Andreas Jacke: Roman Polanski - Traumatische Seelenlandschaften

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Roman Polanski

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0SYCHOSOZIAL 6ERLAG 300 Seiten, Rรผckenstรคrke: 20 mm


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Andreas Jacke

Roman Polanski – Traumatische Seelenlandschaften

Psychosozial-Verlag


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2010 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: info@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Tanz der Vampire – Alfred (Roman Polanski) verfällt der schönen Wirtstochter Sarah (Sharon Tate) @ ullstein bild 2010 Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Gießen www.imaginary-art.net Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar www.majuskel.de Printed in Germany ISBN 978-3-8379-2037-6


Inhalt

Einleitung

Die traumatischen Erfahrungen und Visionen eines internationalen Filmregisseurs

Drei Grundbausteine:

Kunst, Schauspiel und Sport

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Phase I Die absurde Welt des Surrealen Auf der Filmhochschule in Lodz: Die stummen Kurzfilme

Das 枚dipale Dreieck: N贸z w wodzie (1962)

Der Riss in der Landschaft der Seele: Repulsion (1965)

Absurdes Theater als Film: Cul-de-sac (1966)

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Inhalt

Das Grauen als Komödie: Dance of the Vampires (1967)

Scary Monsters in America: Rosemary’s Baby (1968)

Ein düsterer Königsmord: The Tragedy of Macbeth (1971)

Eine längere Auszeit: Che? (1973)

Water and Incest: Chinatown (1974)

Ich will keine tote Frau sein: Le locataire (1976)

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Phase II Die Wahl zwischen dem erotischen Abenteuer und der Ehe Das Antlitz der Romantik in einer melancholischen Welt: Tess (1979)

Ein schwacher Abenteuerfilm über Seeräuber: Pirates (1986)

Where is my wife? Frantic (1988)

Ein letzter Abgesang auf den Hedonismus: Bitter Moon (1992)

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Inhalt

Phase III Die Rückkehr des Politischen Das Trauma der Folter lässt sich nicht vergessen: Death and the Maiden (1994)

Die Hölle der Sammelleidenschaft: The Ninth Gate (1999)

Am historischen Ursprung des Traumas: The Pianist (2002)

Im infantilen Bann eines verschrobenen Kriminellen: Oliver Twist (2005)

Eine geistreiche Autobiografie: The Ghost (2010)

Coda:

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223

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Die Filmmusik

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Literatur

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Dokumentationen

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Abbildungsverzeichnis

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Einleitung Die traumatischen Erfahrungen und Visionen eines internationalen Filmregisseurs »Ich mag das Düstere im Film. Ich mag es nicht im Leben.« (Polanski aus: Feeney/Duncan 2005, S. 151)

Die bisher umfassendste deutsche Studie über Roman Polanski stammt von Paul Werner aus dem Jahr 1981 – damals gab es international nur wenige ernstzunehmende Filmbücher (Werner 1981, S. 7). Werners Buch kommt meiner Ansicht nach dem psychologischen Verständnis von Polanskis Werk jedoch nicht besonders nahe und endet zudem mit Tess (1979). Viele Standpunkte des Regisseurs erscheinen aber gerade durch die letzte Periode seines Schaffens in einem völlig neuen Licht. Und leider gibt es bis heute nur wenige umfassende deutsche Studien über ihn, obwohl unterdessen zahlreiche internationale Publikationen veröffentlicht worden sind. Es ist etwas seltsam, dass Polanskis Werk, das deutliche Bezüge zur deutschen Geschichte aufweist, in Deutschland bisher so selten detailliert analysiert worden ist. Das mag besondere Gründe haben, die mit den persönlichen Inhalten seiner Filme zusammenhängen. Meines Erachtens ist es unmöglich, sein Werk zu analysieren, ohne dabei auf seine Biografie einzugehen. Dennoch warnte der Regisseur einst selbst davor, sein Werk einfach als Reaktion auf seine persönlichen Erlebnisse zu deuten (Dokumentation, Cousins 2001). Biografie und künstlerisches Arbeiten stehen in einem komplexeren Zusammenhang. Die Filme können nicht einfach als eine Wiederholung der Erfahrungen gedeutet werden, sondern stellen oft eine Auseinandersetzung und Verarbeitung persönlicher Erlebnisse dar – doch jeder seiner Filme enthält biografische Spuren. 1984 veröffentlichte der Regisseur seine Autobiografie, die ebenfalls eine solche Lesart nahelegt und natürlich dazu provoziert, beide Kontexte im Zusammenhang zu interpretieren. Roman Polanski hat als Person in seinem Leben zweimal große Schlagzeilen 9


Einleitung

gemacht. Das erste Mal 1969, als seine schwangere Ehefrau, die Schauspielerin Sharon Tate, unter brutalen Umständen ermordet wurde. Sie spielte unter anderem die Rolle der attraktiven, rothaarigen Sarah in Dance of the Vampires (Tanz der Vampire). In einem Massaker wurden sie und einige Freunde, die sich zu diesem Zeitpunkt in Polanskis Haus in Los Angeles befanden, ermordet. Die Mörder schrieben mit dem Blut der Opfer das Wort »PIG« (»Schwein«) an die Haustür (Polanski 1984, S. 280). Auch ein Freund des Hausmeisters wurde dabei umgebracht. Angesichts dieses Vorfalls versuchte die Öffentlichkeit, die Morde mit schauerlichen Szenen aus Polanskis Filmen in Zusammenhang zu bringen (Polanski 1984, S. 270). Vor allem der ein Jahr zuvor erschienene Film Rosemary’s Baby (Rosemaries Baby) wurde ohne jedes sachliche Argument in einem rein emotionalen Affekt, als ein Grund für die Morde herangezogen. Die Presse ging sogar soweit, die Opfer selbst für ihren Tod verantwortlich zu machen. Man unterstellte Polanski, dass in seinem Haus Orgien, Drogen-Partys und Schwarze Messen gefeiert worden seien (ebd., S. 268). Obwohl die ersten beiden Punkte nicht ganz erfunden waren, wurden sie doch völlig überzeichnet dargestellt. Mit okkulten Praktiken hingegen hatte Polanski überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil, die meisten seiner Filme zeigen eine klare Reflexion, die auf die psychische Wirkung religiöser Ideen und ihrer Folgen abzielt. Leider war er dieser Linie bei Rosemary’s Baby selbst am wenigsten treu geblieben, der in der Tat wie viele nichtssagende Horrorfilme in einer mystischen Form mit diesem Thema umgeht und daher trotz seines Erfolges wohl zu seinen schwächeren Filmen gerechnet werden muss. Hellmuth Karasek schrieb am 15. August 1969, sechs Tage nach dem Mord, in einem Artikel in Die Zeit, dass die Morde ein Racheakt der Wirklichkeit seien (Werner 1981, S. 125), was den fatalen Okkultismus dieses Films fortsetzt, anstatt ihn zu reflektieren. Dahinter verbirgt sich die damalige Unkenntnis, dass das Potenzial für Polanskis präzises Horror-Empfinden eigentlich aus den grauenhaften Erfahrungen seiner Kindheit im Holocaust kam. Im Grunde war die skandalöse erste Bewertung der Morde durch die Presse vor allem ein Versuch, die schreckliche Gräueltat zu verdrängen und einen Regisseur dafür verantwortlich zu machen, Filme zu drehen, die tatsächlich solche menschlichen Abgründe zeigen können. Zugleich hatte Polanski mit Rosemary’s Baby die christlichen Normen der Gesellschaft attackiert. Dennoch standen die Reaktionen in keinem Verhältnis zu dem was geschehen war. Als sich später herausstellte, dass die Manson-»Familie«, eine pervertierte Gruppe von Hippies, hinter dem Massaker steckte, war der Ruf 10


