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FORSCHERGEIST VERTREIBT TRÜBSINN Werner A. Aebischer und sein Forschungsprojekt»

FORSCHERGEIST VERTREIBT TRÜBSINN

Mein Leben als Forschungsobjekt

Bau 1 und 2 sind neue, unübersehbare Orientierungsmarken. Wohin und worauf deuten sie? Zu welchen Gedanken inspirieren sie? Ich denke an Life Sciences, an Denk- und Arbeitsweisen auf der Suche nach dem, was das Leben lebendiger werden lässt.

Autor: Werner Aebischer Ich sah die beiden seit einigen Jahren aufwachsen, gross werden. Und täglich fällt mein erster, noch verschlafener Blick durchs Küchenfenster auf sie. Wie sehen sie wohl heute aus? Ihre Erscheinungsweisen sind erstaunlich vielfältig. Bei Morgennebel, wie jetzt im Herbst, sind die beiden einfach weg, verschwunden, um dann nach und nach, weich wie eine Fotografie von David Hamilton, aufzutauchen. Manchmal aber stehen sie strahlend weiss im blauen Himmel. Elegant wechseln die beiden ihr Outfit.

Wie immer, wenn es um Türme geht, zeigen sich vielfältige Deutungen: Leuchttürme, Wachtürme, Kirchtürme, Minarette, der legendäre Tower of London, der Turm zu Babel (dazu unbedingt von Friedrich Dürrenmatt wieder einmal dessen «Turmbau» lesen), der schiefe Turm von Pisa, der Eiffelturm, die Zitadelle von Ecthelion in Tolkiens «Herr der Ringe».

WIR SIND NOCH NICHT FERTIG MIT DER WELT

Was bedeuten die beiden Türme zu Basel? Was strahlen sie aus? Was zeigt sich mir, wenn ich sie sehe? Was will ich sehen? Was will ich denken? Wozu will ich inspiriert werden?

Die Bauwerke spielen mit den vielfältigen Wirklichkeiten der Umgebung zusammen, mit den Jahres- und Tageszeiten, dem Nebel, den Winden. Keine Elfenbeintürme, keine Luftschlösser. Die Türme ruhen auf tief verankerten, schweren Fundamenten, standsicher für schwere Erdbeben. Die Berechnungen beziehen sich auf das schwere Erdbeben zu Basel von 1356. Wer so baut, der hat auf jeden Fall noch etwas vor, der hat Erwartungen an die Zukunft. Und der hat verstanden: Wer in die Höhe wachsen will, muss auch in die Tiefe wachsen, braucht eine tiefgründige Verankerung. Für mich ist das die erste und wichtigste Aussage dieser von weither sichtbaren Orientierungsmarken. Wir sind noch nicht fertig mit der Welt, wir haben sie nicht abgeschrieben. Wir haben noch Erwartungen!

Die beiden Türme, zwei Silberstreifen am Horizont, für die Menschen dieser Stadt und Region, für Silberstreifensucherinnen und -sucher.

Die beiden Türme, zwei Statements, Wahrzeichen, Lebenszeichen. Es gibt nicht nur Krisen, Belastungen und Niedergeschlagenheit – weder persönlich noch gesellschaftlich. Es gibt wirksame Lebenskräfte, die aufrichten, aufbauen.

LIFE SCIENCES

Bau 1 und 2 sind Bauwerke in Weiss. Weiss steht für Sachlichkeit, Kompetenz, weiss sind Ärztekittel und Laborschürzen. Life Sciences, die Wissenschaften vom Leben, Lebenserhellungskunst. Leuchtender Widerstand gegen die Schwärze, die alles Sehen verunmöglicht. Wenn wir Zeitung lesen, Radio hören oder online Nachrichten schauen, sehen wir schwarz. Und doch,

wir wissen es besser: Der schwarze Sog, der uns hinunterziehen will, ist nicht die ganze Wirklichkeit.

