Bateman/Fonagy: Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung

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as Anliegen der Buchreihe BIBLIOTHEK DER PSYCHOANALYSE besteht darin, ein Forum der Auseinandersetzung zu schaffen, das der Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft, als Human- und Kulturwissenschaft und als klinische Theorie und Praxis neue Impulse verleiht. Die verschiedenen Strömungen innerhalb der Psychoanalyse sollen zu Wort kommen, und der kritische Dialog mit den Nachbarwissenschaften soll intensiviert werden. Bislang haben sich folgende Themenschwerpunkte herauskristallisiert: Die Wiederentdeckung lange vergriffener Klassiker der Psychoanalyse – wie beispielsweise der Werke von Otto Fenichel, Karl Abraham, W. R. D. Fairbairn, Sándor Ferenczi und Otto Rank – soll die gemeinsamen Wurzeln der von Zersplitterung bedrohten psychoanalytischen Bewegung stärken. Einen weiteren Baustein psychoanalytischer Identität bildet die Beschäftigung mit dem Werk und der Person Sigmund Freuds und den Diskussionen und Konflikten in der Frühgeschichte der psychoanalytischen Bewegung. Im Zuge ihrer Etablierung als medizinisch-psychologisches Heilverfahren hat die Psychoanalyse ihre geisteswissenschaftlichen, kulturanalytischen und politischen Ansätze vernachlässigt. Indem der Dialog mit den Nachbarwissenschaften wiederaufgenommen wird, soll das kultur- und gesellschaftskritische Erbe der Psychoanalyse wiederbelebt und weiterentwickelt werden. Stärker als früher steht die Psychoanalyse in Konkurrenz zu benachbarten Psychotherapieverfahren und der biologischen Psychiatrie. Als das anspruchsvollste unter den psychotherapeutischen Verfahren sollte sich die Psychoanalyse der Überprüfung ihrer Verfahrensweisen und ihrer Therapie-Erfolge durch die empirischen Wissenschaften stellen, aber auch eigene Kriterien und Konzepte zur Erfolgskontrolle entwickeln. In diesen Zusammenhang gehört auch die Wiederaufnahme der Diskussion über den besonderen wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse. Hundert Jahre nach ihrer Schöpfung durch Sigmund Freud sieht sich die Psychoanalyse vor neue Herausforderungen gestellt, die sie nur bewältigen kann, wenn sie sich auf ihr kritisches Potential besinnt.

BIBLIOTHEK

DER

HERAUSGEGEBEN

VON

PSYCHOANALYSE

HANS-JÜRGEN W IRTH


Anthony W. Bateman, Peter Fonagy

Psychotherapie der BorderlinePersönlichkeitsstörung Ein mentalisierungsgestütztes Behandlungskonzept Mit einem umfangreichen Behandlungsmanual Aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl

Psychosozial-Verlag


© Oxford University Press »Psychotherapy for Borderline Personality Disorder: Mentalization-based treatment« was originally published in English in 2004. This translation is published by arrangement with Oxford University Press. Die englische Originalausgabe »Psychotherapy for Borderline Personality Disorder: Mentalization-based treatment« wurde 2004 veröffentlicht. Diese Übersetzung wird entsprechend der Vereinbarung mit Oxford University Press veröffentlicht. Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Deutsche Erstveröffentlichung © 2008 Psychosozial-Verlag Goethestr. 29, D-35390 Gießen. Tel.: 0641/77819; Fax: 0641/77742 E-Mail: info@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Wolfgang Paalen: »Ciel de Pieuvre«, 1938 Umschlaggestaltung nach Entwürfen des Ateliers Warminski, Büdingen. Gesamtherstellung: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar www.majuskel.de ISBN 978-3-89806-473-6


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Vorwort

Die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist seit mittlerweile drei Jahrzehnten gebräuchlich. In diesem Zeitraum haben sich die Meinungen über Behandelbarkeit und Behandlung der betroffenen Patienten drastisch verändert. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts galt die psychoanalytische Langzeittherapie als Behandlung der Wahl, nachdem mehr als fünfzig Bücher, in denen psychoanalytische Pioniere die für diese Therapien relevanten Techniken, Prozesse und Probleme beschrieben, ihre Wirksamkeit nachgewiesen hatten. 1980 wurde die Diagnose in die offizielle Nomenklatur der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung aufgenommen. Nun wandte sich auch die Aufmerksamkeit der Psychiater der BPS-Behandlung zu. In den achtziger Jahren zeigte sich, dass psychoanalytische Therapien tatsächlich selten erfolgreich waren; auch zeichneten sich die potentiell schädigenden Konsequenzen langfristiger oder unstrukturierter Klinikaufenthalte ab. Durch die im selben Jahrzehnt beginnenden pharmakotherapeutischen Studien wurde die medikamentöse Therapie trotz mehrdeutiger Resultate als Standardbehandlung für Borderline-Patienten etabliert. In den 1990er Jahren schließlich rückten die eingeschränkten sozialen Fähigkeiten der Borderline-Patienten ins Zentrum der therapeutischen Aufmerksamkeit; die empirische Evidenz setzte sich als neuer Standard der Effektivitätsbeurteilung durch. Vorläufige Studien bestätigten den Erfolg von Familien- und Gruppentherapien. Der entscheidende Schritt nach vorn aber gelang zweifellos in den 90er Jahren mit der Implementierung der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT), einer Verhaltenstherapie, die sich primär auf das selbstdestruktive Verhalten dieser Patienten konzentriert. Nicht zuletzt dank der unermüdlichen und charismatischen Befürwortung durch Marsha Linehan drohte die empirisch abgesicherte DBT den Nutzen aller anderen Therapien in den Schatten zu stellen. In ebendiesem Kontext erarbeiteten Bateman und Fonagy ihre Methode der »mentalisierungs-


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gestützten Therapie« (Mentalization Based Therapy, MBT), die sie in diesem Buch vorstellen. Die Effektivität der MBT konnte in einer randomisierten kontrollierten klinischen Studie nachgewiesen werden (Bateman und Fonagy, 1999). In jener Untersuchung wurde die MBT in einem teilstationären Setting 18 Monate lang durchgeführt und mit der üblichen psychiatrischen Versorgung verglichen. Ebenso wie die DBT zeigte auch die MBT überaus bemerkenswerte Verbesserungen, was die Anzahl und Dauer der Klinikaufenthalte, die Verordnung von Medikamenten sowie suizidale und selbstverletzende Verhaltensweisen betrifft. Im Unterschied zur DBT bewirkt sie aber darüber hinaus auch signifikante Besserungen bei Depressions- und Angstsymptomen und im sozialen und interpersonalen Funktionieren. Besonders beeindruckend war die Beobachtung, dass die Patienten in den 18 Monaten nach Beendigung des Therapieprogramms weiterhin Fortschritte machten (Bateman und Fonagy, 2001). Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist ein Handbuch für Kliniker, in dem die Entwickler der MBT die Therapie, ihre theoretischen Grundlagen und ihre Anwendung detailliert darstellen. Die MBT leitet sich aus einer Entwicklungstheorie her, die Fonagy vor gut einem Jahrzehnt formuliert hat (Fonagy, 1991; Fonagy und Target, 1997). Dieser Theorie liegen systematische Beobachtungsstudien über Säuglinge und ihre Bezugspersonen sowie die aufblühende Bindungswissenschaft zugrunde. Demnach kann das Kind ein Selbstgefühl entwickeln, wenn es wahrnimmt, das es von anderen Menschen als denkendes oder fühlendes Wesen gesehen und behandelt wird. Die Stabilität und Kohärenz seines Selbstgefühls hängt von der Sensibilität, Akkuratheit und Konsistenz der Reaktionen ab, die ihm seine Bezugspersonen zeigen. Indem der Säugling die Wahrnehmungen, die andere von ihm haben, internalisiert, lernt er, dass seine Psyche die Welt nicht spiegelt, sondern die Welt interpretiert. Dies wird als Fähigkeit zu »mentalisieren« bezeichnet; sie konstituiert ein Gewahrsein der eigenen Psyche als Urheber und die Anerkennung der Präsenz und der Wichtigkeit mentaler Zustände anderer Personen. Auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung bezogen, vertreten die Autoren die Auffassung, dass Störungen der elterlichen Responsivität die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit beeinträchtigen und ein instabiles und inkohärentes Selbstgefühl die Folge ist. Die Unfähigkeit zu mentalisieren und die daraus resultierende Inkohärenz des Selbst spiegeln sich in den charakteristischen inkonsistenten und häufig unzutreffenden Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Borderline-Patienten ebenso wider wie in ihren widersprüchlichen und unangemessenen Gefühlsäußerungen. Zu betonen ist, dass sich die emotionale Labilität des Borderline-Patienten, die von Linehan,


