Yolanda Gampel: Kinder der Shoah

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Titel der Originalausgabe: »Ces parents qui vivent à travers moi« von Yolanda Gampel World copyright © LIBRAIRIE ARTHÈME FAYARD, 2005. Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Deutsche Erstveröffentlichung © 2009 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen. Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: info@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: »Eine Gruppe Überlebender des KZ Buchenwald an Bord der ›Matura‹«, 1945 Der Verlag hat sich vergeblich bemüht, den Copyright-Inhaber ausfindig zu machen. Sollten trotzdem Rechte nicht gewahrt worden sein, bitten wir dies zu entschuldigen und um eine Kontaktaufnahme. Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Gießen www.imaginary-art.net Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar www.majuskel.de Printed in Germany ISBN 978-3-89806-763-8


Yolanda Gampel

Kinder der Shoah Die transgenerationelle Weitergabe seelischer Zerstรถrung Aus dem Franzรถsischen von Klaus-Konrad Knopp

Psychosozial-Verlag


Die Überlebenden der Shoah tun sich wie alle Opfer gesellschaftlicher Gewalt schwer, über das Erlebte zu sprechen. Zeugnis abzulegen und vor allem gehört zu werden, ist ihnen jedoch zugleich höchstes Bedürfnis. Wer indes von Unrecht, gebrochenen Menschen, von Chaos, Grausamkeit und Verbrechen berichten hört, muss bereit sein, auf feste Beweise zu verzichten.


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Inhalt

Vorwort der deutschen Ausgabe Einleitung

9 13

Kapitel I Michals »Geistesabwesenheit« und das Ungesagte des Vaters

19

Kapitel II Wir waren Kinder, als die Shoah geschah

27

Kapitel III Wir haben die Shoah überlebt

35

Kapitel IV »Du wirst es deinen Kindern erzählen« (Exodus, 8)

49

Kapitel V »Großvater, Großmutter, wie war das damals eigentlich?«

61

Kapitel VI »Papa, hörst du mich?«

75


8 · Inhalt

Kapitel VII Der Name des Helden

89

Kapitel VIII »Großmutter, Großvater, wir stehen euch zur Seite, auch wenn Papa nichts davon wissen will«

97

Kapitel IX Die Wunden der Shoah und die Wechselfälle der Geschichte

131

Kapitel X Der Schatten der verlorenen Objekte fällt auf das »Uns«

137

Literatur

153

Publikationen von Yolanda Gampel

157

Danksagung

159


13

Einleitung

1. Mai 1986 in Paris. Ein sonniger, dabei drückend schwüler Tag. Überall in der Stadt werden Maiglöckchen verkauft. Die Leute sind sorglos, die Cafés brechend voll. Ich setze mich ins »Select« am Montparnasse, lese beim Kaffee die Zeitung. Europa ist in Aufruhr über die Reaktorexplosion des sowjetischen Atommeilers in Tschernobyl. Experten warnen vor dem Konsum von Milchprodukten und Salat, denn der Regen ist radioaktiv verseucht. Belgien, die Schweiz und Deutschland haben bereits Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung getroffen. Die Pariser Zeitungen schreiben jedoch an diesem 1. Mai, dass die radioaktive Wolke nicht bis nach Frankreich vorgedrungen sei. Die Franzosen brauchen sich also keine Sorgen zu machen. Eine Freundin von mir, die im Institut Pasteur arbeitet, lässt mich dagegen wissen, dass sie die Strahlung am Boden gemessen und festgestellt habe, dass sie extrem hoch sei. Sie meint, dass selbst in Israel Vorkehrungen getroffen werden müssten, was einige Wochen später dann auch erfolgt. An diesem Tag ist die »Radioaktivität« für mich zum Sinnbild für »gesellschaftliche Gewalt« geworden … Das Leben ist ein endloser Strom, und jeder Mensch schwimmt in dem Strom, zu dem er gehört. Er kann weder von seinen Vorfahren getrennt werden, noch von seinen Erzeugern und auch nicht von seinen Nachkommen. Eine solche Zugehörigkeit heißt nicht einfach nur, Teil eines symbolischen Stammbaums zu sein. Es heißt, in seinem Körper die Eltern und Großeltern zu spüren und zu spüren, dass der eigene Körper in seinen Kindern weiterlebt. Dieses Buch wurde von einer Zeugin geschrieben, von einer Psychoanalytikerin. In dieser Eigenschaft möchte ich weitergeben, was einige Überlebende


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der Shoah mir vermittelt haben. Ich möchte so auf die Konsequenzen hinweisen, die gesellschaftliche Gewalt für die Betroffenen, deren Nachkommen und die nachfolgenden Generationen mit sich bringt. Es geht im Wesentlichen darum herauszufinden, wie Wunden geheilt werden können, die von jedweder Form gesellschaftlicher Gewalt verursachten Traumata herrühren. Denn solche traumatischen Erfahrungen, die oft im ganz und gar von dieser Gewalt durchdrungenen kollektiven Unbewussten wurzeln, können zum Ausgangspunkt neuer Grausamkeiten werden. Es steht geschrieben, dass von allen Taten Israels Gottes Gnade ausgeht und Gott selbst – er sei gepriesen – daraus Schicht um Schicht einen gefälligen, schmuckreichen Gebetsmantel webt, unter dem das versammelte Israel Schutz findet. Und dieses gewaltige Gewebe strahlt in seiner herrlichen Schönheit in der Diaspora wie in den Tagen seiner Jugend, im Hause seines Vaters, im Tempel des Königs, in seiner Heiligen Stadt. Er – gepriesen sei er – sorgt dafür, dass es keinen Schaden nimmt und nicht entehrt wird und in den Ländern seiner Feinde nickt er ihm grüßend zu und lobt es mit den Worten: »Wie schön du bist, meine Gefährtin, wie bist du schön.« Und es ist dies das Geheimnis der Größe, der Macht, der Erhebung und der innigen Zuneigung, die jeder in Israel wahrnimmt. Doch von Zeit zu Zeit wird dem Gewebe, Gott bewahre, ein Faden entrissen. Der Gebetsmantel wird befleckt, widrige Winde erfassen ihn und reißen ihn entzwei, und sogleich bemächtigt sich der ganzen Welt ein Gefühl der Scham. Und alle werden gewahr, dass sie entblößt sind. Ihr Sabbat hat ein Ende, ihr Fest wird zum Graus und ihre Herrlichkeit zerfällt zu Asche. Da irrt Israel umher und ruft: »Man hat mich geschlagen, man hat mich verwundet, man hat mir den Schutz genommen.«1 Der Völkermord der Shoah war keine flüchtige Katastrophe, er kam nicht zufällig zustande und seine Auswirkungen sind zeitlich nicht begrenzt. Als von Menschen anderen Menschen zugefügtes Tatgeschehen hat er alles verändert, alles zerrissen. Man kann es als Inbegriff jeder zerstörerischen Tyrannei betrachten, als Inkarnation allen Grauens, allen gesellschaftlichen Terrors, des Bösen schlechthin. Deshalb bedeutet das Nachdenken über die solcherart 1 Aus: Agnon 1908. Freie Wiedergabe von Yair Or, Geneviève Pichon und Yolanda Gampel.


