Narzissmus und Macht

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½ Aus der Praxis ½ Wer umgekehrt in erster Linie an sich selbst denke, dem stünden für den Mitmenschen keine Liebes-Reserven mehr zur Verfügung. Der Narzissmus erscheint mit dem Egoismus assoziiert und demnach als eine antisoziale Eigenschaft. Wenn wir einen Menschen als narzisstisch bezeichnen, werten wir ihn ab und charakterisieren ihn als egoistisch, ichbezogen und in seinen sozialen Beziehungen beeinträchtigt. Narzisstisch gestörte Persönlichkeiten gelten als psychotherapeutisch schwer behandelbar, und die von manchen Autoren postulierte Zunahme narzisstischer Störungen im Zeitalter des Narzissmus (Lasch 1982) wird als Zeichen eines tief greifenden sozialen Verfalls gedeutet. Der amerikanische Soziologe Richard Sennet (1983) erklärt den Narzissmus gar zur ¹protestantischen Ethik von heuteª, und er lässt keinen Zweifel daran, dass er den Terror der Intimität für ein Grundübel der an narzisstischen Zielen und Werten orientierten Gesellschaft hält.

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Hans-Jürgen Wirth

Abstract Narzisstisch gestörte Menschen streben nach Macht, weil sie damit ihr mangelhaftes Selbstwertgefühl kompensieren wollen. Umgekehrt nährt die Möglichkeit, Macht auszuüben, Gröûen- und Allmachtsfantasien. Macht wirkt wie eine Droge: Die Selbstzweifel verfliegen, das Selbstbewusstsein steigt. Machtfantasien dienen häufig der Überwindung unerträglicher Ohnmachtsgefühle: So empfinden narzisstisch gestörte Patienten häufig ein Gefühl der Macht, wenn sie mit ihrem selbstdestruktiven Agieren den Therapeuten ohnmächtig machen. Gehen Narzissmus, Macht und Aggression eine enge Verbindung ein, kommt es zu destruktiven und selbstdestruktiven Entladungen. Liebespartner, aber auch andere Interaktionspartner, verzahnen sich häufig in einem Macht-Ohnmachts-Kampf, der psychodynamisch als unbewusste narzisstische Kollusion beschrieben werden kann. Die Macht wirkt wie eine institutionalisierte Abwehr, die den pathologischen Narzissmus verstärkt. Die Mächtigen erscheinen deshalb psychotherapeutisch nur schwer behandelbar zu sein. In einer detaillierten Fallstudie wird gezeigt, dass es aber doch Wege gibt, die aus dem Dilemma von Narzissmus und Macht herausführen. Key words: Macht, Ohnmacht, Narzissmus, narzisstische Persönlichkeitsstörung, Politik

Das schlechte Image von Macht und Narzissmus ¹Keine Macht für niemandª, lautete einer der Slogans der 68er-Bewegung. Und Jacob Burckhardt schrieb schon exakt 100 Jahre früher in seinen Weltgeschichtliche[n] Betrachtungen: ¹Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübeª (Burckhardt 1868/1929, S. 73). Aber die Studenten des Pariser Mai '68 forderten nicht nur die Abschaffung der Macht, sondern formulierten auch: ¹Die Fantasie an die Macht!ª und ¹Alle Macht dem Volkeª. Macht ist offenbar ein schillerndes Phänomen, das höchst ambivalente Gefühle, Fantasien und Wertungen auslöst. Macht wird einerseits entwertet, verdammt, gar verteufelt und andererseits gilt ihr unsere Faszination. Wir bewundern und beneiden diejenigen, die sie ausüben. Wir träumen heimlich davon, selbst über unendlich viel Macht zu verfügen und beschwichtigen die Schuldgefühle, die dieser Wunsch auslöst, mit der Vorstellung, diese unendliche Macht natürlich zum Wohle der Menschheit einzusetzen. Interessanterweise ergeht es dem Begriff des Narzissmus ähnlich wie dem der Macht: Auch ihm haftet eine höchst ambivalente Tönung an. Sigmund Freud (1914) stellt dem Narzissmus die Objektliebe diametral gegenüber. Je mehr man seine begrenzte libidinöse Energie an andere Menschen als Liebe und Zuneigung verschenke, umso weniger bleibe sozusagen dafür übrig, sich selbst zu lieben.