Vorwort · 19

Livesley und anderen führenden Theoretikern als das eigentliche Defizit der Störung betrachtet wird (»emotionale Fehlregulation«), in Batemans und Fonagys Theorie als sekundäres Phänomen erweist. Mit der Formulierung einer Theorie, die das ausschlaggebende Defizit der BPS darauf zurückführt, dass sich aufgrund von Störungen in der Umwelt und insbesondere in der frühen Beziehung zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen eine bestimmte psychische Funktion – die Mentalisierung – nicht entwickeln konnte, messen die Autoren ätiologischen Faktoren Priorität bei, die man zwar einst für sehr wichtig erachtete, jedoch später angesichts der wachsenden Evidenz für biogenetische Vulnerabilitäten, beispielsweise affektive Instabilität oder Störungen der Verhaltenskontrolle (Impulsivität), in den Hintergrund rückte. Die Betonung der Interaktion zwischen Umwelt und interpersonalem Bereich einerseits und genetischer Vulnerabilität andererseits setzt einen wertvollen und zeitgemäßen Kontrapunkt zu Theorien, die biogenetische Dispositionen für die BPS verantwortlich machen. Bei unserem heutigen Kenntnisstand sind einander widersprechende Theorien zu begrüßen, weil sie die Formulierung überprüfbarer Hypothesen anregen und unser Verständnis der Borderline-Persönlichkeitsstörung auf diese Weise verbessern. Bateman und Fonagy verweisen ohne Umschweife immer wieder auf Unterschiede zwischen Theorie und gesicherten Fakten und erwarten von ihrem Leser nicht mehr, als dass er die Plausibilität ihrer eigenen Theorie anerkennt. An dieser Differenziertheit und Bescheidenheit lassen es viele Autoren, die eine theoretische Überzeugung vertreten, missen. Als Manual enthält dieses Buch ausführliche Beschreibungen der praktischen Anwendungen des von den Autoren ausgearbeiteten entwicklungspsychologischen Modells der Borderline-Psychopathologie. Das zentrale und typische Merkmal der MBT-Interventionen ist die Aufmerksamkeit, die sie der Identifizierung des mentalen Zustands anderer Personen als Möglichkeit, deren Verhalten zu verstehen, widmen. So konzentrieren sich die Therapeuten auf die Identifizierung (Interpretation) von Gefühlszuständen oder Gedanken ihrer Borderline-Patienten im Hier und Jetzt. Der Theorie der MBT zufolge wird Veränderung nicht durch den Inhalt einer Deutung herbeigeführt. Veränderung leitet sich vielmehr aus der allgemeineren Erfahrung des kausalen Zusammenhangs zwischen mentalen Zuständen und Verhalten her. Darüber hinaus legt die MBT großen Wert darauf, dass der Patient die mentalen Zustände anderer Personen einschließlich des Therapeuten zu identifizieren versucht und lernt, sich ihr Verhalten unter Berücksichtigung ihrer inneren Verfassung zu erklären. Die Betonung der kognitiven Prozesse im Hier und Jetzt durch die Therapeuten schlägt eine Brücke zwischen herkömmlichen kognitiven und psychoanalytischen Techniken.


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Die Anwendung der MBT, die von Bateman und Fonagy empirisch validiert wurde, fand in einem teilstationären Programm statt, doch die Autoren lassen keinen Zweifel an ihrer Überzeugung, dass die einzeltherapeutischen und die gruppentherapeutischen Komponenten für die Effizienz der MBT ausschlaggebend sind. Diese These wird derzeit geprüft, doch das Bemühen der Autoren, die effektiven Komponenten herauszuarbeiten, illustriert den weiterreichenden Zweck des Buches: die MBT ist das theoriegestützte Modell einer Therapie mit mannigfachen Anwendungsmöglichkeiten – sie bleibt keineswegs der erweiterten teilstationären Versorgung vorbehalten. Diese Botschaft ist von entscheidender Bedeutung, und ich bin sicher, dass die Leser ebenso wie ich selbst merken werden, dass die Aufmerksamkeit für mentale Zustände ein hilfreicher Rahmen ist, in dem man über das, was man in allen Begegnungen mit Borderline-Patienten tut, nachdenken kann. Die Aufmerksamkeit, die dem Erkennen und Benennen der Gedanken und Gefühle des Patienten gezollt wird, ist eine wesentliche Form der Validierung und der Entwicklung des Selbst, die für sämtliche therapeutischen Verfahren oder Paradigmen gleichermaßen relevant ist. Dies ist ein wichtiges Buch, das von zwei angesehenen Klinikern und Wissenschaftlern verfasst wurde. Es macht den Leser nicht nur mit der MBT und ihrem theoretischen Hintergrund vertraut, sondern enthält zudem ausführliche und überzeugende Darstellungen der einschlägigen BPS-Literatur. Die Autoren hüten sich vor Vereinfachungen; sie möchten ihre Leser eine Weise des Nachdenkens über Borderline-Patienten lehren, die an den derzeit vorherrschenden Meinungen und Praktiken etwas zu ändern vermag. Das Buch sollte zur Pflichtlektüre aller Forscher und Kliniker werden, die sich mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung beschäftigen. John Gunderson Psychiatrische Abteilung des McLean Hospital, Belmont MA, USA


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4. Kapitel Aktuelle Modelle zur Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung

