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Viele emotionale Momente Ge

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Viele emotionale Momente

Wie geht es Eltern mit Kindern, die von der heterosexuellen Norm und der Zweigeschlechternorm abweichen? Lisa Bolyos, Journalistin, und Carolina Frank, Fotografin, sind dieser Frage nachgegangen. Sie haben Eltern solcher Kinder porträtiert. Daraus entstanden ist ein Buch, das die Vielfalt von Lebensformen und Geschlechteridentitäten zeigt und das vor allem Mut macht. Auszüge aus dem Buch und ein Gespräch. von susanne sonnleitner

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Elisabeth und Willi Humer über ihr Kind, das intergeschlechtlich, mit weiblichen äußerlichen Geschlechtsmerkmalen und männlichen Chromosomen, auf die Welt kam:

Agnes Méth-Katschthaler über ihre Tochter Andrea:

Willi: „Das Problem ist das: Zuerst ist sie zu klein, was willst du einem zweijährigen Kind sagen? Die Zeit vergeht und du wartest auf eine passende Gelegenheit. Dann kommt die Pubertät, da zieht sie sich sowieso zurück, was ganz normal ist. Und dann ist es zu spät.“ Elisabeth: „Und jedes Mal, wenn du einen Moment verpasst, in dem du reden magst, wird’s wieder schwieriger. Dann kommt vielleicht der nächste, es geht wieder nicht, es ist noch schwieriger. So hab ich es empfunden. Ganz am Anfang, beim ersten Schock, dem ersten Realisieren, was da los ist, haben zumindest wir zwei noch viel miteinander geredet. Aber mit dem Beschluss, es erst einmal ruhen zu lassen, hat sich auch dieses Reden aufgehört.“ Willi: „Ich habe es verdrängt, sobald wir gesagt haben, wir warten ab. Dazu kam, dass ich mich in der frühen Kindheit von T. selbstständig gemacht habe und genug Arbeit hatte, in der ich mich verkriechen konnte.“ Elisabeth: „Ich habe mich schon recht allein gelassen gefühlt, weil ich niemanden hatte, mit dem ich sprechen konnte. Meinen Eltern und meinem Bruder haben wir es zwar ganz am Anfang mal gesagt, als ich aus dem Spital gekommen bin, weil ich da völlig aufgelöst war, aber die haben uns auch nie wieder darauf angesprochen.

Die Humers haben die Intergeschlechtlichkeit ihres Kindes zunächst verdrängt.. Als T. als Teenager einen Selbstmordversuch unternahm, wurde eine Lawine losgetreten.

Agnes Méth-Katschthaler ist in einer liberalen, jüdischen Familie aufgewachsen. Sie genoss eine gute Ausbildung und sammelte bereits früh Orchestererfahrungen.

Und das beeinflusst einen dann so arg: Ich glaube, es ist egal, um welches Tabu es geht – wenn man das immer für sich behalten muss, ist man im Grund ein halber Mensch, weil man ganz angestrengt etwas ausklammert […].“

„Schwule oder Lesben zu sagen, das hat für meine Generation irgendwie etwas Abwertendes. Homosexuelle genügt, aus basta, das beinhaltet eh alles. Andrea sagte früher, sie sei bisexuell. Wie sie sich jetzt definiert, weiß ich nicht. Ich frage nicht nach, weil es für mich nicht wichtig ist. Sie nennt sich Andie, sie hat mir erst sehr spät gesagt, dass sie ihren Namen nie gemocht hat. Und ihre Frau nennt sich statt Bettina Finn. Ich muss das nicht verstehen, nur akzeptieren. Unser Verhältnis ist heute gut, und das ist mir wichtig. Sie sind nach Großbritannien, nach Edinburgh gezogen, aber wir haben regelmäßig Kontakt. Ich hätte gern Enkel gehabt, auch wenn ich kein Großmama-Typ bin. Eine Zeit lang hatten die beiden darüber nachgedacht, aber ich glaube, heute ist das kein Thema mehr für sie.“

Masara Dziruni über seine Tochter Mwoyo:

„Bei mir ist open house für alles. Weil die Kinder das wissen, frage ich nicht zu viel. Ich warte, bis ich eine Information bekomme, offiziell, von meinem Kind. Nur das zählt. Mwoyo ist bald 27 Jahre alt, und ich denke: Wenn sie mir etwas erzählen will, ist es super, und wenn nicht, ist es auch ok. Einmal hat Mwoyo das Titelbild einer Zeitung in der Familiengruppe gepostet: ,Lesbischer Kuss‘ stand dort, und da war Mwoyo zu sehen, wie sie eine Frau küsst. Aha, ok, super. Ich habe Mwoyo gefragt: War das Schauspiel oder ein echter Kuss? Das war ein echter Kuss, hat sie gesagt. Ich muss nicht alles wissen, aber wenn meine Kinder mich erziehen und mir Dinge beibringen wollen, höre ich gerne zu, wir diskutieren dann stundenlang. […] Was ich sicher weiß, ist, dass ich zu hundert Prozent zu meinen Kindern stehe. Ich bin hier, um zu helfen und zu unterstützen. Ich bin nicht hier, um das Leben meiner Kinder zu leben. Ich habe bei der Hochzeit versprochen, ein exzellenter Vater zu werden – geprüft durch meine Kinder. Und ich glaube, wenn man sie fragt, werden sie sagen: Ja, er macht das gut.“