Die traumatischen Erfahrungen und Visionen eines internationalen Filmregisseurs

des Regisseurs und noch mehr der seiner toten Frau bereits arg in Mitleidenschaft gezogen. Die Presse tat nun, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass die Manson-Bande die Täter gewesen sind (Polanski 1984, S. 283), und vergaß dabei, sich für den geschädigten Ruf des Regisseurs in der Öffentlichkeit zu entschuldigen. Polanski traf der Mord an seiner Frau sehr tief. Er war danach nicht mehr derselbe und benötigte viele Jahre der Trauerarbeit, um über den Verlust hinwegzukommen. Er beschrieb dieses Ereignis 1984 als die einzige »Grenzlinie« in seinem Leben, die wirklich zählt (ebd., S. 284). Acht Jahre später geriet der polnische Regisseur nochmals als Privatperson in einen Skandal, der bisher nicht abgeschlossen worden ist. 1977 wurde er wegen Vergewaltigung unter Zuhilfenahme von Drogen an dem 13-jährigen Fotomodel Samantha Geimer vor Gericht gestellt. Er gab zu, mit ihr Sexualverkehr gehabt zu haben, und wurde inhaftiert. Dabei wurde er gründlich psychisch untersucht. Es wurde festgestellt, dass er weder pädophil noch pathologisch veranlagt sei. Dieser Vorfall kann meiner Ansicht nach nicht losgelöst von dem Mord an seiner Ehefrau betrachtet werden, der wiederum für ihn eine Wiederholung tief traumatischer Szenen aus der Kindheit darstellte. Polanski reagierte auf den Vorwurf der Vergewaltigung einer Minderjähigen, indem er keine Filme mit surrealen Motiven mehr drehte, und anstatt dessen mit Tess einen seiner emotional zärtlichsten Filme inszenierte. Den Roman zu Tess hatte seine Frau Sharon Tate kurz vor ihrem Tod gelesen, und sie meinte, dass sich daraus ein großartiger Film machen ließe (ebd., S. 261). Polanski widmete ihr diesen Film und zog sich danach vorerst aus dem Filmgeschäft zurück – der Skandal um die Vergewaltigung wurde jedoch niemals vergessen. Durch seine Verhaftung ging er im Herbst 2009 erneut durch die Presse. Geimer habe zwar, wie viele 13-Jährige, älter ausgesehen (Feeney/Duncan 2005, S. 109f.), aber sie behauptete, ihn mehrfach darauf aufmerksam gemacht zu haben, keine sexuelle Handlung mit ihm zu wollen. In ihrer Dokumentation Roman Polanski: Wanted and Desired (2008) hat Marina Zenovich die Befangenheit des damaligen Richters und des Staatsanwaltes aufgezeigt. Polanski, der eine lange Haftstrafe zu erwarten hatte, erschien zu dem endgültigen Prozesstermin nicht und floh zunächst nach England und dann nach Frankreich, wo er die französische Staatsbürgerschaft annahm. Die USA kann er seitdem nicht mehr betreten und auch England ist für ihn tabu, weil das Königreich ihn ausliefern würde. Für einen international arbeitenden Filmregisseur, der zuvor vier seiner Filme in Großbritannien und zwei in 11


Einleitung

den Vereinigten Staaten von Amerika gedreht hatte, bedeutete dies eine starke Einschränkung. Seitdem hat Polanski häufig Szenen, die in den USA oder England spielen, in anderen Ländern gedreht. Schon Tess wurde vollständig in Frankreich gedreht, obwohl die gesamte Handlung im England des 19. Jahrhunderts spielt. Und auch sein neuer Film The Ghost, der vor allem in den USA spielt, wurde komplett in Deutschland gedreht. Während in Berlin im Februar 2009 die Berlinale begann, verwandelte Polanski, ungestört vom Presserummel, eine Straße in der Hauptstadt einfach in eine von London, um einige Szenen drehen zu können. Jedoch ist der Aufwand dieser Umgestaltungen nie unerheblich gewesen, wenngleich im Film die Sets schließlich immer sorgfältig arrangiert werden. Polanski konnte 2003 auch seinen ersten Oscar für den besten ausländischen Film nicht persönlich abholen – die Trophäe nahm für ihn Adrien Brody, der Hauptdarsteller aus The Pianist (Der Pianist), entgegen. Der Antrag seiner Anwälte im Herbst 2008, das immer noch laufende Verfahren gegen ihn per Videoübertragung zu Ende zu bringen, wurde im Januar 2009 endgültig abgelehnt. Polanski erklärte damals, er habe nicht vor, in die USA einzureisen. Schließlich wurde er im Herbst 2009 in der Schweiz verhaftet und musste zu dem Zeitpunkt, als dieses Buch geschrieben wurde, damit rechnen, schon bald an die Staaten ausgeliefert zu werden. In einem Interview, das sie im August 2008 der Zeitschrift Vanity Fair gab, verzieh Samantha Geimer ihm öffentlich. Dennoch ist seit seiner Verhaftung klar, dass Polanski trotz vieler öffentlicher Statements, die seine Verhaftung kritisieren, kaum eine Chance haben wird, einer Verurteilung durch ein amerikanisches Gericht zu entgehen. Ein Motiv in The Ghost handelt, wohl nicht zufällig, davon, dass der englische Premierminister vor dem Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag angeklagt worden ist (Harris 2007, S. 167), und die Aussicht besteht, dass er nun umgekehrt die USA nicht mehr verlassen kann. Diese fiktive Situation ist der von Polanski in den letzten 31 Jahren sehr ähnlich, nur umgekehrt wäre nun Amerika eines der wenigen Länder, in dem der Premierminister bleiben könnte. Allerdings findet im Buch keine Anklage gegen ihn statt, weil er zuvor ermordet wird. Der damalige Skandal und die Verhaftung haben Polanskis Ruf erneut sehr geschadet. Eine erste öffentliche Rehabilitierung konnte er erst durch den Film The Pianist erreichen, der sehr eng mit seiner Lebensgeschichte verknüpft ist. Er sagte in einem Interview, dass The Pianist der Film sei, für den alle seine anderen Filme, im Nachhinein betrachtet, eine Vorbereitung gewesen seien 12


Die traumatischen Erfahrungen und Visionen eines internationalen Filmregisseurs

(Dokumentation, Kinowelt 2007). Und zweifellos handelt es sich dabei um sein bedeutsamstes Werk, weil es ihm damit gelang, den Holocaust auf eine relativ unspektakuläre Art und mit einer ganz eigenen Gewichtung in Szene zu setzen. Nur vor dem Hintergrund von The Pianist denke ich, lässt sich eine relevante Interpretation seines Werkes vollziehen, welche den traumatischen Erfahrungen seiner Kindheit einen besonders hohen Stellenwert beimisst. Die Stellung zwischen einem Regisseur und seinem Film wurde von Polanski 1986 generell so beschrieben: »Es ist keine Frage, daß jeder Film eine Art Psychoanalyse ist und irgendwie die Seele des Regisseurs reflektiert« (Jansen/ Schütte 1986, S. 24). Polanskis Filme zeigen oft Seelenlandschaften, die Folgeerscheinungen traumatischer Erfahrungen sind, die darin verarbeitet und reflektiert werden. Polanskis Kino ist vor allem das eines subtilen Schreckens. Damit gelingt es ihm, dass sich viele Menschen noch Monate und auch Jahre später an Szenen aus seinen Filmen erinnern. Steven Spielberg sagte dazu, es sei die Absicht jedes Filmregisseurs, ein Filmbild zu erschaffen, das sich dem Zuschauer einprägt (Dokumentation, Schickel 2005). Bei Polanski wird diese Gedächtnisleistung aber unter besonderen Umständen hergestellt. Als er die Leitung der Filmfestspiele in Cannes 1991 übernahm, sagte er zu der Jury: »Think about what gives me two good hours of entertainment? What moved me emotionally, and what will remember 10 years from now?« (Kilzer/Rogall 1998, S. 74) Eine präzisere, allgemeinere Anleitung für das Ziel seiner eigenen Filme kann man sich kaum vorstellen. Die Wiederholung persönlicher Erinnerungen ist ein fester Bestandteil seiner Tätigkeit als Regisseur. Deshalb basiert dieses Erinnern-Können auf einer inneren Motivation, die dann oft in eine unterhaltsame Fassade gekleidet wird. So gesehen war Polanski immer schon mehr als ein ausgezeichneter Regisseur für Horrorfilme, ein Label, unter dem er lange Zeit aufgrund von Dance of the Vampires eine so große Popularität besaß. Der Inhalt dieses sehr populären Films ist derart gelungen, dass er sich noch in den 90er Jahren zum Musical umarbeiten ließ. Ein Filmklassiker, der trotz der vielen Vampirfilme und dem immer noch andauernden großen Interesse an diesem Genre bisher keinen vergleichbaren Nachfolger gefunden hat, weil ihm eine kindliche Angsterfahrung zugrunde liegt, die gar keine Fiktion war, sondern bittere Realität gewesen ist. Weil Polanskis Inszenierungen der Angst stets den persönlichen Hintergrund biografischer Erfahrungen haben, erreichen sie auf dieser Ebene eine 13