Im Folgenden möchten wir unseren eigenen theoretischen Ansatz mit anderen Modellen vergleichen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Bislang wurden mehrere Verfahren zur Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) manualisiert, u.a. die psychoanalytische Psychotherapie (Kernberg et al., 1989), die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) oder dialektische Verhaltenstherapie (DVT) (Linehan, 1987) sowie verschiedene objektrelationale/interpersonale Ansätze (Dawson, 1988; Marziali et al., 1989) und die kognitiv-analytische Therapie (Ryle, 1997). Auch nicht-manualisierte Verfahren wurden beschrieben und sogar auf ihre Ergebnisse getestet (Stevenson und Meares, 1992). Wir haben allerdings im 2. Kapitel gesehen, dass es um die Ergebnisforschung auf dem Gebiet der Persönlichkeitsstörungen quantitativ schlecht bestellt ist und überdies vergleichende Ergebnisforschungen fehlen. Dies ist z.T. darauf zurückzuführen, dass solche Studien durch die mangelnde Spezifität der psychologischen Therapieansätze erschwert werden (Roth und Fonagy, 1996). Einige Autoren machen geltend, dass die beträchtlichen Überschneidungen der Therapien die Chance beeinträchtigten, zu verlässlichen Schlussfolgerungen über die jeweilige Effektivität zu gelangen (Goldfried, 1995), selbst wenn die Verfahren manualisiert sind. Gleichwohl bestehen zwischen den Therapien klare Unterschiede. Im vorliegenden Kapitel werden wir einige dieser Unterschiede zwischen unserem eigenen Ansatz und anderen modernen Therapien näher betrachten, auch wenn es mitunter den Anschein haben mag, als seien sie eher theoretischer denn praktischer Art. Der Nachweis von Varianzen zwischen verschiedenen Therapien ist speziell bei den Verfahren zur Langzeitbehandlung problematisch (zu denen all die o.g. Methoden zählen), weil Kliniker, was ihre Interventionen angeht, komplexe Entscheidungen treffen, die sowohl behaviorale als auch dynamische Faktoren berücksichtigen. Selbst wenn wir und andere Autoren die wichtigen Strate-


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gien und Taktiken der Behandlung definieren, ist es deshalb durchaus möglich, dass erfahrene Kliniker ganz ähnliche Dinge tun, ihre Interventionen aber unterschiedlich benennen. Wann immer wir über das in diesem Buch beschriebene Verfahren sprechen, sind unsere Zuhörer von gewissen Ähnlichkeiten mit den Therapien beeindruckt, die sie selbst praktizieren. Dies ist keine Überraschung, denn alle psychotherapeutischen Verfahren zur Behandlung der BPS konstruieren einen ähnlichen Behandlungsrahmen, innerhalb dessen die therapeutischen Interventionen stattfinden. Alle effektiven BPS-Therapien sind gut strukturiert, bemühen sich intensiv, den Patienten zur Mitarbeit anzuhalten, haben einen klaren Fokus und fördern eine starke Bindungsbeziehung zwischen Therapeut und Patient, die es ersterem ermöglicht, eine relativ aktive Haltung einzunehmen. Manche Methoden sind mit anderen Diensten, die dem Patienten zur Verfügung stehen, abgestimmt, andere hingegen arbeiten erklärtermaßen getrennt. Unser eigenes Behandlungsprogramm verbindet die Psychotherapie mit der psychiatrischen Versorgung; wir trennen letztere nicht ab, denn wir möchten sicherstellen, dass Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse bei der Medikamentenverordnung ebenso wie bei allen anderen Aspekte der psychiatrischen und sozialen Versorgung umfassend berücksichtigt werden. Die Verordnung wird von Mitgliedern des Behandlungsteams vorgenommen und im Kontext von Übertragungs- und Gegenübertragungsaspekten erwogen, die in der Einzel- und in der Gruppenpsychotherapie auftauchen (siehe S. 297f.). Auch wenn sich die verschiedenen Therapien, was den Behandlungsrahmen angeht, z.T. überschneiden, weist der Rahmen unseres Verfahrens etliche unverwechselbare Merkmale auf. Zum Beispiel ist die mentalisierungsgestützte Behandlung (mentalization-based treatment, MBT) eine Therapie von relativ langer Dauer, während andere Methoden den Kurzzeittherapien zuzurechnen sind (z.B. sieht die kognitiv-analytische Therapie, CAT, 24 Sitzungen vor); manche Therapien arbeiten mit Behandlungsverträgen, andere nicht; manche lassen einen Kontakt zum Therapeuten außerhalb der Sitzungen zu, während andere ihn aktiv verhindern. Abb. 4.1 stellt diese Abweichungen in Bezug auf den Rahmen und die Theorie der jeweiligen Verfahren dar. Unterschiede finden sich sowohl in der Theorie als auch in deren klinischer Umsetzung; hier betreffen sie insbesondere die Form und den Inhalt klinischer Interventionen. Insoweit handelt es sich bei den theoretischen Unterschieden nicht lediglich um intellektuelle Nuancen, sondern um Faktoren, die für die Durchführung der Therapie ausschlaggebend sind. Im Folgenden bezeichnen wir unser Behandlungsverfahren kurz als MBT.


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Mentalisierung: das gemeinsame Thema psychotherapeutischer Konzeptualisierungen der Borderline-Persönlichkeitsstörung Bislang haben wir verschiedene Ansätze zur Behandlung der BorderlinePersönlichkeitsstörung beschrieben. Wir haben gesehen, dass die Verfahren trotz ihres je charakteristischen Fokus viele gemeinsame Merkmale aufweisen. Möglicherweise verhält es sich zwangsläufig so, denn all diese Methoden stehen vor dem gleichen Problem, nämlich der Schwierigkeit, eine psychosoziale Therapie für eine Gruppe von Individuen bereitzustellen, deren interpersonale Beziehungen durch Instabilität und Chaos charakterisiert sind. So überrascht es nicht, dass die Mehrzahl der Methoden den Versuch, im therapeutischen Kontext einen angemessenen Beziehungsprozess zu ermöglichen, in den Vordergrund rückt. Nun könnte man diesen Aspekt relativ umstandslos unter dem Stichwort »nicht-spezifische Faktoren der Psychotherapie« diskutieren; außer Frage steht auch, dass Warmherzigkeit, Akzeptanz und eine stützende Umwelt zur Effektivität sämtlicher Psychotherapieverfahren beitragen. Trotzdem halten wir es für wünschenswert und für möglich, die spezifischen Aspekte des Beziehungsprozesses, die für Individuen mit BPS therapeutisch wirken, erheblich präziser zu identifizieren. Unser eigener therapeutischer Ansatz folgt der Überlegung, dass sich die Psychotherapie von Borderline-Patienten auf die Mentalisierungsfähigkeit konzentrieren sollte. Mit diesem Begriff bezeichnen wir die Fähigkeit, eigene Verhaltensweisen ebenso wie das Verhalten anderer Menschen implizit oder explizit als intentional wahrzunehmen oder zu interpretieren, d.h., es auf mentale Zustände oder mentale Prozesse zurückzuführen. Wir sind überzeugt, dass ein wichtiger gemeinsamer Faktor der psychotherapeutischen Ansätze, die wir in diesem Kapitel beschrieben haben, in ihrem Potential besteht, eine interaktionelle Bindungsmatrix herzustellen, in der sich Mentalisierung entwickeln und mitunter regelrecht aufblühen kann. Der Therapeut oder das therapeutische Milieu mentalisiert den Patienten auf eine Weise, die dessen eigene Mentalisierungsaktivität unterstützt – dies ist der ausschlaggebende Beziehungsaspekt. Wie oben erwähnt, besteht der entscheidende Wert der Psychotherapie für den Borderline-Patienten in der Erfahrung, dass seine Psyche in der Psyche anderer Personen präsent ist. Infolgedessen sollte klar sein, dass wir im Unterschied zu etlichen der hier erläuterten Ansätze (Kernberg, Ryle, Meares usw.) nicht den Inhalt von Deutungen oder die unspezifischen stützenden Aspekte der Therapie für