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geschlagenen Wunden ein Nachdenken über die Auswirkungen jeder Art von gesellschaftlicher Gewalt. Viele Geschichten sind niemals gehört, aufgeschrieben oder überliefert worden. Orte und Gegenstände können sich zweifellos nicht erinnern, nur Menschen können sich mitteilen. Das die Shoah umgebende Dunkel erhellt sich nicht mit den Jahren, es wird im Gegenteil von Mal zu Mal dunkler. Und es leuchtet ein, wie viel mit den wegsterbenden Überlebenden in Vergessenheit gerät. Für viele Leute ist der Krieg lange vorbei, Vergangenheit. Man will zur Tagesordnung übergehen und dem äußeren Anschein gemäß davon ausgehen, dass keinerlei Nachwirkungen mehr spürbar sind. Dabei sind die Kriege weiterhin in unserem Leben präsent. Und die Shoah hat den Sinn unserer Geschichte ausgehebelt. Seine Konsequenzen machen sich nur langsam bemerkbar, über Raum und Zeit verteilt, gleichsam ein »radioaktiver Niederschlag« an der Schnittstelle von heute und gestern, von Dasein und Abwesenheit. Auch wenn allgemein die Neigung vorherrscht, diesem Gedanken, die Shoah habe alles radikal verändert, keinen Raum zu geben, er ist trotz aller Tendenz zur Verdrängung in Psyche und Körper derjenigen vorhanden, die ihre völkermörderische Gewalt überlebt haben. In ihrer Psyche haben sich ihre Spuren als eine Art Rückstand niedergeschlagen, den ich wegen seines enormen Verbreitungs- und Kontaminationspotenzials als »radioaktiv« bezeichne. Das Bild der Radioaktivität entleihe ich der Physik. Ich benutze es als Metapher für die schrecklichen Auswirkungen eines bestimmten Falls gesellschaftlich motivierter staatlicher Gewaltanwendung, für die Auswirkungen dessen, was Menschen anderen Menschen antun können. Es geht darum, das Eindringen schrecklicher, gewaltsamer und zerstörerischer Aspekte der Außenwelt ins Innere des Menschen zu veranschaulichen, gegen das dieser wehrlos ist, ein Vorgang, der sich mit den Auswirkungen konkreter Verstrahlung vergleichen lässt. Die radioaktiven Rückstände können von der ersten Generation, die der Shoah unmittelbar ausgesetzt war, an die zweite Generation, die das Geschehen nur in ihrer Vorstellung nachempfunden hat, und von dieser an die dritte Generation weitergegeben werden. Bei dieser Weitergabe von einer Generation zur anderen kann es zu bestimmten Vorgängen kommen, die spezifische Komplikationen hervorrufen. Das Konzept des radioaktiven Transfers versucht, ein unbewusstes und unvorhersehbares Phänomen modellhaft zu konkretisieren, das bisher in keine psychoanalytische Theorie Eingang gefunden hat.


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Die in diesem Buch entwickelte Begrifflichkeit der radioaktiven Folgeerscheinungen, der Weitergabe und Identifikation sind auf Widerstand gestoßen und werden solchen auch künftig hervorrufen. Die Vorstellung eines Eindringens, gegen das der Mensch sich nicht schützen kann und dem nicht abzuhelfen ist, ist ein geradezu unerträglicher Gedanke. Man hat mir ferner vorgeworfen, eine Metapher zu benutzen, die geeignet ist, die Idee eines polymorphen und unbegrenzten Einflusses zu fördern. Allerdings kam und kommt es auch nach den Schrecken der Shoah, denen ein »Nie wieder« hätte folgen müssen, rund um den Globus weiterhin zu Massenverfolgungen, Folterungen, ethnischen Säuberungen und Völkermord – alles Vorkommnisse, in denen sich eine polymorphe und unbegrenzte Grausamkeit Bahn bricht. Das Konzept der Radioaktivität kann nur akzeptieren, wer sich von der Vorstellung einer linearen Kausalität der Ereignisse zu verabschieden vermag, wer den unmittelbaren Anschein der Phänomene in Zweifel zieht und sich der Ungewissheit stellen kann, die Teil unserer Existenz selbst ist. Während meiner 30-jährigen klinischen Arbeit mit überlebenden Kindern der Shoah konnte ich einen bestimmten Vorgang beobachten: Bei manchen von ihnen waren unter bestimmten Voraussetzungen Gegenwart und Vergangenheit miteinander verflochten. Und ich habe diese Verflechtung als zwei miteinander koexistierende Hintergründe begreifen gelernt, einen »Hintergrund von Sicherheit« und einen »Hintergrund von Unheimlichkeit«. Dazu ist Folgendes anzumerken: Wenn jeder Mensch ein stillschweigendes und verdecktes Erbe von Aggression beherbergt, so kennen Menschen, die starke gesellschaftlich induzierte Traumatisierungen erlitten haben, noch eine besondere Art der Aggression, nämlich die einer brutalen Außenwelt, die sich ihrer bemächtigt hat. Und diese zweite Aggression überlagert die Erste. Ein Leitgedanke durchzieht sowohl meine praktische Arbeit als auch meine Forschungstätigkeit. Er kreist um die Frage, ob es im Rahmen der Psychoanalyse eine Möglichkeit gibt, die Geschehnisse und Traumata durchzuarbeiten und dingfest zu machen, die Menschen durch gesellschaftliche Gewalt und insbesondere durch das Geschehen der Shoah erlitten haben. Meine Antwort lautet ja. Obwohl diese Taten weder messbar noch verstehbar und noch weniger erklärbar sind, so bedürfen sie doch der Verbreitung, der Mitteilung. Sie müssen gesagt werden können, und sei es nur gelegentlich oder auch nur beiläufig oder angedeutet. Die Erfahrung des Terrors, der staatlich sanktionierten Gewalt, bedingt eine besondere Erzählstruktur. Das Grauen hat normalerweise


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Schweigen zur Folge, aber durch eine lange tiefenpsychologische Arbeit gelingt mitunter der Durchbruch zur Vergegenwärtigung. Dann ist die Möglichkeit der Verbalisierung gegeben. Die Psychoanalyse soll Freiräume des Denkens erschließen. Sie steht für eine beständige Ergründung des eigenen wie des Innenlebens des Anderen. Angesichts extremer äußerer Umstände wie Krieg und gesellschaftlicher Gewalt kann die Fähigkeit zu denken in Frage gestellt sein. Der Therapeut muss seinerseits kritische Distanz wahren, um die verschiedenen Widerstände seines Patienten gegen die schmerzliche Wahrnehmung des Erlittenen und dessen Bewertung zu erkennen, zu analysieren und zu überwinden. Seine Haltung muss aber auch auf Augenmaß, Intuition und Mitgefühl beruhen. Es ist eine sehr schwierige Aufgabe, bei der ich mich oft machtlos und entmutigt gefühlt habe. Der Inhalt dieses Buchs schließlich ist nicht als Auf- oder Nachzeichnung einer Wahrheit gedacht. Er versteht sich vielmehr als Versuch, hörbar und spürbar zu machen, was den von gesellschaftlicher Gewalt ausgehenden Schmerz ausmacht, und ihn vielleicht auch in seinem zutiefst menschlichen Kern begreiflich zu machen.



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Kapitel I Michals »Geistesabwesenheit« und das Ungesagte des Vaters Ich will kein Elektrozaun im Warschauer Getto sein, in den die Kinder von den Soldaten hineingetrieben werden und wo sie durch Stromschlag sterben.

In den 70er Jahren war ich eine noch unerfahrene Analytikerin. Eine meiner Patientinnen hieß Liora N., eine junge Frau von 25 Jahren (vgl. Gampel 1982)2, deren Eltern die Shoah überlebt hatten. Sie spürte, dass deren Leben voller Geheimnisse war, die sie gerne erfahren hätte, zugleich wollte sie jedoch auch wiederum nichts davon wissen. Diese ablehnende Haltung behinderte die für jede Analyse erforderliche freie Assoziation, sodass die Arbeit mit ihr in eine Sackgasse geriet. Ich selbst wollte im Grunde nichts von mit der Shoah zusammenhängenden Erfahrungen wissen. Ich war damals in der psychiatrischen Abteilung des Tel Hashomer Hospitals in Ramat Gan beschäftigt. Professor Kultzar, selbst ein Überlebender, bat mich eines Tages, eine Patientin zu betreuen, der ich seines Erachtens nach gut unter die Arme greifen könnte. Sie war wegen einer psychotischen Depression eingeliefert worden, die eingesetzt hatte, nachdem ihre jüngste Tochter ausgezogen war. Diese Frau war als Jugendliche in Auschwitz gewesen. Meine Antwort war, wie ich heute weiß, unreif und von Angst bestimmt: »Bei einer solch konkreten Angelegenheit wie Auschwitz ist keine Verarbeitung möglich.« Der Professor sah mich traurig an und meinte: »Du hast noch nichts begriffen.« Einige Monate später hatte ich es mit einem siebenjährigen Mädchen zu tun, Michal, deren Vater die Shoah als Siebenjähriger im Warschauer Getto erlebt hatte. Durch ihre Seelenängste und ihr Bestreben, dahinterzukommen 2 Die in Klammern gesetzten Autorennamen mit Jahresangabe verweisen auf die Bibliografie am Ende des Buches.