0HASE )

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Das Grauen als Komödie: Dance of the Vampires (1967) »As brooks flow into streams, streams into rivers and rivers into the sea, so our adepts flow back to us and swell our ranks. Soon we shall be victorious and triumphant! We shall then hold sway over this Earth, which awaits our coming as autumn awaits winter.« (Graf von Krolock in Dance of the Vampires)

Polanskis Vampirfilm bekam der amerikanische Zuschauer zunächst als eine vom Produzenten äußerst verstümmelte Version unter dem Namen The Fearless Vampire Killers or: Pardon me, But Your Teeth Are in My Neck zu sehen (Werner 1981, S. 89) Dance of the Vampires, wie der Filmtitel außer in den USA und Kanada lautet, war der Titel, unter dem Polanskis eigene Version lief. Der Stoff hat seine literarischen Wurzeln wie fast alle Vampirfilme in Bram Stokers berühmtem Roman Dracula (1897). Dieses Buch steht in der Tradition der englischen Gothic Novel, ein Genre, das den letzten Höhepunkt der Schwarzen Romantik, welche mit den Schriften von E.T.A. Hoffmann begonnen hat, kennzeichnet. Schon Freud bezog sich, als er das Wesen des Unheimlichen erläutern wollte, vor allem auf Hoffmanns Schriften (Freud 2000, Bd. IV, S. 242ff.). Das Besondere an der Schwarzen Romantik ist meiner Ansicht nach der scheinbar barrierefreie Übergang von »dieser« Welt ins Jenseits. In der romantischen Stimmung kann der Rezipient ohne Grenze von der Immanenz in eine meist nebulöse Transzendenz übergehen. Dieser Übergang findet einen wichtigen Vorläufer in der Bibel, in der Fiktion der Wiederauferstehung von Jesus Christus, der darin auch die Grenze vom Leben zum Tod als Rückkehr ins Leben passiert hat. Die Sehnsucht des Romantikers besteht allgemein darin, in der sichtbaren Welt den Blick so weit zu sensibilisieren, dass darin ihre transzendentale Schönheit, welche stets in tiefer Verbundenheit mit dem Weiblichen besteht, gesehen werden kann. Sei es die Nacht, die Natur oder der ferne Horizont des Meeres, fortlaufend richtet sich der Wunsch darauf, 59


Das Grauen als Komödie

die Risse, welche die Ratio durch ihre zerlegenden Analysen geschlagen hat, wieder zu schließen, indem ein Ort aufgesucht wird, der in stiller Kontemplation erneut ein harmonisches Ganzes herstellen kann. Die Blaue Blume, ein Symbol der Romantik, besteht in einer traumhaften Erfahrung, welche das Subjekt emotional tief mit der Welt als mütterlichem Prinzip verbindet. In Stokers Roman verkörpert dieses Prinzip die brave Wilhelmina Murray, genannt Mina: »She is one of God’s women, fashioned by His own hand to show us men and other women that there is a heaven where we can enter, and that its light can be here on earth. So true, so sweet, so noble, so little egoist – and that, let me tell you, is much in this age, so sceptical and selfish«, wie Professor van Helsing sie in den höchsten Tönen lobt (Stoker 1994, S. 226). Demgegenüber führen die Veränderungen von Lucy Westenra, welche von Dracula zuerst gebissen wurde, den Betrachter immer mehr zur dunklen Seite der Romantik, die in einem perversen, sexuellen Begehren besteht. Als Lucy stirbt, kehrt sie ähnlich, nur weit genauer beschrieben als in einigen Geschichten von Edgar Allan Poe als eine unheimliche Wiedergängerin aus dem Reich der Toten zurück, und sie versucht als Vampirin wie Dracula ihre Umgebung ins Verderben der Perversion zu reißen. So wie Mina als »Engel« beschrieben wird, die den Mann durch ihre Liebe einen Eindruck vom göttlichen Himmel vermitteln kann, wird Lucy zu einer Gestalt der Hölle, die aus dem Jenseits zurückkommt, um sich das Blut der Lebenden zu holen. Darin, dass Lucy in dieser romantischen Fiktion die Grenze zwischen Leben und Tod überschreitet, liegt bereits ein wesentlicher Teil ihrer Perversion. Denn sie ist schließlich keine göttliche Figur wie Christus, und auch dieser kehrt nur kurz auf die Erde zurück, um dann für immer zum Himmel aufzufahren. Mina ist ihrem zukünftigen Ehemann Jonathan von Herzen zugetan, Lucy hingegen schon zu Lebzeiten in eine polygame Struktur verwickelt, in der sie drei Männer anbeten, sie aber nur einen von ihnen heiraten kann. Dennoch ist die naive Lucy, wie häufig übersehen wurde, eine tragische Person, eine wahrhafte Heldin (und das nicht nur in Bram Stokers Roman); sie leidet nämlich sehr daran, in einem langsamen Prozess zu einer Vampirin zu werden. Sie wird dabei durch Draculas Einfluss zu einer Schlafwandlerin, deren nächtliche Erlebnisse den irrealen Charakter von Albträumen haben, an die sie sich am nächsten Tag nicht mehr erinnern kann (Stoker 1994, S. 108f. u. S. 134). Und je mehr Blut sie verliert, desto bedrohlicher wird sie für ihre Umgebung. Ihr Sterben wird von Stoker als große Tragödie in der gesamten mittleren Passage 60


Dance of the Vampires (1967)

seines Romans genau beschrieben: Lucy verwandelt sich immer mehr in jenes bösartige, dämonische Wesen, das weder leben noch sterben kann – sie wird eine »Untote«. Und während Minas mütterlicher Ausdruck die Welt in romantischer, zärtlicher Ganzheitlichkeit zusammenfügt, und damit einen Eindruck vom Paradies vermittelt, begeht Lucy den größten Frevel, den sie in einer romantischen Welt begehen kann: Sie beginnt damit, Kinder zu beißen. Nur der Tod durch einen Pflock mitten ins Herz kann den Dämon, der von ihrer Besitz ergriffen hat, töten und sie wieder zu einer Frau und Mutter mit menschlichen Liebesgefühlen machen, die nicht die Intention verfolgt, ihre Umgebung auszusaugen. Ihre Verwandlung vom Menschen zum Parasiten ist mit einer schweren Depression verbunden. Die Blutverluste schwächen ihren Körper täglich mehr. Der Vampir, ein perverser Mann, der ihr Blut trinkt, kommt wie ein dunkler Schatten über sie und taucht ihr Leben in die dunkle Welt des Todes. Dieser tiefgreifende, melancholische Kontext war für Polanski ein Motiv, den Stoff nicht, wie damals üblich, nur als billigen Horrorfilm, sondern zugleich als anspruchsvolle Komödie zu verfilmen. Und vor allem Stokers romantische Liebesgeschichte, die in dem langsamen Tod von Lucy besteht, wurde von dem polnischen Regisseur so ernst genommen, dass er selbst den naiven Jüngling Alfred spielen wollte, der sich in dieses Wesen verliebt hat. Er tauschte dann neben vielen anderen Veränderungen vor allem die viktorianische Lucy gegen die jüdischen Sarah aus, die von Sharon Tate gespielt wurde. Ihre Entführung durch die Vampire lässt sich in der weitreichendsten Deutung als die Märchenversion einer Deportation durch die deutschen Faschisten lesen. Vielleicht nicht zufällig, aber keineswegs geplant, verliebte sich der Regisseur vor den Dreharbeiten in die amerikanische Schauspielerin Tate, die er später heiraten würde. Für Tate war Dance of the Vampires ihr dritter Spielfilm. Sie war Polanski für die Rolle vorgeschlagen worden. Er fand sie aufgrund ihres Aussehens zunächst unpassend, weil sie mit ihren blonden Haaren zu amerikanisch und zu wenig jüdisch aussah. Erst durch eine rothaarige Perücke konnte er sie sich in dem Film vorstellen (Polanski 1984, S. 213). Bei Sarah ist es ihre harmlose Leidenschaft, täglich zu baden, die sie sich in der Schule angewöhnt hat, welche sie zum bereitwilligen Opfer des Grafen werden lässt. Durch ihren durchaus libidinös besetzten Körperkult für heiße Schaumbäder konnte Polanski ihre weibliche Erotik dezent mit einem Hang zur Sauberkeit verbinden und im ersten Höhepunkt des Films eine Konstellation zeigen, die 61


