Gerlinde Gehrig, Ulrich Pfarr: Handbuch psychoanalytischer Begriffe für die Kunstwissenschaft

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0SYCHOSOZIAL 6ERLAG 452 Seiten, Rückenstärke: 30 mm


Abb. 1 Eros. Terrakotta, H. 38 cm. Griechisch, ca. 150 v. Chr., Freud Museum, London


Gerlinde Gehrig, Ulrich Pfarr (Hg.)

Handbuch psychoanalytischer Begriffe f체r die Kunstwissenschaft Mit einem Geleitwort von Klaus Herding Mit Beitr채gen von Ada Borkenhagen, Joachim F. Danckwardt, Dieter Eisentraut, Ekkehard Gattig, Gerlinde Gehrig, Bettina Gockel, Ortrud Gutjahr, Eberhard Th. Haas, Insa H채rtel, Stephan Hau, Margret Iversen, Joachim K체chenhoff, Marianne Leuzinger-Bohleber, Hanne Loreck, Sebastian Leikert, Helga Lutz, Wolfgang Milch, Ulrich Pfarr, Wilfried Ruff, August Ruhs, Gerhard Schneider, Philipp Soldt, Rolf-Peter Warsitz und Inge Wittneben

Psychosozial-Verlag


Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Originalausgabe © 2009 Psychosozial-Verlag Goethestr. 29, D-35390 Gießen. Tel.: 0641/77819; Fax: 0641/77742 E-Mail: info@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Johannes Vermeer: Herr und Dame beim Wein. Öl auf Leinwand, 65 x 77 cm, ca. 1660; Henri de Toulouse Lautrec: Jane Avril. Farblithographie, 55,5 x 34,4 cm, 1899 und 2 private Bilder Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Gießen www.imaginary-art.net Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar www.majuskel.de Printed in Germany ISBN 978-3-89806-786-7


Inhalt

Zum Geleit – Klaus Herding Editorische Vorbemerkung Einleitung – Gerlinde Gehrig und Ulrich Pfarr Affekt, Farbe, Form – Joachim F. Danckwardt Aggression und Destruktion – Gerlinde Gehrig bewusst/unbewusst – Philipp Soldt Bild – Gerlinde Gehrig Blick – Sebastian Leikert Container-Contained – Gerhard Schneider Einfühlung /Empathie – Ulrich Pfarr Film und psychoanalytische Theorie – Gerhard Schneider Hysterie – Hanne Loreck Idealisierung – Wolfgang Milch Identifizierung – Ekkehard Gattig Karikatur und Comic – Ulrich Pfarr Körper – Joachim Küchenhoff Kultur – Ortrud Gutjahr Melancholie – Eberhard Th. Haas Musik – Sebastian Leikert Mythos – August Ruhs Narzissmus – Ulrich Pfarr

7 10 11 19 35 49 61 75 85 95 109 123 133 143 153 171 187 201 217 229 241 5


Inhalt

Pathographie /Pathologisierung – Bettina Gockel Perspektive – Margaret Iversen Phantasie – Gerlinde Gehrig Projektion – Ulrich Pfarr Psychose – Rolf-Peter Warsitz Religion – Wilfried Ruff Sexualität /Geschlechterverhältnis – Ada Borkenhagen Sublimierung – Insa Härtel Symbol, Symbolisierung – Inge Wittneben Traum – Stephan Hau Trauma – Marianne Leuzinger-Bohleber Übertragung – Ulrich Pfarr Das Unheimliche – Helga Lutz Voyeurismus und Fetischismus – Dieter Eisentraut Sachregister Autorenverzeichnis Abbildungsnachweis

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259 275 289 301 313 327 339 349 357 373 385 401 411 423 437 443 449


Einleitung

Zu Beginn seines Textes über Das Unheimliche merkt Sigmund Freud an: Der Psychoanalytiker verspürt nur selten den Antrieb zu ästhetischen Untersuchungen, […]. Er arbeitet mit anderen Schichten des Seelenlebens […]. Hie und da trifft es sich doch, daß er sich für ein bestimmtes Gebiet der Ästhetik interessieren muß, und dann ist dies gewöhnlich ein abseits liegendes, von der ästhetischen Fachliteratur vernachlässigtes (1919h, 255). Freud formuliert damit eine berechtigte Kritik an der philosophischen Ästhetik und der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, die sich vorwiegend mit den ›Schönen Künsten‹ beschäftigten, ›dunkle‹, dämonische und irritierende Themen hingegen aussparten. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts rückten jene »abseits« liegenden Gebiete, von welchen Freud spricht, jedoch in das Zentrum der kulturwissenschaftlichen Forschung, die nicht mehr ausschließlich dem Wahren, Guten und Schönen verpflichtet war. Diese epochale Entwicklung wäre ohne die Erkenntnisse der Psychoanalyse undenkbar, nicht zuletzt Freuds Schriften zur Kunst selbst haben dazu beigetragen. So werden z. B. seine Aufsätze Der Moses des Michelangelo (1914b) und Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910c) bis auf den heutigen Tag in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen auf das Lebhafteste diskutiert, was beweist, dass ihr Inspirationspotential noch lange nicht erschöpft ist. Doch während für Literaturwissenschaft und Philosophie die Arbeiten Freuds und seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger zum theoretischen Grundwissen gehören, das schon während des Studiums vermittelt wird, klafft hier in der Kunstwissenschaft eine schmerzliche und folgenreiche Lücke. Zwar sorgte inzwischen die breite Rezeption des Werkes Jacques Lacans auch für eine Rückbesinnung auf die Texte Freuds, doch seine Bedeutung als »Diskursivitätsbegründer« (Foucault 1969, 26) wird in weiten Teilen der Kunstgeschichte immer noch nicht ausreichend gewürdigt. Dabei 11