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was mit ihr los war, ergab sich für mich auf einmal die Gelegenheit, mich mit dem grausamen Geschehen der Shoah und ihren Folgen auseinanderzusetzen. Kinder haben normalerweise einen direkteren Zugang zu ihrem Unbewussten als Erwachsene. Solange sie noch nicht durch Erziehung, Schule und die Welt der Erwachsenen auf Standardantworten festgelegt sind, stellen sie noch die wesentlichen Fragen. Sie haben den Mut, in aller Unbefangenheit nach Geheimnissen und Unbekanntem zu forschen. Wenn wir Erwachsene uns von ihnen leiten lassen, können sie uns ein Wissen vermitteln, das uns aus Angst vor allem, was sich unserem rationalen Verstand entzieht, entgeht. Ich verdanke tatsächlich jede neue Entdeckung, die meine Arbeit verändert hat, jede kreative Neuausrichtung in diesem Bereich der Begegnung mit einem Kind. Michal hat mir das Herz geöffnet und mir ermöglicht, tiefer über die Realität von Auschwitz und seine Weiterungen nachzudenken. Zugleich konnte damit die Analyse von Liora N. aus der Sackgasse herausgeführt werden … Für diejenigen, die den KZ-Schrecken selbst erlebt haben, ist das Erlebte real, konkret, körperlich. Die Vorstellung, die ihnen davon geblieben ist, das daraus entstandene Trauma, beruht auf einer körperlichen Erfahrung, einer Wahrnehmung über die Sinnesorgane. Diese traumatische Erfahrung der Überlebenden, die sie unbewusst weitergeben, schlagen sich auf einschneidende und verstörende Weise im Gemüt ihrer Kinder nieder. Das von den Eltern unmittelbar erlittene Trauma überträgt sich in Form einer imaginierten traumatischen Realität auf die nächste Generation. Die siebenjährige Michal zeigt Gedächtnis- und Wissenslücken und ist oft geistesabwesend, besonders in der Schule, was ihr Umfeld stark beunruhigt. Das Kind scheint, wenn es dann wieder zu sich kommt, nach Aussagen der Mutter wie aus einer anderen Welt aufzutauchen. Als Michal, ein hübsches, zart gebautes Mädchen mit schwarzen Haaren, mit ihrer Mutter in meine Sprechstunde kommt, erfahre ich zunächst einiges über ihren familiären Hintergrund. Der aus Polen stammende Vater kam in sehr jungen Jahren nach Israel. Die Mutter stammt aus Südamerika und kam kurz vor ihrer Heirat nach Israel. Dann kommen wir auf Michals Entwicklung als drittes Kind in der Geschwisterreihe zu sprechen, den Familienalltag, die übrigen Geschwister, die zuletzt aufgetretenen Krankheiten und Todesfälle im näheren Umfeld. Die Mutter macht sich Vorwürfe, ihre Familie in den letzten anderthalb Jahren eher vernachlässigt zu haben, weil sie ihre an verschiedenen


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Orten lebenden Eltern bis zu deren erst einige Monate zurückliegendem Tod betreut hat. Michal hört unserem Gespräch aufmerksam zu und unterbricht uns nicht. Sie ist ernst, dabei aber weder ängstlich noch bedrückt. Ich bitte ihre Mutter, uns allein zu lassen. Mit Michal trete ich dann über das »Squiggle«- bzw. Kritzel-Spiel (siehe Kapitel VI), das mit Befragungen und Interpretationen arbeitet, in einen Dialog ein. Gegen Ende der Sitzung antwortet Michal auf eine meiner gestellten Fragen: »Ich will kein Elektrozaun im Warschauer Getto sein, in den die Kinder von den Soldaten hineingetrieben werden, und wo sie durch Stromschlag sterben.« Diese Antwort verwirrt mich zutiefst. Ich spüre, dass ihre Bedeutung über den rein diagnostischen Befund hinausweist. Kommt da ein traumatischer Zwang zum Ausdruck, der, normalerweise durch die »Geistesabwesenheiten« verdeckt, sich heute in der Sprechstunde offenbart hat? Ist es ein Weg für Michal, mir einen Teilaspekt ihres Inneren zu zeigen, der von außen in sie hineingetragen wurde? Michal scheint für Gedanken Aufmerksamkeit zu erheischen, welche die Grenzen bewusster Erkenntnis überschreiten. Sind damit etwa so schreckliche Dinge verbunden, dass sie gedanklich lieber abtaucht als sich ihnen zu stellen? Es hat fast den Anschein, dass sie mich drängt, schnellstmöglich einem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das sie selbst nicht kennt. Ich konstatiere angesichts dessen bei mir eine typische therapeutische Gegenübertragung. Vor ein Rätsel gestellt, von dem ich vermute, dass es mit einem gravierenden Familiengeheimnis zu tun hat, fühle ich mich einer Gefahr ausgesetzt, die mich antreibt, diesem Rätsel auf die Spur zu kommen. Ich will meine Hypothese anhand der Familiengeschichte überprüfen. Obwohl eingeladen, kommt der Vater nicht zum nächsten Termin, der infolgedessen nur in Anwesenheit der Mutter stattfindet. Ich berichte ihr über Michals Antwort bei unserem letzten Treffen und frage sie, ob sie mir dabei helfen könne, deren Sinn aufzuklären. Sie reagiert überrascht und verunsichert: »Mein Mann hat in seiner Kindheit im Zweiten Weltkrieg im Warschauer Getto und anschließend in einem Konzentrationslager verbracht. Aber wir haben nie mit den Kindern darüber gesprochen. Wie kann sie davon wissen? Mein Mann sagt immer, er sei schon als sehr junger Mensch nach Israel gekommen, und nie habe ihn jemand nach seiner Vergangenheit gefragt.« Der Vater kann aufgrund seines Gesundheitszustands auch an den weiteren Therapiestunden nicht teilnehmen, hat jedoch seiner Frau erlaubt, Michal alles zu


