziel der Lüge ist es ja, dass der andere sie auch glaubt. Das heißt, ein Kind lernt mit der Zeit, dass das Gegenüber einen anderen Wissensstand hat als es selbst und dass es diese Tatsache eventuell zum eigenen Vorteil ausnutzen kann. Ein großer Entwicklungsschritt, den Eltern am besten mit einem Augenzwinkern zur Kenntnis nehmen. Eine böse Absicht steckt hinter den Flunkereien nämlich nicht.
Motive fürs Flunkern Die Gründe, manchmal nicht ganz bei der Wahrheit zu bleiben, sind vielfältig und haben unterschiedliche Auslöser. Für jüngere Kinder ist das Schwindeln oft ein Spiel, ein Ausprobieren, inwieweit sie mit der Veränderung der Wahrheit erfolgreich sind und welche Reaktionen sie dabei auslösen. Dieses Spiel mit der Wahrheit gehört zum Aufwachsen einfach dazu und ist, wie gesagt, nicht nur normal, sondern
BUCHTIPPS
Axel Scheffler (Illu: Julia Donaldson): Flunkerfisch; Beltz Verlag, € 10,30 Entzückende Geschichte über einen fantasievollen kleinen Fisch. Eine Ode an die Fantasie von kleinen Kindern. Ein Klassiker zum Vorlesen von den Schaffern des Grüffelo. Ab 4 Jahren.
Christina Röckl:
Kaugummi verklebt den Magen;
Kunstanstifter Verlag, € 24,70 Mit knallig-bunten Bildern und vermeintlich wissenschaftlichen Fakten werden die Lügengeschichten aus der Erwachsenenwelt auf die Schippe genommen. Ganz schön schräg! Ab 8 Jahren.
Ulrich Hub: Füchse lügen nicht, Carlsen Verlag, € 6,20 Eine humorvoll erzählte Fabel über das „Lügen“ mit dem Fuchs Reinecke. Beim Spiel mit Lüge und Wahrheit wird den Tieren immer mehr der Wert von Freundschaft bewusst. Ab 8 Jahren. auch wichtig. Kinder sammeln Stück für Stück soziale Erfahrungen, um zu lernen, was erlaubt ist und was eben nicht.
Setzen Kinder eine prosoziale Lüge, also eine Lüge aus Höflichkeit, ein, dann ist das ein Zeichen für eine besonders gute Empathiefähigkeit. Sie können sich vorstellen, dass Tante Jetti sich trotz allem Mühe gegeben hat mit dem Geschenk und wollen sie nicht enttäuschen. Und darüber sind wir Eltern zugegebenermaßen ja auch manchmal froh. Wer würde schon auf den Kindersatz „Mama, findest du nicht auch, dass dieses Geschenk richtig hässlich ist?“ antworten: „Gut, dass du es sagst, ich finde es auch schrecklich. Komm, leg es weg, und wenn Tante Jetti gegangen ist, was sie jetzt hoffentlich bald tut, dann räumen wir es in den Keller!“
Was hinter manchen Lügen steckt Ein anderer Grund für das Lügen ist die Strafvermeidungslüge. Manche Kinder lügen, wenn sie etwas angestellt oder kaputtgemacht haben oder wenn die Schulnoten schlecht sind. Die Motivation dahinter ist meist die Angst vor den Konsequenzen oder der Rüge der Eltern. Hier handelt es sich bereits um eine Art des Lügens, bei der es sich lohnt, etwas genauer hinzuschauen. Wieso hat mein Kind Angst vor Strafe? Ist in der Vergangenheit unsere Reaktion unverhältnismäßig laut oder harsch gewesen? Hier kann schnell ein kleiner Teufelskreis entstehen, denn je mehr ein Kind die elterliche Reaktion fürchtet, desto eher wird es die Lüge nutzen, um Unangenehmes abzuwenden. In einer grundsätzlich wohlwollenden Atmosphäre werden Kinder auch weniger zu Lügen greifen. „Du darfst uns alles sagen“ ist ein Satz, den ein Kind nicht oft genug hören kann.
Manche Kinder neigen auch zu Übertreibungen. Sie schmücken Geschichten maßlos aus oder erzählen Unwahrheiten, meist um Anerkennung zu bekommen. Manchmal steckt hinter den Münchhausen-Geschichten auch ein angeschlage-
Kleine Flunkereien gehören zur kindlichen Entwicklung dazu. Sie zeugen sogar von Kreativität und Empathiefähigkeit. Gelassen bleiben lautet also die Devise.
nes Selbstbewusstsein. Vielleicht tut sich das Kind schwer, in einer Gruppe neue Freunde zu gewinnen. Oder es steht in einem Konkurrenzverhältnis zu einem anderen Kind und weiß sich nur mit Lügen zu helfen. Ratsam wäre es, genau hinzuschauen und mit dem Kind andere Wege zu finden, seine Unsicherheiten zu überwinden.
Der wichtigste Rat für Eltern ist, wie so oft, Ruhe zu bewahren. Kleine Flunkereien und Schwindeleien sind normal und kein Grund zur Sorge. Natürlich kann nicht alles ohne Konsequenz bleiben. Wenn das Kind jeden Tag beim Zähneputzen schwindelt, dann muss es in Zukunft wieder neben den Eltern putzen. Werden die Regeln wieder eingehalten, können die Eltern die Zügel wieder lockerer lassen. Meist hört die Flunkerei bald auf, wenn das Kind merkt, dass ihm immer mehr zugetraut wird, wenn es ehrlich ist.
Lügen ist immer auch mit Absichten verknüpft. Deshalb lohnt es sich bei ernsteren Lügen, genau hinzuschauen und zu ergründen, warum das Kind einen Ausweg in der Unwahrheit sucht. Es kann auch eine große Not oder Angst dahinterstecken. Dann braucht das Kind, statt der Rüge für die Lüge, Eltern, die nicht die Moralkeule schwingen, sondern aufmerksam zuhören und sich überlegen, wie man das Kind darin bestärken kann, offen und ehrlich zu sein.