Hermann Beland: Die Angst vor Denken und Tun

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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Originalausgabe © 2008 Psychosozial-Verlag Goethestr. 29, D-35390 Gießen. Tel.: 0641/77819; Fax: 0641/77742 E-Mail: info@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Antonio Rodriguez Luna: »Ohne Titel«, 1931–35 Umschlaggestaltung nach Entwürfen des Ateliers Warminski, Büdingen. Satz: Hanspeter Ludwig, Gießen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar www.majuskel.de ISBN 978-3-89806-859-8


Hermann Beland

Die Angst vor Denken und Tun Psychoanalytische Aufs채tze zu Theorie, Klinik und Gesellschaft

Psychosozial-Verlag


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Zur Theorieentwicklung


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Der Allmachtsbegriff ideengeschichtlich Von der Allmacht der Gedanken (Freud) zur Allmacht über das Denken (Klein)

Diese Arbeit versucht, Phänomen und Begriff von ›Allmacht‹ zu klären. Es soll dabei vor allem um die kleinianische Fortsetzung der klinischen Beobachtung des Phänomens nach Freud und um die theoretische Erfassung des Begriffs über Freud hinaus gehen. Der Wunsch nach Klärung entstand aus dem Eindruck der frustrierenden Konfusion des Wortgebrauchs, der Unklarheit über den Rang eines klinischen Phänomens und dem Ärger über die Ausdehnung eines Gruppenkonflikts auf die klinische und theoretische Zugänglichkeit eines wichtigen Aspekts des normalen und des pathologischen Denkens. Es ist ein problemorientierter Versuch, der überwiegend hermeneutisch-philologisch ausgerichtet ist. Ausführliche Zitate werden für den Leser nötig und nützlich sein.

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Drei Problembereiche des Begriffsgebrauchs

Bei Freud war die ›Allmacht der Gedanken‹ einerseits der deskriptive Begriff eines klinischen Phänomens und andererseits der Integralbegriff des ersten theoretischen Systems, der die Kindheitsentwicklung mit der Menschheitsentwicklung, der Neurosenlehre, der ersten Kulturtheorie und der Kunsttheorie verband. Der Begriff blieb zwar in jedem Stadium der Theoriebildung erhalten, geriet aber doch irgendwie zwischen die Mühlsteine der revidierten Theorien, und wurde später eher mit kritisierten Theorieanteilen oder mit Entwicklungsspekulationen Freuds verbunden. Die Allmacht der Gedanken hing z. B. mit der Entwicklungshypothese der halluzinatorischen Wunscherfüllung im Stadium des primären Narzißmus zusammen, mit den Hypothesen über die prähistorische Menschheitsentwicklung und


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später mit der Todestriebhypothese. Das aber waren bekanntlich genau jene Hypothesen Freuds, die von einem großen Teil der psychoanalytic community fallengelassen wurden oder nie akzeptiert worden waren. In den Jahrzehnten nach dem Krieg geriet dann der Gebrauch des Adjektivs bzw. Adverbs ›omnipotent‹ geradezu zu einem Kennzeichen kleinianischer Texte, während das Wort in denselben Jahrzehnten aus der postfreudianischen und ichpsychologischen Literatur allmählich verschwand. Weder »Das Vokabular der Psychoanalyse« von Laplanche und Pontalis (1973) noch »Psychoanalytic Terms & Concepts« von Moore und Fine (1990) führen den Begriff ›Allmacht‹ noch auf. Es bestand offenbar kein Definitionsbedürfnis mehr, weil man der Sache klinisch nicht mehr, wie Freud sie verstanden hatte, begegnete, bzw. sie nur noch im Zwangsdenken, aus dessen Symptomen das Phänomen ursprünglich gewonnen war, oder in der Psychoanalyse des Selbstgefühls antraf (Literatur vgl. Beland 1971). Die pathologische Omnipotenz war an die kleinianischen Observanz abgetreten. Annie Reich, Margaret Mahler und Edith Jacobson bildeten Ausnahmen. So ist im Bereich der Psychoanalyse des Allmachtsdenkens dieselbe Forschungsspaltung eingetreten, die sich bei der unbewußten Phantasie ereignet hat (Beland 1989). Die Richtungsspaltung in Ichpsychologie und in kleinianische Psychoanalyse, die sich in der Wien/London/New Yorker Kontroverse realisierte, hieß für das Interesse am Allmachtsdenken, daß der eine Flügel die neurotischen Formen des Allmachtsdenkens und die Störungen des Selbstgefühls erforschte (Fenichel, Annie Reich, Edward Bibring, Roy Schafer), während der andere sich den manischen und den paranoiden und schizoiden Formen des Allmachtsdenkens zuwandte (Klein, Riviere, Rosenfeld). Beide Richtungen setzten fort, was Freud entdeckt hatte und beriefen sich zu recht auf ihn. Freuds klinische Beobachtungen und Theorien des Allmachtsdenkens sollen deshalb zuerst zusammengestellt werden, bevor die kleinianischen Beobachtungen und Theorien beschrieben werden. Es wird deutlich werden, daß Freuds spezielles Interesse am Allmachtsbegriff von keinem der beiden Flügel übernommen wurde. Trotz der jahrzehntelangen Forschung von Melanie Klein und ihren Schülern, die sich auf das Phänomen und den Begriff Omnipotenz richtete, gab (und gibt) es keine Monographie zum Thema und lediglich spärliche Hinweise einer theoretischen Erfassung des Phänomens. Das ist erstaunlich. Mir ist auch nicht bekannt, daß es eine kritische Auseinandersetzung mit Winnicotts Allmachtstheorie gäbe, die den Begriff des wahren Selbst wie den der Mutter, die gut genug ist, an die positive Erfahrung von Allmacht und an die