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erzählen, was sie weiß. Ich bearbeite also gemeinsam mit Michal und ihrer Mutter den Zusammenhang zwischen den Absencen des Kindes und der Geschichte des Vaters. Nach und nach kommt das Mädchen dahinter, dass etwas in ihr verborgen war, das nicht zu ihr gehörte und zwar ein Teil der tragischen Geschichte ihres Vaters. Danach gehen ihre geistigen Ausfallzustände Schritt für Schritt zurück. Fünf Jahre später bat mich der Vater um eine Unterredung in Anwesenheit seiner Tochter. Er wollte mit ihr, die mittlerweile zwölf Jahre alt war, die gleiche »Wegstrecke« zurücklegen wie zuvor seine Frau, indem er von seiner Kindheit erzählte. Bei insgesamt drei Treffen beantwortete er die Fragen seiner Tochter. Bei einer Gelegenheit sagte er, dass er hinsichtlich seiner Kindheit das Gefühl habe, gegen eine unüberwindbare Wand anzurennen, die ihm den Blick verstelle. Insgesamt blieben seine Antworten sachbetont. Er war sich darüber im Klaren, dass er derzeit nicht weiter gehen könne und meinte, vielleicht könne man sich später noch mal wiedersehen, um den Dialog mit seiner Tochter und darüber hinaus mit seiner eigenen Kindheit fortzusetzen. Der Erinnerungsverlust ist real, während das, was dem Vergessen anheimgefallen ist, seine Realität eingebüßt hat. Die Abwesenheit oder der Erinnerungsverlust macht sich für den Betroffenen wie ein schmerzhafter Zusammenbruch bemerkbar, wie eine Leere oder ein Gefühl, nicht zu existieren. Die Wiederholung dagegen ist ein ununterdrückbares, dem Unbewussten entspringendes Phänomen, das einen gegenteiligen Effekt bewirkt, denn sie drückt sich in einer beharrlich sich behauptenden Dauerpräsenz aus. In einer Therapie kommt es nun zu einem widersprüchlichen Miteinander von ausgeblendeter Erinnerung, Gedächtnislücke und Wiederholung. Die fehlende Erinnerung hat eben durch die ihr eigene Beharrlichkeit Wiederholungscharakter und die verselbstständigte, automatisch ablaufende Wiederholung führt zur Ausblendung des Anderen, der Welt, des Lebens selbst. Ohne Wiederholung indes wäre ein Kontakt zu bestimmten Teilbereichen des Selbst nicht möglich, die verdrängt, verleugnet, vergessen und gewissermaßen abhanden gekommen sind. Diese Bereiche sind mit in höchster Bedrängnis erlebten traumatischen Erfahrungen verbunden. Zugleich kann dieser Wiederholungszwang wie ein Funke von etwas aufscheinen, das noch Leben enthält, das hervorbrechen will und nach einer Antwort verlangt, der »wahren« Antwort. Bei Michal war es mithin so, dass sie mit ihrem Symptom (ihre wiederholten Absencen) unbewusst die der Shoah geschuldete und nicht mitgeteilte seeli-


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sche Belastung des Vaters auf sich genommen hat. Sie hat uns damit darauf hingewiesen, was die Shoah ihrem Vater und allen, die damals Kinder oder Jugendliche waren, angetan hat. Viele Kinder der Shoah haben ihr familiäres Umfeld verloren. Sie haben den Tod geliebter Menschen erlebt, die Trennung von Vater und Mutter. Um weiterleben zu können, mussten sie die Eltern schnell »abschreiben«, sich abkoppeln, den Schmerz des Verlusts ausblenden. Etwas in ihrem Inneren hat sich verhärtet. Wie sind sie unter diesen Umständen ihrerseits mit ihrer Elternrolle zurechtgekommen? Für derart traumatisierte Überlebende der Shoah bedeutet die Geburt eines Kindes eine narzisstische Aufwertung. Es bedeutet, dass sich das Leben durchgesetzt hat, dass das Todesprojekt der Endlösung nicht vollständig obsiegt hat, die Macht des Horrors nicht allmächtig war. Als lebender Beweis des Fortbestands erscheint jedes Kind eines Überlebenden als Wunderkind, das den Schmerz des Verlusts mildert, zeigt es doch das Scheitern derjenigen, die sich die Vernichtung der Juden auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Allerdings stellt sich die Frage, ob die mit lebenden Toten belasteten Eltern voller unbewältigter Trauer ihr Kind vor ihren eigenen Lebensängsten schützen können. Man weiß, dass schon unter normalen Verhältnissen alle Kinder Ängste vor Verlassensein und Tod haben. Die Aufgabe der Eltern besteht dann im Prinzip darin, diese Ängste zu zerstreuen, ihnen einen Sinn zu geben. Wenn dagegen der Vater oder die Mutter aufgrund der eigenen traumatischen Erfahrung die Todesangst des Kindes weder an sich herankommen lassen noch entschärfen kann, so erfährt diese Angst keine Deutung und wird vom Kind als »namenloser Schrecken« verinnerlicht. Wenn die Eltern diese Funktion von Nachdenken und Transformation nicht erfüllen können, kann das Kind seine Gefühls- und Verstandeskräfte, mit denen es der Welt gegenübertritt, weder sammeln noch ordnen. Sein unreifes kindliches Bewusstsein sieht sich sodann genötigt, die von den Eltern nicht wahrgenommene Aufgabe selbst zu übernehmen, das Leiden der Eltern auf sich zu nehmen, indem es sie in der Fantasie selbst durchlebt. Angesichts der elterlichen psychischen Leere und des fehlenden Erklärungsangebots verfällt das Kind darauf, selbst nach Bruchstücken der Leidensursache zu fahnden, sich diesbezüglich eigene Inhaltsfragmente zurechtzuschustern und sich diese zu eigen zu machen. Auf diese Weise hat es sich in die traumatische Beschaffenheit der Eltern eingeklinkt.


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R. D. Laing und A. Esterson (1964) haben mehrere Familiengeschichten erörtert, an deren Beispiel sie klinisch belegen, dass die psychotischen Symptome bei Kindern eine Reaktion auf die Sprachlosigkeit der Eltern sind. Wahnhafte, halluzinatorische oder autistische Symptome – in Michals Fall die Absencen – sind das Ergebnis dessen, was ein Kind in der Familie hört. Hierdurch wird die archaische Vorherrschaft des Über-Ichs verstärkt, die mitunter erschreckende Ausmaße annehmen kann. Michals Symptome sind im Alter von sechs Jahren aufgetreten. Zu der Zeit war ihre Mutter oft nicht zu Hause, weil sie sich um ihre kranken Eltern kümmerte. Der Vater war psychisch nie ganz anwesend, weil er aufgrund des damit verbundenen Schmerzes nie über seine Kindheit sprach. Dies hatte Michal unbewusst und feinfühlig registriert. Solange die Mutter da war und die psychische Teilabwesenheit des Vaters ausgleichen konnte, war ein gewisser Gleichgewichtszustand gewährleistet. In dem Moment jedoch, in dem sich Michals Ödipuskomplex voll entwickelt hatte, hat sie sich vermutlich von der Mutter im Stich gelassen gefühlt. Sie musste sich mit ihrem Hass-Liebe-Konflikt gegenüber dem Vater allein auseinandersetzen. In dieser Konfliktsituation hat sie, da sie ihren Vater nicht für sich »gewinnen« konnte, sich dafür entschieden, so wie er »abwesend« zu sein. Und dies hat sich in ihrer Fantasie als Bild der von den Nazis ermordeten Kinder niedergeschlagen, weshalb sie auch gleich in der ersten Sitzung damit herausplatzte, dass sie »kein Elektrozaun im Warschauer Getto« sein wolle, an dem die Kinder durch Stromschlag getötet werden. Michals Symptombildung, die sie am Leben hinderte, war eine an den Vater gerichtete Frage. Ihr sich vermittels des Symptoms ausdrückendes Verlangen nach Aufklärung hatte es dem Vater ermöglicht, vom reinen Überleben zu einer gewissen Lebensfreude zu gelangen. Durch die unbewusste transgenerationelle Übernahme wollte Michal ihren Vater aus der Verlassenheit und Einsamkeit seines Schweigens erlösen. Und in gewisser Weise brauchte der Vater auch die Hilfe eines Dritten (des Psychoanalytikers), um eine Erklärung für dieses rätselhafte Symptom zu finden. So hat Michal ihn dazu gebracht, sich mitzuteilen und ihm damit den Lebensmut zurückgegeben. Zugleich hat auch sie wieder Zugang zur Welt gefunden. Wie wir gesehen haben, sind der Erinnerungsverlust, die Wiederholung und die Unfähigkeit zu trauern der Grund, weshalb Eltern, welche die Shoah in sehr jungen Jahren erlebt haben, ihre Rolle nicht voll ausfüllen können.


Michals »Geistesabwesenheit« und das Ungesagte des Vaters · 25

Ihre Kinder begeben sich dann auf die Suche nach der »verlorenen Zeit« ihrer Eltern, um sie mit viel Einfallsreichtum, dem ein gerütteltes Maß an Angst und Leid beigemischt ist, voll präsent ins Hier und Jetzt zurückzuführen.