Das Grauen als Komödie

der Duschszene in Psycho (1960) in nichts nachsteht und sogar sehr ähnlich funktioniert: Sarah wird beim Baden vom Grafen gebissen und gekidnappt, doch fühlt sie sich, wie bereits Lucy, auf eine erotische Weise von ihm angezogen und versucht zugleich, ihn abzuwehren. Auch hier findet die verbotene Verführung zu einem perversen Genießen gegen ihren Willen statt und führt zu einem düsteren Schicksal, das aber zugleich parodiert wird. Die hemmungslose Gier des Blutsaugens bei den Vampiren bot Polanski Anlass genug, das Genre ins Komische zu ziehen, ohne allerdings die Horror-Elemente auszulassen oder völlig zu verharmlosen. Das Aussaugen ist zugleich eine spezille Form des Kannibalismus, ein Motiv, das in seinen späteren Filmen wiederkehrt. Dance of the Vampires setzt jedoch durchgängig Polanskis infantilen Humor gegen die depressiven Züge in Stokers Roman ein. Wie jeder gute Horrorfilm verarbeitet auch dieser irrationale Ängste. Der Film verwendet dafür eine Bilderwelt, die tiefe traumatische Erinnerungen in das Feld einer märchenhaften Narration umzuwandeln versucht. Der jüdische Kontext, der allein vom Regisseur kam, ließ Polanski hier tiefer in seine Vergangenheit zurückschauen als bei seinen vorherigen Filmen. Er inszenierte sich dabei in der Paraderolle als Alfred, einem sehr kindlich-verspielten und etwas unbeholfenen jungen Mann. Der Film enthält insgesamt viele kindliche Elemente: So beißt Alfred einen Vampir einfach ins Ohr, und die typischen Verfolgungsjagden haben hier etwas von Fangen- und Versteck-Spielen. In der Szene, als Alfred nicht allein, sondern im Bett des Professors schlafen will, weil er sonst Angst hat, wird seine infantile Mentalität ganz deutlich. Die gesamte Welt des 19. Jahrhunderts, die Dance of the Vampires zeigt, wird aus der Sicht des 20. Jahrhunderts wie eine infantile Welt vorgeführt. Dabei ist neben dem Absurden erstmals bei Polanski der romantische Inhalt der Vorlage sehr wichtig, denn die romantische Phantasie lässt eine sehr zärtliche Schilderung der eigenen, erlebten psychischen Eindrücke zu. In seiner Kindheit wurde während der Zeit, die er 50 Kilometer von Krakau in dem kleinen Dorf Wysoka verbrachte, sein Sinn für eine romantische Auffassung der Landschaft gebildet (Feeney/Duncan 2005, S. 11). Der neunjährige Junge verbrachte drei Jahre dort. Er war weitgehend auf sich allein gestellt, getrennt von seinen Eltern und in ständiger Angst, von den Nazis entdeckt zu werden. Traum und Wirklichkeit vermischten sich dabei zu jener Fusion, aus der Dance of the Vampires hervorgehen konnte. Die Landschaft lieferte eine wichtige Grundlage für die Story. Dass der Film im Winter spielen muss, 62


Dance of the Vampires (1967)

um jene eisige Stimmung zu haben, die er braucht, stand schon fest, bevor der Plot überhaupt geschrieben wurde (Polanski 1984, S. 208). Die Kälte verbindet sich mit der Gefühlskälte der Vampire und der Wölfe und steht im Gegensatz zu den erhitzten Innenräumen des Wirtshauses und der Badewanne. Zudem war für Polanski selbst kein Ort der Welt naheliegender für einen Vampirfilm als Osteuropa. Dass Stokers Roman in den Karpaten spielt, kam ihm dabei mehr als gelegen, und im Gegensatz zum Buch lässt er die gesamte Handlung seines Films dort spielen. Gedreht wurde der Film jedoch zum Großteil in den Filmstudios in der Nähe von London (ebd., S. 213), was die phantastische Atmosphäre noch unterstützte. Die Außenaufnahmen fanden ebenfalls nicht in Osteuropa, sondern in Italien statt. Bram Stokers Roman ist oft verfilmt worden. Er selbst hatte bereits versucht, Dracula als Theaterstück auf die Bühne zu bringen. Doch sein Arbeitgeber, der viktorianische Schauspieler Henry Irving, wollte die Rolle des Grafen nicht spielen und fand das Unternehmen schrecklich (Dokumentation, Skal 1999). Der Graf aus Transsylvanien sollte so erst nach Stokers Tod berühmt werden und innerhalb der Filmgeschichte eine »unsterbliche« Figur bleiben. Die erste wichtige Verfilmung des Stoffes stammt aus Deutschland. Weil es sich die Produzenten von Nosferatu, eine Symphonie des Grauens (1922) nicht leisten konnten, die Rechte an dem Roman zu erwerben, wurden die Namen und teilweise auch die Orte der Handlung einfach ausgetauscht. F.W. Murnaus Film hält sich aber im Grunde über weite Strecken strikt an den ersten Teil seiner literarischen Vorlage. Die Differenz zwischen Lucy und Mina kennt er jedoch genauso wenig wie einen Professor, der den Vampir jagt. Murnau zeigt seinen Vampir, Graf Orlok (Max Schreck), als einen Melancholiker. Polanski nannte seine Vampir-Dynastie von Krolock, was ein direktes Wortspiel mit diesem Namen ist. Werner Herzog inszenierte in seinem Remake Nosferatu – Phantom der Nacht (1979) von Murnaus Klassiker mit Klaus Kinski dieselbe deprimierte Befindlichkeit des Grafen. In beiden Filmen ist es deshalb eine Nacht und das Blut einer einzigen begehrten Frau, die ihn von seinem Schicksal erlösen, wobei der erotische Aspekt des Romans dabei weitgehend zurückgenommen wurde. Der Held ist darin der Graf. Herzog, dessen Filme mit Kinski alle meiner Meinung nach als Parabeln auf den deutschen Faschismus und seinen größenwahnsinnigen Imperialismus lesbar sind, hat bei seinem Remake diese Analogie interessant umgesetzt. Man kann schon in Murnaus Nosferatu, wie Siegfried Kracauer es tat, die düstere Ahnung für einen blutrünstigen Tyrannen 63