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partielle Überwindung der Allmachtsillusion knüpfte, und die den Rest der partiellen Illusion mit dem Übergangsbereich des transitional object und der Kultur verband (Winnicott 1962, 1971). Winnicotts Allmachtstheorie war ein Entfernungsschritt weg von Melanie Klein, wenn man auch feststellen muß, daß Winnicott sich mit der positiven Bedeutung des Allmachtsdenkens als Grundlage der Selbstzurechnung und mit der Überwindung des Traumas durch seine Wiedereinbeziehung in die Allmacht befaßte, während Melanie Klein sich vor allem weiterhin auf die primitiven (psychotischen) Abwehren konzentrierte und dem Allmachtsgefühl in der paranoid-schizoiden Phase und Position, in der Theorie des Neids und der Neidabwehr einen spezifischen Platz gab. Beide zuletzt erwähnten Entwicklungen machte Winnicott nicht mit. Seine Allmachtstheorie akzeptierte die Theorie der depressiven Position M. Kleins weitgehend, aber verband sich, wenn man seinen originellen Ansatz überhaupt zuordnen will, theoretisch eher mit dem ichpsychologischen Flügel des Allmachtsinteresses. Die Ursache für das Fehlen einer ausgearbeiteten Theorie des Allmachtsdenkens bei den Kleinianern kann man darin vermuten, daß die Untersuchung der Verbindung von Allmacht und projektiver Identifizierung als dem Leitmechanismus von Wahnbildung, destruktivem Narzißmus und pathologischer Organisation bisher keine Klärung für eine der Hauptschwierigkeiten gebracht hatte, die von einer Theorie des Allmachtswahns geklärt werden müßte: die Bestimmung des Verhältnisses von Phantasie und Mechanismus. Dieses Problem gilt zwar für alle unbewußten Phantasien, die solche Mechanismen steuern, deren seelischer Ausdruck sie sind, insbesondere für einige der Abwehrmechanismen. Melanie Klein soll z. B. unterschieden haben zwischen Projektion als dem Mechanismus und projektiver Identifizierung als der zugehörigen Phantasie (Bott-Spillius 1990, S. 104), allerdings mit ontologischem Vorrang der Phantasie. Beim Allmachtsdenken ist aber bislang nicht deutlich, ob es überhaupt einen Mechanismus gibt oder ob Allmachtsüberzeugungen »nur« megalomane Phantasien über die eigene Identität sind, etwa nach der Art: »Ich, der Säugling, kann, was ich will und bin stärker und klüger und lustvoller als beide übermächtigen Eltern, die ich nicht brauche, die ich vielmehr ein- und ausschalten kann, wann ich will«. Was aber, wenn derartige Identitätsphantasien konkretistisch, abgespalten und unbewußt existieren und höchst einflußreich steuernd wirksam sind? Rosenfeld vor allem hat eindrucksvolle Berichte aus seinen Analysen über abgespaltene Allmachtsüberzeugungen gegeben, die später zu Wort kommen sollen.


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Bion formulierte theoretische Grundzüge der Genese pathologischer Allmacht in seiner Theorie des Denkens. Aber es gibt keinen problemorientierten Überblick über Bedeutung, Gebrauch und Entwicklungsgeschichte des Verständnisses von Omnipotenz. Das Verhältnis von Phantasie und Mechanismus ist nicht das einzige Begriffsproblem. Manchmal hat man den Eindruck, als sei mit ›Allmacht‹, ›allmächtig‹ gerade und vor allem ein Aspekt des Mechanismus aller primitiven Abwehrmechanismen gemeint, nämlich deren Konkretismus, deren psychosomatische Effektivität, deren Durchsetzungskraft und Persistenz, also so etwas wie der Quantitätsaspekt der aggressiven Steuerideen, deren Macht, aber auch deren Realitätsindex. Eng verbunden mit diesem Problem ist die Erwägung, ob Allmacht und Idealisierung (als Mechanismus der Steigerung von gut und böse in Richtung Himmel und Hölle als Eigenschaften des Objekts) nicht zusammengehörige Phänomene betreffen, die zusammenzufassen wären als psychisches Vermögen der Intensivierung gegen unendlich in bestimmten psychischen Bereichen, wie in denen der steuernden Werturteile und der gesteuerten Affektivität (Verliebtheit, Depression, Angst, Wut), der Setzungen-Löschungen (Abwehrmechanismen), der Macht-Ohnmachtszustände (Allmacht der Exkrete, der Wünsche; traumatische Erfahrungen) usw. Ein dritter Problembereich im Zusammenhang der Allmachtshypothesen, der für die Zweifel an der Seriosität der klinischen Beschreibungen von Allmachtsphantasien verantwortlich sein dürfte, betrifft das Verhältnis von Deduktion und Induktion. Einer der frühen und berühmten Aufsätze Ferenczis (1913) über »Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes« leitet das Allmachtsdenken von der intrauterinen Erfahrung ab, eine Hypothese, die Grunberger später aufnehmen und ausarbeiten sollte (Grunberger 1971). Ferenczi postulierte die intrauterine Mentalität als die Periode der bedingungslosen Allmacht, der nachgeburtlich die »halluzinatorische Wiederbesetzung der vermißten Befriedigungssituation: der ungestörten Existenz im warmen, ruhigen Mutterleibe« gefolgt sei (Periode der magisch-halluzinatorischen Allmacht) (Ferenczi 1913, S. 69). Ferenczi erwähnt noch zwei spätere Allmachtsstadien, die der magischen Gebärden und die der magischen Gedanken und Worte. Jedem Stadium weist er eine der großen psychischen Erkrankungen zu. Dies alles war kühn und plausibel, aber doch nichts anderes als deduzierende Spekulation. Das war natürlich auch Ferenczi, dem Meister der klinischen Beobachtung, bewußt:


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»Überlegungen, die in diesem Zusammenhange nicht dargelegt werden können, überzeugten mich, daß auch jedes spätere Schlafen nichts anderes ist als eine periodisch sich wiederholende Regression zum Stadium der magisch-halluzinatorischen Allmacht und mit deren Hilfe zur absoluten Allmacht der Mutterleibssituation. Nach Freud muß man für jedes nach dem Lustprinzip lebende System Einrichtungen fordern, mittels deren es sich den Reizen der Realität entziehen kann. Ich denke mir nun, daß Schlaf und Traum die Funktionen solcher Einrichtungen sind, das heißt, die auch dem Erwachsenen erhalten gebliebenen Reste der halluzinatorischen Allmacht des kleinen Kindes. Das pathologische Pendant dieser Regression ist die halluzinatorische Wunscherfüllung der Psychosen« (Ferenczi 1964, S. 70).

Die Funktion solcher Spekulationen in der Geschichte des psychoanalytischen Denkens ist es stets gewesen, durch klinische Beobachtung geprüft und ersetzt zu werden. Im Rückblick und unter Verwendung der inzwischen gewonnenen Beobachtungen kann man leicht nachweisen, daß fast keines der von Ferenczi hier zitierten Postulate Bestand hatte. Trotzdem hatten sie eine hervorragende heuristische Funktion. Das hypothesenbildende Nachdenken über Allmachtsillusionen hat während der ersten psychoanalytischen Jahrzehnte zweifellos unter Nichtüberprüfbarkeit gelitten. Das gilt natürlich auch für Freuds Hypothesen. Die halluzinatorische Wunscherfüllung als theoretisches Postulat der Traumtheorie und die »Allmacht der Verdrängung im Reiche des Phantasierens« aus den »Zwei Prinzipien des psychischen Geschehens« (Freud 1911a, S. 235), beides wichtige theoretische Allmachtsbegriffe Freuds, stehen hinsichtlich der Überprüfbarkeit auf unvergleichlich schwächeren Füßen als die klinisch beobachtete Allmacht der Gedanken der Zwangsneurose, als die klinischinduktiv gewonnene exkretorische Allmacht (Abraham 1920), als die Allmachtsillusion des melancholischen Schuldwahns (Freud 1917) oder als der schizophrene Allmachtswahn vom Weltuntergang (Freud 1911b, Klein 1946). Überprüfbar wurden die merkwürdigen Phänomene der unbewußten Allmachtsphantasien und die entsprechenden Hypothesen eigentlich erst nach der Entdeckung der projektiven Identifizierung, die zum Prototyp einer Gruppe von »mechanisms of omnipotence« (Bion 1962b) avancierte. Die drei genannten Problembereiche des Begriffsgebrauchs, Allmacht als Phantasie mit oder ohne Mechanismus, Allmacht als Energie der Setzung und Effektivität der primitiven Abwehr, Allmacht als Theoriepostulat (deduktiv) oder als Beobachtungsdatum (induktiv) sollen im Gang der Begriffsprüfung immer wieder herangezogen und untersucht werden.