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das zentrale, ausschlaggebende Element der Therapie halten, sondern den Deutungsprozess. Der explizite Inhalt der Deutungen oder Erklärungen dient lediglich als Vehikel für den impliziten, therapeutisch wirksamen Prozess. Uns ist bewusst, dass diese Sichtweise keineswegs neu ist. Konzepte wie Einsicht, Empathie, das beobachtende Ich und sogar Introspektion waren während des gesamten »psychotherapeutischen Jahrhunderts« im Gespräch (Allen und Fonagy, 2002). Im Mentalisierungskonzept kristallisieren sich unserer Ansicht nach die biologischen und relationalen Prozesse, welche die Grundlage der Phänomene bilden, die mit diesen altehrwürdigen klinischen Begriffen bezeichnet werden. Wichtig ist, sich stets vor Augen zu halten, dass Mentalisierung und Introspektion nicht dasselbe sind. Mentalisierung kann implizit und explizit erfolgen. Implizite Mentalisierung ist eine nichtbewusste, nicht-reflexive prozedurale Funktion, die Simon Baron-Cohen (1995) folgendermaßen erläutert hat: »Ohne uns anzustrengen, ganz automatisch und weitgehend unbewusst ›lesen‹ wir pausenlos, was in unserer eigenen Psyche und in der Psyche anderer vorgeht.« Explizite Mentalisierung hingegen findet wahrscheinlich nur dann statt, wenn es in unseren Interaktionen zu »knirschen« beginnt (Allen, 2003). Sie kann, vor allem wenn sie auf hohem Niveau erfolgt, die Substanz einer Psychotherapie ausmachen, wenn z.B. Person A über ihr Gewahrsein dessen reflektiert, was Person B über A’s Gefühle oder Gedanken denkt. An anderer Stelle haben wir erläutert, dass ein solches explizites Mentalisieren (Metakognition) aber nur dann als genuin und produktiv zu betrachten ist, wenn zwischen diesen Kognitionen und der emotionalen Erfahrung ein starker Zusammenhang besteht. Wir haben dies als mentalisierte Affektivität bezeichnet (Fonagy et al., 2002). Andere Autoren drücken es metaphorisch aus, wenn sie sagen, dass »ein Gefühl zur Wahrnehmung gebracht« wird (Siegel, 1999, S. 149). Eine im Laufe der Entwicklung entstehende Dissoziation zwischen impliziter und expliziter Mentalisierung könnte vielleicht sogar ein Definitionskriterium psychischer Störungen sein. Welche Argumente können wir nun zugunsten der Mentalisierung als Schlüsselaspekt eines effektiven psychotherapeutischen Prozesses ins Feld führen? Erstens muss das implizite Mentalisieren per definitionem die Grundlage jeder therapeutischen Arbeit bilden. Ohne Teilnahme an sozialen Prozessen kann es keine Psychotherapie geben und ohne Mentalisierung keine Teilnahme am sozialen Geschehen. Zweitens hat John Bowlbys (1988) Werk jeden Zweifel daran ausgeräumt, dass die Psychotherapie unweigerlich das Bindungssystem aktiviert und das Erleben einer sicheren Basis ermöglicht. Wir halten dies für wichtig, weil der Bindungskontext der Psychotherapie die Bedingungen für die positive Synergiedynamik zwischen


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der Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit und der Erfahrung einer Grundsicherheit schafft. Die Erfahrung, verstanden zu werden, erzeugt Sicherheit; diese wiederum erleichtert die »mentale Exploration«, die Erforschung der anderen Psyche, in der wir uns selbst wiederfinden. Drittens sind Therapeuten immer und vor allem dann, wenn sie Patienten behandeln, die ihre eigene psychische Welt als undurchschaubar und verwirrend empfinden, damit beschäftigt, ein Bild von der Psyche des Patienten zu konstruieren und zu rekonstruieren. Sie benennen Gefühle, sie erklären Wahrnehmungen, sie fassen implizite Überzeugungen in Worte. Vor allem aber betonen sie in diesem Spiegelungsprozess den markierten Charakter ihrer verbalen oder nonverbalen Spiegelungsausdrücke. Ihre Ausbildung und ihre Erfahrung (z.B. das Bemühen um therapeutische Neutralität) verbessern ihre Fähigkeit, dem Patienten zu zeigen, dass sich ihre Reaktionen auf dessen psychische Verfassung beziehen. Dieser häufig sehr schnelle unbewusste, implizite Vorgang ermöglicht es dem BPS-Patienten, zu erfassen, was er selbst empfindet. Viertens ist das Mentalisieren in Psychotherapien gewöhnlich ein Prozess der gemeinsam geteilten Aufmerksamkeit, in dem das Interesse beider Beteiligter dem mentalen Zustand des Patienten gilt. Die gemeinsamen Aufmerksamkeitsprozesse, die sich in jeder Psychotherapie entwickeln, stärken unserer Ansicht nach die interpersonale Integrationsfunktion (Fonagy, 2003). Unter diesem Blickwinkel betrachtet, ist nicht nur das, was fokussiert wird, therapeutisch, sondern auch die Tatsache, dass Patient und Therapeut zusammen einen gemeinsamen Inhalt der Subjektivität fokussieren können. Fünftens wird der explizite Inhalt der Intervention des Therapeuten ungeachtet seiner Orientierung mentalistisch sein – gleichgültig, ob er in erster Linie auf Übertragungsreaktionen, auf automatische negative Gedanken, auf reziproke Rollen oder aber auf lineares Denken achtet. All diese Ansätze beinhalten insoweit explizites Mentalisieren, als sie die Fähigkeit unterstützen, Wünsche und Überzeugungen kohärent zu repräsentieren. Diese Sichtweise wird durch die allgemeine Erfahrung bestätigt, dass solche Bemühungen um explizites Mentalisieren nur dann erfolgreich sind, wenn es dem Therapeuten gelingt, den Patienten als aktiven Mitarbeiter zu gewinnen, der sich an jedem Erklärungsversuch beteiligt. Man kann die psychotherapeutische Arbeit mit Borderline-Patienten als einen integrativen Prozess betrachten, in dem implizites und explizites Mentalisieren in einem Akt der »repräsentationalen Neubeschreibung« miteinander verbunden werden. Dieser Begriff wurde von Annette Karmiloff-Smith (1992) geprägt, die mit ihm den Prozess bezeichnet, durch den »Information, die implizit in der Psyche enthalten ist, zu explizitem Wissen der Psyche wird« (S. 18). Sechstens wird die Fähigkeit des Patienten, multi-