Die Life Sciences arbeiten mit der kompetentesten und kreativsten Quelle, dem Leben selbst, zusammen. Die Life Sciences gehen von Erfahrungen aus, dass oft doch noch etwas zu machen ist. Meine Mutter sagte nach einem strengen Arbeitstag oft erschöpft, aber gelassen: «Morgen ist auch noch ein Tag.» Das genügt, um mit einem Funken Hoffnung ins Bett zu gehen. Die Life Sciences halten an solchen Hoffnungsfunken fest. Und sie sind nicht bereit, die Umwelt und die Innenwelt der Menschen anzuschwärzen und mit Resignation zu verdüstern. Weiss ist auch die Farbe der Nüchternheit. Heilmittel gegen den Suff des Negativen, gegen den Negaholismus. Life Sciences, Menschen bei der Arbeit, mit guter Beleuchtung auf der Suche nach dem, was unser Leben belebt. Widerstand (Resilienz) gegen aufkommenden Trübsinn, Angst und Gleichgültigkeit. Die Life Sciences beharren darauf, dass es keine Enttäuschung ist, auf diesem Planeten zu leben. Es gibt schon Enttäuschendes, aber nicht ausschliesslich. Auf der Suche nach dem, was unser Leben belebt, sind Labore wichtig.

IM LABOR

In einem Labor stehen Schreibtische und Labortische. Theorie und Praxis kommen zusammen. Es gibt Möbel zum Nachdenken und solche für die praktische Arbeit. Denk- und Arbeitsweisen spielen zusammen. «Was wollen wir eigentlich herausfinden?» Das bedeutet oft, mit einer besonderen Form von Nichtwissen umzugehen: «Wir wissen noch nicht, was wir nicht wissen.»

Versuchsreihen durchführen, sorgfältiges Beobachten und Messen, Protokolle verfassen, erneut nachdenken, mit anderen austauschen. Dann geht die Suche weiter und manchmal wird etwas Wertvolles gefunden, das man nicht suchte. Serendipity. Und die Forschungsgeschichten zeigen, dass der Zufall zu Unrecht einen schlechten Ruf hat. So oder so: Die Life Sciences sind kein One-Click-Wonder. Roche betreibt Life Sciences. Ihr Jubiläumsmotto: «125Jahre Roche – wir feiern das Leben.» Was gibt es denn zu feiern? Viele Jahre arbeiten Menschen, suchen und finden schliesslich einen neuen Wirkstoff, dessen Tests überaus erfreulich ausfallen. Alle sind begeistert, ein Hit, ein neuer Stern leuchtet, schwungvoll wird weitergearbeitet. Umfassendere Tests bestätigen wieder und wieder die fantastische Entdeckung. Und im allerletzten Augenblick, nach Jahren leidenschaftlicher Arbeit, zeigen die medizinischen Studien, dass dieser Wirkstoff enttäuscht. Solche Geschichten müssen Menschen und Firmen verkraften. Geschichten, die lange sehr gut ausgesehen haben und die dann doch zu einer Geschichte des Scheiterns wurden. Grosse Durchbrüche sind in der Forschung die Ausnahme, die Regel sind viele kleine Fortschritte, Fortschrittchen. Wie vieles in unserem eigenen Leben auch. Ab und

HINWEIS

Überblick zu den Neubauten von Roche, Basel: www.quartierinfo-roche-basel.ch/ quartierinfo/Laufende-Projekte/ Projektuebersicht.html

zu ein grosses Feuerwerk, meistens aber üben wir gelassene Nüchternheit – experimentellen Realismus, wie im Labor.

EINE GROSSARTIGE KÜNSTLERIN UND CHEMIKERIN

Ich hatte das Glück, einige Jahre in einem Labor für Naturstoffe zu arbeiten. Ich untersuchte die wunderschönen Herbstzeitlosen und isolierte ihren Hauptwirkstoff, das Colchicin. Beide, die Blume und die Formel von Colchicin, begeistern mich. Diese Schönheit, diese Eleganz! Die Natur ist eine grossartige Künstlerin und Chemikerin. Life Sciences: ein beharrliches Vertiefen in die Weisheit und Souveränität chemischer und biologischer Prozesse, Einblicke in die denkerisch unfassbaren Phänomene des Lebens. Allerdings bleibt der unbesiegbar machende Zaubertrank weiter ein Geheimnis von Miraculix. Und nein, wir stehen nicht kurz davor, den Gral, der das ewige Leben schenkt, zu finden. Im Labormodus lernen wir Denk- und Arbeitsweisen kennen, die uns Einblicke in Wirklichkeiten geben.