II Zur Klinik


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Theorie der Therapie: Aufhebung struktureller Bedeutungen Eine Auseinandersetzung mit Freuds »Die endliche und die unendliche Analyse«

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Der Einfluß der Freud-Ferenczi-Kontroverse auf die Theorieentwicklung

Die Möglichkeit der menschlichen Affektsteigerung hat Bion (1970) mit der Objektbezogenheit des Affektsystems des Säuglings begründet. Die Steigerung des Affekts ruft die Alphafunktion der Mutter. Unbeantwortet wird die Steigerung von Angst und Schmerz, aber auch von Ekstase (Tustin 1981), traumatisch unerträglich, und es kommt zum Einsatz von Überlebensmechanismen und zu Autodestruktion des Bewußtseins, zum Einsatz von Abwehrmechanismen. Sie werden gegen die Wahrnehmung und das Affektsystem, gegen Objektbezogenheit und Triebwünsche gerichtet. Die Steigerung der Angst des Säuglings ist sein Beitrag, auf die Gefährdung seines Lebens, d.h. seiner Entwicklungsprozesse, hinzuweisen. Ich erwähne das Problem der traumatischen Angst, weil es in der Arbeit von Freud (1937) »Die endliche und die unendliche Analyse« bei der Auseinandersetzung zwischen Freud und Ferenczi latent eine zentrale Rolle spielt. Ferenczi hatte in den letzten 10 Jahren vor seinem Tode 1933 bei seinen verschiedenen Versuchen, therapeutische Regressionen zu ermöglichen, immer entschiedener die Traumagenese der Angst und der neurotischen und psychotischen Erkrankungen vertreten. Freud hatte in seinem Nachruf über Ferenczi geschrieben: »Man erfuhr, daß ein einziges Problem sein Interesse mit Beschlag belegt hatte. Das Bedürfnis zu heilen und zu helfen war in ihm übermächtig geworden. Wahrscheinlich hatte er sich Ziele gesteckt, die mit unseren therapeutischen Mitteln heute überhaupt nicht zu erreichen sind. Aus unversiegten affektiven


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Quellen floß ihm die Überzeugung, daß man bei den Kranken weit mehr ausrichten könnte, wenn man ihnen genug von der Liebe gäbe, nach der sie sich als Kinder gesehnt hatten. Wie das im Rahmen der psychoanalytischen Situation durchführbar sei, wollte er herausfinden« (Freud 1933c, S. 269).

»Die endliche und die unendliche Analyse« ist nicht richtig zu verstehen, wenn man sie nicht als Auseinandersetzung mit Ferenczi liest, mit Ferenczis Anschauung zur Genese von Neurose und Psychose, zur Theorie des idealen therapeutischen Prozesses, zur Abstinenz und überhaupt zur analytischen Haltung. Der Argumentationsgang in Freuds Arbeit ist an über 30 Stellen direkt und indirekt, aber eindeutig, mit Ferenczis Position beschäftigt. Einige Positionen Freuds sind in der Auseinandersetzung überbetont, z. B. die Summierung aller objektbeziehungsferner Therapieresistenzen wie phylogenetische Vererbung, angeborene Abwehrpositionen des Ichs, angeborenes Übergewicht von destruktiven Trieben (Todestrieb) und Konfliktneigungen, der Ablehnung der Weiblichkeit als biologische Tatsache. »Die endliche und die unendliche Analyse« verdankt ihre einseitige Betonung von Konstitution, Quantität und therapeutischem Pessimismus der Gegenwehr Freuds gegen Ferenczis therapeutische Experimente. Seine Betonung aller Faktoren, die den Heilungserfolg einschränken und verhindern, muß darüber hinaus aus der geschichtlichen Situation verstanden werden. Ich denke, es handelt sich um Freuds Stellungnahme zum Verhältnis zwischen der in den Völkern existierenden Destruktivität und einer messianischen Psychoanalyse. Er nannte beides nicht direkt beim Namen, nicht den therapeutischen Messianismus, in dessen Gefahr er Ferenczi gesehen hatte und nicht den drohenden Krieg, die faschistische Verherrlichung der Gewalt und den deutschen ideologischen Willen zur Vernichtung der Juden. Aber er antwortete in dieser Schrift auf beides, indem er seine Denkhaltung an mehreren Problemstellungen praktisch darstellte. Der Nachdruck auf Quantität, Todestrieb und phylogenetischer Erbschaft bezieht sich auf die zentralen Elemente seines Verständnisses von naturwissenschaftlicher Haltung gegenüber der Wirklichkeit. Bion (1961) hat das psychoanalytische Paar als Arbeitsgruppe mit der Protomentalität »Grundannahme Paarbildung« verbunden, zu der die messianische Hoffnung gehört. Gegen das Lernen aus Erfahrung kann die Grundannahme die Arbeitsgruppe wahnhaft überwältigen. Ich denke, daß Freud gerade angesichts der Bedrohung seine illusionsfreiere und nichtmessianische therapeutische Haltung bekräftigte und ausdrücklich als psy-


Theorie der Therapie: Aufhebung struktureller Bedeutungen · 157

choanalytische Haltung anbot. Die Psychoanalyse wird die Destruktivität der Menschheit nicht ändern. Sie kann dazu beitragen, sie zu verstehen. Sie kann im Einzelfall gegen die Verwüstung durch psychische Erkrankung helfen. Sie kann auch beitragen, gesellschaftliche Wahnvorstellungen zu verstehen. Aber im Hinblick auf die globale Destruktivität, auf die spezielle Ausgestaltung des Todestriebes der belebten Materie in der Menschheit, wird sie immer eine begrenzte, eine »endliche« Analyse bleiben. Ferenczis Lehranalyse bei Freud während des ersten Weltkrieges war wohl die einflußreichste Lehranalyse für die Geschichte der Psychoanalyse. Der in Kürze erscheinende Briefwechsel zwischen Freud und Ferenczi wird die Deutung der tragischen Entfremdung zwischen beiden, die Grunberger (1974) gegeben hat, bestätigen oder verändern (vgl. auch Grubrich-Simitis 1980). Die bisher zugänglichen Dokumente unterstützen seine These, daß Ferenczis Vorwurf, seine Lehranalyse sei unvollständig gewesen, Freud habe seine negative Übertragung nicht analysiert, im großen und ganzen zutrifft. Freud habe die Mutterübertragung gemieden, sie als Bruderübertragung mißdeutet. Das traumatisch liebeleere Verhältnis der Mutter Ferenczis sei in der Übertragung nicht vergegenwärtigt und anerkannt, die dafür erforderliche therapeutische Regression sei von Freud durch vorzeitige Beendigung der Analyse unterbunden worden. Die Folge sei gewesen, daß Ferenczi seine unaufgelöste Übertragung in seinen therapeutischen Experimenten agiert habe, sie habe agieren müssen, indem er das mißhandelte Kind im Patienten und die vermißte narzißtische Mutterzärtlichkeit im gewährenden Therapeuten zur Darstellung brachte. Grunberger machte auch deutlich, weshalb Ferenczis therapeutische Versuche scheitern mußten und unter welchem Zwang zum Agieren einer unaufgelösten Übertragung sie standen. Ferenczi hat tatsächlich nicht die Lehranalyse erhalten, die er gebraucht hätte. Sie existierte als Lehranalyse überhaupt noch nicht. So ist Ferenczis Forderung, der Analytiker müsse eine mindest so intensive Analyse erhalten wie seine Patienten sie erfahren, eine verständliche erste Folgerung aus der eigenen Erfahrung, die auch bald verwirklicht werden sollte. Weitere Wirkungen von Ferenczis damaligem Scheitern, die in den folgenden Jahrzehnten in der Psychoanalyse aufgenommen wurden, sind die Förderung der negativen Übertragung, die therapeutische Regression als Konzept und notwendige therapeutische Maßnahme, die Sensibilisierung für die Psychoanalyse des Settings und für die reale Person des Analytikers, die Deutung aus der Gegenübertragung bei vollzogenem Rollentausch in der Übertragung, die Notwendigkeit der Anerkennung des Traumas im the-