Das Grauen als Komödie

sehen (Kracauer 1995, S. 86). Hitler wurde häufig in offiziellen Darstellungen als melancholischer Mensch beschrieben, was in einem interessanten und schrecklichen Zusammenhang mit seinen Mordszenerien steht. Während des Zweiten Weltkriegs wurden an die GI’s kostenlose Buchexemplare von Dracula verteilt (Kittler 1993, S. 56), um sich von dem »parasitären« Deutschland ein passendes Feindbild machen. Die erste, wichtige amerikanische Verfilmung des Stoffs Dracula (1931) stammte von Tod Browning. Hier spielt der ungarische Schauspieler Bela Lugosi den mysteriösen Grafen, der sich derart eng mit der Figur verbunden fühlte, dass er sich in geistiger Verwirrung sogar für Dracula hielt und in einem seiner Capes begraben wurde (Bela G. Lugosi aus: Dokumentation, Skal 1999). Auf Polanski hatte diese Version jedoch kaum einen Einfluss, sondern neben Murnaus Film vor allem das berühmte »Comeback« des Grafen Dracula im Farbfilm, welches mit Horror of Dracula (1958) von Terence Fisher einsetzte. Christopher Lee spielte darin den Vampir als einen nüchternen Aristokraten, der mit seiner tiefen, klaren Stimme und seiner narzisstischen Ausstrahlung das elitäre Moment sehr deutlich herausstellte. Diese Figur besaß genau jene düstere Ausstrahlung, die für Polanski mit dem arroganten Auftreten der deutschen Soldaten vergleichbar war. Nur zwei Jahre bevor Dance of the Vampires in die Kinos kam, hatte Lee in Dracula: Prince of Darkness (1966), erneut von Fisher, ein zweites Mal den Count Dracula in einer Form gespielt, mit der er bis heute verbunden wird. Polanski hielt sich eng an diese Vorlage, als er seinen Graf von Krolock (Ferdy Mayne) entwarf. Ferdy Mayne kam aus Deutschland, emigrierte nach England und änderte dann seinen Namen. Er bekam später eine kleine Nebenrolle in Kubricks Film Barry Lyndon (1975), in dem er einen preußischen Oberst spielte. Der Ire Lyndon erklärt ihm in einer kurzen Szene, dass er sogar zum Teufel gehen würde, um der preußischen Armee zu dienen. Dieser merkwürdige Dialog kann als direkte Anspielung auf Dance of the Vampires verstanden werden. Im Gegensatz zu Lees wortkarger Darstellung stattete Polanski den Vampir als wortgewandten, belesenen Aristokraten aus und nahm ihm daher viel von seiner mystischen Seite. Krolock ist gebildeter und gesprächiger als Dracula in den Hammer-Filmen, die ohnehin stets mehr auf Effekte angelegt waren. Vor allem seine phallischen Eckzähne, der Ausdruck seiner perversen Gelüste, die mit Lee erstmals zum ausdrucksstarken Markenzeichen des Vampirs wurde, 64


Dance of the Vampires (1967)

sollte Polanski auch in seinem Film verwenden: Alfred imitiert den Grafen, indem er mit seinen Fingern dessen Fangzähne nachstellt. Die übersinnliche Möglichkeit, sich in eine Fledermaus zu verwandeln, die in den Filmen mit Lugosi und in Stokers Roman sehr wichtig ist, fällt demgegenüber völlig weg. In Polanskis Film ist Professor Abronsius (Jack MacGowran) ein versierter Vampirforscher, der bereits ein Buch über Fledermäuse veröffentlicht hat. Der Vampir kann sich nicht in eine Fledermaus verwandeln und Krolock amüsiert sich über die phantastische Behauptung, dass er fliegen könnte (ebenso wenig kann er sich wie bei Stoker in einen Wolf verwandeln). Der Graf erklärt Alfred und dem Professor in ironischem Tonfall, dass sie den Turm, in dem sie eingesperrt wurden, nur entkommen, wenn sie fliegen können wie Fledermäuse. Dass er selbst nicht fliegen kann, zeigt die Szene, in der sein Diener Koukol (Terry Downes) ihn mit dem Schlitten zum Gasthaus fährt, damit er Sarah dort beißen und anschließend entführen kann. Dance of the Vampires beginnt, wie die meisten Dracula-Filme und auch Stokers Roman, mit einer Reise zum Schloss des Grafen in die Karpaten. Und wie immer müssen die Reisenden zunächst in einer Herberge Station machen. Doch dieser sonst kurze Aufenthalt bildet nun den ersten längeren Abschnitt der Handlung. Der Professor und sein Gehilfe haben auf der Suche nach Vampiren bereits den Großteil Mitteleuropas durchquert, bevor sie hier fündig werden sollen. Erst nach Sarahs Entführung verlassen die beiden die Herberge wieder, um zum Schloss zu gelangen. Die Gäste des jüdischen Wirtshauses warnen die neuen Besucher nicht vor den Vampiren, sondern verleugnen und verheimlichen deren Existenz; die jungen Mädchen werden versteckt, damit Koukol sie nicht sieht; und überall hängt zum Schutz vor den Blutsaugern Knoblauch. Die Situation ist vergleichbar mit den Ängsten vor den deutschen Besatzern während des Zweiten Weltkrieges. Der Widerstand in Polen wurde zunächst nur von Minderheiten betrieben. Der weltfremde Professor wirft den Männern, wie Teresa George in Cul-de-sac, Feigheit vor. Sein Interesse an den Vampiren ist eine Mischung aus wissenschaftlichem Forschungsoptimismus, der im 19. Jahrhundert weit verbreitet war, und menschlichem Engagement, nicht die Augen zu schließen, wenn diese »Untoten« wieder zugeschlagen haben. Anders als Abraham van Helsing in Stokers Roman, der aus Amsterdam kommt, ist er ein deutscher Akademiker, der aufgrund seiner eigenwilligen Forschung zuvor seinen Lehrstuhl in Königsberg verloren hatte. Er möchte wie Albert Einstein seine Theorie gerne in der Realität verifiziert wissen und 65


Das Grauen als Komödie

beklagt, dafür schon eine Menge Geld für Reise und Unterkunft ausgegeben zu haben. Polanski hat ihn absichtlich ein Aussehen verpasst, das Ähnlichkeit mit dem von Einstein hat, der einer der bekanntesten und sympathischsten Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts war. Professor Abronsius ist angesichts seiner etwas versponnenen Geisteshaltung, auch seiner Mentalität, das Gegenteil des kühlen Mediziners und Chirurgen Professor van Helsing in Stokers Roman – der ursprüngliche Fledermaus-Forscher kommt aus einem viel kruderen Forschungsbereich. Außerdem lässt er sich von seiner Forschung als solcher schon völlig mitreißen. Er ist später ganz überwältigt von der Bibliothek des Grafen. Und dass Ihre Exzellenz sein Buch über die Fledermäuse sogar gelesen hat, schmeichelt ihm sehr. Doch hinter der höflichen Fassade des Gelehrten zeigt sich ein wacher und durchsetzungsfähiger Geist. Wenn Alfred aus Angst nicht handelt, dann fehlt Abronsius wie so vielen Akademikern die Praxis: Alfred muss ihm sogar erklären, dass er seine Skier falsch herum angeschnallt hat. Wie viele Geisteswissenschaftler leidet er aufgrund seines Bewegungsmangels an Rückenschmerzen. Er lässt sich nicht nur von Alfred den Rücken schröpfen, der Professor macht auch öfter Dehnungsübungen mit den Armen, bei denen seine Knochen leicht knacken. Abronsius stellt mit seinem Zylinder eine witzige Figur dar, ein Forscher des 19. Jahrhunderts wie aus einem Bilderbuch für Kinder. Alfred, eine empfindliche und übermäßig verängstigte Persönlichkeit, wirkt mit seinem bordeauxroten Jackett dagegen etwas »moderner«. In der Rolle eines schüchternen Menschen sollte Polanski sich selbst später in Le locataire nochmals besetzen. Hier hat er optisch gesehen Ähnlichkeit mit dem fröhlichen und ebenso naiven Hutter (Gustav von Wangenheim) aus Murnaus Film; die Schirmmütze und seine Frisur verstärken diese Analogie. Alfreds Angst findet ihren konkreten Gegenstand vor allem im Grafen, der mehrfach Anspielungen auf seinen sensitiven Charakter macht, den er gut zu kennen scheint. Und schon zu Beginn muss Alfred die Wölfe abwehren, die sie auf ihrer Schlittenfahrt verfolgen. Seine Panik steht in einem gesunden Verhältnis zu der Bedrohung, die er und der Professor sich aussetzen, was aufgrund der Komik des Films leicht übersehen werden kann. Ihm flösst das grauenhafte Reich der Vampire wirklich Furcht ein, der Professor übersieht aufgrund seines wissenschaftlichen Spleens öfter die Gefahr. Alfred begegnet Sarah zum ersten Mal, als er sie nackt im Badezimmer ihrer Unterkunft im Wirtshaus sieht. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Unverhohlen 66