Stela Stankovic über ihre Tochter Steffi:

„Als sie mit der Hormontherapie beginnen wollte, war das schon hart für mich. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie ihr Körper reagieren wird. Für mich ist Steffi immer schon die Schönste, und ich hatte Angst davor, was die Hormone mit ihrem Körper machen könnten. Nicht dass sie einen Fehler macht, den sie später bereut! Steffi wollte in eine bestimmte Praxis gehen, die haben aber keine Patienten mehr aufgenommen. Zufällig habe ich damals bei einer Familie gearbeitet, in der die Frau Apothekerin war […]. Ich habe ihr also Fotos von Steffi gezeigt – ich habe mich nie für Steffi geniert und allen Leuten von ihr erzählt – und sie gefragt, ob sie in dieser Praxis vielleicht jemanden kennt und uns helfen könnte. […]“

„Ich erinnere mich, dass ich gesagt habe: Lia, du bist noch sehr jung, ist das nicht sehr früh, um dich zu entscheiden, dass du lesbisch bist? Willst du nicht so wie der Papa und ich einmal eine Familie haben? Weil schau, das Beste in meinem Leben ist meine Familie mit dir und dem Papa. Daraufhin hat mir die Lia gesagt, Mama, es ist keine Entscheidung, sondern ein Seinszustand. Und ich kann eine Familie und Kinder haben. Es war in vielen Sachen so, dass die Lia mir einen Schritt voraus war. Ich wollte ihr irgendwas erklären, und dann kam sie und hat es stattdessen mir erklärt. […] Ich habe mir schon in Lias Kindheit oft gedacht, dass ihr Mädchen- oder Körperbild ganz anders ist, als meines war. Ich konnte es aber auch nicht benennen, obwohl ich Psychotherapeutin bin. Ich habe der Lia oft Klunker, Haarschmuck, Ketterln oder hübsche Kleider gekauft, die meine Mama mir, wie ich ein Mäderl war, aus finanziellen Gründen nicht kaufen konnte. Und die Lia hatte daran null Interesse. […]“

Evelyn Böhmer über ihre Tochter Lia:

Schon von Anfang an sei Steffi anders gewesen als Buben in ihrem Alter. Sie hat lieber mit Barbies gespielt, sei nicht so wild und aggressiv gewesen. Masara Dziruni vergleicht Erziehung mit einem Samenkorn, das Eltern in guten Boden geben und wachsen lassen, bis daraus ein Pflänzchen wird.

Es gibt viele verschiedene Arten, Frau zu sein. Als Psychoanalytikerin hat Evelyn Böhmer bewusst versucht, Lia das Anderssein zu ermöglichen.

Tolerant zu sein ist nicht genug

Journalistin Lisa Bolyos und Fotografin Carolina Frank arbeiten seit 15 Jahren regelmäßig zusammen – zuletzt für das Buch „Mich hat nicht gewundert, dass sie auf Mädchen steht. Gespräche mit Eltern queerer Kinder“.

Im Eingangstext eures Buchs stellt ihr die Frage, wie sicher ein Kind in einer österreichischen Durchschnittsfamilie sein kann, dass die Erwachsenen akzeptieren, wie es ist. Was habt ihr herausgefunden?

Lisa: Wir haben ja solche Eltern und Großeltern befragt, die zum Zeitpunkt des Interviews mit ihren Kindern eine gute Gesprächsbasis hatten. Diese Familien hatten bereits einen Weg gefunden, die Entscheidung und die Lebensweise ihres Kindes zu unterstützen. So ist unser Buchprojekt angelegt: Es soll bestärkend sein. Insofern können wir diese Frage auf Basis unserer Porträts nicht ganz beantworten. Aber dass soziale Bewegungen viele Rechte erkämpft haben, macht natürlich etwas mit einer Gesellschaft. Kinder tun sich in einer Gesellschaft, in der Homosexualität nicht kriminalisiert wird, leichter, sich zu outen. Oder: Eltern wissen heute, sie können Enkelkinder haben, auch wenn ihr Kind schwul oder lesbisch ist, denn es ist auch für Homosexuelle rechtlich möglich zu adoptieren.