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rapeutischen Prozeß, die Notwendigkeit der Verbesserung des analytischen Werkzeugs, des Analytikers, anstelle der These von der Unanalysierbarkeit des Patienten. Die beiden Linien der Narzißmusforschung der letzten 20 Jahre lassen sich ebenfalls in Ferenczis (1925, 1927, 1932) letzten Arbeiten wiederfinden: die Rücksicht auf die Verletzbarkeit des gestörten Selbstachtungsnarzißmus (vor allem untersucht von Edward Bibring (1951), Anni Reich (1960), Edith Jacobson (1971), Joseph Sandler (1960) und Heinz Kohut (1977a, 1977b) und die Abwehr der abhängigen Objektbeziehung durch den Abwehrnarzißmus (destruktiver Narzißmus (Rosenfeld 1964, 1984) und grandiose Selbststruktur (Kernberg, 1975)). Die Geschichte der psychoanalytischen Theorieentwicklung zeigt, daß die psychoanalytischen Vereinigungen an der Zusammengehörigkeit von Freud und Ferenczi festgehalten und diesen ersten, sozusagen innersystemischen Theoriekonflikt allmählich praktisch gelöst haben. Die in den vergangenen fünf Jahrzehnten entstandenen theoretischen Kontroversen betreffen den Primat endogener oder exogener Ursachen (Todestrieb versus Elternversagen), die Zuerkennung der ersten axiomatischen Position des theoretischen Systems an die Triebe oder an die Objektbeziehung, den systematischen Vorrang einer der metapsychologischen Gesichtspunkte (dynamisch oder ökonomisch-strukturell oder topographisch) und die Wahl der zentralen theoretischen Position entsprechend dem alten philosophischen Gegensatz von Aktkategorien und Seinskategorien. Die Geschichte der psychoanalytischen Theoriebildung hat gezeigt, daß jede dieser denkbaren Wahlen ihre Berechtigung und in bestimmten Bereichen der Erfassung psychischer Realität ihre Vorzüge hat. Es ist ein Ergebnis der Geschichte der psychoanalytischen Theorien, daß der spezielle Realitätsvorsprung einer bestimmten psychoanalytischen Theorie von jedem Analytiker gewürdigt werden könnte. Es war eine der wichtigsten und weitblickendsten theoretischen Entscheidungen Freuds, gegen sein eigenes Bedürfnis nach einer einheitlichen systematischen Theoriesprache eine Oligarchie miteinander konkurrierender und einander ergänzender metapsychologischer Gesichtspunkte einzusetzen, von denen jede den theoretischen Primat einnehmen kann. Ich erwähne die Geschichte der theoretischen Konflikte, weil erfahrungsgemäß jeder Analytiker nur in einer Theoriesprache wirklich arbeitet. Das Eindenken in eine andere psychoanalytische Theorie hat für manches psychoanalytische Ich den Rang einer Strukturveränderung und entsprechend heftig ist der Widerstand dagegen.


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III Zur Gesellschaft


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Psychoanalytische Antisemitismustheorien im Vergleich: Kollektiv-ideologische Projektion von Schuld und Neid

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Einleitung

Die acht Bücher und Aufsätze zur Psychoanalyse des Antisemitismus, die hier betrachtet werden sollen, stammen von Autoren,1 deren Leben durch eben den Vernichtungsantisemitismus bedroht und erschüttert wurde, den sie mit den Mitteln der Psychoanalyse wenigstens teilweise zu verstehen suchten. So ist es konsequent, daß die Verstehensnötigung, unter der die Autoren gegenüber dem Antisemitismus standen, die Psychoanalyse der jüdischen Identität einbegreifen mußte. Warum warf und wirft sich dieses »endemische pathologische Geschehen unserer Kultur« (Mitscherlich 1962) auf die Juden? Jede der ausgearbeiteten Theorien enthält einen Versuch zu verstehen, was es bedeutet, Jude zu sein. Das geschah am weitesten ausgreifend durch Freuds Buch »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, dessen Titel schon die Antwort auf die Frage enthält, weshalb das jüdische Volk abgelehnt, schließlich tödlich gehaßt wurde. Antisemitische Überzeugungen tragen den Charakter eines Wahns und sind, psychologisch gesehen, eine Analogiebildung zur Religion. »Wir haben längst begriffen, daß in der Wahnidee ein Stück vergessener Wahrheit steckt, das sich bei seiner Wiederkehr Entstellungen und Mißverständnisse gefallen lassen mußte, und daß die zwanghafte Überzeugung, die sich für den Wahn herstellt, von diesem Wahrheitskern ausgeht und sich auf die umhüllenden Irrtümer ausbreitet. Einen solchen Gehalt an historisch zu nennender Wahrheit müssen wir auch den Glaubenssätzen der Religionen zugestehen, die zwar den Charakter psychotischer Symptome an sich tragen, aber als Massenphänomene dem Fluch der Isolierung entzogen sind« (Freud 1939, S. 191).