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zeigt sich der Einfluss seiner Gedanken in der Relevanz von Begriffen, wie Fetischismus, Hysterie, Trauma, das Unheimliche, Voyeurismus usw., für den Diskurs der Cultural Studies seit den 1990er-Jahren mehr als deutlich. Aus diesen Gründen ist es ein besonderes Anliegen unserer Publikation, dem kunstwissenschaftlichen Publikum aktuelle Erkenntnisse aus der psychoanalytischen Forschung in systematischer und konzentrierter Form zugänglich zu machen und so neue Forschungsperspektiven zu erschließen. Schon Freud selbst war sich der Bedeutung seiner Psychoanalyse als Kulturtheorie bewusst und skizzierte auch ihre Relevanz für kunsthistorische Fragestellungen (1913j). Dieser von Otto Rank und Hans Sachs (1913) ausgebauten Forschungsperspektive waren auch die Schriften von Ernst Kris und Aby Warburg verpflichtet. Nicht zuletzt deren Neuentdeckung (s. Herding 1994) führte 1995 zur Gründung des Graduiertenkollegs Psychische Energien bildender Kunst am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität Frankfurt a. M. durch Klaus Herding, dem wir an dieser Stelle für seine langjährige Unterstützung danken möchten. Die in der Anfangszeit des Graduiertenkollegs durchgeführte intensive Re-Lektüre der Arbeiten von Kris und Warburg, aber auch zentraler Texte Freuds in Arbeitsgruppen und Seminaren bildete den Kontext, in dem sich das Fehlen eines Kompendiums psychoanalytischer Grundbegriffe zeigte, das die Arbeit mit psychoanalytischen Texten für Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker erleichtert und für sie überhaupt erst deren adäquates Verständnis ermöglicht. Frühere Lexika, wie das Vokabular der Psychoanalyse von Laplanche und Pontalis, erzeugten eine zu hohe Hemmschwelle für ein fachfremdes Publikum. Die Idee eines entsprechenden Nachschlagewerkes wurde seinerzeit von Falk Berger und Dieter Eisentraut eingebracht. Personelle Veränderungen und die Verlagerung der Forschungsschwerpunkte innerhalb der Einrichtung verhinderten jedoch eine Realisierung. Im Mai 2004 haben die Herausgeber einen interdisziplinären Workshop in Frankfurt a. M. veranstaltet, der erneut zeigte, wie groß der Bedarf an einem Handbuch ist, welches psychoanalytische Begrifflichkeiten für die Kunstwissenschaft klärt. Im Frühjahr 2005 wurde dann das Projekt begonnen, welches zu vorliegender Publikation führte. Als wichtiges Forum für unser Anliegen erwiesen sich in der Folgezeit die Heidelberger Tagungen zu Psychoanalyse und Kunst, die von Gerhard Schneider und Raimund Rumpeltes veranstaltet wurden, welchen wir hiermit für ihre wertvolle Unterstützung und vielfältigen Anregungen danken möchten. Es hat sich für uns als glückliche Fügung erwiesen, dass wir profilierte Autorinnen und Autoren aus diesem Kreise gewinnen konnten. Als Bestätigung und Ermutigung für unsere Bemühungen verstehen wir ebenfalls, dass in den letzten Jahren auch andernorts in der Republik Foren entstanden sind, die psychoanalytische 12


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und kulturwissenschaftliche Fragestellungen verknüpfen. Genannt seien an dieser Stelle nur die Freiburger Literaturpsychologischen Gespräche und die gemeinsamen Tagungen des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt am Main und des Fachbereichs Psychologie der Universität Kassel. Tiefgreifende Veränderungen des Forschungsfeldes lassen in der Kunstgeschichte eine Öffnung zur Psychoanalyse hin wünschenswert erscheinen. Mit den Entgrenzungen der Kunst und der Entstehung industrieller Bildmedien hat diese Disziplin im 20. Jahrhundert eine dramatische Erweiterung ihres Gegenstands erlebt und vielfältig konzeptualisiert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird Kunstgeschichte nun zunehmend als Teildisziplin der Kulturwissenschaft oder als Hilfswissenschaft innerhalb des Projektes einer fachübergreifenden Bildwissenschaft begriffen. Eine damit notwendige Methodenreflexion könnte von der Einbeziehung psychoanalytischen Wissens entscheidend profitieren. Zur gleichen Zeit ist der zentrale Erkenntnisgegenstand der Psychoanalyse, das Unbewusste, zu neuer Geltung gelangt. Dies verdankt sich nicht nur den empirischen Belegen der neurobiologischen Forschung, die gerade durch die Autorität der Bilder in der öffentlichen Wahrnehmung zur Metawissenschaft aufgestiegen ist. Denn ebenso weist die aktuelle Emotionsforschung – zu der Psychoanalyse, experimentelle Psychologie, Soziologie und Hirnforschung gleichermaßen beitragen – zahlreiche Teilsysteme und Stufen des emotionalen Geschehens nach, die dem Bewusstsein entzogen sind (vgl. Hacker 2007). Wenn diese Prozesse über das dynamische Unbewusste im Sinne Freuds noch hinausreichen, erhält der psychoanalytische Zugang zur menschlichen Subjektivität zusätzliche Relevanz. Im Jubiläumsjahr 2006 hat die Psychoanalyse ihren Schöpfer in umfassender Weise gewürdigt. Neues Interesse gilt nicht nur dem Weg zur psychoanalytischen Behandlungstechnik, den Fallgeschichten und den Organisationsformen. Anlässlich seines 150sten Geburtstages wurde Freud sowohl in Fachpublikationen, als auch in populärwissenschaftlichen Schriften und in Fernsehbeiträgen in vielfältigen familiären, sozialen und kulturellen Bezügen betrachtet (vgl. Lütkehaus 2006). Als Reisender und Antiken-Sammler hat er Forschungen auf sich gezogen, die seine Schöpfung vertieft in kulturwissenschaftliche Zusammenhänge stellen. Bevor die Analysen auf der Couch das ›schmutzige‹ Material unbewusster Phantasien zu Tage förderten, waren die Patientinnen und Patienten in Freuds Arbeitszimmer schon mit den »alten und dreckigen Göttern« seiner umfänglichen und sinnlich sehr präsenten Antikensammlung konfrontiert (Marinelli 1998; s. Abb. 1). Für das künstlerische, kreative Moment in Freuds Arbeitsweise haben diese Objekte zweifellos eine Rolle gespielt. An der Traumdeutung (1900a) und an 13