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ple Perspektiven zu entwickeln, bereits durch den dyadischen Charakter der Therapie an sich gefördert. Auf den Patienten, der die innere Welt im Modus der psychischen Äquivalenz erlebt, kann die Übertragungsdeutung befreiend wirken, denn als eine mögliche Perspektive auf sein subjektives Erleben zeigt sie ihm auf, dass es mehr als nur »eine einzige Sicht der Dinge« gibt. Dieser Prozess kann sich auch in der Gruppentherapie entwickeln. In beiden Settings werden mentale Zustände zwangsläufig auf der sekundären Ebene repräsentiert; ebendies macht sie leichter als mentale Repräsentationen erkennbar. Wir sollten nicht vergessen, dass dies nur dann hilfreich ist, wenn implizite und explizite Mentalisierung nicht dissoziiert sind und Gefühle genuin empfunden statt lediglich besprochen werden. Kurz, wir sind davon überzeugt, dass die relativ sichere Bindungsbeziehung zum Therapeuten (die sichere Basis) einen relationalen Kontext abgibt, in dem der Patient die Psyche des Anderen gefahrlos erforschen kann, um seine eigene innere Welt darin repräsentiert zu finden. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um die Adaptation eines Mechanismus, mit dem uns die Evolution ausgerüstet hat, damit wir unsere Subjektivitätserfahrung durch soziale Interaktion »rekalibrieren« können; gleichwohl ist dies für Borderline-Patienten eine einzigartige Erfahrung, weil die Pathologie ihr subjektives Erleben des Anderen derart stark verzerrt, dass sie kaum noch hoffen können, ihr konstitutionelles Selbst darin wiederzufinden. Die fehlangepassten interpersonalen Prozesse – ob wir sie nun als projektive Identifizierung bezeichnen oder als pathologische reziproke Rollen – ermöglichen es diesen Patienten in alltäglichen sozialen Kontexten lediglich, in ihren sozialen Partnern Teile ihrer selbst zu finden, von denen sie sich verzweifelt zu befreien versucht haben: zum Beispiel panische Angst, Verächtlichkeit, Erregung oder Schmerz. Im psychotherapeutischen Kontext der Einzeloder der Gruppentherapie findet der Patient deshalb weit mehr als Anteilnahme, Wärme oder Akzeptanz. Indem der Therapeut an seiner Sicht des Patienten festhält und sich von dessen Bedürfnis, zu externalisieren und die Subjektivität des Therapeuten zu verzerren, nicht überwältigen lässt, fördert er gleichzeitig die Mentalisierungsaktivität und die Erfahrung einer sicheren Bindung. Das Gefühl, anerkannt zu werden, erzeugt eine Sicherheit, die dem Patienten die Freiheit gibt, sich selbst in der Psyche des Therapeuten zu erforschen. Das gestärkte Sicherheitsgefühl in der Bindungsbeziehung zum Therapeuten und in weiteren Bindungsbeziehungen, die durch den Behandlungsprozess ermöglicht werden können, stärkt ein sicheres inneres Arbeitsmodell und dadurch, wie Bowlby gezeigt hat, ein kohärentes Selbstgefühl. Gleichzeitig lernt der Patient, dem Prozess der Erforschung der Gefühle


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und Gedanken anderer Menschen psychischen Raum zu gewähren; dies kann die Kompetenz seiner Interpretationsfunktionen verbessern, was wiederum der Entwicklung einer weit positiveren interpersonalen Umwelt zugute kommt. Eine Grenze wird der Therapie durch die Mentalisierungsfähigkeit des Therapeuten gesetzt, die durch seine eigene Bindungsgeschichte, seine aktuellen interpersonalen Beziehungen und seine konstitutionellen Fähigkeiten limitiert ist. Glen Gabbard (siehe oben) hat unsere Aufmerksamkeit auf die Gefährdung der Mentalisierungsfähigkeiten des Therapeuten durch Borderline-Patienten gelenkt. Unsere Fähigkeit, ungehindert zu mentalisieren, wird durch die teleologische Haltung des Patienten und durch seinen beharrlichen Gebrauch des Modus der psychischen Äquivalenz sowie des Als-ob-Modus der Repräsentation von Subjektivität sehr leicht beeinträchtigt. Diese beiden Modi und die Erfahrung, dass unsere eigene Psyche von den fremden Selbstanteilen des Patienten überwältigt zu werden droht, kann unseren Nutzen für diese Patienten drastisch einschränken, wenn wir uns in ihrer Gegenwart unsicher, bedroht, depressiv oder innerlich leer fühlen.

Schlussfolgerung Indem wir die Mentalisierung ins Zentrum der Therapie von BorderlinePatienten rücken, können wir zahlreiche Behandlungsansätze, die sich in der Arbeit mit dieser schwierigen Patientengruppe als effektiv erwiesen haben, unter einem einheitlichen Blickwinkel betrachten. Das Mentalisierungskonzept erklärt zwar, weshalb eine ganze Reihe disparater Verfahren »funktionieren«; es besagt jedoch nicht, dass sie alle gleichermaßen effektiv wären oder dass der beste Ansatz aus einer gescheiten Kombination vorhandener Techniken bestünde. In den folgenden Kapitel werden wir zeigen, welche behandlungstechnischen Implikationen die Konzentration der therapeutischen Arbeit auf die Mentalisierungsfähigkeit des Patienten mit sich bringt. Klar sollte aber bereits jetzt sein, dass die Therapeuten (a) sich mit den eingeschränkten Fähigkeiten des Patienten identifizieren und mit ihnen arbeiten müssen; dass sie (b) sowohl ihre eigenen inneren Zustände als auch die des Patienten repräsentieren müssen; dass sie (c) die Aufmerksamkeit auf diese inneren Zustände konzentrieren und (d) diesen Fokus trotz der ständigen Schwierigkeiten, mit denen der Patient über eine sehr lange Zeit immer wieder aufwarten wird, behaupten müssen. Damit diese Fokussierungsebene erreicht werden kann, müssen Mentalisierungstechniken (a) im Kontext einer Bindungsbeziehung aufgezeigt, (b) konsequent immer wieder


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angewendet und (c) benutzt werden, um die Fähigkeit des Therapeuten zu stärken, dem Patienten innerlich nahe zu bleiben. Unsere Organisation der Behandlung schafft einen Kontext, in dem Therapeuten und Patienten ihre Arbeit auf die beschriebene Weise fokussieren und sich auf Mentalisierungstechniken konzentrieren können. In den beiden folgenden Kapiteln skizzieren wir unsere Methode. Uns ist jedoch bewusst, dass sie nicht den einzigen Weg zu positiven Ergebnissen darstellt, und wir behaupten auch nicht, dass unsere Organisationsprinzipien zwangsläufig die besten sind. Wir hoffen vielmehr, dass unsere Beschreibung andere Kliniker und Forscher nicht zur sklavischen Nachahmung, sondern zur Entwicklung effizienterer Verfahren anregen wird.


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6. Kapitel Übertragbare Organisationsmerkmale des MBT-Modells

In unserer Forschungsübersicht (Bateman und Fonagy, 2000) sind wir zu dem Schluss gelangt, dass effektive Methoden zur Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) bestimmte gemeinsame Organisationsmerkmale aufweisen. Dazu zählen: ➢ ein hoher Grad an Strukturierung, ➢ konsistente und verlässliche Implementierung, ➢ theoretische Kohärenz, ➢ Berücksichtigung der Schwierigkeiten, konstruktive Beziehungen – einschließlich der Kooperation mit dem Therapeuten und dem Team – aufzubauen, ➢ Flexibilität, ➢ bedarfsabhängige Intensität der Behandlung, ➢ ein individualisierter Versorgungsansatz, ➢ gute Zusammenarbeit mit den übrigen Diensten, die der Patient in Anspruch nimmt. Unser Vorgehen ist konsequent an diesen allgemeinen Merkmalen der Behandlung orientiert. Wir sind der Meinung, dass jede Methode zur Behandlung der BPS gewährleisten muss, dass diese Bedingungen erfüllt sind. Mit dieser Überzeugung stehen wir nicht allein. Die von der American Psychiatric Association ([2001] 2004) herausgegebenen Leitlinien zur Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung bestätigen unsere Ansicht. Die Art und Weise, wie wir diese Grundsätze in der MBT realisieren und befolgen, ist Thema des vorliegenden Kapitels. Jedes Merkmal wird unter dem Aspekt des Prinzips, auf dem es beruht, erläutert und begründet. Sodann beschreiben wir seine Implementierung.