Macht als Verleugnung von Abhängigkeit Die moderne Säuglingsforschung hat dem ¹klassischenª psychoanalytischen Bild vom Säugling als einem autistischen, symbiotischen, passiven und ¹primärnarzisstischenª Wesen das Bild vom ± wie Martin Dornes (1993) es formuliert hat ± ¹kompetenten Säuglingª entgegengesetzt, der von Anfang an in einem aktiven Austausch mit seiner Umwelt steht. Wie die Beobachtung der frühen MutterKind-Interaktionen gezeigt hat, suchen bereits Babys direkt nach ihrer Geburt aktiv den Kontakt mit der Mutter. Der von Freud (1914) postulierte ¹primäre Narzissmusª, beschreibt also nicht den normalen und gesunden seelischen Zustand des Neugeborenen, sondern nur die pathologische Fehlentwicklung. Damit ist auch Freuds diametraler Gegenüberstellung von Narzissmus und Objektliebe die Grundlage entzogen. Dies entspricht im Übrigen auch allen klinischen Erfahrungen, die zeigen, dass Patienten, deren Selbstwertgefühl im Laufe der Therapie zunimmt, auch zunehmend fähiger werden, stabile und befriedigende (Liebes-)Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Man muss geradezu umgekehrt annehmen, dass ein (gesunder) Narzissmus die inneren Voraussetzungen zur Aufnahme reifer Objektbeziehungen darstellt.

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Die amerikanische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin (1996) hat in ihrem Buch Die Fesseln der Liebe den Versuch unternommen, das Problem der Macht mit der existenziellen Abhängigkeit des Menschen einerseits und seinem ebenso existenziellen Bedürfnis nach Souveränität andererseits in Verbindung zu bringen. Sie geht davon aus, dass der Mensch nicht nur, wenn er als völlig hilfloser Säugling auf die Welt kommt, sondern sein ganzes Leben lang auf die Anerkennung durch andere Menschen angewiesen ist. Schon der Säugling hat ein primäres Interesse am Kontakt mit anderen Menschen, vor allem der Mutter, das sich nicht auf das Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme und orale Bedürfnisse beschränkt. Damit sich ein Gefühl der Identität entwickeln kann, bedarf es eines Gegenübers, das durch Liebe und Anerkennung das Selbst-Gefühl bestätigt ± oder genauer: überhaupt erst konstituiert. ¹Niemand kann sich der Abhängigkeit von anderen oder dem Wunsch nach Anerkennung entziehenª, fasst Benjamin (1996, S. 53) diesen Gedanken zusammen. Die Erfahrung, auf den anderen und sein Wohlwollen in fundamentaler Weise angewiesen zu sein, gehört zu den schmerzlichsten aber auch beglückendsten Erfahrungen, denen jeder Mensch vom Beginn seines Lebens an immer wieder ausgesetzt ist. Die Ausübung von Macht und der pathologische Narzissmus stellen Strategien dar, um dieser Abhängigkeit zu entgehen (Wirth 2002). Wenn das Subjekt seine Abhängigkeit von einer anderen Person zu leugnen versucht, kann es danach trachten, diese Person mithilfe der Macht zu unterjochen, zu versklaven oder sich in anderer Form gefügig zu machen. Der andere soll gezwungen werden, seine Anerkennung auszudrücken, ohne selbst Anerkennung zu ernten. Die Anhäufung von noch so viel Macht kann das menschliche ¹Urbedürfnisª nach Liebe und Anerkennung jedoch nicht ersetzen, sondern nur umformen und ausnutzen. Wer Macht hat, kann sich Liebe und Anerkennung erzwingen und erkaufen. Er verschleiert damit seine fundamentale Abhängigkeit, ohne sie jedoch wirklich aufheben zu können. ¹Damit beginnt ein Circulus vitiosus: Je mehr der andere versklavt wird, desto weniger wird er als menschliches Subjekt erfahren, und desto mehr Distanz oder Gewalt muss das Selbst gegen ihn einsetzenª (Benjamin 1996, S. 213). Das daraus folgende Fehlen von Anerkennung führt beim Mächtigen jedoch zu einer narzisstischen Mangeler-