Seid ihr bei euren Recherchen an Grenzen gestoßen?

Lisa: Als langjährige Journalistin bin ich jedes Mal wieder beeindruckt, wie sich Menschen in Interviews öffnen können, sich aber gleichzeitig ihrer Grenzen bewusst sind. Fingerspitzengefühl brauchte ich lediglich beim Wording. Ich wollte ja nicht die plumpe Frage stellen: Wie nennen Sie das, was Ihre Tochter, Ihr Sohn ist oder macht – lesbisch, schwul, queer? Das war für mich ein Herantasten. Ich habe die Interviewten selbst entscheiden lassen, wie viel sie mir erzählen möchten. Carolina: Für mich war es eine Herausforderung, Menschen, die wenig vor der Kamera stehen, zu vermitteln, dass es mit einem Bild oft nicht getan ist. Und dann sind das ja auch teils recht intime Geschichten – da gilt es zunächst einmal, die Scheu abzubauen. Lisa: Es gab viele emotionale Momente in den Gesprächen. Unser Buch zeigt die ganze Bandbreite: die Mutter, die selbst feministische Aktivistin ist und jahrzehntelang in einer lesbischen Beziehung lebt, sich dennoch erst nach dem Coming-out ihrer

Bücher aus Kinderperspektive gäbe es genug, Carolina Frank (li.) und Lisa Bolyos (re.) wollten ein empowerndes Buch gestalten, das die Eltern queerer Kinder in den Mittelpunkt stellt.

Tochter vor der Großfamilie outet. Der Vater, der den Begriff genderfluid noch nie gehört hatte, aber interessiert war, mehr darüber zu erfahren. Oder die Mutter, die ihren schwulen Sohn zunächst nicht annehmen konnte, da sie aufgrund ihrer Sozialisation nicht gelernt hatte, dass es in Ordnung ist, schwul zu sein.

Es hat sich viel getan in den letzten Jahren – seit 2019 gibt es die „Ehe für alle“. Wie tolerant ist unsere Gesellschaft eurer Einschätzung nach heute?

Lisa: Wenn sich eine Gesellschaft damit begnügt, tolerant zu sein, kann sich das auch schnell wieder ändern. Ich verstehe den gesellschaftlichen Fortschritt als integrativ, also dass sich viele Dinge neben- und miteinander gut ausgehen, dass man Lust auf unterschiedliche Leute und Ideen hat, die sich gegenseitig befruchten. Gesetze sind total wichtig, da sie viel Ausstrahlungskraft haben. Doch sie müssen auch mit Leben gefüllt werden, um dieses Leben über die Regenbogenparade hinaus zu feiern und abzusichern.

In Österreich haben wir zum einen Conchita Wurst, die mit ihrer Diversität in der Öffentlichkeit steht. Zum anderen ist da der Richter, der infrage stellt, ob Asylwerbende tatsächlich wegen Homosexualität verfolgt werden, weil sie seiner Ansicht nach nicht „schwul genug“ aussehen. Da muss noch viel passieren. Ähnlich ist es in den Familien. In manchen ist ein Coming-out total normal, in anderen trauen sich Kinder nicht, darüber zu sprechen.

Wie tolerant schätzt ihr euch selbst ein?

Lisa: Mir ist wichtig, dass jeder Mensch leben kann, wie er möchte, begrenzt nur durch die Freiheit der anderen. Dafür arbeite ich in allen Bereichen. Toleranz hat für mich den Unterton: Du bist halt anders und eigentlich finde ich das nicht so toll, aber ich halte es aus. Es geht vielmehr darum, Interesse am Anderssein aufzubringen. Carolina: Ich gehe neugierig und mit Respekt auf die Menschen zu. Das ist meine Grundhaltung. Natürlich bin auch ich vor Schubladendenken nicht gefeit, aber ich bin bereit, diese immer wieder zu öffnen und dazuzulernen.

Gibt es eine Geschichte im Buch, die euch besonders nahegegangen ist?

Carolina: Es war tatsächlich so, dass wir jedes Mal hinausgegangen sind und gesagt haben: Das war die schönste Begegnung. Lisa: Das Porträt von Elisabeth und Willi Humer, die die Geschichte ihres intergeschlechtlichen Kindes erzählen! Sie haben ganz harte Arbeit geleistet, um ihr Kind zu unterstützen, das Tabu zu überwinden, intergeschlechtlich zu sein. In den 80ern gab es da keine medizinische Unterstützung, Intergeschlechtlichkeit wurde als Problem angesehen, das es zu korrigieren galt. Diese Geschichte, dass kaum wer deinem Neugeborenen gratuliert, weil alle peinlich berührt sind, ist ein wichtiges Beispiel dafür, wie notwendig es ist, dass eine Gesellschaft nicht behauptet, dass es nur Buben und Mädchen gibt. Das kann unglaublich verletzend sein. Die anfängliche Unsicherheit und Unfähigkeit der Eltern, die dann mit viel Arbeit und Reflexion dorthin gelangen, wo sie ihr Kind gut unterstützen können – das war eine unglaubliche Entwicklung und sehr beeindruckend für mich.