Dance of the Vampires (1967)

zeigt er auch mehrfach sein Interesse an weiblichen Reizen – vor allem an der Oberweite der blonden Dienstmagd. Er hat sich in Sarah, die anmutige Frau mit ihrem Faible fürs Baden, sehr verliebt. In einer der schönsten kurzen Szenen baut er für sie im Garten, wie ein kleiner Junge, einen Schneemann und bekommt dann von den Kindern einen Schneeball ins Gesicht. Der Graf ist aber nicht nur sein Rivale, sondern Alfred steht im Ringen um Sarah auf der Seite des Guten, weil er ihre Seele retten will, während Krolock nur ihre selbstbezüglichen Lüste bedient mit dem Ziel, sie dabei ins Reich der Untoten zu überführen. Der Kampf um Sarah besteht nicht zuletzt darin, sie aus den Klauen einer perversen Verführung zu befreien. Dieser Konflikt ähnelt deutlich dem um Lucy, der im Roman schließlich zwischen vier Männern und Dracula geführt wird. Alfreds Interesse, Sarah zu retten, ist besonders eng mit Polanskis Kindheit verbunden, wenn er im Film Professor Abronisus fragt, für wen Koukol den Sarg schreinert. Die Ungewissheit darüber, ob Sarah noch lebt oder bereits tot ist, entspricht Polanskis persönlicher Situation während der Zeit in Wysoka, als er befürchten musste, seinen Vater, seine Schwester und vor allem seine Mutter bereits verloren zu haben. Jede neue Information über die deutschen Gräueltaten muss seine Angst um ihren Verlust weiter verstärkt haben. Das grauenhafte Ziel der Deportationen, das Ausmaß des Antisemitismus, war ihm, als seine Mutter abgeholt wurde, keineswegs bekannt. »Wir wussten – damals – nichts von den Gaskammern« (Polanski 1984, S. 26). Als der bucklige Diener des Grafen Sarah durch das Wirtshausfenster erblickt, ängstigt sich der Zuschauer davor, was mit ihr geschehen könnte. Und wie bei Lucy kann Alfred sie vor den Folgen des bösartigen Zugriffs nicht retten, wodurch sie letztendlich zur Vampirin wird (wie er sich in einen Vampir verwandelt, lässt der Film dann klugerweise aus). Als sich Koukol vor der Krypta der Vampire mit einem Beil aufbaut, um ihnen so den Weg zu versperren, rät der Professor unauffällig zum Rückzug, woraufhin sich der stets schnell panisch werdende Alfred, trotz der mahnenden Worte des Professors: »Not so fast«, raschen Schrittes entfernt. Dieses Motiv taucht als die Anweisung »Don’t run«, welches Polanski als eigenes biografisches Material bei einer wichtigen Szene in The Pianist einfügte, erneut auf. Zweimal friert der Professor ein und Alfred muss ihm dabei helfen, wieder aufzutauen. Dieses absurde, aber auch seltsame Bild ist das einer Erstarrung, die in der Leiche des festgefroren, jüdischen Wirtes Shagal (Alfie Bass) eine andere Dimension erreicht: Das Bild des toten Shagal ist derart eindringlich 67


Das Grauen als Komödie

aufgenommen, dass es vermutlich nicht auf bloßer Fiktion basiert. Vermutlich handelt es sich um die Verarbeitung kindlicher Beobachtungen von Menschen, die sich in der Leichenstarre befinden und eine bizarre Haltung haben. So wird Shagal ein Teil der kalten, starren Welt der Vampire. Zugleich gelingt es Polanski immer wieder auf eine kindlich verspielte Weise sogar dieser Szene eine humorvolle Seite abzugewinnen. Die Haltung des toten Shagals auf dem Zaun ist einfach zu skurril, um nicht auch komisch zu sein. Außerdem hat der Zuschauer das Auftauen des Professors zu Beginn des Films schon gesehen, sodass der Vorgang der anschließenden Wiederbelebung vorhersehbar ist. Auch Krolock, auf seinem Schlitten sitzend, nimmt eine sehr unbewegliche, starre Haltung ein. Er sagt einmal, dass die Welt die Vampire erwartet wie der Herbst den Winter, womit der Zusammenhang auch verbal deutlich gemacht wird. Als der Professor und sein Schüler sich zum Schloss aufmachen, nehmen sie nicht zufällig Skier, um ihr Ziel zu erreichen: Als Kind hatte Polanski von seinen Eltern in Krakau ein Paar Skier geschenkt bekommen, obgleich es dort kaum Möglichkeiten gab, sie zu benutzen (ebd., S. 11). Ein paar Jahre später, in der Zeit, als er in dem Dorf Wysoka lebte, lernte er Ski laufen und verwendete dabei Nussbaumzweige als Skistöcke (ebd., S. 35). Polanski liebt diese Sportart. Krolock und sein homosexueller Sohn Herbert lassen sich in mehrfacher Hinsicht als deutsche Faschisten enttarnen. Krolock hat im englischen Original gezielt einen Akzent, bei dem das rollende »R« betont wird, sein Sohn Herbert trägt (wie Alfred) einen typisch deutsch klingenden Vornamen, hat blondes Haar und blaue Augen. Dass er homosexuell ist, mag von Murnau inspiriert sein und ist ein wichtiger Gag des Films. Dass die jüdische Wirtstochter Sarah von den Vampiren auf ihr Schloss verschleppt wird, um dann auf einem Ball geopfert zu werden, ist eine kindliche Phantasie der Entführung von Polanskis Mutter durch die deutschen Soldaten. Am deutlichsten äußert sich die Nähe der Blutsauger zur deutschen Armee jedoch in Krolocks größenwahnsinnigen Imperialismus, welcher nicht zum üblichen Repertoire eines Vampirfürsten gehört. Dracula ist bei Stoker lediglich ein Territorialfürst, der nur in seiner Muttererde überhaupt ruhen kann und keinerlei Ambitionen zur Welteroberung hat. Er will aus seinem Schloss in Transsylvanien nach London ziehen, weil es dort einfach mehr Opfer gibt. Die Dimension einer kollektiven Invasion durch die Vampire ist von Polanski hinzugefügt worden. Krolock erklärt seine Motive ganz eindeutig Professor Abronsius und Alfred auf dem Turm 68


Dance of the Vampires (1967)

seines Schlosses. Er sagt, es handele es sich bei der Ausbreitung der Vampire um ein Naturereignis und spricht, als würden sie dabei einen Krieg gewinnen: »Soon we shall be victorious and triumphant!« Darin zeigt sich der sehr gut versteckte, eigentliche Hintergrund dieses Horrorfilms. Graf von Krolock deutet dabei mit einer Hand, die eigentlich nur die Weite des Landes zeigen soll, das die Vampire einst bevölkern werden, sogar einen Hitlergruß an. Insofern hat Polanski diesen Zusammenhang ganz bewusst so inszeniert. Der Film ist eine genaue Auseinandersetzung mit vielen Erfahrungen aus seiner Kindheit. Und die phantastische, kindliche Perspektive, in der sich vieles mit dem Märchen vermischt, gehört deshalb auch dazu. Es ist die seltsame Wahl eines romantischen Stoffes und der verspielte, kindliche Humor, der darüber fast hinwegtäuscht. Dass der anständige Alfred oft ängstlich zu Boden schaut und von den Blicken und Berührungen der dekadenten Vampire meistens peinlich berührt ist, deutet den eigentlichen Kontext eben nur behutsam an. Was es aber heißt, ein Vampir zu werden, kann man an der Figur von Shagal sehen. Er ist, wenn man die phantastische Ordnung des Films in den realen Hintergrund übersetzt, ein jüdischer Überläufer, der nun für die Nazis arbeitet. Daher ist es ihm auch untersagt, mit ihnen in derselben Krypta schlafen, weil selbstverständlich alle »Rassenunterschiede«, hier dargestellt als Klassenunterschiede, erhalten bleiben. Koukol nötigt ihn deshalb dazu, seinen Sarg im Pferdestall aufzustellen, was er zu Recht als wenig komfortabel empfindet. Shagal hat als Vampir keine großartige Zukunft zu erwarten und verschwindet im Film in einem Grab, nachdem er die blonde Dienstmagd (Fiona Lewis) seines Wirtshauses bereits selbst ausgesaugt hat, obwohl sie als Opfer für die anderen Vampire vorgesehen war. Shagal war von Anfang an dazu prädestiniert, zum Vampir zu werden. Seine perverse, sexuelle Gier drückte sich darin aus, dass er zuvor seiner Dienstmagd nachstellte, anstatt mit seiner dicken und nicht besonders attraktiven Ehefrau nachts das Ehebett zu teilen. Er schleichte sich auf das Zimmer seiner Magd. Er nannte sie »seine kleine Fee« und beobachtete sie gierig, wie sie auf allen Vieren den Boden seines Wirtshauses wischte. Gleichzeitig versuchte Shagal seine eigene Tochter Sarah, so gut er konnte, vor dem Grafen zu beschützen. Er versohlte ihr wegen ihrer Badeleidenschaft den Hintern, sperrte sie ein, damit sie Koukol nicht entdecken konnte (was dem Diener des Grafen dann aber doch gelang), und er zog auch mutig los, um Sarah vom Grafen zurückzuholen, nachdem dieser sie kidnappt hatte. Dabei wurde er jedoch selbst zum Vampir. 69