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fahrung und zu narzisstischer Wut, die er mit einer weiteren Steigerung seiner Macht beantwortet. Aus dieser Dynamik leitet sich der suchtartige Charakter von Machtprozessen ab, der sich sowohl in unseren privaten Beziehungen, in beruflichen Zusammenhängen als auch in der Politik beobachten lässt. Das dynamische Wechselspiel zwischen Narzissmus und Macht wird auf der einen Seite durch die Machtgelüste des ¹Herrschersª geprägt, die auf der anderen Seite durch die Unterwerfungsund Schutzbedürfnisse der ¹Beherrschtenª ergänzt werden und dessen Macht überhaupt erst ermöglichen. Im Bereich der Politik gehört zu dieser Dynamik auch die Verzahnung der individuellen Psychopathologie des einzelnen Politikers mit den politischen Strukturen, die er vorfindet. ¹Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolutª, heiût es aus soziologischer Perspektive. Die Übermacht der deformierenden Verhältnisse ist danach so groû, dass sich der einzelne Politiker den korrumpierenden Einflüssen der Macht nicht entziehen kann. Aus einer psychologischen Perspektive kann man sagen, dass gesellschaftliche Macht gesucht wird, um innere Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Minderwertigkeit zu kompensieren. Macht übt deshalb gerade auf solche Personen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden. Ungezügelte Selbstbezogenheit, SiegerMentalität, Karriere-Besessenheit und Gröûenfantasien sind Eigenschaften, die der narzisstisch gestörten Persönlichkeit den Weg in die Schaltzentralen der Macht ebnen. Indem sich der narzisstisch gestörte Führer vorzugsweise mit Ja-Sagern, Bewunderern und gewitzten Manipulatoren (vgl. Kernberg 2000, S. 104) umgibt, verschafft er sich eine Bestätigung seines Selbstbildes, untergräbt jedoch zugleich seine realistische Selbstwahrnehmung und verfestigt seinen illusionären und von Feindbildern geprägten Weltbezug. Fremdenhass und Gewalt gegen Sündenböcke zu schüren, gehört zu den bevorzugten Herrschaftstechniken narzisstisch gestörter Führerpersönlichkeiten. Sie lenken auf diese Weise die gegen sie selbst gerichteten Aggressionen ihrer Untertanen auf auûenstehende Feinde um und entlasten sich zugleich von ihrem eigenen inneren Konfliktdruck. Geblendet von seinen eigenen Gröûen- und Allmachtsfantasien und von der Bewunderung, die ihm seine Anhänger entgegenbringen, verliert der Nar-

zisst den Kontakt zur gesellschaftlichen Realität und muss letztlich scheitern, auch wenn er zeitweise noch so grandiose Erfolge feiern kann. Häufig folgt nach glänzenden Siegen ein jäher und unerwarteter Absturz, weil der narzisstische Herrscher im Vollgefühl seiner Omnipotenz den Bogen überspannt hat.

Macht und Ohnmacht in Paarbeziehungen Menschen, die unter einem gestörten Selbstwertgefühl leiden, entwickeln häufig als Bewältigungsstrategie ein übersteigertes Selbstbild, das durch die Ausübung von Macht eine Stärkung erfährt. So kommt es auch in Paarbeziehungen häufig vor, dass der eine Partner ± von untergründigen Selbstwertzweifeln geplagt ± ständig versucht, den anderen zu dominieren. Er zwingt ihm seinen Willen auf, um sich selbst zu beweisen, dass er der Wertvollere, der Klügere, der Überlegene ist. Bei solchen paardynamischen Machtkämpfen tritt der inhaltliche Aspekt ± welche Entscheidungen und Handlungen nun im Einzelnen durchgesetzt werden sollen ± mehr und mehr in den Hintergrund zugunsten der bloûen Tatsache, den eigenen Willen wieder einmal durchgesetzt zu haben. Die Machtausübung dient der narzisstischen Gratifikation. Konstellationen, die die Ausübung von Macht begünstigen, können u. a. darin bestehen, dass die Partner besonders bereitwillig sind, sich auf die Bedürfnisse eines pathologischen Narzissten einzulassen, weil dies ihren eigenen pathologischen Wünschen nach Anpassung und Unterwerfung entgegenkommt. Schon Wilhelm Reich (1922) hat Zwei narzisstische Typen unterschieden: Der Typus des phallischen Narzissten zeichnet sich durch eine übersteigerte und demonstrativ zur Schau getragene Selbstsicherheit aus, um damit sein latentes Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. Ihm könnte man raten: ¹Mach dich nicht so groû, so klein bist du doch gar nicht.ª Beim zweiten Typus des Narzissten ist es genau umgekehrt: Er leidet unter einem manifesten Minderwertigkeitsgefühl, hinter dem sich latente Gröûenfantasien verbergen. Auf ihn trifft das Motto zu: ¹Mach dich nicht so klein, so groû bist du doch gar nicht.ª In der Terminologie des Paartherapeuten Jürg Willi (1972) würde man vom phallischen Narzissten und vom Komplementär-Narzissten sprechen, die sich in einer Kollusion