292 · III Zur Gesellschaft

Man kann die beiden zitierten Sätze Freuds zu den »Glaubenssätzen der Religionen« als methodologisches Axiom ansehen, das sowohl die Reichweite wie die Begrenzung psychoanalytischer Aussagemöglichkeiten über kollektiv geteilte irrationale Überzeugungen beschreibt und dessen Anwendung bei der Psychoanalyse des Antisemitismus von allen Autoren befolgt wurde. Wegen der Wichtigkeit methodologischer Einsprüche gegenüber psychoanalytischen Aussagen zu kollektiven Phänomenen soll im Fortgang dieses Überblicks versucht werden, neben der inhaltlichen Darstellung die methodische Rechenschaft zum Erkenntnisweg der Autoren hervorzuheben und/oder zu begründen. Der Zeitraum, in dem die psychoanalytischen Arbeiten zum Antisemitismus erschienen, erstreckt sich über die vergangenen fünfzig Jahre mit einem eindeutigen Schwerpunkt vor und nach den Todeslagern. Man würde erwarten, daß auch die Weiterentwicklung der psychoanalytischen Technik und Theorie sich in neueren Arbeiten zum Antisemitismus niedergeschlagen hätte. Das ist jedoch nur in sehr eingeschränktem Maße zutreffend, und soweit es geschehen ist, sollen diese Arbeiten hier besonders hervorgehoben werden. Die Ausdehnung der Psychoanalyse auf die Behandlung kleiner Kinder, auf Psychosen und auf Gruppen, die nach dem 2. Weltkrieg zunehmend stattgefunden hat, kann zwar sehr wohl mit dem Abgrund zusammenhängen, den der Völkermord für die Erkenntnis darstellt, und das Ergebnis der Ausdehnung der Forschung auf die erwähnten Felder hätte in Vertiefungen der Theorie des Antisemitismus münden können. Das psychoanalytische Interesse der letzten Jahrzehnte an den Folgen des Holocaust hat sich jedoch eindeutig konzentriert auf die Behandlung Einzelner, auf die der Überlebenden, ihrer Kinder und Enkel, auf die Gegenübertragungsanforderungen dieser Behandlungen (die emotionale Identifizierungstoleranz mit dem Opfer wie mit dem Täter) und auf das Problem der averbalen Weitergabe des Traumas und der Abwehr des Traumas von einer Generation auf die nächste und die übernächste. Die Psychoanalyse von Patienten mit antisemitischen Übertragungen, die meistens nur jüdische Analytiker auf sich zogen, und die Behandlungen von Kindern und Enkeln von Parteimitgliedern, SS-Angehörigen und antisemitisch gläubigen Eltern haben ähnliche Gegenübertragungsanforderungen gestellt. Hier war es notwendig, destruktiv narzißtische Persönlichkeitsanteile zu analysieren. Die Konzentration auf die erwähnten Themen hat also das Erkenntnisinteresse der Psychoanalytiker erst einmal klinisch gebunden, und es wird noch einige Zeit vergehen, bis die neu gewonnenen klinischen Erkenntnisse zu einer


Psychoanalytische Antisemitismustheorien im Vergleich · 293

vertieften Psychoanalyse des Antisemitismus, über die klassischen und die jüngeren Arbeiten hinaus, beitragen können. Die Ergebnisse der untersuchten acht Arbeiten zum Antisemitismus zusammenfassend, findet man auf der letzten Ebene der Analyse Übereinstimmung darin, daß 1. der entscheidende motivierende Faktor des Antisemitismus eine Abwehr von Schuldgefühl überhaupt ist, daß 2. Projektion der entscheidende Mechanismus ist, daß 3. die Projektionen eine komplexe Mischung mörderischer und sexueller Destruktivität steuern und daß 4. der Judenhaß unserer Kultur genetisch nur als Funktion des Christentums, wie es real existiert hat, verstanden werden kann.

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Vernichtungsantisemitismus als Apokalypse – Mortimer Ostows Verwendung des apokalyptischen Denkens

Mortimer Ostow hat in mehreren Arbeiten auf die bemerkenswerte Tatsache hingewiesen, daß dieselbe apokalyptische Denkstruktur, die sich in den Weltuntergangsphantasien bei beginnender Schizophrenie und im Schema der apokalyptischen Literatur in den Jahrhunderten vor und nach Christi Geburt findet, sich ebenfalls in der Ideologiestruktur und in den politischen Handlungsbegründungen der Nazigrößen auffinden läßt. Offenbar handelt es sich bei den Grundelementen des apokalyptischen Denkens um eine regelhafte Prozeßgestalt, die sowohl intrapsychisch im Verlauf katastrophischer regressiver Veränderungen als auch kollektiv in Krisenzeiten als beherrschendes unbewußtes Phantasiemuster existiert. Ostow selbst spricht von archetypischem Denken. Zwei Aspekte finden sich in allen Apokalypsen: Einmal die Spaltung der Welt in Licht und Finsternis im Endkampf der Mächte des Bösen und Guten, in dem das Gute nach anfänglicher Niederlage schließlich siegt; sodann das Ende des gegenwärtigen negativen Zeitalters durch den Endsieg des Guten, dem Ende aller Zerstörung und aller Schmerzen, und das Anbrechen eines erhabenen neuen Zeitalters des göttlichen Friedens. Eine messianische Gestalt kann zusätzlich den Sieg des Guten bestimmen und zuvor den ganzen Prozeß offenbaren. Die berühmteste unter den vielen Apokalypsen der religiösen Literatur ist die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament, ein außerordentlich kunstvoll konstruiertes Buch, das enormen Einfluß auf das Geschichtsdenken der westlichen Welt gehabt hat. Der Begriff des tausendjährigen Reiches findet sich dort.


294 · III Zur Gesellschaft

Die apokalyptischen Phantasien kommen bei Schizophrenen häufig im Beginn eines psychotischen Schubs vor, ebenso bei Borderline-Patienten während kurzer psychotischer Episoden. Die Regression auf die pathogene Situation läßt die Zerstörungsabsichten des Patienten – projiziert auf den Kosmos – bewußt werden. Für den Patienten befindet sich die Welt in einem Zerstörungsprozeß. Die Gegenkräfte äußern sich in der Überzeugung einer neu erstehenden, wiedergeborenen Welt ohne Frustrationen. Oft ist es eine messianische Traumgestalt, die den Wechsel vom Weltuntergang zur Wiedergeburt bewirkt. Die zerstörenden und die heilenden Kräfte sind Bilder für die psychische Selbstzerstörung des Patienten und für seine Versuche, dagegen anzukämpfen. Manchmal wird die Vision der Wiedergeburt der Welt und das Eingreifen des Messias auf eine mystische Offenbarung, letztlich auf die Enthüllung einer Urszene, zurückgeführt. Der Messias weist den Weg zurück, der durch bösartige Wesen – Vater oder Geschwister – verstellt war (Ostow 1988, S. 10). Die erstaunliche Kongruenz zwischen apokalyptischen Schriften und klinischem Material legt die Vermutung nahe, daß die apokalyptischen Schriften typische psychotische Ideenverbindungen und projektive Abfolgen mit dem Inhalt »Erlösung durch Vernichtung« verwendet haben, um verfolgten Gruppen in einer erschreckenden Gegenwart die noch stärker ängstigende Zukunft durch »Wissen« zu ordnen und so die moralische Integrität der gegenwärtig Bedrohten zu retten. »Schmerzhaften und erniedrigenden Zwängen ausgesetzt, die Gefühle von Ohnmacht und Wut hervorrufen, klammert sich der Mensch an eine alternative Sicht der Realität, an die Illusion, daß die Feinde vernichtet sind und er selbst in einer mystischen Vereinigung mit der Mutter neu geboren wird« (Ostow 1988, S. 26). In diesem Sinne hat die Offenbarung des Johannes im Laufe der Geschichte verfolgten Gruppen so häufig geholfen, daß nun umgekehrt die Symbolbilder dieser Schrift die psychotischen Erfahrungen bebildern. Die christliche Geschichtstheologie vom tausendjährigen Reich der Kirche von Augustinus über Joachim von Flores bis zu Lessings Erziehung des Menschengeschlechts und Karl Marx’ politischem Messianismus beweist die stimulierende Kraft der ursprünglichen apokalyptischen Idee für geschichtliches Denken überhaupt. Ostow weist darauf hin, daß dieses klassische Muster von Erlösung durch Vernichtung deutlich in Hitlers Denken zu erkennen sei, allerdings als aktive Erzeugung einer Apokalypse einschließlich Verfolgung und Vernichtung der