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Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905c) lässt sich verdeutlichen, in welchem Ausmaß Freud aus den Reservoiren humanistischer Bildung und seiner eigenen jüdischen Herkunft schöpfte (vgl. Reik 1929; Kofman 1986). Manche Vorstellungen von seelischen Vorgängen hat er an ästhetischen Modellen entwickelt: Auf diese Weise gleicht die Traumarbeit dem künstlerischen Schaffensvorgang, insbesondere der Bildung von Metaphern und Allegorien. In der Pariser Klinik Charcots war Freud dem Ausdruckspotential der Hysterie begegnet, an das in seiner Wiener Wohnung die lithographische Darstellung eines Experiments von Charcot und der ›hysterische Bogen‹ in einem Druck nach Füsslis Nachtmahr erinnerten (s. Spector 1972 mit Abb. 2–3). Biographisch verbindet sich die Formulierung bestimmter Konzepte und Metaphern mit spezifischen Bildungs- und Kunsterlebnissen Freuds. So regte ihn die oberirdische Präsenz antiker Bauten in der Stadt Rom zu der zentralen Archäologie-Metapher an – das Aufdecken des Unbewussten entspricht demzufolge der Freilegung fortbestehender Zeugnisse der Vergangenheit (Kuspit 1989; Fichtner 2005, 95) – und seine intensive, jahrelange Auseinandersetzung mit der Moses-Statue des Michelangelo führte letztlich zu Modifikationen seiner Theorie des Ich (Hevers 2000, 298f.). Heute ist die zeitweilige, in Deutschland durch den Exodus während der Nazi-Diktatur besonders nachhaltige Entfremdung der Psychoanalyse von der Kunstwissenschaft an einem Wendepunkt angelangt. Dafür sprechen das hohe Reflexionsniveau der jüngsten Publikationen und der lebendige Diskurs der Filmanalyse ebenso wie der neue Zweig einer Analyse der Stimme und der Musik, besonders aber die Beiträge von Kunst- und Kulturwissenschaftlern, die sich ernsthaft mit der Psychoanalyse auseinandersetzen, genannt seien nur: Elisabeth Bronfen, Georges Didi-Huberman, Dario Gamboni, Klaus Herding und Louis Marin. Freuds eigene Beiträge zu Kunst und Literatur, deren kontroverse und trotz mancher Problematik immer wieder fruchtbare Rezeption bis heute anhält, fanden bei Analytikern wie u. a. Karl Abraham und Ernst Kris eine unmittelbare Nachfolge. Deren oft in der Zeitschrift Imago publizierte Arbeiten sind jedoch zumeist weit weniger beachtet worden. Attraktiver schien in der Nachkriegszeit die esoterische Wendung C. G. Jungs, dessen »Archetypen« eine universale, anthropologische Symbolik versprachen. Ernst Gombrich wiederum, der seiner Zusammenarbeit mit Kris viel verdankte, wandte sich in seinen einflussreichen Schriften zur Kunstpsychologie vor allem der Wahrnehmungspsychologie zu, die der Psychoanalyse über die Gestalttheorie historisch verbunden ist (s. Waldvogel 1992). Als sich angelsächsische Kunsthistoriker wie Meyer Schapiro oder in jüngerer Zeit T. J. Clark zur expliziten Anwendung Freud’scher Methoden vorwagten, konnte dies im Kontext eines heute völlig obsoleten Freud-Bashings nur erbitterte 14


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›Widerlegungen‹ hervorrufen. Mit ideologischen Implikationen emphatisch rezipiert wurde statt dessen seit den 1970er-Jahren vor allem die Re-Lektüre Freuds durch Lacan, der sich vieler optischer Metaphern bediente, allerdings mit dem »Spiegelstadium« ein nur scheinbar griffiges Konzept geliefert hatte. Hier zu nennen ist vor allem die Filmtheorie und deren feministische Neuformulierung, während in der Kunstgeschichte sehr differenzierte Annäherungen an Lacan vollzogen wurden (Mieke Bal, Hubert Damisch, Katja Silverman, ferner Victor Stoichita). Dennoch muss der kulturelle Einfluss Freuds und seiner Konzepte des Traums, des ödipalen Konflikts, der infantilen Sexualität und der menschlichen Triebnatur als wesentlich weitreichender und nachhaltiger gelten. Vom Symbolismus über Dada und Surrealismus bis in die jüngste Zeit beschäftigten sich Künstlerinnen und Künstler, Filmemacher und Schriftsteller mit Freud – oft in kritischer Weise, aber nicht wenige unterzogen sich selbst einer Analyse. Viele künstlerische Arbeiten und zahllose Katalogtexte und Essays zur zeitgenössischen Kunst referieren auf einzelne Freud’sche Konzepte und Aufsätze, etwa auf Studien über Hysterie (s. Louise Bourgeois) Trauer und Melancholie (s. Rodney Graham) oder Das Unheimliche (s. Mike Kelley), um nur wenige zu erwähnen. Damit geht eine Wanderung Freud’scher und Lacan’scher Begriffe einher, die durch den Eintritt in die semantischen Systeme diverser Theorie-Diskurse und Denktraditionen einem produktiven Bedeutungswandel unterliegen. Dies provoziert jedoch mitunter folgenreiche Missverständnisse. Gerät ein Begriff auf diese Weise zum Reizwort, kann er den weiteren Austausch zwischen den Disziplinen blockieren, denn gerade die Metaphorik des Sprechens über das Unbewusste ist für Kunstwissenschaftler nicht immer leicht nachzuvollziehen. Somit setzt ein psychoanalytisch informiertes Sprechen über Kunst für alle Beteiligten eine konzise Klärung der Begriffe voraus. Ursprünglich oft der Alltagssprache entnommen, haben sie bereits mit der Entwicklung verschiedener psychoanalytischer Schulen wichtige Sinnverschiebungen erfahren. Der Genese solcher Begriffe und ihrer aktuellen Bedeutungen wird daher in den Artikeln dieses Handbuchs besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Selbstverständlich setzen Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Provenienz hier auch verschiedene Akzente. Auf diese Weise entsteht ein spannendes und abwechslungsreiches Panorama der aktuellen Forschungslandschaft. Es zeigt, dass es im Kontext wissenschaftlicher Erkenntnissuche nicht darum gehen kann, vereinfachende und verbindliche Konzepte festzulegen, wie es z. B. die verstärkten Rufe nach einem transdiziplinären Bildkonzept für diesen Forschungsgegenstand befürchten lassen, sondern darum, Erkenntnisprozesse voranzutreiben, zu differenzieren, auch zu verwerfen, um sie dann wieder neu zu strukturieren. Dass auch der psychoanalytischen Kunstinterpretation Kämpfe um die Deutungshoheit nicht 15


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fremd sind, geben jüngst wieder die Ausführungen Reimut Reiches im FreudHandbuch zu erkennen. Ob das komplexe Forschungsgebiet künstlerischer Produktion durch ein ›Fünf-Punkte-Programm‹ endgültig erschlossen werden kann, steht zu bezweifeln. Zumal auf diese Weise wichtige Theorien, wie etwa jene Alfred Lorenzers, diskreditiert und ad acta gelegt werden sollen (Reiche 2006). Das vorliegende Handbuch will seinen Benutzern keine derartigen ›finalen‹ Lösungen suggerieren. Unsere Zielsetzung ist es vielmehr, eine zugleich benutzerfreundliche und anspruchsvolle Einführung in einen Diskurs zu geben, der in der letzten Zeit zunehmend an Aktualität gewonnen hat und gerade der Kunstwissenschaft, die sich seit einigen Jahren in einem dramatischen Umbruch befindet, neue Forschungsperspektiven erschließen kann. Unser besonderer Dank gilt allen Autorinnen und Autoren, denn sie haben durch ihre engagierten Beiträge, die freundliche Vermittlung weiterer Kontakte und ihr anhaltendes Interesse wesentlich zur Entstehung dieses Handbuchs beigetragen. Ebenso danken wir dem Psychosozial-Verlag für die gute Zusammenarbeit und das große Engagement, welches die Drucklegung dieses Buches erst ermöglicht hat. Die Herausgeber