LESETIPP

Lisa Bolyos, Carolina Frank: Mich hat nicht gewundert, dass sie auf Mädchen steht. Gespräche mit Eltern queerer Kinder;

ACHSE Verlag Wien, € 20,–Aktuelle Termine und weitere Infos:

gespraechemitelternqueererkinder. weebly.com

Der Skelettfl uch – Teil 1

Von Linus Rheindorf (11)

Du schreibst auch gerne Geschichten? Dann erzähl sie uns – vielleicht wird sie ja schon im nächsten Tipi abgedruckt: tipi@tipimagazin.at schick ein! &mach mit

Es war einmal eine Stadt, und dort wohnte ich. Eines Tages wachte ich auf, und es war heiß, mitten im Winter. Zwei Minuten später schaute ich auf meinem Handy den Wetterbericht an. Es waren -2 °C angesagt, aber jetzt hatte es mindestens +15 °C. „He!“, rief ich und wunderte mich, und das Nächste war, dass keiner draußen war. Jetzt ging ich zu meinen Eltern, doch statt ihnen lag ein Knochenhaufen da. Ich rief: „Oh mein Gott!“ Es kam noch schlimmer. Dieser Knochenhaufen war lebendig. Ich rannte, hinter mir der Knochenhaufen, der sich inzwischen zu zwei ganzen Skeletten zusammengesetzt hatte. Jetzt rannte ich auf die Straße. Es waren schon ein paar Skelette draußen. Sie schrien: „Ein Mensch!“ Jetzt fi el mir mein Bruder ein. Ich rannte zurück ins Haus. Zum Glück war mein Bruder noch kein Skelett. Wir rannten zusammen aus dem Haus und riefen: „Ist hier jemand?“ Mein kleiner Bruder weinte. Ich auch. „Ich glaube, wir sind jetzt die einzigen Menschen auf der ganzen Welt“, sagte mein Bruder. „Und ein Tier“, ergänzte ich. Er sah nach unten und entdeckte Bockerl. „Bockerl, wenigstens du“, sagten wir beide erleichtert.

Das lila Fläschchen Bockerl, Janosch und ich rannten durch die Stadt. Oh, das hatte ich vergessen zu erklären. Bockerl ist unser Kater. Alle Supermärkte hatten geschlossen. Alle, außer einem vielleicht. Wir hatten eine Idee. Schließlich hatten wir den Schlüssel der Drogerie unserer Eltern. Mit dem Kater im Arm und meinem Bruder an der Hand, rannte ich dort hin. Danach sperrten wir auf und holten uns eine kalte Cola. Wir waren so durstig, denn es hatte 33 °C. Doch neben der Cola fanden wir ein Fläschchen mit der Aufschrift „Metamorphosis“. Ich wusste sofort, was das bedeutet. „Wir können unsere Eltern zurückholen!“, rief ich und hielt das Fläschchen in die Höhe. Es war lila und fl uoreszierend. Mein Bruder und ich hatten nur noch ein Problem. Wie sollten wir unsere Eltern je wiederfi nden? Sie waren Skelette und sahen schließlich genauso aus wie alle anderen Skelette auf der Straße. Wir packten uns zehn Müsliriegel, fünf Flaschen Cola und acht Packungen Katzenfutter ein. Bockerl war schließlich auch hungrig. Doch was war das? Alle Skelette waren weg.

Wüste Es wurde heißer und heißer. Die Erde trocknete so stark, dass sich schon Sand bildete. Es sah so aus wie eine Wüste mit Häusern darauf. Langsam wurden die Häuser von dem Sand verschlungen. Wir konnten es immer noch nicht fassen, dass alle Skelette weg waren. Ich zog das lila Fläschchen aus meiner Tasche und hielt es in die Luft. Mein Bruder rief: „Für unsere Eltern!“ und rannte mit mir an der Hand bis zu einer großen Mauer. Davor stand ein Cyborgskelett. Es gri uns mit seinem Laserauge an. „Wieso tust du das? Wir müssen hier weiter!“, fragte ich das Cyborgskelett. Meine Katze sprang es an. Das war die Chance. Wir rannten durch die Tür. Bockerl sprang noch schnell durch den kleinen Spalt. „Gescha t!“, dachten wir. Doch da hatten wir uns geirrt. Der Cyborg rannte uns hinterher. Er jagte uns. Mir fi el auf, dass da Treibsand war. Ich hatte eine Idee.

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