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ergänzen können. Das Modell der Kollusion, also des unbewussten Zusammenspiels zweier sich unbewusst ergänzender Partner, trifft auch für die Interaktion zwischen Führer und Groûgruppe zu. Beispielsweise ist der geltungsbedürftige Fanatiker nur dann als Führer erfolgreich, wenn er auf ein Publikum trifft, das bereit ist, sein Spiel mitzumachen. Oder anders formuliert: Der pathologische Narzissmus des Führers verzahnt sich mit der wie auch immer gearteten Pathologie seiner Interaktionspartner.

Die psychotherapeutische Behandlung der Reichen und der Mächtigen In einer Studie über Die psychoanalytische Behandlung der Reichen und der Mächtigen hat Johannes Cremerius (1979) eine Antwort auf die Frage gesucht, warum ¹Patienten in hohen politischen und wirtschaftlichen Machtpositionen sich nur ganz ausnahmsweise einer psychoanalytischen Behandlung unterziehenª (Cremerius 1979, S. 12f). Er kommt zu dem Ergebnis, dass es den Reichen und Mächtigen aufgrund ihrer privilegierten Lage und ihres gesellschaftlichen Einflusses möglich ist, ¹ihre Neurosen derart in gesellschaftlich akzeptierten Formen unter[zu]bringenª, dass sie nicht als krankhafte Störungen bemerkt werden, sodass sie nicht an ihnen leiden müssen. Der Mächtige lebt seine neurotischen Bedürfnisse ungehindert und ungestraft in der Realität aus ± anstatt Leidensdruck zu entwickeln, agiert er. Als Paradebeispiel für diese Patientengruppe gilt die von Herrmann Argelander (1972) publizierte Fallstudie Der Flieger. Der Patient stammt aus wohlhabenden Kreisen und ist auch beruflich sehr erfolgreich. Er sucht psychotherapeutische Hilfe, weil er unter Kontaktstörungen leidet. In der psychoanalytischen Behandlung, die Argelander durchführt, zeigt sich die narzisstische Persönlichkeitsstörung des Patienten, mit deren Hilfe er versucht, sich von menschlichen Beziehungen unabhängig zu machen. ¹Anstatt Liebe verschafft er sich Bewunderung und Erfolg bei anderen Menschenª (Cremerius 1979, S. 26). Symbolisch für seine narzisstische Form der Lebensbewältigung ist das Fliegen, das er als passionierter Sportflieger extensiv betreibt. Über den Wolken, fern vom direkten Kontakt mit anderen Menschen und als Alleinherrscher über seine Maschine

muss das Gefühl der Freiheit für diesen Patienten wohl grenzenlos sein. Er fantasiert sich unabhängig und allen anderen überlegen. Trotz anfänglicher Fortschritte scheiterte die Analyse dieses Mannes schlieûlich, da ± wie Argelander schreibt ± der Patient eine kontraphobische Reaktionsbildung entwickelt, die es ihm erlaubt, mit seinen Mitmenschen direkter und angstfreier umzugehen, allerdings um den Preis, dass diese nun vor ihm Angst haben, weil er sie einschüchtert. Cremerius (1979, S. 29) kommentiert den Ausgang dieser Behandlung mit folgenden Worten:

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¹Der ,Flieger` jedoch hat aufgrund der sozioökonomischen Sonderstellung die Möglichkeit, seine Neurose funktional so unterzubringen, dass sie ihm Gewinn bringt, ja, dass sie eine der wichtigen Voraussetzungen des Gewinns überhaupt wird ± und zwar nicht im Sinne des sekundären Krankheitsgewinnes, der ja in der Regel nur noch ein Surrogat ist, sondern eines echten primären Gewinnes. Ihm kann die Analyse keine unmittelbaren Vorteile versprechen ± für ihn ist sie zunächst einmal mit Verlusten verbunden, und zwar mit realen Verlusten an Geld, Besitz, Macht. Was sie ihm für die Zukunft in Aussicht stellt, nämlich ein Mehr an menschlichen Kontakten, Liebesfähigkeit und Vertrauen, kann deshalb nicht als verlockend erlebt werden.ª

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Otto Kernberg (1984, S. 97) berichtet von einem ähnlich gelagerten Fall:

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¹Der 17-jährige Sohn eines mächtigen Politikers bekämpfte zu Hause den konservativen arroganten Stil seines Vaters mit chronischen Wutausbrüchen, identifizierte sich jedoch mit der autoritären Haltung seines Vaters, indem er dessen Einfluss in der Stadt ausnutzte. Er versuchte, Lehrer, Geschäftsleute und andere Erwachsene zu terrorisieren, indem er sich auf die Macht seines Vaters berief, es ihnen heimzuzahlen drohte, falls seine Forderungen nicht erfüllt würden.ª

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Auch Kernberg betont, dass die Behandlung eines solchen Patienten groûe behandlungstechnische Schwierigkeiten aufwirft, da die narzisstische Störung mit real existierenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen verzahnt ist und von diesen unterstützt wird. Allerdings ist Kernbergs Auffassung von den therapeutischen Chancen nicht so fatalistisch wie die von Cremerius. Das hängt damit zusammen, dass sich unsere Mög-

lichkeiten, in solchen Fällen psychotherapeutisch hilfreich zu sein, dank der Weiterentwicklung der psychoanalytischen Behandlungstechniken der narzisstischen Störungen enorm verbessert haben. Dies ist vor allem dem Einfluss der Theorien von Heinz Kohut und Otto Kernberg zu verdanken. Im Folgenden will ich die Behandlung eines beruflich sehr erfolgreichen Patienten schildern, der groûe ¾hnlichkeit mit Argelanders Flieger aufweist.

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Der 36-jährige Patient kommt in meine Praxis, weil sich sein ¹Leben in ein Chaos aufzulösen drohtª: Seine Frau will sich wegen seiner zahllosen Affären scheiden lassen, seine drei kleinen Kinder zeigen verschiedene Verhaltensauffälligkeiten, und er selbst hat sich in eine fast aussichtslose finanzielle Situation hinein manövriert. Trotz seines überdurchschnittlichen Einkommens hat er durch Steuersparmodelle, riskante Börsenspekulationen und einen luxuriösen Lebensstil einen erdrückenden Schuldenberg aufgetürmt. Während er sich in seinem privaten Leben unfähig und hilflos vorkommt, fühlt er sich in seiner beruflichen Rolle als Manager einer international tätigen Firma selbstsicher, kompetent und zuverlässig. Sobald er in seiner Berufsrolle agiert, fühlt er sich ¹wie ein anderer Menschª. Er registriert genau den Respekt, den man ihm entgegenbringt, wenn er als Vertreter seiner angesehenen Firma auftritt. Er genieût die Anerkennung, die Macht und auch die Verantwortung. Er ist auûerdem ein passionierter Fallschirmspringer und findet in diesem Vergnügen seine Erfüllung. In seiner Kindheit und Jugend hatte der Patient unter einem despotischen, depressiven und jähzornigen Vater zu leiden, der mit seinen unberechenbaren Wutanfällen die Mutter und den Patienten tyrannisierte. Als der Patient 17 Jahre alt war, erschoss sich der Vater nach einem Streit mit der Mutter mit seinem Jagdgewehr. Obwohl er den Vater gehasst habe und froh gewesen sei, ihn endlich los zu sein, hat der Patient eine undeutliche Ahnung, dass er noch immer an dem Vater hängt. Mit seinem beruflichen Erfolg will er die späte Anerkennung des Vaters gewinnen, die er früher immer vermissen musste. Zugleich imitiert er den protzigen und selbstschädigenden Lebensstil des Vaters, der immer zur besseren Gesellschaft gehören wollte und über seine Verhältnisse lebte. In der Übertragung behandelt mich der Patient anfangs so, wie er sich früher von seinem Vater behandelt fühlte. Er spricht abschätzig von meinen ¹schäbigenª Sesseln, entwertet den Beruf des Psychothera-