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Feinde, wie der notwendigen Selbstzerstörung, sollte Hitlers Wahn die Realität nicht überwältigen können. Auf eine Phase totaler Zerstörung sollten eine Phase messianischer Wiedergeburt und die Weltherrschaft folgen. Die Juden dienten wahnhaft als dämonisierte Inkarnation der eigenen projizierten Zerstörungslust, als Inkarnation der Absicht, Gutes in Böses zu verkehren (Zersetzung, ebenfalls projiziert), als apokalyptische Mächte des Bösen. Die Apokalypse der einen wurde zum Holocaust der anderen. Damit sich nie wieder ein politischer Wahnexzess wie der des »Tausendjährigen Reiches« wiederholen kann, warnt Ostow vor aktiven Apokalyptikern, die ganze Kulturen zerstören könnten. Sie müßten (besonders auch von Analytikern) erkannt werden, damit sie rechtzeitig politisch bekämpft werden können. Der Vorzug der Verwendung des apokalyptisch-schizophrenen Modells vom Weltuntergang liegt in der Betonung psychotischer Kategorien bei dem Versuch des Verständnisses des Antisemitismus, in der Betonung der psychoseähnlichen Realitätsfeindschaft, in der Diagnose der Destruktivität wie des Sendungsbewußtseins Hitlers als paranoider Destruktivität und als paranoidem Sendungsbewußtsein eines Apokalyptikers sowie in der Betonung der Intoleranz gegenüber depressiver Schuld als dem steuernden verborgenen Motiv des gesamten antisemitischen Prozesses. Ich erwähne diesen letzteren Punkt besonders, weil er in Freuds historisch-genetischer Theorie das zentrale Element ist. Ein weiterer Vorzug des apokalyptischschizophrenen Modells besteht in der Tatsache, daß apokalyptisches Denken seit der Periode der Apokalyptik, seit der Verwendung apokalyptischer Literatur im dritten Jahrhundert v. Chr., zu einer Überlebensreaktion von Gruppen in extremen Krisenzeiten geworden ist. Dieses Denken existiert in der westlichen Kultur als geschichtliche Prozeßgestalt, als kollektives Interpretationsmuster. Weil es kollektiv vorhanden ist, wird die propagandistische Ausbeutbarkeit der Messiasidentifizierung durch einen apokalyptischen Offenbarer wie Hitler begreifbarer. Weitere erklärungsbedürftige Elemente des Antisemitismus, wie die wahnhafte Projektion der eigenen Destruktivität, der Realitätsverlust und die zugrunde liegende Selbstvernichtungstendenz haben in der psychotischen Ordnung des apokalyptischen Denkens ebenfalls ihren festen Platz. Wir haben hier, um die methodologische Rechtfertigung aufzunehmen, mehrere Ebenen der Analyse, deren Transformationen ineinander legitim, d. h. realitätsadäquat sind. Das Weltuntergangsschema des Schizophrenen ist psychoanalytisch gedeutet und verstanden. Die Regelhaftigkeit dieser regressiven Prozeßgestalt erlaubt die Vermutung, daß sie jedem Menschen


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zur Verfügung steht, wenn er unter extremen psychischen Belastungen regressiv zusammenbricht, mindestens virtuell. Als apokalyptisches Schema ist diese Prozeßgestalt literarisch fixiert und auf Verfolgungssituationen von Gruppen übertragen (und umfunktioniert) worden. Als Grund dafür darf man annehmen, daß die illusionsbildende Funktion des apokalyptischen Schemas (weltgeschichtlicher Sinn des Leidens und schließliche Errettung in eine schmerzerlöste Welt) die gefährliche Destruktivität der Verfolgten umorientieren konnte. Das ist jedoch nur möglich, wenn der ideologische Appell an etwas ubiquitär Vorhandenes, Appellables anknüpfen kann, die Prozeßgestalt der Weltuntergangsphantasie in jedem einzelnen. Ostows Deutung Hitlers als eines aktiven Apokalyptikers erlaubt eine Verbindung von dessen paranoidem Denken mit einer existierenden religiösen Ideologie von Jahrtausende alter Tradition aus der gleichen paranoiden Quelle, die eine aktive Umkehrung durch Messiasidentifizierung ermöglicht und die es erlaubt, propagandistisch an die gleiche Gut-Böse-Spaltung und Projektionsneigung in jedem einzelnen im Sinne eines Geschichtsprozesses zu appellieren. Was Ostows Teiltheorie des Antisemitismus nicht erklärt, ist der Grund für die Wahl der Juden als Projektionsopfer. Immerhin ist bekannt, daß die Unterdrückung von Schuldfähigkeit (depressive Position) durch paranoid-schizoides Denken die tiefste Motivation der paranoiden Extremform der Gut-Böse-Spaltung und der Projektion ist. An dieser Stelle werden die Deutung Freuds, Fenichels, Simmels, Loewensteins, Grunbergers gleichlautend einsetzen. Dasjenige, was methodologisch gesehen bei dieser Teiltheorie auf verschiedenen individuellen wie kollektiven Ebenen, und eben auch auf der Ebene eines ideologischen Textes eines Kollektivs, bei allen Transformationen gleich bleibt, wenn auch mit unterschiedlicher, manchmal entgegengesetzter Funktion, ist die schizophrene Weltuntergangsphantasie als allgemeine Prozeßgestalt.

3

Herbert Rosenfelds Vergleich der psychisch abgespaltenen psychotischen Herrschaftsstruktur des destruktivem Narzißmus mit der Diktatur Hitlers und seiner Führungsclique

Einer der Fragenkomplexe, der die analytische Erkenntnisbemühung zu immer neuen Erklärungsversuchen herausforderte, war und ist das Rätsel