Literatur G. Fichtner 2005: Übertragung. Zur Archäologie eines Freudschen Begriffs. Berliner Karl-Abraham-Vorlesung 2005. In: Jahrbuch der Psychoanalyse, 53, 2006, S. 93–116. M. Foucault 1969: Was ist ein Autor?. In: ders.: Schriften zur Literatur. München 1974, S. 7–31. S. Freud 1900a: Die Traumdeutung. In: GW Bd. 2/3. S. Freud 1905c: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. In: GW Bd. 6. S. Freud 1910c: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. In: GW Bd. 8, S. 127–211. S. Freud 1913j: Das Interesse an der Psychoanalyse. In: GW Bd. 8, S. 398–420. S. Freud 1914b: Der Moses des Michelangelo. In: GW Bd. 10, S. 127–201. S. Freud 1919h: Das Unheimliche. In: GW Bd. 12, S. 229–268. H. Hacker 2007: Neuronale Rezeption emotionaler Inhalte darstellender Kunst. In: K. Herding/ A. Krause Wahl (Hg.): Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Emotionen in Nahsicht. Königstein/Ts., S. 53–64. K. Herding 1994: Panofsky und das Problem der Psycho-Ikonologie. In: B. Reudenbach (Hg.): Erwin Panofsky. Beiträge des Symposiums Hamburg 1992. Hamburg, S. 145–170. E. Hevers 2000: Vom Traumtheater zum Gruselkabinett. Schicksale des »Bildes« in der Theorieentwicklung Sigmund Freuds. In: H. Deserno/S. Hau/W. Leuschner (Hg.): TraumExpeditionen. Beiträge der 5. Internationalen Traumtagung des Sigmund Freud-Instituts, Frankfurt a. M. 2000. Tübingen 2002, S. 289–308. S. Kofman 1986: Die lachenden Dritten. Freud und der Witz. Übers. M. Buchgeister und H.-W. Schmidt, München/Wien 1990.

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Einleitung D. Kuspit 1989: A Mighty Metaphor: The Analogy of Archaeology and Psychoanalysis. In: L. Gamwell/R. Wells (Hg.): Sigmund Freud and Art. His Personal Collection of Antiquities. London, S. 133–151. L. Lütkehaus 2006: Der Analytiker und sein Jahrhundert, Neuerscheinungen aus Anlass des 150. Geburtstages von Sigmund Freud. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 91, 20. 4. 2006, S. 27. L. Marinelli (Hg.): »Meine alten und dreckigen Götter«. Aus Sigmund Freuds Sammlung. Frankfurt a. M. 1998. O. Rank/H. Sachs 1913: Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften. Amsterdam 1965. R. Reiche 2006: Kunst und Kunsttheorie. In: H. M. Lohmann/J. Pfeiffer (Hg.): Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, S. 307–318. T. Reik 1929: Zur Psychoanalyse des jüdischen Witzes. In: Imago, 15, 1929, S. 63–88. J. Spector 1972: Freud und die Ästhetik. Psychoanalyse, Literatur und Kunst. Aus dem Amerikanischen v. E. und K.-E. Felten. München 1973. B. Waldvogel 1992: Psychoanalyse und Gestaltpsychologie. Stuttgart. In: Jahrbuch der Psychoanalyse, Beiheft 18.

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Melancholie Eberhard Th. Haas

Der Begriff der Melancholie findet sich in Griechenland im 5. Jahrhundert vor Christus. Es ist zugleich die Epoche der Tragiker um Euripides und Sophokles, und damit besteht bereits eine Verbindung zur Psychoanalyse. Es ist die Zeit des Zweifels an der Vertrauenswürdigkeit der antiken Götter, und insofern hat der Satz von der Geburt der europäischen Kultur aus dem Geist der Melancholie seine Berechtigung. Auch steht die Melancholie für eine bestimmte Stimmung oder gar ein Lebensgefühl, das nicht selten eine Verklärung erfährt. Zweifelsfrei besteht eine Beziehung zwischen schöpferischer Leistung und seelischer Krise, der die Formel vom »Genie und Wahnsinn« zu entsprechen versucht. Abgegrenzt davon sieht man die unproduktive Depression. Doch wie immer sind die Übergänge fließend.

Trauer und melancholische Arbeit im Vergleich In der Psychoanalyse sind Trauer und Melancholie Arbeitsbegriffe des Seelischen. Es sei verlockend, schreibt Freud in Trauer und Melancholie (1917e, 443), »von der Mutmaßung über die Arbeit der Trauer den Weg zu einer Darstellung der melancholischen Arbeit zu suchen«. In tausendfältiger Verknüpfung ist das Objekt an das Ich gebunden, sodass nur in einzelnen Schritten und im Detail die Bindungslösung möglich ist. Das ist ein langwieriger Prozess, der sich über Jahre erstreckt, sich anfallsartig vollzieht, so als müsste jede Verbindungsfaser einzeln durchtrennt werden: Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen (ebd., 430). Aber was heißt Libidoablösung? Sie hat durchaus etwas Gewaltsames, das nicht recht zu der pietätvollen 201


Eberhard Th. Haas

Aura passt, die alles, was mit Sterben, Tod und Trauer zu tun hat, umgibt. Dieses Ärgernis hat bis heute hemmend auf das Verständnis der Dynamik der Trauer gewirkt. Zur Lösungsarbeit der Trauer wie zum Lösungsversuch der melancholischen Arbeit gehören der Kampf und die Täterschaft. Das Spanische »duelo« bezeichnet sowohl Kampf als auch Trauer. In Freuds anstößigem Vergleich in Bezug auf die Arbeit der Trauer einerseits und die der Melancholie andererseits heißt es: Wie die Trauer das Ich dazu bewegt, auf das Objekt zu verzichten, indem es das Objekt für tot erklärt und dem Ich die Prämie des am Leben Bleibens bietet, so lockert auch jeder einzelne Ambivalenzkampf die Fixierung der Libido an das Objekt, indem er dieses entwertet, herabsetzt, gleichsam auch erschlägt (ebd., 445). Da ist von Herabwürdigen, Beschimpfen, Wüten und Mordimpulsen die Rede. Auch das trauernde Ich ist aktiv. Es lässt sich nicht etwas erklären, sondern erklärt das Objekt für tot. Die melancholische Arbeit hat es ungleich schwerer. Sie findet sich, in ihrem Versuch die Bindung zu lösen, in Ambivalenzkämpfe verstrickt. Ja vom Erschlagen des Objekts ist in diesem kühnen Gedankengang die Rede.