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Kapitel VI »Papa, hörst du mich?«

Die Gegebenheiten in Israel, die wiederholten Kriege, der Kampf um die bloße Existenz des Landes haben ihrerseits auch Traumata gezeitigt. Für mich stand zu der Zeit wie für viele andere Israelis die Problematik der Shoah-Überlebenden nicht im Vordergrund. Wir waren viel stärker mit den damaligen Kriegskindern und ihren Reaktionen beschäftigt. Daher hatte ich nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 und später dem Jom-Kippur-Krieg 1973 viele Kinder in Behandlung, die unter der langen Abwesenheit oder dem Tod ihrer Väter litten. Ich bemühte mich, diesen Kindern einen festen therapeutischen Rahmen zu bieten und ihnen dabei gleichzeitig Spielraum für Kreativität und ein gewisses Maß an emotionaler Freiheit zu lassen. Damals stieß ich auf die Arbeiten von Winnicott, insbesondere auf sein »Kritzelspiel« (squiggle game)5, das er für die Behandlung von Kindern eingeführt hatte: »Das Prinzip dieses Ansatzes besteht darin, dass es zu einer spielerischen Interaktion zwischen Kind und Erwachsenem bzw. Therapeut kommen soll. Das Kritzelspiel ist ein Beispiel dafür, wie dieses Ziel Erfolg versprechend angesteuert werden kann« (Winnicott 1971). Das Kritzelspiel wird zu zweit gespielt und sein psychotherapeutischer Wert leitet sich von der Deutung des dabei anfallenden Materials her. Der 5 Das Kritzelspiel habe ich bei J., aber natürlich auch bei anderen Kindern angewendet. Mit großer Verwunderung, ja Begeisterung stellte ich fest, dass die Kinder von der Möglichkeit ausgiebig Gebrauch machten, ihr Leid spielerisch auszudrücken. Sie kamen sehr schnell auf wesentliche Fragen von Leben und Tod zu sprechen. Ferner bemerkte ich, dass sie über die dabei auftauchenden Gedanken und Gefühle höchst erstaunt waren. Aus diesem Grund habe ich das Kritzelspiel in meiner therapeutischen Arbeit mit von gesellschaftlicher Gewalt betroffenen Kindern immer wieder eingesetzt, auch in Ländern, deren Sprache ich nur rudimentär beherrsche.


76 · Kapitel VI

Therapeut kritzelt etwas auf ein Blatt Papier und fordert das Kind auf, mit diesem Anfangsgekritzel nach Gutdünken zu verfahren und dem Ganzen einen Namen zu geben. Dann kritzelt das Kind etwas auf das Papier, der Therapeut fügt etwas hinzu und gibt ihm einen Namen. So antwortet jeder auf das Gekritzel des anderen. Mit dem Spiel sollen schweigsame und eher unkooperative Kinder dazu gebracht werden, durch aktive Teilnahme etwas aus sich herauszugehen. Eine angstbesetzte Triebregung findet über dieses Spiel seinen Ausdruck und kann so in die therapeutische Situation eingebracht werden. Durch die anschließenden Deutungen werden die Angst und die in den Zeichnungen und Äußerungen des Kindes durchscheinende Abwehr dingfest gemacht. Dem Kind wird damit ermöglicht, auf seine Affekte aufmerksam zu werden und sie zu bearbeiten. Das Spiel veranlasst den Analytiker zuweilen zu möglicherweise allzu harschen, ja aggressiven Interpretationen, die ihm indes dazu verhelfen, mit weder gedanklich noch verbal eingestandenen Aspekten des Kindes in Kontakt zu treten. Das Kritzelspiel weckt die Spiellust und den Humor des Kindes und alles geht mit Einverständnis des Analytikers vonstatten. Dieser entlockt dem Kind seine verborgenen Gedanken und gibt ihm zu verstehen, dass die heraufbeschworenen Geister nicht so gefährlich sind, wie es befürchtet hatte. Auf diese Weise kann es sich der damit einhergehenden negativen und schmerzlichen Gefühle entledigen. Durch Spiele, Zeichnungen und Träume weist das Kind seine Ängste von sich. Es projiziert sie auf den Analytiker, der sie durch seine Haltung und Worte sozusagen entgiftet. Das Kind kann so sein destruktives Erleben metabolisierend umwandeln, das damit erträglicher wird. Der kleine vierjährige J. will etwas sagen, doch er stottert (Gampel 1991). Er sagt etwas und doch wieder nichts, er versteckt etwas, ohne es ganz verschwinden zu lassen. Frau G., seine Mutter, bittet mich um Hilfe. Als ich ihr einen Termin für J. vorschlage, ruft sie aus: »Endlich mal ein Therapeut, der sich mit meinem Kind beschäftigen will und nicht mit mir!« Die rundlich-kompakte Frau G. und ihr blasses, erschreckend mageres Kind bieten ein erstaunlich gegensätzliches Erscheinungsbild. J. will sich nicht von seiner Mutter trennen. Sie erklärt, dass er seit zwei oder drei Monaten stärker stottert. Im Kindergarten verhielt er sich immer ruhig und in sich gekehrt. Als er anfing zu stottern, wurde er lebhafter und geselliger im Umgang mit den anderen Kindern. Alle Psychologen, die Frau G. bislang zu Rate gezogen


»Papa, hörst du mich?« · 77

Bild I (Farben gelb, grün, blau, rot)

Bild II

Bild III (Himmel gelb)

Bild IV

Bild V (Farben blau, grün, Sonne schwarz und gelb)

Bild VI (Farben grün, blau, braun)


78 · Kapitel VI

hatte, waren übereinstimmend der Meinung, dass J.s Zustand sich von allein wieder normalisieren würde und kein Grund zur Beunruhigung bestehe. Die Mutter ist dennoch beunruhigt, denn das Stottern wird schlimmer. Dem dicht neben seiner Mutter stehenden J. ist kein Wort der mütterlichen Darstellung entgangen. Als ich mich ihm zuwende, zieht Frau G. eine mitgebrachte Strickarbeit aus der Tasche, an der sie weiterstrickt. Ich schlage J. ein Kritzelspiel vor und erkläre ihm, wie es geht. Mein erster Kritzel soll ihn zum Weitermachen anregen, er knüpft jedoch nicht daran an, sondern antwortet mit einer neuen Zeichnung. An ihr fällt mir vor allem der »große Mund« auf, den er gezeichnet hat und die »frei schwebenden Blumen« (Bild I). Dann kritzelt er für mich etwas sehr Kompliziertes, das ihn sehr erheitert. Ich verwandle es in ein »Bärchen« (Bild II) und frage ihn: »Hast du so einen kleinen Teddybär?« – »Nein, ich hab noch nie einen Teddybär gehabt.« Die Antwort kommt deutlich, ohne das geringste Stottern. Ich bringe einen neuen Kritzel aufs Papier, aus dem er eine »Sonne« macht (Bild III). Noch weiß ich nicht mehr über den kleinen Patienten J. Aus dessen viertem Kritzel mache ich eine »Blume« und halte mich möglichst an die von ihm vorgegebene Linienführung (Bild IV). Aus meinem neuen Kritzel macht er dann »einen Himmel, eine Sonne und eine Blume« (Bild V). Als ich ihn frage, ob er ein Einzelkind sei, antwortet die Mutter, die sich bisher nicht beteiligt hatte: »Wie haben Sie das gewusst?« Für die Mutter scheint dies der entscheidende Augenblick gewesen zu sein, sich für die Behandlung zu interessieren. Ich hatte zunächst den Eindruck, dass sie keine große Hoffnung mit ihrem Besuch verbunden, ihn vielmehr als einen weiteren Versuch unter vielen eingestuft hatte. Nun schwankt sie zwischen dem Wunsch und zugleich der Angst, Neues über ihren Sohn und sich selbst herauszufinden und diesbezüglich mögliche Zusammenhänge aufgezeigt zu bekommen. Auch schwankt sie ebenso wie ihr Kind zwischen Mitteilen und Verschweigen, zwischen Verbergen und doch nicht ganz Verbergen6. 6 Der Analytiker muss sich in bestimmten Situationen, was den Narzissmus der Mutter auf eine harte Probe stellt, gleichzeitig für die Mutter und das Kind verantwortlich zeigen. Er muss die doppelte Übertragung von Mutter und Kind mit ihren jeweiligen positiven und negativen Wertigkeiten sowohl väter- wie mütterlicherseits akzeptieren, was eine aufmerksame und effiziente Selbstanalyse seiner eigenen Gegenübertragung in allen implizierten Aspekten voraussetzt.