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der realen Destruktivität, der totalen Vernichtungsabsicht gegen die Juden, nur weil sie Juden sind, das Rätsel der wahnharten Grausamkeit in der Umsetzung in die Tat der Hitler, Heydrich, Göring, Himmler, Goebbels und aller ihrer fanatisch mordbereiten Anhänger. Um diese Frage zu beantworten, hatte Simmel die maßlose aggressive Destruktivität der paranoiden Form der Schizophrenie zur Grundlage seiner Erklärung genommen. Herbert Rosenfeld schlug vor, den destruktiven Narzißmus zum Ausgangspunkt zu nehmen, dessen verdeckte und verschwiegene, aber die Persönlichkeit erfolgreich beherrschende Struktur als Idealisierung von Destruktivität deutlich wird, die sich gegen jede libidinöse Beziehung und gegen jede libidinöse Bedürftigkeit richtet. Der folgende Abschnitt stammt aus einem Vortrag über Narzißmus und Aggression, den Rosenfeld 1984 in Wiesbaden gehalten hat. »Bei manchen narzißtischen Patienten sind die destruktiven narzißtischen Teile des Selbst mit einer psychotischen Struktur oder Organisation verknüpft, die von der restlichen Persönlichkeit abgespalten ist. Diese psychotische Struktur ist einer Wahnwelt oder einem Wahnobjekt ähnlich, in die die Teile des Selbst sich zurückzuziehen pflegen. Sie scheint von einem allmächtigen oder allwissenden, außerordentlich grausamen Teil des Selbst beherrscht zu sein, das die Vorstellung erzeugt, innerhalb des Wahnobjekts herrsche völlige Schmerzlosigkeit, aber auch die Freiheit, sadistischen Impulsen nachzugeben. Die ganze Struktur ist auf narzißtische Selbstgenügsamkeit abgestellt und strikt gegen jede Objektbeziehung gerichtet. Die destruktiven Impulse in dieser Wahnwelt erscheinen manchmal offen als überwältigend grausam und bedrohen das übrige Selbst mit dem Tod, um sich ihrer Macht zu versichern. Noch öfter aber erscheinen sie verhüllt als allmächtig, wohlwollend oder lebensrettend und versprechen dem Patienten schnelle ideale Lösungen für alle seine Probleme. Diese falschen Versprechungen sind dazu bestimmt, das normale Selbst des Patienten von seinem falsch allmächtigen Selbst abhängig zu machen oder sich ihm zu ergeben und die gesunden Teile in die Wahnstruktur zu locken, um sie dort gefangen zu halten. Wenn narzißtische Patienten dieses Typus anfangen, Fortschritte zu machen, wenn sie eine Abhängigkeitsbeziehung zur Analyse aufzubauen beginnen, gibt es starke negative therapeutische Reaktionen. Der narzißtisch psychotische Teil des Selbst übt seine Gewalt und Überlegenheit über das Leben und über den Analytiker aus, der die Realität repräsentiert. Es besteht tatsächlich die Gefahr einer akuten Psychose, wenn der abhängige Teil des Patienten, der der gesündeste Teil seiner Persönlichkeit ist, dazu gebracht wird, sich von der äußeren Welt abzuwenden und sich ganz der Herrschaft der psychotischen Wahnstruktur hinzugeben. […] Zunächst ist es wichtig, dem Patienten zu helfen, den abhängigen, gesunden Teil seines Selbst wiederzufinden und ihn aus der Falle der psychotischen narzißtischen Struktur zu befreien, denn der gesunde Teil


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stellt das wesentliche Bindeglied zur positiven Objektbeziehung mit dem Analytiker und der Welt dar. Zweitens ist es wichtig, dem Patienten dabei zu helfen, sich allmählich der abgespaltenen, destruktiv-omnipotenten Teile des Selbst voll bewußt zu werden. Nur in der Isolierung können die abgespaltenen Teile allmächtig bleiben und die psychotische Organisation beherrschen« (Rosenfeld 1984, S. 387).

Rosenfeld betont die auffällige Ähnlichkeit zwischen der psychotisch wahnhaften Struktur und dem von einem Diktator dominierten Staat. Das psychopathologisch Bemerkenswerte ist die Existenz eines Führers in der Wahnpsychose des Patienten. Dieser Führer werde von dem Patienten wegen seiner Macht sehr bewundert, die ausgesprochen hypnotischen Einfluß habe. Es wird auch geschildert, daß dieser Führer aufreizende Propagandareden hält, um mehr und mehr gesunde Teile der Persönlichkeit in die psychotische Welt hineinzulocken. Sein Versprechen, daß es in der psychotischen Welt nichts Schmerzliches gibt und seine Erlaubnis, sadistischen Neigungen für destruktive Zwecke völlig nachzugeben, sind in der inneren wie in der äußeren Welt analog zu setzen. Betrachte man diese psychotische Welt und den Leiter oder Führer dieser Welt genauer, dann werde deutlich, daß dieser Führer sadistisch, allmächtig und völlig mitleidslos ist und absoluten Gehorsam von allen Teilen des Selbst verlangt. Auch hierin ist die Analogie deutlich. Nur langsam könne man merken, daß der Patient unter der Drohung steht, umgebracht zu werden, wenn er sich im geringsten gegen dieses psychotische Regime wehrt. So höre der Patient in seinen Halluzinationen die drohende Stimme des inneren Führers, der verlangt, daß der Patient destruktive und selbstdestruktive Akte begehen muß, um seine Loyalität zu beweisen. Rosenfeld vergleicht die Gefahr, die in der psychotischen Wahnwelt wie in dem System, das die Deutschen dominiert habe, entscheidend war. Sie liege in den Verdrehungen und Verzerrungen von Tatsachen und Realität. Im politischen System bestand die wahnähnliche Realitätsverzerrung in der antisemitischen Doktrin, die die grausamen Taten, die Millionen von Morden in den Vernichtungslagern forderte, »begründet« durch die antisemitische Ideologie. Für Rosenfeld ist die Ursache der realitätsverzerrenden Denkstörung in einem intensiven Neid zu suchen. Im Patienten werde die intensive Überzeugung von Minderwertigkeit zu mörderischem Neid auf alle Menschen, deren Denkfähigkeit und Erfolg ihm so überlegen und außer Reichweite erscheinen. In der Wahnwelt wird aus der Kleinheit durch größenwahnsin-


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nige Verleugnung ein starkes Selbstgefühl, z. B. durch den Wahn, Napoleon zu sein, allen überlegen zu sein, und alle halluzinierten Feinde besiegen und umbringen zu können; Feinde, die in Wirklichkeit wahrscheinlich Menschen sind, die der Patient heimlich zutiefst bewundert, denen gegenüber er sich aber bedroht und deprimierend klein fühlt. In der Psychose der deutschen Nation habe es die destruktive, hypnotische, sich wie allmächtig gebende Aura des Führers fertig gebracht, die Menschen, die zu einer Rasse gehörten, die in so bedeutender Weise zu der Kultur des deutschen Volkes beigetragen hatte, durch die Aufreizung zu enormer, neidischer Verzerrung in gefährliche Feinde der deutschen Nation zu verwandeln. »Diese tragische Verzerrung scheint mir identisch mit der neidischen Verzerrung des wahnhaften Patienten, der mit Verfolgungswahn und mörderischen Gefühlen gerade auf diejenigen reagiert, die er früher bewunderte und sogar idealisierte.« Rosenfeld nennt weitere Ähnlichkeiten zwischen dem destruktiven Narzißmus und einer Nation, die völlig von einem Diktator wie Hitler dominiert gewesen sei. So spiele in der Wahnwelt dieser Patienten die Nazibande oder -mafia eine wichtige Rolle. Ein derartiger Bandenwahn entsteht individuell durch Spaltung. Er erhöht die Macht des omnipotenten, destruktiven Narzißmus, und erzeugt besonders dann eine besondere Angst und Bedrohung, wenn Patienten anfangen, etwas Einsicht in ihre Krankheit zu gewinnen und deshalb an dem Wert der Versprechungen des »Führers« zweifeln, der die Wahnwelt dominiert. Der inneren Gang entspricht auf der politisch organisatorischen Ebene die merkwürdige Struktur der Führungsclique unter Hitler. In dieser Situation brauche der Patient besonders genaue Hilfe von seinem Analytiker, der die gesunden Teilen der Persönlichkeit darin unterstützt, die dauernde Angst zu ertragen, die meistens eine Todesangst sei, von den übermächtigen Banden umgebracht zu werden. Wenn die psychotisch-omnipotente Struktur eine ganze Nation überwältigt habe, so Rosenfeld, hielte er es für sehr schwierig, dies einzusehen und die Verrücktheit in vollem Umfange anzuerkennen. »Es ist vielleicht erst jetzt möglich, die tieferen psychologischen Elemente zu studieren, die die deutsche Nation […] überwältigten. Ich fürchte, daß eine völlige Heilung von dieser gefährlichen Krankheit noch sehr viel Zeit kosten und aktive Unterstützung erfordern wird« (Rosenfeld 1984, S. 390). Dieser Text ist hier so ausführlich vorgestellt, weil er einen Eindruck vom klinischen Fortschritt in der Psychoanalyse psychotischer Teilstrukturen