0HASE ))) $IE 2~CKKEHR DES 0OLITISCHEN


Eine geistreiche Autobiografie: The Ghost (2010) »Alle guten Bücher sind verschieden, aber alle schlechten Bücher sind exakt gleich. […] Sie klingen nicht wahr.« (Harris 2007, S. 75)

Polanskis neuster Film, der zu dem Zeitpunkt, als dieses Buch geschrieben wurde, noch nicht ganz fertig gestellt war, beruht auf dem Bestseller The Ghost (2007/Ghost) von Robert Harris. Dieser englische Autor wurde mit seinem ersten Roman Fatherland (1992/Vaterland) bekannt, eine intelligente Fiktion darüber, wie die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewannen und es dabei geschafft hatten, den Holocaust zu vertuschen, bis ihnen im Jahre 1964 jemand auf die Spur kam. Dieser Bestseller ist 1994 mit mäßigem Erfolg verfilmt worden. Bei The Ghost (2010) wird das sicherlich anders sein. Dabei wird der Film, welcher am 18. Februar auf der Berlinale laufen soll, nicht völlig unabhängig von dem derzeitigen Verfahren gegen den Regisseur rezipiert werden. Die Story von The Ghost basiert auf einer ganz ähnlichen Mischung aus Fiktion und politischer Geschichte wie Fatherland und lässt sich mit ihren starken visuellen Szenen sehr gut verfilmen. Harris selbst wurde engagiert, um das Drehbuch zu schreiben. Ein wesentliches Thema seines Politthrillers ist die Darstellung der Techniken eines Ghostwriters. Dieses literarische Motiv war bei Polanskis Interesse an Büchern sicherlich ein Grund für die Stoffwahl. Zudem kann der Regisseur bei diesem Sujet das traumatische Thema sehr gut entwickeln. Schon im Roman hat der Thrill keinen reinen Unterhaltungswert, sondern ist verbunden mit einem sehr ernsthaften, politischen Motiv. Ghost ist die Abkürzung für »Ghostwriter«. Das damit verbundene Wortspiel lieferte den Titel des Buches, den Polanski beibehalten hat. Schon am Anfang ist die Rede davon, was der Sammelbegriff für eine Gruppe von Ghosts wäre: ein »Geisterzug, eine Geisterstadt, ein Geisterschloss?« (Harris 2007, 273


Eine geistreiche Autobiografie

S. 17). Der Ghostwriter stellt sich auch seinem neuen Auftraggeber zunächst ironisch als »sein« ghost vor. Diese Szene hat Polanski bereits in seinen ersten, kurzen Trailer aufgenommen. Da der Ghostwriter dabei aber in die Fußstapfen seines toten Vorgängers tritt, wird diese Bemerkung von seinem Auftraggeber, dem englischen Premierminister und dessen engster Mitarbeiterin, im Roman als pietätlos empfunden (ebd., S. 88). Im Finale, wenn der Ghostwriter dann endlich die in Auftrag gegebene Autobiografie des englischen Premierministers schreibt, ist dieser tatsächlich bereits tot. Damit wird die einmal gesetzte Nuance seiner Berufsbezeichnung nochmals per Verdopplung verstärkt: »Jetzt bin ich also der ghost eines Geistes« (ebd., S. 367). Er schreibt tatsächlich die Biografie eines Toten. Und nun gelingt es ihm auf einmal auch, den passenden Tonfall seines Klienten zu finden. Die Schriftzeichen seiner Tastatur sehen für ihn wie die Zeichen eines Ouija-Bretts aus, mit dem abergläubische Menschen versuchen, den Kontakt zur Totenwelt herzustellen (ebd., S. 370). Es geht dabei um die Grenze zwischen Leben und Tod und die mögliche Rückkehr der Toten. Auch dies ist ein wiederkehrendes Polanski-Motiv, das in Dance of the Vampires, aber auch in Le locataire schon vorkam. Der Phantomcharakter eines Ghostwriters, der gewöhnlich versteckt bleibt, wird in Harris’ Roman eingehend erläutert, wodurch seine Rolle in ihr Gegenteil verkehrt wird. Denn sein Roman handelt vor allem davon, wie ein solcher Autor im Verborgenen arbeitet. Er lüftet die Geheimnisse seiner Arbeitsweise, was alleine schon ein spannendes Grundthema ergibt. Jedem Kapitel ist als schmückendes Beiwerk ein Motto aus einem Handbuch für Ghostwriter vorangestellt. Der Roman enthält so durchaus Elemente postmoderner Selbstreferenzialität und ist ausschließlich in der ersten Person Singular, aus der Sicht des Ghostwriters, geschrieben, dessen wirklichen Namen man niemals erfährt. Polanski hat diese Rolle mit Ewan McGregor besetzt, der in den Credits auch nur als »The Ghost« bezeichnet wird. Dieser sehr disziplinierte, schottische Schauspieler ist mit Trainspotting (1996/Trainspotting – Neue Helden), worin er einen Junkie spielte, sehr bekannt geworden. Er hat in Polanskis Film nicht nur zuweilen die gleichen strubbeligen Haare wie der Regisseur, er liegt mit ihm auch charakterlich auf einer Wellenlänge, weshalb diese Kombination exzellent gewählt ist. Der Ghost soll die Biografie des ehemaligen englischen Premierministers Adam Lang (Pierce Brosnan) schreiben. Die Besetzung mit Brosnan ist ebenfalls sehr passend. Der unterdessen schon etwas ältere britische Schauspieler hat 274


The Ghost (2010)