»Papa, hörst du mich?« · 79

J. beginnt mit einem neuen Kritzel, an dem ich ihn weitermachen lasse, während seine Mutter mir mehr von ihm erzählt: »Seine Geburt ist ganz normal verlaufen. Er wog drei Kilo und zweihundert Gramm. Ich habe ihn nicht gestillt, weil ich keine Milch hatte. Die ersten sechs Monate hat er gut zugenommen, dann aber nicht mehr. Die Ärzte glaubten, es sei eine Verdauungsstörung, sahen aber von einer medizinischen Behandlung ab – ebenso wie alle Psychologen, an die ich mich bisher gewandt habe. Bis heute nuckelt J. noch am Schnuller.« (In dem Moment steckt das mit Zeichnen beschäftigte Kind mehrere Finger in den Mund.) »Mit achteinhalb Monaten konnte er aufrecht sitzen und nach zwei Jahren konnte er gut sprechen. Sein Vater ist im Jom-Kippur-Krieg gefallen. Das Kind war damals zwei Jahre und drei Monate alt. Ab sechs Monaten hatte er ein Kindermädchen, das ihn auch heute noch nach Hause bringt und sich um ihn kümmert, bis ich von der Arbeit komme. Er hat sich nicht gesträubt, in den Kindergarten zu gehen.« J. ist mit seiner Zeichnung, die drei Blumen darstellt, fertig (Bild VI). Er schreibt seinen Namen auf das Blatt, steht auf, geht zum Fenster und schaut hinaus. Es ist ein wolkenverhangener, regnerischer Tag. Ich schlage ihm Folgendes vor: »Was deine Mama über deinen Papa erzählt hat, dass er im Krieg gefallen ist, bringt dich dazu, aus dem Fenster zu schauen auf die trüben Regenwolken, denn du bist auch betrübt und hast Tränen in den Augen. Du hast drei Blumen gezeichnet. Zwei könnten deine Mutter und du sein, und die dritte, verwelkte, ist vielleicht dein Vater, der nicht da ist, weil er im Krieg geblieben ist.« Er setzt sich wieder hin und ich zeichne ihm eine Figur aus konzentrischen Kreisen, auf deren äußeren Kreis er »zwei rote Punkte« setzt (Bild VII). Ich frage ihn, ob ich ihm sagen soll, wie ich seine Zeichnung verstehe. Nach einigen Sekunden des Nachdenkens stimmt er zu. »Die roten Punkte könnten du und deine Mutter sein, die mit einer langen Schnur verbunden sind. Siehst du, in der ersten Zeichnung ist die Blume auch durch eine Schnur mit dem Kind verbunden. Vielleicht fühlst du dich mit deiner Mama wie durch eine Nabelschnur verbunden (wobei ich ihm das Wort erkläre). Die Schnur wird jeden Tag länger, aber sie ist noch nicht abgeschnitten. Du verhältst dich also manchmal wie ein kleines Kind, das noch Daumen lutscht und wie ein Baby spricht, und manchmal bist du schon wie ein großes Kind, das zeichnen und schreiben kann.« Ich mache aus seiner Zeichnung eine »Schlange, die auf Beute lauert« (Bild VIII). Das gefällt ihm sehr und er agiert das Thema weiter aus, indem er »auf


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Bild VII

Bild VIII (Farben rot und schwarz)

Bild IX (Farben rot und grün)

Bild X

Bild XI (Farben rot, grün und schwarz)

Bild XII


»Papa, hörst du mich?« · 81

der Suche nach Fressen« auf dem Boden kriecht. Er ergänzt die von mir gezeichnete viereckige Form, sodass sie eine »geschmückte Kiste« darstellt (Bild IX). Zur Bedeutung dieser Kiste habe ich zwei Hypothesen. Entweder sie symbolisiert seine innere Welt oder, konkreter, das geschmückte Grab seines Vaters. Ich entscheide mich zunächst für die erste Version, und bevor er zum nächsten Kritzel übergeht, schlage ich vor: »Schauen wir mal nach, was in der Kiste drin ist!« Seine anschließende Zeichnung verwandle ich in einen »Schnuller« (Bild X) mit dem Kommentar: »Das ist ein Schnuller, der in der Kiste liegt«. J. setzt die Szene wieder freudig in die Tat um, indem er so tut als ob er den Schnuller aus der Kiste holt und wieder zurücklegt. Aus dem nächsten Kritzel macht er »zwei rote Kreise«, einen kleinen inmitten eines großen. Ich vermute: »Die beiden Kreise könnten deine Mama und du sein, und ihr wärt beide in der Kiste.« Er: »Warte, ich bin noch nicht fertig!« Er macht aus den beiden Kreisen zwei »Menschen«, steht auf und wirft die Zeichnung seiner Mutter an den Kopf. Er zeichnet schnell einen zwölften Kritzel und geht zum Fenster. Ich mache daraus Wolken und Regen (Bild XII) und kommentiere: »In der Kiste sind auch Wolken und Regen wie Tränen und Traurigkeit«. Ich ziehe eine senkrechte Linie, aus der er ein »kleines Boot« und einen »Mensch mit einem großen Mund« macht (Bild XIII), zu dem er meint: »Das ist auch in der Kiste. Sieh mal, Mama!« Ich bemerke: »Der Mund, den du gezeichnet hast, ist ja größer als das Kinn … als ob er alles auffressen wollte.« »Komm, wir nehmen für das nächste Bild drei Farben«, schlägt J. vor. »Die Mama ist grün, ich bin rot, und du bist blau« (Bild XIV). Wir überlegen dann, ob J. innerhalb oder außerhalb des Grüns sein soll. Da überlegt J. es sich anders: »Nein, ich bin blau und du bist rot.« – »Dann bist du außerhalb von Grün, von deiner Mama.« Es hat den Anschein, als sei sein Problem allein durch die Tatsache gelöst, dass in seiner Vorstellung ein anderer als er »in seiner Mutter« ist – dass also ich es bin, der in ihr eingeschlossen ist. Von dem Moment an ist er frei. Ich skizziere im Gegenzug einen »Schlüssel« (Bild XV) und frage: »Mit dem Schlüssel kann man die Kiste aufschließen, aber wo ist er, in der Kiste oder draußen? Wie können wir die Kiste aufmachen?« – »Der Schlüssel ist in der Kiste«, sagt J., »deshalb können wir sie jetzt nicht aufmachen.« Er zeichnet einen »Hahn«, »einen Gashahn«, fügt er hinzu, »mit Feuer« (Bild XVI), und dann: »Auch das ist in der Kiste.« – »In der Kiste«, fasse ich zusammen, »ist also ein Schnuller, deine Mama und du, ein Boot,


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Wolken, Tränen, der Schlüssel und auch so gefährliche Dinge wie Feuer und Gas.« Ich zeichne ein Rechteck. Er zeichnet auch etwas und meint dazu: »Ich weiß nicht, was das ist« (Bild XVII). Auf einem neuen Blatt Papier skizziert er eine Art »Treppe« (Bild XVIII), deren Stufen er abzählt. Er kommt auf 20 Stufen, eine Zahl, die er mehrfach wiederholt. Dann hält er plötzlich inne, so als ob er überrascht und erschreckt wäre. Ich blicke fragend zu seiner Mutter hinüber, ob sie mir vielleicht einen Hinweis zur Erklärung dieser Angst und dessen, was die Zeichnung unbewusst ausgelöst hat, geben kann.