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peuten und versucht mich lächerlich zu machen, indem er mich imitiert und versucht, die Rollen umzukehren. Manchmal hält er mich für einen freundlichen und gutmütigen, aber naiven und gutgläubigen Therapeuten, der von den Abgründen der ¹wirklichen Welt drauûenª keine Ahnung hat. Dann wieder vermutet er bei mir eine zynische ¹Abzockerhaltungª, und er kann sich nicht vorstellen, dass meine Beziehung zu ihm nicht auch von Berechnung, Ausbeutung, Hochmut und Verachtung geprägt ist. Phasenweise verkehrt sich die Entwertung in eine Idealisierung des Therapeuten. Der Patient bezeichnet mich ± in einer Mischung aus Spott und Bewunderung ± als seinen ¹Guruª. Das abrupte Umschlagen seiner Selbstidealisierung in eine Projektion dieser Idealisierung auf mich ist aber sehr instabil und drückt seine Fantasie aus, dass in einer Beziehung immer nur eine Person ideal und grandios sein kann, während der andere eine bewundernde, aber schattenhafte Rolle einnehmen muss. Der Patient entspricht genau dem Typus des Narzissten, der sich in eine manifeste Grandiosität flüchtet, um seine latenten Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Es ist seine Berufsrolle, die seinem fragilen Selbst Halt und Kontur verleiht. Wenn er sie einnimmt, verfügt er über ein stabiles Selbst und ist in der Lage, einen anspruchsvollen und verantwortungsvollen Beruf auszuüben. Ohne diesen Halt fühlt er sich hilflos und unsicher und muss sein Selbstgefühl aufwerten, indem er arrogant auftritt, mit Geld um sich wirft und oberflächliche sexuelle Affären eingeht. Im Verlauf der mehrjährigen (einstündigen) psychotherapeutischen Behandlung lernt der Patient zunehmend, diese Prozesse zu durchschauen. Die innere Reifung, die er durchmacht, zeigt sich u. a. darin, dass er sich entschlieût, sich seinen finanziellen Problemen offen zu stellen und diese nicht mehr durch immer neue finanzielle Tricks zu verschleiern und damit langfristig noch auswegloser zu machen. Er verkauft seine überdimensionierte Villa und zieht zusammen mit seiner Familie in eine Mietwohnung. Es ist sehr schwer für ihn, diesen narzisstisch kränkenden Weg zu gehen. Er verzichtet auch auf die endlose Fortführung seiner Affären und entwickelt ein neues Interesse an seiner Ehebeziehung und an seinen Kindern. Interessanterweise ändert sich parallel dazu auch sein Verhältnis zur Macht. Während der Patient im ersten Teil der Therapie häufig ein Gefühl der Macht empfand, wenn er sich selbstdestruktiven Nei-

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gungen hingab und so die Fantasie entwickeln konnte, den Therapeuten ohnmächtig zu machen, kann er sich in weiter fortgeschrittenen Abschnitten der Therapie offener, kritischer und selbstbewusster mit mir auseinander setzen. Auch im beruflichen und privaten Feld entwickelt er einen anderen Umgang mit Problemen der Macht: Früher hatte er sich gegenüber Untergebenen entweder arrogant oder aber anbiedernd verhalten. Beide Verhaltensmuster untergruben seine Autorität. Während der Therapie entdeckt er, dass er seine berufliche Macht viel effizienter ausüben kann und sich dabei auch wohler fühlt, wenn er eine angemessene Distanz zu seinen Mitarbeitern hält und seine dienstlichen Anweisungen freundlich, aber klar formuliert. Auch zu Vorgesetzten ändert sich seine Einstellung. Früher hatte er immer groûe Probleme mit Vorgesetzten und Autoritätsfiguren. Er fühlte sich schnell gedemütigt und reagierte darauf mit Wutanfällen, Arroganz und sozialem Rückzug. Am liebsten mied er jeden Kontakt mit Vorgesetzten, und seine weitere Karriere im Management drohte aus diesen Gründen zu scheitern. Deshalb erlebte er das Fallschirmspringen als so entlastend und befreiend: ¹Wenn ich durch die Luft schwebe, habe ich niemanden über mir ± auûer den lieben Gottª, lautet einer seiner Lieblingssprüche. In der Übertragung mit mir macht er die Erfahrung, dass es möglich ist, mich zu fürchten und zu hassen, mich anzugreifen und mir zu misstrauen und doch zugleich auch Sehnsucht und Gefühle von Wärme und Anhänglichkeit mir gegenüber zu empfinden.