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Struktur Prinzip Eine Struktur ist notwendig, um der Therapie einen Rahmen zu geben, der weder intrusiv noch unaufmerksam ist und quasi wie ein »guter Geist« im Hintergrund präsent bleibt, um eingreifen zu können, wenn die Dinge außer Kontrolle geraten. Unter Struktur verstehen wir, wie das Programm zusammengesetzt ist, wie es im Alltag implementiert wird, wie es längerfristig organisiert ist, wie vorhersagbar es ist und wie klar die Grenzen sind, die es den jeweiligen Funktionen und Verantwortlichkeiten setzt. Absolut unvereinbar mit der Struktur sind Inkonsistenz, mangelnde Koordination, widersprüchliche Reaktionen, Unzuverlässigkeit und Willkür. Gleichwohl ist die Struktur kein bloßes »Wie«-Phänomen, sondern auch ein geistiger Zustand, in dem Patienten und Therapeuten von einer gemeinsamen Basis aus über Behandlungsaspekte nachdenken können. Damit dies möglich ist, müssen beide Beteiligte die Therapie, ihren Zweck und die Begründung jeder einzelnen Komponente verstanden haben. Unter dieser Voraussetzung können die Therapeuten auf alltägliche klinische Probleme berechenbar und fair reagieren.

Rationale Dass Borderline-Patienten in den meisten psychiatrischen Diensten eine bruchstückhafte, inkonsistente, unzuverlässige und eher reaktive als proaktive Behandlung erhalten, wird kaum je bezweifelt. Diese Situation ist das Ergebnis sowohl der Unzulänglichkeiten der Dienste selbst als auch der Art und Weise, wie Borderline-Patienten mit diesen Diensten interagieren. Sie bestehen z.B. auf sofortiger Hilfe, wenn es ihnen schlecht geht. Diese kann nur selten gewährt werden, und so verstärken sie den Druck, indem sie mit Suizid, Selbstverletzung oder Gewaltanwendung drohen. Zunächst bleiben die Therapeuten und Betreuer diesem Verhalten gegenüber beharrlich, doch nach und nach, kaum wahrnehmbar, werden ihre Reaktionen inkonsequent, weil sich Panik einschleicht. Nun wird dem Patienten von manchen Betreuern eine Klinikeinweisung angeboten, während andere Mitarbeiter sich strikt dagegen aussprechen. Letztlich wird der Dienst für den Patienten unberechenbar; er ist zu einem Spiegel seines labilen Selbst geworden und verstärkt unkonstruktive Formen der Krisenbewältigung. Dem unter Frag-


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mentierungsangst leidenden Patienten steht nun ein Dienst gegenüber, der in unkoordinierte Versorgungsbruchstücke zerfällt und keinen festen Kern mehr hat. Statt dem Patienten eine stabile und kohärente Sichtweise seiner inneren Welt zu präsentieren – eines unserer Hauptziele besteht darin, dass der Patient die Behandlung als den reflexiven Teil seines eigenen Selbst wahrzunehmen lernt –, wird ihm eine chaotische und in sich widersprüchliche Sichtweise präsentiert, die ihn verwirrt und seine Panik verstärkt. In Reaktion darauf schließen viele Behandler einen Vertrag mit dem Patienten, der die Gesamtstruktur aber kaum erfolgreich zu stützen vermag (siehe S. 199) und lediglich eine weitere Hürde darstellt, die der Patient überwinden muss, um im Programm bleiben zu können.

Grenzverletzungen Die größte Gefahr, die der Behandlungsstruktur droht, sind Verletzungen der Grenzen. Die Errichtung einer Struktur wirkt der Regression entgegen und ist von größter Bedeutung, weil Regressionen in Verbindung mit unverarbeiteten Gegenübertragungsreaktionen das Überschreiten der Grenzen zwischen Patient und Therapeut begünstigen. Über die Regression bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung wird weiterhin debattiert; manche Kliniker sind der Ansicht, dass die Regressionsfähigkeit für Borderline-Patienten therapeutisch sei. Sie berufen sich auf die Schriften Balints (1968), Winnicotts und anderer Autoren, die auf die Regression ihrer Patienten reagierten, indem sie ihnen eine »korrigierende Erfahrung« zuteil werden ließen. Winnicott beispielsweise hat die Analysesitzungen von Margaret Little verlängert, die Hand der Patientin gehalten, sie in prolongierten Regressionsphasen täglich zu Hause besucht und ihren Kopf in seinen Händen geborgen, um ihr zu helfen, ihre Geburt wiederzuerleben. Unserer Ansicht nach ist für solcherlei Aktionen in der Behandlung von Borderline-Patienten kein Platz. Die Aufrechterhaltung der Struktur ist für den Therapeuten ebenso wichtig wie für den Patienten; festzuhalten ist allerdings auch, dass eine allzu unflexible Handhabung antitherapeutisch sein kann. Es gilt, einen Mittelweg zu finden, der einen Regressionsprozess innerhalb gewisser Grenzen zulässt; diese Flexibilität darf jedoch weder einem Agieren noch einer Destabilisierung Vorschub leisten, denn dies könnte zu Grenzverletzungen führen. Ein Psychiater in Ausbildung machte sich Sorgen über seine Beziehung zu einer Borderline-Patientin und bat deshalb um Supervision. Er hatte der Patientin angeboten, sie nach ihrer Entlassung aus der


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Klinik maximal sechs Wochen lang einmal wöchentlich zu sehen. Die Sitzungen sollten ihr den Übergang von ihrem langen Aufenthalt auf einer psychiatrischen Akutstation zu einem selbständigen Leben erleichtern. In der 4. Sitzung bat die Patientin um weitere Stunden, und der Therapeut bot ihr zwei Zusatztermine an. In der 6. Sitzung sprach sie über suizidale Gefühle und erklärte, der Psychiater sei der einzige Mensch, der sie am Leben halte. Ohne die Sitzungen bei ihm würde sie sich umbringen. Daraufhin bot er ihr an, dass sie solange, wie es nötig sei, zu ihm kommen könne. Nach einiger Zeit erklärte er sich auch mit längeren Sitzungen einverstanden, weil er den Eindruck hatte, dass die Patientin mehr Zeit brauchte, um zu verstehen, was vor ihrer Klinikeinweisung mit ihr geschehen war. Um die verlängerten Sitzungen in seinem Stundenplan unterbringen zu können, gab er ihr regelmäßige Abendtermine zu einer Zeit, in der in der Einrichtung kein Betrieb mehr war. Schon bald weigerte sie sich, die Klinik zu verlassen. Sie lag weinend auf dem Boden, so dass er eine weitere Stunde lang mit ihr sprechen musste, bevor er sie davon überzeugen konnte, nach Hause zu gehen. Schließlich stimmte sie unter der Bedingung zu, dass er ihr aufhalf, sie hinaus begleitete und dabei ihre Hand hielt, um sie zu beruhigen. Widerstrebend gab er nach, weil es bereits spät war und sich keine anderen Mitarbeiter mehr in der Klinik aufhielten, die ihm hätten helfen können. Seine Sorge wuchs, als die Patientin erklärte, sie wisse, dass er sie liebe, und vor seinem Haus Stellung bezog. Dies war der Zeitpunkt, zu dem er um Supervision nachsuchte. Die Vignette zeigt, wie das ursprüngliche Ziel der Sitzungen unterlaufen werden kann, ohne dass der noch unerfahrene Therapeut es überhaupt merkt. Die ursprüngliche Vereinbarung war gebrochen worden, aber keiner der beiden Beteiligten ahnte die möglichen Konsequenzen. Die Unterscheidung zwischen den Aufgaben des Therapeuten und den Bedürfnissen der Patientin wurde durch das Angebot späterer und längerer Sitzungen weiter untergraben. Dieser gefährliche Weg kann direkt zu einer katastrophalen Grenzverletzung in Form einer sexuellen Beziehung zwischen Patientin und Therapeut führen. Der Therapeut hätte an den ursprünglich vereinbarten 6 Sitzungen festhalten sollen. Wenn dann z.B. aufgrund von Suizidgedanken weitere Hilfe erforderlich geworden wäre, hätte dies getrennt besprochen und eine reguläre Behandlung angeboten werden können. Darüber hinaus arbeitete der Assistenzarzt allein und ohne Unterstützung. Die von ihm angebotenen Sitzungen hätten in einen festen Kontext, einen klug überlegten Behandlungsplan, eingebettet sein müssen. Gerade bei dem komplexe-