Albrecht Dürers »Melencolia I«

Abb. 1 Albrecht, Dürer: Melencolia I. Kupferstich, 23,9 x 16,8cm. 1514, Kupferstichkabinett, Berlin 202

1514 sticht der 43-jährige Albrecht Dürer das Blatt Melencolia I (Abb. 1). Wer von der Psychoanalyse der Trauer und Melancholie herkommend


Melancholie

einen Blick auf diesen Kupferstich wirft, wird sich vielleicht wundern, wie tiefreichend Dürers Verständnis der Dynamik dieser seelischen Prozesse ist. Deswegen kann man dieses Blatt als so etwas wie ein Bindeglied zwischen Psychoanalyse und Kunstwissenschaft auffassen. Dürers Kupferstich wirkt wie ein Traumbild, eine Vision oder gar ein Delirium. Da ist eine beklemmende und erdrückende Fülle, die sich zum zwielichtigen Hintergrund hin kaum öffnet. Ein vampirartiges Fledermauswesen flattert über einer Wasserfläche. Auf seiner Bauchseite liest man die Inschrift Melencolia I. Der sitzende Engel im Vordergrund ist von einer derartigen Schwere, dass er sich nie mehr wird emporschwingen können. Dazwischen hockt auf einem Mühlstein ein grämliches Engelchen, eifrig eine Tafel beschriftend. Und um den Eindruck der Schwere noch zu steigern, gibt es einen gewaltigen unregelmäßig abgeschrägten Steinblock, der aber, so scheint es, im nächsten Augenblick stürzen kann. Wohin? Vielleicht auf den abgemagerten schlafenden Hund zu Füßen des Engelkindes und seiner Mutter?

Hatte Dürer eine Melancholie? Diese Frage ist von Belang, weil die Melencolia I als traumartig entworfenes Selbstbild aufgefasst werden kann, und Dürer sie selbst bejaht hat. In der Kindheit sehen wir eine überlastete Mutter, die jährlich ein Kind gebar. Nach dem dritten Kind, Albrecht, folgte wahrscheinlich schon weniger als acht Monate später ein weiterer Bruder. Das Leben war entbehrungsreich, doch das begabte Kind Albrecht wurde der Liebling des Vaters, der den 15-jährigen in die Lehre zu Michael Wohlgemut gab, der als bester Maler in Nürnberg galt. Zwar lernte er gut, war aber den Quälereien der Knechte ausgesetzt. Väterliche Freunde wie der Humanist Willibald Pirckheimer wurden für Dürer bedeutsam. Diese Freundschaften waren weniger kontaminiert von bedrohlichen und verfolgenden Elementen aus der frühesten Kindheit. Die Ehe mit seiner jungen Frau Agnes, in die er sich auf Geheiß des Vaters schickte, blieb kinderlos. Schon drei Monate nach der Heirat nahm er eine Pestepidemie zum Anlass, um 1494 seine erste Italienreise anzutreten. Sein wichtigstes Verbindungsorgan zur Welt war das Auge. Es hatte, ebenso wie die den Silberstift, die Feder und den Pinsel führende Hand, vikariierende Funktionen zu übernehmen, für die Gesamtheit der leiblich-seelischen Entwicklung einzustehen. In der Malerei Dürers gab es eine Art autoerotische Selbstvergewisserung. Den zu frühen Verzicht auf den freudig widerspiegelnden Blick der Mutter ersetzte das Selbstbildnis, das vor dem Spiegel entstand. In vielen dieser Bilder sehen wir Niederschläge der Melancholie 203


Eberhard Th. Haas

Abb. 2 Albrecht Dürer: Selbstbildnis mit aufgestütztem Kopf. Federzeichnung, 20,4 x 20,8cm. Um 1492–93, Graphische Sammlung der Universitätsbibliothek, Erlangen

Abb. 3 Albrecht Dürer: Nackter Jüngling mit Henker. Feder, 25,4 x 16,5cm. 1493, British Museum, London

und Versuche der Selbstheilung. Man darf sagen, dass Dürer der Malerei bedurfte, um zu überleben. Sie war so etwas wie seine kohäsionsstiftende Sucht oder sein Antidepressivum, nur dass sie ihm zugleich Ruhm, Reichtum und Erkenntnis einbrachte. Nicht nur in Dürers Christusdarstellungen überwiegen Leiden und Martyrium. In dem 1492–93 entstandenen Selbstbildnis mit aufgestütztem Kopf (Abb. 2) hat man Schwermut und Kopfschmerz diagnostiziert (Anzelewsky 1988, 91). Eine kaum zu übersehende perverse oder sadomasochistische Konnotation hat die ebenfalls 1493 entstandene Zeichnung Nackter Jüngling mit Henker (Abb. 3). Hier ist schon etwas vorweggenommen, was erst die Psychologie der Gegenwart gedanklich durchdrungen hat, die erotische Bindung des Opfers an den Täter (Eberlein 2003, 60). Die anthropologische Selbstexploration erfährt mit der Renaissance einen ungeheuren Aufschwung. Dafür stehen Leonardo da Vinci und in der Literatur William Shakespeare mit ihren tiefen und verwegenen Einblicken in die Conditio humana. 204


Melancholie

Die narzisstischen, exotischen und zur Selbstdivinisierung neigenden Züge des jungen Mannes steigern sich in Dürers Selbstbildnis von 1500 (Abb. 4) zu einer »pfauenhaften Schönheit« (ebd., 58). Seinem Äußeren gab er einen antikisierenden Zug, aber auch etwas von dem Bild, das man sich in seiner Zeit von Christus machte. Bei den Freunden erregte sein exotisches Äußeres Heiterkeit, wenn nicht Spott. Doch Dürer ist nie auf ein Bild festzulegen. Seine Selbstbildnisse sind schöpferische Objektivierungen des eigenen Selbst und der eigenen pluripotenten Möglichkeiten. Hier gilt was er 1512 sagte: denn ein guter Maler ist innerlich voller Figur, […] und wenn es möglich wäre, daß er ewig lebte, so hätte er doch stets etwas Neues hervorzubringen (zit. n. Anzelewsky 1988, 161).