sich stets in Rollen als glatter Gentleman hervorgetan. International bekannt geworden ist er durch die TV-Serie Remington Steele (1982–87). Danach hat er viermal die Hauptrolle in James-Bond-Filmen (1994–2002) gespielt. Harris beschreibt den Premierminister als einen gutaussehenden Mann, der durch seinen Charme besticht. Es handelt sich um eine fiktionale Figur, die an Tony Blair angelehnt ist, der von 1997–2007 das Amt des englischen Premierministers ausgeübt hat. Blair wurde aufgrund seiner uneingeschränkten Unterstützung der Amerikaner beim Krieg gegen den Irak als »Bush’s poodle« (Buschs Pudel) beschimpft. Harris konstruiert in seinem Roman eine brisante Fiktion, welche die Hintergründe von Blairs außenpolitischen Entscheidungen gegenüber den USA erklären kann. Die Umstände seines Auftrags sind für den Ghost von Anfang an denkbar ungünstig, denn sein Vorgänger, der Ghostwriter McAra, ist gerade erst während seiner Recherchen ums Leben gekommen. Der Ghost soll nun McAras Arbeit fortsetzen und zu Ende bringen. McAra hat sich von einem Fährschiff ins Meer gestürzt, oder aber: Er ist ins Meer geworfen worden. Die Handlung bietet wie viele Thriller gleich zu Beginn einen Mordverdacht. Der tote Ghostwriter liegt im Roman wie ein Schatten auf der Seele des Ghosts und bestimmt sein Vorgehen. Der Biografienschreiber möchte darüber nicht nachdenken, dass er in die Fußtapfen eines Toten tritt (Harris 2007, S. 55). McAras Tod verfolgt ihn deshalb ständig unbewusst in seinen Träumen, wobei ich annehme, dass Polanski dieses Motiv nicht direkt zeigen wird. Allein durch die regnerische Landschaft, welche auch Harris sehr genau beschreibt, wird das depressive Moment seines Auftrags vermutlich ausgedrückt werden. Die Zeit drängt. Die Autobiografie des Ministers soll innerhalb von einem Monat fertiggestellt werden. Dem Ghost wird jedoch für eine schnelle Arbeit eine viertel Million Dollar angeboten, etwa das Zehnfache von dem, was er normalerweise dafür bekommen würde (ebd., S. 44). Kaum hat er das Angebot angenommen, wird er schon auf der Straße überfallen. Es sieht so aus, als habe man versucht, ihm das Manuskript von McAra zu stehlen, wobei er dieses noch gar nicht erhalten hat und in dem Moment ein anderes bei sich trägt (ebd., S. 40). An das tatsächliche Manuskript des toten Ghostwriters ist nur sehr schwer heranzukommen. Der Verlag und später auch die Mitarbeiterin von Lang verhalten sich extrem vorsichtig, wenn es um die Zugriffsrechte auf dieses Dokument geht. Zudem befindet es sich gar nicht in London. Der Ghost muss von London in die USA fliegen, um dort den englischen Premierminister zu 275


Eine geistreiche Autobiografie

treffen, und hat ausschließlich in dessen Wohnung das Recht, das Dokument einzusehen und daran zu arbeiten. Lang hat in Neuengland einen Wohnsitz auf der abgeschiedenen, kleinen Insel mit dem weiblichen Namen »Martha’s Vineyard«. Polanski verlegte den Drehort dafür vor allem nach Sylt, drehte aber weitere Außenaufnahmen, die auf dieser Insel spielen, an der Ostsee (u.a. in Usedom). In Martha’s Vineyard findet ein wesentlicher Teil der Handlung statt. Wurde schon Nóz w wodzie in einem polnischen Feriengebiet gedreht, so ist Sylt sicher einer der exklusivsten und nobelsten Ferienorte in Deutschland. Auf diesem Tummelplatz deutscher Prominenz wird es einfach gewesen sein, ein passendes, teures Anwesen zu finden, das für die Außendrehs geeignet war. Martha’s Vineyard, so heißt es im Roman, war einst »eine Sommerspielwiese für die Kennedys gewesen« (ebd., S. 65). Auch dieser Roman von Harris enthält einige Assoziationen zum faschistischen Deutschland, von dem ebenfalls Fatherland gehandelt hatte. Am Anfang, als in London ein Bombenangriff erfolgt, der sich im Finale wiederholen wird, ist die Rede davon, dass sich Hitler seine Luftangriffe auf die Stadt hätte sparen können, wenn er einfach ein paar Jugendliche mit selbstgebastelten Bomben losgeschickt hätte (ebd., S. 21). Die überhöhten Sicherheitsmaßnahmen am Flughafen werden von dem Ghost mit dem Management eines zukünftigen Holocausts verglichen (ebd., S. 48). Langs Regale sind voll von Büchern über die deutsche Militärgeschichte, und der Premierminister kennt sich sehr gut damit aus. So stellt er fest, dass es ein Wunder gewesen sei, dass die Alliierten den Krieg gewonnen haben, wo doch die Deutschen schon 1944 Kampfjets besessen hätten (ebd., S. 73 u. 105). Bei der Ankunft auf dem Gelände in Martha’s Vineyard muss der Ghost beim Betrachten des Gebäudes an das Feriendomizil des NS-Architekten Albert Speer und die Wolfsschanze denken (ebd., S. 70). In diesem Gebäude erwartet ihn die attraktive Amelia Bly, die wichtigste weibliche Mitarbeiterin in Langs Stab und seine Geliebte. Polanski besetzte die Rolle der eleganten blonden Frau mit Kim Cattrall, einer kanadischen Schauspielern, die in der Fernsehserie Sex and the City (1998–2004) und dem späteren Kinofilm (2008) als Samantha Jones zu sehen war. Sie spielte schon dort eine PR-Agentin, für die weibliche Erotik ein wirksames Mittel bei der Durchsetzung der eigenen Interessen ist. Im Roman wird Miss Bly abwertend beschrieben als eine Frau, die so viel Make-up trägt, als arbeite »sie in der Kosmetikabteilung eines Kaufhauses« (ebd., S. 71). Polanski wird sie sicherlich mit 276


The Ghost (2010)

mehr Sympathie inszenieren, als Harris für diese intelligente Frau aufbringen konnte. Bly ist als Langs PR-Agentin für alles verantwortlich, was vonseiten des ehemaligen Premierministers über ihn an die Öffentlichkeit gerät. So wird sie zu einer Art Komplizin des Ghosts, die ihm außerdem hilft, ein gutes Verhältnis zu Lang zu entwickeln. Zugleich bekundet sich in ihr Langs Schwäche für attraktive Frauen. Dieses Interesse teilt er vielleicht nicht ganz zufällig mit dem mittlerweile in die Jahre gekommenen Regisseur. Langs Ehefrau Ruth ist im Roman bereits älter, ihre Rolle wurde im Film jedoch mit der dunkelhaarigen, relativ jungen und sehr britisch aussehenden Olivia Williams besetzt. Polanski verkehrte so die Verhältnisse gegenüber dem Roman: Catrall, die Langs Geliebte Amelia spielt, ist zwölf Jahre älter als die Schauspielerin, die seine Ehefrau darstellt. Auf Ruth trifft der Ghost schon kurze Zeit nach seiner Ankunft auf Martha’s Vineyard. Als er dort ankommt, sind Amelia und sie gerade dabei, sich über ihr jeweiliges Verhältnis zu Lang und die damit verbunden Rechte zu streiten. Ruth Lang, mit ihrem blassen Gesicht und ihren kurzen, dunklen Haaren, die anfangs abstehen wie »die Schlangenhaare der Medusa« (ebd., S. 78), ist selbst der Schlüssel zum Geheimnis der Biografie ihres Mannes. Sie ist das Zentrum seiner politischen Macht. Lang ist nur derjenige, der ihre Pläne umsetzt. Mrs. Lang hatte auch die Idee, den neuen Ghostwriter zu engagieren (ebd., S. 80). Diese Struktur dominanter weiblicher Führung tauchte bereits in vielen Filmen des Regisseurs auf. Ruth Lang wird vom Ghost sogar einmal »Lady Macbeth« genannt (ebd., S. 241). Adam Lang gibt im Roman auch zu, dass er seiner Mutter näher stand als seinem Vater. »Glauben nicht alle Söhne, dass ihre Mütter Heilige sind?«, sagt er zu dem Ghost (ebd., S. 123). Auch der Ghost selbst ist gegenüber Frauen ein Gentleman, der in der Lage ist, sich ihren Interessen diskret unterzuordnen. Zudem ist er Single und hat nur eine lockere Beziehung zu einer Freundin, die am Ende des Romans einen anderen Mann heiraten wird. »Manchmal habe ich einen Albtraum, in dem sich alle Frauen versammeln, mit denen ich geschlafen habe« (ebd., S. 25). Der Ortswechsel von London in die USA und der damit verbundene Vergleich, »Neuengland ist im Wesentlichen das alte England auf Anabolika« (ebd., S. 55), heben zugleich die territoriale Problematik der Story hervor. Es gibt auf der Insel viktorianisch gekleidete Hausmädchen und einen ebenso viktorianischen Leuchtturm (ebd., S. 60 u. 62), die jedoch nicht darüber hinwegtäuschen können, dass man sich in den Vereinigten Staaten befindet. 277


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