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ren Borderline-Patienten ist es wichtig, dass der Therapeut nicht isoliert arbeitet. Gabbard (2003) hat eine gescheiterte psychoanalytische Behandlung beschrieben. Die suizidale Borderline-Patientin schaffte es, ihren Analytiker davon zu überzeugen, dass nur er ihr helfen könnte. Als er wegen des Suizidrisikos in große Angst geriet, beschloss er, sie nicht ins Krankenhaus einzuweisen, sondern ihr zu erlauben, die Nacht in seinem Haus zu verbringen. Ein sexueller Kontakt war die unvermeidliche Folge. Von Schuldgefühlen geplagt, war der Analytiker gleichwohl weiterhin überzeugt, »dass ich sie zumindest davor bewahrt habe, sich umzubringen«. Gabbard ist der Ansicht, dass solche Grenzverletzungen direkt mit der Unfähigkeit zusammenhängen, Aggression und Hass zu handhaben. Der Analytiker ist entschlossen zu zeigen, dass er vollkommen anders ist als die missbräuchlichen Eltern und dass er die Patientin für ihre tragische Vergangenheit entschädigen kann. Diesem Ziel opfert er seine analytische Haltung auf, indem er jede Verbindung mit einer internalisierten Repräsentation eines bösen Objekts, das den Angreifer quält, verleugnet. Gabbard (1997) hat dies als »Entidentifizierung mit dem Angreifer« bezeichnet. Wir betrachten es als einen Aspekt des »fremden Selbst« des Patienten, der im Analytiker untergebracht ist, aber unerkannt bleibt und sich einnistet wie ein Abszess, der drainiert werden muss. Sobald der Analytiker zum fremden Selbst wird, bricht die Mentalisierung zusammen. Die Fähigkeit zur sekundären Repräsentation und der »Als-ob«-Aspekt des analytischen Prozesses gehen verloren; infolge der omnipotenten Überzeugung, dass der Analytiker den Patienten retten kann, wird häufiges Agieren unvermeidlich. Wenn die Behandlung ernsthaft suizidaler Borderline-Patienten jedoch in Teams stattfindet, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass nicht erkannte Gegenübertragungsreaktionen und ein Zusammenbruch des Mentalisierens in Grenzverletzungen einmünden.

Implementierung Die Struktur ist der Organisation, der täglichen Implementierung und den langfristigen Zielsetzungen unseres Behandlungsprogramms inhärent. Tag für Tag beginnen Gruppen- und alle andere Therapiesitzungen pünktlich, arbeitsfreie Tage der Therapeuten werden frühzeitig vereinbart, Telefonanrufe bei Patienten innerhalb der verabredeten Zeit erledigt usw. Der Teamansatz schützt vor Grenzverletzungen und minimiert die Gefahr eines Überengagements der Therapeuten.


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Struktur beginnt mit Information. Jeder Patient erhält eine Broschüre, die ihn über die Behandlung, über seine eigenen Verantwortlichkeiten sowie über die Pflichten des Therapeuten und des Teams informiert (siehe Anhang 5). Darüber hinaus enthält die Broschüre auch Beiträge von Patienten, die die Behandlung aus ihrer persönlichen Sicht beschreiben. Vorschriften und Regeln sollten klar formuliert sein. Der Patient muss von vornherein wissen, dass man ihn auffordern wird zu gehen, wenn er andere Personen in der Einrichtung bedroht oder ihnen gegenüber gewalttätig wird. Drohungen gegen Personen außerhalb der Klinik stehen auf einem anderen Blatt; sie sind kein Entlassungsgrund, sondern werden zum Fokus der Therapie. Die Behandlung erfolgt in drei Phasen: Engagement des Patienten für die Therapie (Engagement), psychologische Arbeit in einer therapeutischen Beziehung, Beendigungsphase. Jede Phase erfordert einen je spezifischen Ansatz seitens des Therapeuten und des Teams. Zu Beginn der Behandlung verhält sich das Team aktiv und versucht beharrlich, Probleme zu klären und das Engagement des Patienten zu gewinnen. Die Einzelsitzungen sind durch die Vorgabe eines primären Ziels strukturiert: es soll eine Formulierung der Probleme erarbeitet werden. Zugleich wird in den Sitzungen eine Balance zwischen der Aktivität des Therapeuten und der Freiheit des Patienten, Themen seiner Wahl zu erforschen, angestrebt. Übertragungsmarker [transference tracers] (siehe S. 312) werden benutzt, um das Bewusstsein des Patienten für die Beziehung zum Therapeuten zu wecken und auf diesem Weg auch einen Zugang zu umfassenderen Problemen zu finden. In der Phase der psychologischen Arbeit, der mittleren Phase, ermöglicht das Team eine intensivere Exploration mit Hilfe der Übertragung und Gegenübertragung; agierendes Verhalten kann nun direkt angesprochen und Missverständnisse können hinterfragt werden. In der Abschlussphase müssen die Wut, das Gefühl, wieder alleingelassen zu werden, sowie die Enttäuschung und Angst im Zusammenhang mit der Beendigung sensibel erforscht und in Bezug auf das gegenwärtige Leben des Patienten und seine Vergangenheit verstanden werden.