Tod der Eltern – Angst um Luther In seinem Gedenkbuch findet Dürer bewegende Worte im Zusammenhang mit dem Tod der Eltern, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Der Vater starb am 20. September 1502 (vgl. Rupprich 1956, 36). Später nahm er die mittellose Mutter in seinen Haushalt auf. Dort lebte sie noch neun Jahre, bis sie am 26. April 1913 »töttlich krank ward«. Erst ein Jahr später, am 16. Mai 1514, starb »Barbara Dürerin« zwei Stunden vor Mitternacht, versehen mit den christlichen Sakramenten. Sie schien ihm in ihrem Tod viel

Abb. 4 Albrecht Dürer: Selbstbildnis. Öl auf Holz, 67 x 49 cm. 1500, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München 205


Eberhard Th. Haas

lieblicher auszusehen, als noch zu Lebzeiten: Dyse mein frume muter hat 18 kint tragen vnd erczogen, hat oft dy pestilentz gehabt, vill andrer schwerer mercklicher kranckheit, hat grosse armut gelitten, verspottung, verachtung, hönische wort, schrecken vnd grosse widerwertigkeit, noch ist sie ny rochselig (rachsüchtig) gewest (ebd., 37). Dürers Fähigkeit zur Objektliebe ist eine andere Seite seiner Person. Sein Bild widersetzt sich jeder Einseitigkeit und seine Religiosität ist eine andere, für das Werk wie für das psychische Equilibrium unbestreitbare Größe. Auf seiner Reise durch die Niederlande erfuhr er 1521 Abb. 5 Albrecht Dürer: Maria mit wahrscheinlich von Pirckheimer, der in Augsburg für die Reformation dem Wickelkind. Kupferstich, 14,4 eintrat, vom Überfall auf Luther. Er x 9,7cm. 1520, Kupferstichkabinett, wusste nicht, dass Kurfürst Friedrich Berlin der Weise den Reformator in Schutzhaft genommen hatte, um ihn auf die Wartburg zu bringen. So ging er von dessen Tod aus und schrieb am 17. Mai 1521, dem Folgetag des Anniversars: »O Gott, ist Luther todt, wer wird uns hinfürt das heilig evangelium so clar fürtragen« (ebd., 171). Und schon ein Jahr zuvor hatte er an Spalatin geschrieben, er wünsche Martin Luther in Kupfer zu stechen, »zw einer langen gedechtnus des kristlichen mans, der mir aws grossen engsten gehollfen hat« (ebd., 86). Zu dieser Zeit entstand der Kupferstich Maria mit dem Wickelkind, der an eine Pietà erinnert (Abb. 5). Es ist ein schlafendes Kind, das mumienartig eingewickelt ist und den toten Christus bedeutet. Dieses Sinnbild steht für den Zustand der Kirche in dieser Zeit. Die durch das Ablassunwesen geschürten Höllenängste hatten selbst so etwas wie eine depressive Massenpsychose erzeugt. Das schloss nicht aus, dass Dürer sich später wieder von bestimmten Fehlentwicklungen der Reformation, insbesondere von den Bilderstürmern um Karlstadt, distanzierte.

206


Das Unheimliche Helga Lutz

1. Ausgangslage Mit der Frage nach dem Zusammenhang von begrifflich-theoretischen Konzepten und künstlerischer Praxis bewegt man sich in einem von je her problematischen Feld: In welcher Weise können (sollen? wollen?) künstlerische Arbeiten überhaupt ein bestimmtes Konzept inkarnieren, exemplifizieren, veranschaulichen? Was genau bedeutet es, dass künstlerische Arbeiten nur vor dem Hintergrund eines bestimmten ästhetischen Konzepts lesbar sind? Und nicht zuletzt, die gemeinhin wenig beachtete Frage: Wie wirkt die künstlerische Auseinandersetzung auf das Verständnis und den Kontur theoretischer Begriffe zurück?

2. Freud und die Begründung des Unheimlichen Die Literatur der Schauerromantik hat das Phänomen des Unheimlichen für sich entdeckt und seine Wirkungsweisen facettenreich und subtil erkundet. Eine Theorie des Unheimlichen hat sie nicht hervorgebracht. Als Sigmund Freud, fast ein Jahrhundert später, seinen Aufsatz Das Unheimliche (Freud 1919h) veröffentlicht, gibt es keine ästhetisch-philosophische Diskussion zum Thema. Das Unheimliche als theoretisches Phänomen musste zu diesem Zeitpunkt von Freud – ganz im Gegensatz zu den tradierten Begriffen des Erhabenen oder Grotesken – erst umrissen und geprägt werden. Freud setzt an, dies zu tun: Kein Zweifel, daß es zum Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden gehört, so lautet die erste Annäherung, aber, man möchte wissen, was dieser gemeinsame Kern ist, der etwa gestattet, innerhalb des Ängstlichen ein »Unheimliches« zu unterscheiden (ebd., 229f.). 411


Helga Lutz

Bereits mit diesem ersten Satz nimmt Freud eine deutliche, ja fast herablassende Abgrenzung vom Bereich der Ästhetik vor. Er schreibt: Der Psychoanalytiker verspürt nur selten den Antrieb zu ästhetischen Untersuchungen, auch dann nicht, wenn man die Ästhetik nicht auf die Lehre vom Schönen einengt, sondern sie als Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens beschreibt. Er arbeitet in anderen Schichten des Seelenlebens und hat mit den zielgehemmten, gedämpften […] Gefühlsregungen, die zumeist der Stoff der Ästhetik sind, wenig zu tun. Hie und da trifft es sich doch, daß er sich für ein bestimmtes Gebiet der Ästhetik interessieren muß […] (ebd.). Muss er sich tatsächlich interessieren? Zweifelsohne, denn es geht nicht zuletzt auch darum, eine noch wenig determinierte Kategorie für die eigene Theoriebildung und die sich entwickelnde Wissenschaft der Psychoanalyse nutzbar zu machen. Dass Freud sich von Seiten der ästhetischen Untersuchungen kaum Erkenntnisgewinn erhofft, muss nicht erwähnt werden. Seine eigene Beweisführung, die er an einer Mischung aus etymologischen, anekdotischen und literarischen Beispielen vornimmt, erweist sich jedoch als unerwartet schwierig, entpuppt sich als Hydra, der Freud auf jeder Seite neu den Kopf abzuschlagen sich gezwungen sieht. Ist der mäandernde Verlauf und das Winden und Wenden der Argumentation tatsächlich, wie Hélène Cixous vermutet als »theoretischer Roman« (Cixous 1976, 525) des Unheimlichen zu verstehen, als eine Art bewusst inszenierte Exemplifikation? Sie schreibt: Freud’s text may strike us to be less a discourse than a strange theoretical novel. Nothing turns out less reassuring for the reader than this niggling, cautious, yet wily and interminable pursuit (of »something« – be it a domain, an emotional movement, a concept, impossible to determine yet variable in its form, intensity, quality and content) (ebd.). Die Frage, was Freud uns vorgelegt hat, erscheint berechtigt. Für den Leser bleibt bis zuletzt unklar, wie er sich diesem Steinbruch disparatester Beweis- und Bruchstücke gegenüber verhalten soll. Bereits hinsichtlich der methodischen Herangehensweise differieren die drei Textteile erheblich. In dem einleitenden, etymologischen Teil der Untersuchung begegnen wir Freud in der Rolle des sorgfältigen Archäologen, der die Bedeutungsablagerungen des Wortes unheimlich in verschiedenen Sprachen und Zeiten Schicht für Schicht abträgt, bis er schließlich auf Schellings Definition »Unheimlich nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen … bleiben sollte und hervorgetreten ist« (Freud 1919h, 235), stößt. Mittels dieser trouvaille nun will Freud im zweiten Teil des Textes zur »Musterung« der unheimlichen »Personen und Dinge, Eindrücke, Vorgänge und Situationen« übergehen (ebd., 237). Der tiefere Grund dafür, dass der Definition Schellings diese Schlüsselfunktion zukommt, erschließt sich dem Leser nicht unmittelbar. 412