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Diese Fallgeschichte zeigt, wie die Ausübung von Macht destruktiv und zugleich selbstschädigend werden kann, wenn sie in den Dienst pathologischer narzisstischer Bedürfnisse gestellt wird. Überall im Alltag lassen sich andere Beispiele finden, die strukturell ähnlich gelagert sind. Immer dort, wo ein starkes Machtgefälle auftritt, also zwischen Eltern und Kindern, zwischen Arzt und Patient, zwischen Pfleger und Hilfsbedürftigem, zwischen Wärter und Gefangenem, zwischen Bürokrat und Antragsteller, existiert für denjenigen, der in diesem Moment die Macht inne hat, die Versuchung, seine verdrängten und unbewältigten Erfahrungen von Ohnmacht und Hilflosigkeit, über die jeder Mensch verfügt, dadurch zu lindern und abzuwehren, dass er sie dem unterlegenen Partner zufügt. Es ist deshalb von zentraler Bedeutung, uns als Psychotherapeuten bewusst zu machen, dass wir auch die

Machtposition in der Therapeut-PatientBeziehung missbrauchen können, um unser unsicheres narzisstisches Gleichgewicht zu stabilisieren.

Hans-Jürgen Wirth PD Dr. rer. soc., Dipl.Psych., Psychoanalytiker, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker (DPV, IPA, DGPT) in eigener Praxis in Gieûen. Privatdozent für das Fachgebiet ¹Psychoanalyse mit dem besonderen Schwerpunkt der Prävention, Psychotherapie und psychoanalytischen Sozialpsychologieª an der Universität Bremen. Gründer und Verleger des Psychosozial-Verlages. Herausgeber der Buchreihe Bibliothek der Psychoanalyse. Letzte Buchveröffentlichungen: Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik (2002). Der 11. September. Psychoanalytische, psychosoziale und psychohistorische Analysen zu Trauma und Terror (2003, mit T. Auchter). Hitlers Enkel oder Kinder der Demokratie? Die 68-Generation, die RAF und die Fischer-Debatte (2000, Herausgeber). Psychosomatik und Kleinkindforschung (1999, Herausgeber mit W. Milch).

Korrespondenzadresse: Priv.-Doz. Dr. Hans-Jürgen Wirth Goethestraûe 29 35390 Gieûen

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Argelander H. Der Flieger. Eine charakteranalytische Fallstudie. Frankfurt: Suhrkamp, 1972 Benjamin J. Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt: Fischer, 1996 Burckhard J. Weltgeschichtlichen Betrachtungen [1868]. In: Gesamtausgabe, Bd. VII. Basel: Schwabe, 1929: 1 ± 208 Cremerius J. Die psychoanalytische Behandlung der Reichen und Mächtigen. In: Cremerius J, Hoffmann SO, Trimborn W: Psychoanalyse, Über-Ich und soziale Schicht. München: Kindler, 1979: 11 ± 54 Dornes M. Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt: Fischer, 1993 Freud S. Zur Einführung des Narzissmus. In: GW, Bd. X. 1914: 137 ± 170 Kernberg OF. Schwere Persönlichkeitsstörungen. Theorie, Diagnose und Behandlungsstrategie. Stuttgart: Klett-Cotta, 1984 Kernberg OF. Ideologie, Konflikt und Führung. Psychoanalyse von Gruppenprozessen


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und Persönlichkeitsstruktur. Stuttgart: KlettCotta, 2000 Lasch C. Das Zeitalter des Narzissmus. München: dtv, 1982 Reich W. Zwei narzisstische Typen. [1922]. In: Reich W: Frühe Schriften I. Aus den Jahren 1920 bis 1925. Frankfurt: Fischer, 1977: 144 ± 152 Sennet R. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt: Fischer, 1983 Willi J. Die Zweierbeziehung. Reinbek: Rowohlt, 1972 Wirth H-J. Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik. Gieûen: Psychosozial-Verlag, 2002

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