Bild XIII (Farben grün und blau)

Bild XIV (Farben rot und grün)

Bild XV (mit grünem Farbstift)

Bild XVI


»Papa, hörst du mich?« · 83

Bild XVII (mit grünem Farbstift)

Bild XVIII (mit grünem Farbstift)

(Bild XIX und XX konnten, da mit weißem Stift gezeichnet, nicht abgebildet werden) Zu meiner nächsten Zeichnung meint J.: »Das brennt, Feuer, Gas und bum, eine Bombe, die explodiert.« Er nimmt einen weißen Stift und zeichnet ein »Schiff« und ein »Flugzeug« (Bild XIX). Sein Kommentar: »Wenn das Schiff kaputtgeht, dann ist ein Flugzeug da, das landen kann. Das Schiff ist gefährlich, da ist ein großes Loch.« Als nächsten Kritzel wählt er wieder das Thema Feuer (Bild XX). Ich schließe daraus auf eine mit sexueller Erregung zusammenhängende Problematik, die für ihn vermutlich einen Konflikt beherbergt, insofern ihm eine vermittelnde Vaterfigur fehlt und er der Nähe einer zärtlich liebenden Mutter ausgesetzt ist. Diese Problematik hat wahrscheinlich auch mit dem Erleben des Krieges und dem dadurch für das Kind eingetretenen Bruch zu tun. Ich beschließe, J.s latente Aggressivität als Reaktion auf die Abwesenheit des Vaters und dementsprechenden Verarbeitungsversuch aufzufassen: »Du redest von gefährlichen Dingen, die du spürst und die passieren können – so wie bei deinem Vater, von Dingen, über die du mit deiner Mutter vielleicht nicht sprechen kannst.« – »Aber wir sprechen oft über seinen Vater«, meldet sich da die Mutter. – »Die Mama spricht mit mir jeden Abend über Papa«,


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bestätigt das Kind. Wenn J. seinen Vater nicht betrauern konnte, wenn er sich insgeheim weiter mit ihm identifiziert, dann liegt es also nicht daran, dass er totgeschwiegen wurde. Ich frage weiter: »Erinnerst du dich an das, was du nachts träumst?« – »Vor drei Monaten habe ich etwas geträumt«, antwortet er. Es ist auch drei Monate her, dass sich sein Stottern verschlimmert hat. Und während er sich bisher flüssig ausgedrückt hat, kommen seine Worte jetzt auf einmal zögerlich und mit stockendem Atem und er stottert auch wieder: »Im Kinder…garten. Alle Kinder … sind … im ersten Stock und … Jossi, mein … Freund, zieht mich … an den Haaren. Dann … gehen die Kinder … runter. Sie glauben alle … ich … hätte mit Jossi … Streit angefangen. Die Kinder… gärtnerin, Rina, … bringt uns alle … wieder nach oben und sagt, wir … sollen uns in Zweierreihe … aufstellen. Nur ich … bleibe unten … Das ist … ein trauriger Traum.« Die Mutter bestätigt, dass der Kindergarten tatsächlich ein zweistöckiges Gebäude und Jossi J.s Freund ist. Ich frage das Kind, ob ich ihm sagen soll, wie ich seinen traurigen Traum verstehe. Nach einigem Nachdenken stimmt er zu. »Vielleicht denkst du manchmal, dass Papa nicht da ist, weil du ein böser kleiner Junge bist, weil du an Sachen denkst, von denen du glaubst, dass sie böse sind. Die anderen haben alle ihren Papa, und du hast keinen.« »Nein, ich war ein braver Junge. Es war Krieg und wir sind in den Luftschutzbunker gegangen wegen der Bomben. Gerade vorher hat Papa angerufen, und dann ist er gestorben.« Dies nun ist ein sehr dramatischer Moment. »Das hatte ich ja ganz vergessen!«, ruft Frau G. aus. »Mein Mann war auf der Sinai-Halbinsel stationiert. Kurz bevor die Sirene losging, hat er uns angerufen. Wir mussten in den Luftschutzkeller. Die Telefonverbindung war schlecht. J. hat ihn immer wieder gerufen, aber die Leitung war unterbrochen. Wir mussten dann in den Keller und J. hat geweint und weiter nach seinem Vater gerufen. Wir haben damals zum letzten Mal die Stimme meines Mannes gehört, kurz danach ist er gefallen. Ich hatte das alles vergessen, erst jetzt entsinne ich mich wieder.« Meine Hypothese: J. wollte unbedingt mit seinem Vater sprechen. Wegen der schlechten Verbindung konnte er nicht alles loswerden, was er sagen wollte, und wahrscheinlich hat er aufgrund dieses dramatischen Geschehens kurz vor dem Tod seines Vaters zu stottern begonnen. Die Mutter erinnert


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sich, dass sie sich über das viele Weinen des Kindes gewundert hat, denn es war durchaus normal, dass die Telefonverbindung zum Sinai sehr schlecht und oft unterbrochen war. J. hat sich inzwischen auf die Couch gelegt. Als er wieder aufsteht, frage ich ihn, ob wir uns weiter mit dem Traum beschäftigen sollen, den er mir erzählt hat. Er bricht kurz in ein gezwungenes, wildes Lachen aus, das ich wie folgt kommentiere: »Ich glaube, du lachst, um nicht zu weinen.« Ich schlage vor, eine Erklärung für den Traum zu finden. In seinem Traum blieb er allein zurück, als die anderen Kinder nach oben gingen. Ganz allein dort unten stehen gelassen zu werden, ohne seinen Zorn darüber loswerden zu können, muss ihn sehr frustriert haben. Ich fordere ihn deshalb auf, den Kindern all das zu sagen, was er ihnen auch im Traum hätte sagen wollen. J.s Worte sind von starkem Stottern unterbrochen, als er schreit: »Ich breche … euch … die Knochen, ich scheiße … und pisse … auf euch!« Er bittet mich, ihm zu helfen, indem ich klar und deutlich seine Worte wiederhole. Er rennt gestikulierend und schreiend durch den Raum und ich sage zu ihm: »J., alles, was du bisher mit größter Anstrengung ausgerufen hast, kannst du einmal mit und einmal ohne Stottern aufsagen.« Das tut er dann mit sichtlichem Vergnügen, wirft sich danach erschöpft auf die Couch und sagt zu seiner Mutter: »Mama, du kannst jetzt gehen, ich bleibe hier.« Ich lasse ihn etwas verschnaufen und schlage ihm dann vor, uns zum Schluss gemeinsam seine Zeichnungen anzusehen. Auf meine Frage, welche ihm denn am besten gefalle, wählt er die »Schnecke« (Bild VII). »Ja«, sage ich, »du hast heute ein gutes Stück Weg mit mir und deiner Mutter zurückgelegt. Jetzt musst du mit der Mama nach Hause gehen, ich schlage aber vor, dass wir uns in einem Monat wiedersehen, um noch ein Stückchen weiterzugehen.« Im Laufe jener Sitzung kamen alle libidinösen Besetzungen von J.s Kindheit zum Vorschein, die bislang tief in der »Totengruft-Sargkiste« dieses schrecklichen Traumas eingeschlossen waren. Eine Woche später komme ich, wie zuvor vereinbart, mit der Mutter allein zusammen. Sie berichtet mir von den Befürchtungen, die sie in der ersten Sitzung gehegt hatte. Die für sie kritischsten Momente waren zum einen, als sich sie fragte, ob J. ein Einzelkind sei, und zum anderen, als ich sie nach dem letzten Anruf ihres Mannes gefragt hatte. Sie war sehr erleichtert gewesen, als sie dann feststellte, dass ich mich fast