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Konsistenz, Konstanz und Kohärenz Prinzip Die Gewährleistung von Konsistenz, Konstanz und Kohärenz ist entscheidend, weil Patienten mit Persönlichkeitsstörungen Inkonsistenzen aufspüren und ausnutzen. Dies kann gelegentlich bewusst stattfinden und Teil eines Versuchs sein, persönliche Wünsche durchzusetzen. Eine Patientin, die wegen suizidaler Impulse um die Aufnahme auf der psychiatrischen Akutstation gebeten hatte, erklärte im Gespräch mit ihrem Therapeuten, dass sie nicht mehr suizidal sei, aber auch nicht in ihre Wohngemeinschaft zurückkehren wolle, weil ihr die Mitbewohner unsympathisch seien. Sie gab auch zu, dass sie dem Pflegepersonal weiterhin ein Suizidrisiko vorgetäuscht habe. Nachdem der Therapeut mit ihr über die Ursachen ihrer Abneigung gegen die Mitbewohner und ihrer Täuschung der Schwestern und Pfleger gesprochen und mit ihr zusammen über mögliche Lösungen ihrer Probleme nachgedacht hatte, wurde vereinbart, dass sie die Klinik noch am selben Tag verlassen und mit den Schwestern die entsprechenden Vorkehrungen treffen würde. Bei ihrer Rückkehr auf die Station aber teilte sie den Schwestern mit, dass sie mit ihrem Therapeuten vereinbart habe, weitere 3 Tage zu bleiben. Dieser Betrug kam erst ans Licht, als der Therapeut später auf der Station anrief und mit den Schwestern einen Termin vereinbaren wollte, um über die Entwicklung der Patientin während ihres Aufenthalts zu sprechen.

Rationale In dem geschilderten Beispiel gab es zwar keinen Disput zwischen dem Therapeuten und den übrigen Betreuern, aber es stellte sich heraus, dass zwei der Krankenschwestern unterschiedlicher Meinung waren, was den weiteren stationären Aufenthalt der Patientin anging. Die Schlichtung solcher Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitarbeitern oder zwischen den Mitarbeitern und anderen zuständigen Betreuern nimmt u.U. mehr Zeit in Anspruch, als für die Behandlung des Patienten zur Verfügung steht. Psychodynamisch gesehen, tauchen Inkonsistenzen auf, wenn es innerhalb von Teams zu »Spaltungen« kommt. Sie können unterschiedliche Gründe haben.


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Am wichtigsten ist es in einem solchen Fall immer, nach der Bedeutung der Spaltung zu fragen. Manchmal lässt sich eine äußerlich manifeste Spaltung unmittelbar auf eine schlechte Teamkommunikation zurückführen; möglich ist aber auch, dass sie die inneren Prozesse des Patienten abbildet. Spaltungen im Therapeuten oder im Team können auch aus den eigenen, unbearbeiteten Übertragungen resultieren und mit dem Patienten wenig zu tun haben. Das Verständnis dieser Prozesse ermöglicht dem Team einen konsistenten Umgang mit den Patienten; jeder Mitarbeiter kann den Ansatz unter diesen Umständen konstant realisieren, denn solange die zugrunde liegenden Ursachen verstanden werden, lassen sich Interventionen, die der Situation nicht angemessen sind, vermeiden. Unterschiedliche Gründe für Spaltungen erfordern unterschiedliche Interventionen. Spaltungen, die im Kontext unbewältigter Übertragungen auftauchen, erfordern nicht Patientenarbeit, sondern Teamarbeit; Spaltungen hingegen, die aus Projektionen des Patienten resultieren, sollten im Anschluss an den Dialog mit dem Patienten im Team klinisch diskutiert werden. Inkonsistentes Verhalten der Therapeuten, z.B. in Reaktion auf Krisen, im Umgang mit Agieren oder mit Forderungen des Patienten, wird durch eine inkohärente und nicht nachvollziehbare Theorie verstärkt. Ein Therapeut, der die theoretische Basis der Interventionen nicht begriffen hat, ist nicht in der Lage, während der Behandlung rasch und effektiv nachzudenken und seine Interventionen innerhalb eines kohärenten Rahmens auf die Besonderheit einer jeden klinischen Situation zuzuschneiden. Es ist absolut notwendig, dass alle Therapeuten zusammenarbeiten, denn nur so ist sicherzustellen, dass jeder den Behandlungsprozess, die Gründe für Interventionen sowie deren Umsetzung versteht. Verwirrte Therapeuten rufen im Patienten Panik hervor und erschüttern infolgedessen die Stabilität seines repräsentationalen Systems. Das bedeutet mitnichten, dass sich Therapeuten gegenüber auftauchenden Problemen starr und unflexibel verhalten sollten; sie müssen sich aber eine mentalisierende Haltung bewahren und das Problem von diesem Standpunkt aus betrachten können.

Implementierung Indem man die Anzahl der Personen, die mit der Betreuung des Patienten befasst sind, auf jene beschränkt, deren Rollen und Aufgaben sorgfältig definiert sind, verringert man die Gefahr inkonsistenter Interventionen. Dies muss zu Beginn der Behandlung in der Mitarbeiterbesprechung geschehen (siehe S. 254). Wenn die psychiatrische Versorgung in der Behandlung von


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Patienten mit Persönlichkeitsstörung getrennt von der Psychotherapie erfolgt, ist es u.U. schwieriger, die Anzahl der Betreuer zu beschränken; bei guter Kooperation im Kontext eines von Therapeuten und Psychiatern gemeinsam entworfenen, umsichtigen Behandlungsplans aber ist auch ein Modell mit »geteilten Funktionen« (siehe S. 227f.) praktikabel. Eine höhere Konsistenz ist jedoch von der Arbeit mit einem spezialisierten Team zu erwarten. Abgesehen von der Beschränkung der Zahl der Behandler ist es auch hilfreich, Veränderungen nach Möglichkeit zu vermeiden. Dies ist für die Behandlung der BPS besonders relevant, denn ein Therapeutenwechsel wird vom Patienten als Wiederauflage früherer Verlusterfahrungen erlebt, so dass er Verzweiflung weckt und womöglich zum Abbruch der Behandlung führt. Erfahrene, dienstältere Therapeuten, bei denen mit Veränderungen eher nicht zu rechnen ist, bringen eindeutig die besseren Voraussetzungen für die Behandlung persönlichkeitsgestörter Patienten mit, weil sie auf problematische Entwicklungen effektiver reagieren können als Auszubildende, die ihre Arbeitsstelle in regelmäßigen Abständen wechseln. Sobald ein weiterer Betreuer in die Versorgung eines Patienten einbezogen wird, müssen seine Rolle und seine Verbindungen zum Kernteam geklärt werden. Dies ist z.B. relevant, wenn der Patient in ein allgemeines Krankenhaus oder in die Psychiatrie eingewiesen wird, wenn die Strafverfolgungsbehörden ins Spiel kommen oder ein Platz in einer Einrichtung für betreutes Wohnen gesucht wird. Ein Patient aus unserem Behandlungsprogramm wurde wegen Kreditkartendiebstahls und anschließenden Betrugs verhaftet. Die Staatsanwaltschaft forderte Berichte ein, und die Strafe wurde auf Bewährung ausgesetzt. Der Bewährungshelfer wurde zur nächsten ausführlichen Fallkonferenz eingeladen, damit seine Funktion besprochen werden konnte. Es wurde vereinbart, dass er seine Verpflichtungen gegenüber dem Patienten und den Behörden erfüllen sollte, indem er den Patienten alle zwei Wochen sah und sich vergewisserte, dass diesem die Konsequenzen weiterer Straftaten klar waren. Im Hinblick auf das Team wurde vereinbart, dass wir die Therapie auf die zugrunde liegenden Prozesse konzentrieren würden, die zu dem kriminellen Verhalten beigetragen hatten; zudem musste seine Schwierigkeit bearbeitet werden, die Auswirkungen seines Verhaltens auf andere Menschen zu verstehen. Zwischen dem Bewährungshelfer und dem Behandlungsteam wurden klare Kommunikationswege vereinbart. Mit dem Patienten wurde abgesprochen, den Bewährungshelfer in die »Teamschweigepflicht« einzubeziehen.


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