Das Unheimliche

Sie wird erst deutlich, wenn man sich den Stellenwert der Untersuchung innerhalb des gesamten Theoriegebäudes von Freud vor Augen führt. Hal Foster schreibt: Freud only completed The Uncanny in May 1919, a month or two after he drafted Beyond the Pleasure Principle; it was this text that provided the catalytic concept for this essay. There exists, Freud now argued, and instinctual compulsion to repeat, to return to a prior state, »a principle powerful enough to overrule the pleasure principle«; and it is this compulsion that renders certain phenomena »demonic«: whatever reminds us of this inner repetition-compulsion is perceived as uncanny (Foster 1993, 9). Mit dem Wissen darum, dass der Text in den Horizont der etwa zeitgleich vorgenommenen Untersuchungen zu Todestrieb und Wiederholungszwang gehört, wird auch der kurze Einschub verständlich, der recht unvermittelt im zweiten Teilabschnitt auftaucht und in dem Freud den »wesentlichen Inhalt dieser kleinen Untersuchung« (Freud 1919h, 254) zusammenfasst: Es scheint, daß wir alle in unserer individuellen Entwicklung eine diesem Animismus der Primitiven entsprechende Phase durchgemacht haben, daß sie bei keinem von uns abgelaufen ist, ohne noch äußerungsfähige Reste und Spuren zu hinterlassen, und daß alles, was uns heute als »unheimlich« erscheint, die Bedingung erfüllt, daß es an diese Reste animistischer Seelentätigkeit rührt und sie zur Äußerung anregt. […] dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist (ebd., 253f.). Den optimistisch vorgebrachten Anspruch jedoch, dass es in der Folge nur noch darum gehe, die »Einsicht […] an der Erklärung einiger anderer Fälle zu erproben« (ebd., 254), vermögen die folgenden Textpassagen nicht einzulösen. Samuel Weber hat den Konflikt mit den treffenden Worten beschrieben: Freud hat die Vermittlung zwischen seiner allgemeinen These, das Unheimliche sei die Wiederkehr des Verdrängten oder des Überwundenen und den stofflichen Momenten nicht hinreichend geleistet. […] Die Beziehung der formalen, stofflichen und kausalen Momente bleibt also hier im Dunklen (Weber 1981, 127). Es mangelt den Beispielen nicht an Evidenz, allein erklärt bekommt man den Vorgang nicht weiter. Wenn, wie Freud sagt, alles was uns heute unheimlich anmutet an »Reste animistischer Seelentätigkeit rührt«, so bleibt die Frage ungelöst, wie dieser Prozess zu denken ist, und warum die Wiederkehr im einen Fall angeregt wird, im anderen nicht. Der Zusammenhang von Verdrängung, an dieses Verdrängte rühren, und Äußerung – also das Entstehen eines Eindrucks von Unheimlichkeit auf der Bühne des Bewusstseins – bleiben bis zuletzt rätselhaft. Freud ist sich dessen bewusst, und so fällt die Bilanz, die er im dritten Teil 413


Helga Lutz

zieht, auch recht vorsichtig aus. Mit der Untersuchung der Motive, so lautet seine resümierende Einschätzung, »scheint das Rätsel des Unheimlichen nicht gelöst.« (Freud 1919h, 259) Nicht, dass er seine zu Grunde gelegte These, dass das Unheimliche das »Heimliche-Heimische ist, das eine Verdrängung erfahren hat, und aus ihr wiedergekehrt ist«, insgesamt in Frage gestellt sieht. Aber er gesteht ein, dass sich seine zentrale These nicht als allgemein gültig erweist: Unser Satz verträgt offenbar keine Umkehrung. Nicht alles, was an verdrängte Wunschregungen und überwundene Denkweisen der individuellen Vorzeit und der Völkerurzeit mahnt, ist darum auch unheimlich. Auch wollen wir es nicht verschweigen, daß sich zu fast jedem Beispiel, welches unseren Satz erweisen sollte, ein analoges finden läßt, das ihm widerspricht (ebd.).

3. Rhetorische Täuschungsmanöver An dieser Stelle nimmt der Text eine überraschende und durchaus eigentümliche Wendung. Genauer gesagt: Just an dem Punkt, an dem die eigentliche Herausforderung des Freud’schen Unterfangens – das Verhältnis von Psychoanalyse und Ästhetik – auf dem Spiel steht, begegnet man einem überraschenden Rückzug, oder, wie Anneleen Masschelein es genannt hat, einem »seltsamen rhetorischen Schachzug« (Masschelein 2005, 245). Freud behauptet plötzlich, dass eine Differenz bestünde zwischen dem »Unheimlichen, das man erlebt, und dem Unheimlichen, das man sich bloß vorstellt oder von dem man liest« (Freud 1919h, 261). Für beide gelten unterschiedliche Bedingungen und es erscheint ihm, dass »fast alle Beispiele, die unseren Erwartungen widersprechen, aus dem Bereich der Fiktion, der Dichtung entnommen« (ebd.) sind. Das zu Beginn komplex angelegte Gedankengerüst erfährt an dieser Stelle eine radikale Vereinfachung. Für das einfacher strukturierte »Unheimliche des Erlebens« gilt nach wie vor, dass es genau dort entsteht, wo sich in unserem Leben etwas ereignet, was an scheinbar Überwundenes erinnert. An Dinge und Ereignisse also, die unsere Vorfahren noch als wirklich erfahren und für bare Münze genommen haben, wie beispielsweise die Wiederkehr der Toten. Für jeden, der die primitiven Überzeugungen nur scheinbar abgelegt hat, gewinnen im Gefühl des Unheimlichen primitive Denkweisen wieder Raum. Dem Unheimlichen der Fiktion hingegen ist Freuds Ansicht nach mit diesem Instrumentarium nicht beizukommen. Denn: Wollte man es ernsthaft untersuchen, so wären zugleich auch all jene Mittel und Strategien zu bedenken, die der Dichter zur Verfügung hat, um den Leser zu lenken, zu 414