86 · Kapitel VI

ausschließlich mit J. befasste. Bei den Therapeuten, die sie zuvor wegen des Kindes aufgesucht hatte, fühlte sie sich, sobald sie ihren Status als Kriegerwitwe erwähnt hatte, »aufdringlichen« Fragen ausgesetzt. Bei mir dagegen fühlte sie sich von Anfang an von einem Teil ihrer Verantwortung befreit. Sie bittet mich, dies nicht infrage stellen zu müssen und dankt mir, dass ich mich vor allem mit ihrem Kind befasst und diesbezüglich ohne Abstriche ihrem Wunsch entsprochen habe. Ferner berichtet sie, dass sich das Kind seit der Behandlung bemerkenswert verändert habe. Es sei, meint die Kindergärtnerin, fröhlicher und »wie befreit«. Sie erzählt auch, dass sie einer plötzlichen Eingebung folgend die Treppenstufen von der Wohnung zum Luftschutzkeller gezählt habe: Es seien 20 Stufen. Diese Tatsache, die ihr entfallen war, habe sie in der Wirklichkeit überprüfen müssen. Das lässt mich vermuten, dass es da gut gehütete private oder familiäre Geheimnisse gibt, zu denen nur sie Zugang hat. Sie will jedenfalls darüber weder mit mir noch mit ihrem Sohn sprechen. Wahrscheinlich existieren da andere, zu unzugänglichen Verstecken der sonderbaren oder genealogischen Art hinauf- oder hinabführende Treppen, auf die etwa ihre Beunruhigung hinwies, als ich sie danach fragte, ob J. ihr einziges Kind sei. Sie erzählt weiter: »Ich habe mit 25 entbunden, aber nicht gestillt. Das war mir zuwider, ich fand es unästhetisch. Ich hätte mich wie eine Kuh gefühlt. J. war ein sehr ruhiges Kind, er schlief mit offenem Mund und weinte sehr wenig. Um ihn gekümmert hat sich vor allem sein Vater. Ich wollte meine Freiheit und weiter studieren. Er war für ihn mehr Mutter als ich. J. war für mich eher ein kleiner Bruder als ein Sohn. Inzwischen habe ich eine stärkere Bindung zu ihm, denn ich kann mit ihm reden und ihn verstehen. Als er noch im Säuglingsalter war, wusste ich nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte.« Es liegt nahe, dass Frau G. die Geburt des Kindes als Angriff auf ihre eigene narzisstische Integrität erlebt hat. Erst als das Kind zu sprechen begann und ihr Mann nicht mehr da war, hat sie mütterliche Gefühle entwickelt. Diese Frau, die zunächst ihrer Mutterrolle nur teilweise und mithilfe ihres Mannes gerecht werden konnte, fand keine Erfüllung in der Mutter-Kind-Beziehung. Als ihr Mann als dritte Instanz ausfiel, scheint sie diese Beziehung überkompensiert und anschließend dank des Eingriffs der dritten Instanz in Gestalt des Therapeuten ausgeglichen zu haben.


»Papa, hörst du mich?« · 87

J. seinerseits hat unter einem problematischen holding7 seiner Mutter gelitten, das durch den Verlust des Vaters und dessen Folgen überlagert wurde. Dieser Bruch in seinem unmittelbaren Umfeld hat das Kind des seine Existenz sichernden Halts beraubt. Sein Lebenszusammenhang war zerstört. Genau zu dem Zeitpunkt, wo sich sein Ödipuskomplex voll entfaltet hatte, blieb er deshalb auf eine unterbrochene/ununterbrochene Kommunikation mit seinem toten Vater fixiert. Darüber hinaus war er der Empfänger von etwas, das seine Mutter psychisch nicht zu beherrschen in der Lage war, und das sie folglich unbewusst auf ihr Kind ablud. Mein Beitrag bestand darin, J. seinen ihm zustehenden Platz als Kind bzw. des sich noch in der Entwicklung befindlichen menschlichen Wesens zurückgegeben zu haben, auch wenn ihn noch schwere Aufgaben erwarteten, wie die Trauerarbeit um seinen Vater und seine eigene Entwicklung zu bewältigen.

7 Der von Winnicott benutzte Ausdruck holding wurde von Cléopâtre Athanassiou Popesco, der Übersetzerin des Dictionnaire explicatif des termes winnicottiens (Abram 2001) als »tenu« (im Deutschen etwa »gehalten«) wiedergegeben. Der primär dahinter stehende Gedanke ist, dass das »holding« eine Art des Tragens und Gehaltenseins meint, durch die das Kind sich konkret und psychisch gehalten fühlt.


&~R VIELE IST DIE +ATASTROPHE DER 3HOAH EINE 6ERGANGENHEIT DIE ENDG~LTIG 'E SCHICHTE GEWORDEN IST $A SCHEINBAR NICHTS MEHR AUF DAS 'ESCHEHEN HINWEIST WILL MAN ENDLICH EINEN 3CHLUSSSTRICH ZIE HEN UND ZUR 4AGESORDNUNG ~BERGEHEN $ABEI PRiGT DIE %XTREMFORM GESELLSCHAFT LICHER 'EWALT DER +RIEG WEITERHIN DAS ,E BEN 'ERADE DIE 3HOAH DEREN !USWIRKUN GEN VIRULENT BLEIBEN HAT DAS 6ERSTiNDNIS VON 'ESCHICHTE AUSGEHEBELT ยง2ADIOAKTI

VEN 2~CKSTiNDENยฆ GLEICH VERBREITET SICH IHRE DIFFUSE 3CHADWIRKUNG ~BER :EIT UND 2AUM IN 'EGENWART UND 6ERGANGENHEIT $URCH DIE 3HOAH AUSGELySTE 4RAUMATA BLEIBEN NICHT NUR IN 0SYCHE UND +yRPER DER eBERLEBENDEN PRiSENT SIE KyNNEN AUCH AN DIE NACHFOLGENDEN 'ENERATIONEN WEITERGEGEBEN WERDEN $IE !UTORIN BERICHTET VON HyCHST ER STAUNLICHEN &iLLEN IN DENEN +INDER UND %NKEL 3YMPTOME WIE !BSENCEN 3CHLAF LOSIGKEIT !TEMBESCHWERDEN 0HOBIEN $EPRESSIONEN UND :WANGSNEUROSEN ENT WICKELN UM DEN %LTERN UND 'ROย ELTERN DIE .OTWENDIGKEIT ZU SIGNALISIEREN SICH MIT IHRER VERDRiNGTEN 'ESCHICHTE AUS EINANDERZUSETZEN

9OLANDA 'AMPEL Kinder der Shoah

9OLANDA 'AMPEL ZEIGT IN IHREM ERSTMALS AUF $EUTSCH ERSCHEINENDEN "UCH ANHAND EINDR~CKLICHER &ALLBEISPIELE WIE DIE %R FAHRUNGEN DES +RIEGES UND DER 3HOAH IN DEN NiCHSTEN 'ENERATIONEN WEITER WIRKEN

9OLANDA 'AMPEL

Kinder der Shoah Die transgenerationelle Weitergabe seelischer Zerstรถrung

9OLANDA 'AMPEL $R WURDE IN "UENOS !IRES GEBOREN 3EIT !US

BRUCH DER %RSTEN )NTIFADA ARBEITET SIE IN EINER ISRAELISCH PALiSTINENSISCHEN )NITIATIVE F~R GEISTIGE 'ESUNDHEIT DURCH DIE "ERUFSTiTIGE BEIDER 3EITEN IM PSYCHOLOGISCHEN "EREICH IM :UGE DER PROFESSIONELLEN +OOPERATION MEHR 6ERSTiNDNIS F~REINANDER ENTWICKELN KONNTEN

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