ERMÖGLICHUNGSMANAGEMENT

Hans-Peter Dürr (1929–2014, Schüler von Werner Heisenberg, Quantenphysiker, bis zu seiner Emeritierung viele Jahre lang Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik in München) schrieb 2011 ein Buch: «Das Lebende lebendiger werden lassen», eine Inspiration zur Erforschung von Situationen und Fragen, die mit zunehmendem Alter häufiger werden.

Mich inspiriert besonders dieses «lebendiger werden lassen». Es ist ein wohlwollendes Verständnis von Wirklichkeit. Sie steht nicht unter Generalverdacht, ist nicht gemein, böse und unser Feind. In unserer Welt, in mir selbst, in meiner Umwelt wirken Lebenskräfte, die das Lebende lebendiger werden lassen. Das ist ein ermutigender Ansatz für persönliche Life Sciences, für die Suche nach dem, was das Leben, mein Leben lebendiger werden lässt. Die Forschenden, vielleicht mit akademischen Titeln, sehen sich eher als Handlanger des Lebens und weniger als geniale Düsentriebs.

Eine grosse Entlastung. Ich muss und kann mein Leben nicht selbst machen, ich kann es ermöglichen. Die Denk- und Arbeitsweisen der Life-Sciences-Forschung und -Entwicklung sind auch wohlwollendes Ermöglichungsmanagement. Die Weisheit der Natur verstehen lernen. Lebenskräfte, Lebensprozesse wirken in unfassbarer Komplexität zu meinen Gunsten.

DAS EIGENE LEBEN ALS FORSCHUNGSPROJEKT

In einem Labor vertiefen sich Menschen in ihre Themen, gehen den Verästelungen ihrer Anliegen nach und versuchen zu verstehen, auf welche Zusammenhänge zu achten sind. Das ist aus meiner Sicht auch ein Modus, um sich den undelegierbaren Themen des eigenen Lebens zu widmen.

Jeden Sonntagmorgen nehme ich mir Zeit und schreibe von Hand in ein Leerbuch auf weisses Papier. Seit gut 30 Jahren übe ich dieses schreibende Nachdenken. In vielem erinnert es mich an die Arbeit im Labor. Manche Einsichten ergeben sich langsam, sie brauchen ihre Forschungs- und Entwicklungszeiten, sind Ergebnisse von Gedankenfermentationen, wie ein Whisky, der seine Zeit im Fass braucht. Nach Jahren zeigen sie ihre belebenden Wirkungen. Koshimizu, ein japanischer Whiskykünstler: «Es sei vollkommen unmöglich vorherzusagen, meinte er, wie sich der Whisky in einem bestimmten Fass im Lauf der Jahre entwickelt. Selbst wenn man denselben Whisky in ähnliche Eichenfässer fülle, reife er in den Jahren der Lagerung zu unterschiedlichen Aromen und Geschmacksrichtungen heran.» Das eigene Leben lebendiger werden zu lassen, wurde für mich eine ermutigende Inspiration für eine persönliche Forschungs-und Entwicklungsarbeit – für nüchternen Realismus, der immer wieder auch Momente der Heiterkeit, Begeisterung und Freude kennt. Hideo Kobayashi, ein angesehener japanischer Literaturkritiker, sagte einmal, er wolle so lange wie möglich leben. Er glaubte, jeder weitere Tag im Leben bringe neue Entdeckungen und grössere Weisheit. (Zitiert ist Ken Mogi, IKIGAI, Die japanische Lebenskunst, Seite 87 und 174.)

Werner Aebischer war Berufsschullehrer für Chemieberufe. Heute im Ruhestand, Autor von meinephilo.ch und Mitverfasser des Grenzwanderbuches in der Region Basel «Von Stein zu Stein», erschienen im Reinhardt Verlag Basel. Die Essenzen seiner handschriftlichen Reflexionen liegen in «VIVA!» vor – Hinweise unter www.viva-buch.ch.

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