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gibt. Neue psychopathologische Phänomene und ihr Verständnis sind zugänglich gemacht worden. Dieser Teil ist eindrucksvoll. Aber werden sich nicht Bedenken dagegen erheben, daß die psychopathologischen Relationen in der inneren Welt von Individuen ›umstandslos‹ mit den Beziehungen zwischen Hitler und den Deutschen identisch gesetzt werden? Das sind methodologische Bedenken, die aufgenommen werden müssen. Rosenfeld nimmt Gleichsetzungen und Analogsetzungen vor. Er setzt die Beziehungen zwischen einem grausamen, psychotischen Zentrum eines Kranken und der von diesem Zentrum dominierten übrigen Persönlichkeit gleich mit Hitler und den Deutschen, und zwar in Hinsicht auf Funktion wie Methode der inneren wie der äußeren Diktatur. Die Funktion des psychotischen Zentrums ist die Zerstörung jeder libidinösen Objektbeziehung, die schließlich in die seelische Zerstörung der Gesamtpersönlichkeit mündet. Das herrschende Prinzip, also die Struktur der kranken Persönlichkeit, ist die Idealisierung von Destruktivität gegen alle erhaltenden inneren wie äußeren libidinösen Beziehungen. Die psychotische Methode dieser herrschenden Überzeugungen ist die Durchsetzung einer Realitätsverzerrung, eine Propaganda mit Verlockung zu Grandiosität, freiem Sadismus und Schmerzfreiheit in Bezug auf Schuld und Schaden, und der Androhung tödlicher seelischer Gewalt für den Fall von willentlicher Distanzierung und Gegenwehr. Alle aufgeführten Elemente können kollektiv wieder gefunden werden, aber am Individuum verstanden. Die Analogsetzung bezieht sich auf die neidische Verfolgung von paranoid feindlichen, früher bewunderten Objekten (auf der Ebene des Kollektivs: die Andersrassigen, besonders die Juden) sowie auf die Unterstützungsbedürftigkeit bei dem Versuch der Befreiung vom psychotischen System. Die Frage soll jetzt nicht sein, ob die inhaltlichen Übereinstimmungen direkte Plausibilität besitzen, sondern ob es eine methodologische Rechtfertigung für derartige Transformationen gibt. Wenn ja, was ist deren fundamentum in re? Das Problem der strukturellen Transformation von herrschenden Bedeutungen des Individuums hin zu seinen Gruppen und Kollektiven wie auch umgekehrt von der Großgruppe (Gesellschaft) zum Individuum ist innerhalb der Psychoanalyse nach wie vor nicht befriedigend gelöst. Die methodische Begründbarkeit von Strukturtransformationen zwischen Gruppe und Individuum bedarf selber einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Bei psychoanalytischen Untersuchungen zum Antisemitismus stößt man notwendigerweise ständig auf die Frage nach der Legitimität der Methode.


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Ich möchte zwei Hinweise geben, in welcher Richtung die Kriterien liegen könnten, die den Bereich legitimer Transformation bestimmen. Das eine Kriterium lautet: Narzißtische Strukturen und Mechanismen (im Gegensatz zu ödipalen) scheinen individuell wie kollektiv identisch, zumindest analog zu sein. Der zweite Hinweis lautet: Die innerpsychische Organisation der Persönlichkeit könnte viel stärker, als in der klassischen psychoanalytischen Theorie angenommen, einem Gemeinwesen gleichen, also aus mehrfach hierarchisch organisierten Gruppen von Selbst-Objektbeziehungen bestehen. Bestimmte Verhältnisse in politischen Gruppen, nur durch geringe Transformationsmodifikationen verschieden, könnten folglich den individuellen gleichen und umgekehrt. Ein bekanntes Beispiel für die Gleichsetzbarkeit narzißtischer und Gruppenstrukturen ist Freuds Erklärung des strukturellen Zusammenhalts der militärischen und der religiösen Großgruppen, Kirche und Heer (vgl. Freud 1921, S. 71). Der Führerschaft des Ichideals innerhalb der Persönlichkeit entspricht die Führerschaft einer organisierten Gruppe; beide sind formal und inhaltlich bei den Mitgliedern organisierter Massen identisch, sobald sie als Mitglieder fühlen und handeln. Ein zweites Beispiel bezieht sich auf die Schutzmechanismen der Selbstorganisation, die psychoanalytisch Abwehrmechanismen genannt werden. Die Projektion, die im Zusammenhang des Antisemitismus der entscheidende Mechanismus zu sein scheint, ist z. B. in den dogmatisierten Texten, die seit Augustinus die Rolle der Juden in der christlichen Heilsgeschichte definieren, genau in derselben Weise formativ wie im Individuum. Projiziert wird eine Schuld, das ist aus dem Text ersichtlich. Wenn ein Kollektiv eine Projektion dogmatisiert, d. h. zu ihrem gültigen Selbstverständnis erhebt, ist es methodologisch korrekt, diesen Text wie den Text einer Einzelperson zu behandeln, d. h. die Projektion als Aussage über den Projizierenden, also das Kollektiv, zu lesen. Hier besteht tatsächlich eine funktionale Identität. Insofern ein dogmatisierter Text eine Glaubensverpflichtung für das einzelne Kirchenmitglied und für die Gruppe (Kirche) als ganze darstellt, soll der Glaube an die christliche Schuldprojektion (als Inhalt des Ichideals) die Persönlichkeit aller Gläubigen durchdringen. Wenn wir zu Rosenfeld zurückkehren, so könnten einige Elemente seines Vergleichs sich herauslösen lassen, für die die Gleichsetzbarkeit gegeben wäre, z. B. die der narzißtischen Organisation von Einzelpsyche und Nation, von innerem psychotischen Führer und politischem Führer.


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