Das Unheimliche

erregen, zu täuschen. Folglich beschränkt Freud abschließend kurzerhand den Zuständigkeitsbereich seiner These auf das »Unheimliche des Erlebens« und überlässt es den »berufenen Ästhetikern« (ebd., 267) sich im Weiteren mit den »kunstvollen und arglistigen« (ebd., 266) Täuschungsmanövern der Dichter und Künstler auseinander zu setzen. Wie aber verhält sich dies zu der Tatsache, dass Freud ja selber, bis zu diesem Punkt der Untersuchung, seine Kategorie des Unheimlichen vornehmlich aus literarischen Beispielen hergeleitet hat? Freud mit jenem Freud aus der Psychopathologie des Alltagslebens lesend spürt man den »Anteil eines nicht genugsam erledigten, komplizierenden Gedankens […] oder die erstickte Stimme der Selbstkritik des Autors« (Freud 1901b, 112). Gravierender ist: Der zu Beginn des Textes aufblitzende, umfassende, die Disziplinen verzahnende Möglichkeitshorizont einer psychoanalytisch-ästhetischen Fragestellung wird an dieser Stelle schließlich wieder auseinander dividiert. Freud opfert die eingangs entworfene, vielschichtige Fragestellung am Ende, um das eigene theoretische Axiom übersichtlich zu halten und vor Widersprüchen zu retten. Zugleich zwingt ihn die vorgenommene Grenzziehung zu wenig überzeugenden Folgerungen. Er muss so tun, also könne man beides tatsächlich voneinander trennen, also ließe sich das »Unheimliche der Erfahrung« ohne das »Unheimlichen der Fiktion« denken, obwohl ja auch sein eigener Text gerade zeigt, dass die kulturell sich wandelnden Erfahrungsmodi des Unheimlichen in der Reibung mit den imaginären Ausprägungen von Kunst und Literatur entstehen. Gälte es nicht vielmehr zu fragen, wie das Unheimliche des Erlebens und das Unheimliche der Fiktion ineinander greifen? Hinsichtlich dessen, was sich »in unserem Leben ereignet« (Freud 1919h, 262), hat Freud die »Angelegenheit der Realitätsprüfung« zu einer, vielleicht sogar zu der zentralen Frage des Unheimlichen erhoben. In der von Ernst Jentzsch eingeführten Kategorie einer »intellektuellen Unsicherheit« (ebd., 245) will er beispielsweise um keinen Preis eine zum Unheimlichen der Erfahrung analog sich verhaltende, für den Bereich der Fiktion Gültigkeit beanspruchende Kategorie sehen. Im Anschluss an die ausführliche Beschäftigung mit dem Text Der Sandmann von E. T. A. Hoffmann gesteht Freud zwar zu, dass der »Dichter in uns anfänglich durchaus eine Art von Unsicherheit [erzeugt], indem er uns, gewiß nicht ohne Absicht, zunächst nicht erraten läßt, ob er uns in die reale Welt oder in eine ihm beliebige phantastische Welt einführen wird« (ebd., 242). In der Folge wird das Gefühl des Unheimlichen aber dann aufs Engste mit der Figur des Sandmanns und dem Motiv des Augenverlusts verknüpft. Er schreibt: Diese kurze Nacherzählung wird wohl keinen 415


Helga Lutz

Zweifel darüber bestehen lassen, daß das Gefühl der Unheimlichkeit direkt an der Gestalt des Sandmannes, also an der Vorstellung, der Augen beraubt zu werden, haftet und daß eine intellektuelle Unsicherheit im Sinne von Jentsch mit dieser Wirkung nichts zu tun hat. […] Der Schluß der Erzählung macht es ja klar, dass der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der Sandmann ist. Eine »intellektuelle Unsicherheit« kommt hier nicht mehr in Frage: wir wissen jetzt, dass uns nicht die Phantasiegebilde eines Wahnsinnigen vorgeführt werden sollen, hinter denen wir in rationalistischer Überlegenheit den nüchternen Sachverhalt erkennen mögen, und – der Eindruck des Unheimlichen hat sich durch diese Aufklärung nicht im mindesten verringert (ebd.). Die von Freud aufgestellte Formel Coppola=Coppelius=Sandmann bescheinigt der Erzählung von E. T. A. Hoffmann eine Klarheit, die der Text verweigert. Mit Hilfe seiner Zusammenfassung ordnet, systematisiert und strukturiert Freud den Text gemäß seiner eigenen theoretischen Prämissen, ohne dass er dies weiter reflektiert. Das Schillern des Textes, seine Verweigerung von klaren Sinnzuweisungen und die tiefe Unruhe, die den darin arbeitenden Verschiebungs- und Verdichtungsprozessen geschuldet ist, bleiben außerhalb seines Sichtfeldes. Freud hat nur Augen für den Verlust der Augen, mit dem er den Kastrationskomplex weiter zu denken sucht. »Die Kastration« so kritisiert Sam Weber, wird »fest und anschaulich gemacht, indem sie direkt an die Gestalt des Sandmannes gebunden wird.« Freud behandelt das Phänomen der Kastrationsangst gerade so, »als ob sie ein Motiv unter anderen wäre, […] als ob sie selbst wesentlich in einem Vorstellungsinhalt bestünde, der der Verdrängung verfällt und dann – als identischer – wiederkehrt« (Weber 1981, 134). Man stößt auf jenen Grundkonflikt, der Freuds Auseinandersetzung mit Literatur und bildender Kunst gleichermaßen kennzeichnet: Der Umstand, dass er der Transformation der Motive, dem Prozess der Vermittlung und den künstlerischen Wirkungsweisen und Formen, denen die Erzeugung des Unheimlichen zu unterschiedlichen Zeiten und im Rahmen unterschiedlicher Medien unterliegen, kein Interesse entgegenbringt. Oder, um es mit den Worten von Lionel Trilling zu sagen: »Er bekennt sich zu einer theoretischen Indifferenz in Bezug auf die Form von Kunst und beschränkt sich auf ihre Inhalte. Tonfall, Gefühlslage, Stil und die Modifizierung einzelner Teile durch andere zieht er nicht in Betracht« (Trilling 1990, 231). Freud bleibt dabei. Für ihn kann die »Analyse […] nichts zur Aufdeckung der künstlerischen Begabung sagen und auch die Aufdeckung der Mittel, mit denen der Künstler arbeitet, der künstlerischen Technik, fällt ihr nicht zu« (Freud 1925d, 91). 416


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