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Liebe รผber Alles Alles รผber Liebe Ein aktueller Versuch รผber die ยปKunst des Liebensยซ
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0SYCHOSOZIAL 6ERLAG
596 Seiten, Rรผckenstรคrke: 51 mm
Sachbuch Psychosozial
Thomas Ferdinand Krauß
Liebe über Alles Alles über Liebe Ein aktueller Versuch über die »Kunst des Liebens«
Psychosozial-Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Originalausgabe © 2009 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen. Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: info@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Keith Haring © The Estate of Keith Haring Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Gießen www.imaginary-art.net Druck: DIP Digital Print, Witten-Annen www.digitaler-druck.com Printed in Germany ISBN 978-3-8379-2008-6
5
Inhalt
Danksagung
11
Vorwort
13
Einleitung
23
Teil 1 Der erste Augenblick der Liebe: Wenn zwei sich finden
35
Bios Intuition: Der erste Eindruck Riechen First Sight Prinz und Prinzessin Die Geburt des M채rchenprinzen Liebenswerte Eigenschaften Keep Smiling Das Positive Friendly Fire Stimmigkeit
35 41 48 56 57 60 64 66 67 70 73
6 · Inhalt
Intelligenz und die Art zu reden Topf und Deckel Pfauenschwanz Gefühle Good Looking Tauschgeschäfte … wie ich wirklich bin … Kommunikation Interaktion Liebe ist Interaktion Liebe ist nur ein Wort Liebesobjekt – Liebessubjekt Wechselseitigkeit Tiefenstruktur Die Richtigen Normalverrückt Kontrolle und Sicherheit Bühne und Applaus Harmoniesuche und Moral Abwechslung und Distanz Mischformen Narziss Selbstbezogenheit Mensch und Kategorie Liebesfähigkeit Liebesunfähigkeit Wellenlängen
78 87 94 97 104 106 114 125 130 135 140 140 142 145 148 152 153 155 157 159 162 163 169 172 177 180 182
Inhalt · 7
Teil 2 Sexualität Sex … an und für sich Chemie: Dopamin, Opiate, Oxytocin Monogamie Liebesforschung No Instincts Überschuss Schranken Genuss sofort! Lustbefehl Parts Party Onanisierung Stau Heiligkeit Scheu Tabubruch Verführung Correctness … am anderen Ort Enterotisierung Was tun? Körper-Ich Fitness Alternativkörper Körperzeichen
185 186 188 190 194 197 203 212 215 220 222 225 226 232 235 237 240 243 245 248 252 257 263 266 268 270
8 · Inhalt
Klon Ficken Drei Stufen des Sexuellen: Autismus, Verhandlungsmoral, Erotik Sex, Erotik, Liebe
Teil 3 Verliebtheit & Liebe The Day After Naven Verliebtheit Bollywood Abwehr und Verlangen Start-up Die große Liebe Project Partnership Wirklichkeit und Realität Die wahre Liebe Liebe ist … Platonische Liebe … ein seltsames Spiel Liebestöter Diätetische Liebe Ehrenrettung Wirkliche Liebe Keine Selbstverständlichkeiten Hausbau
271 275 280 355
365 366 368 370 385 391 396 399 402 406 409 412 416 423 431 433 442 457 460 465
Inhalt · 9
Nähe und Distanz Stilvolle Bindungen Die Zweierbeziehung Säulen Nur ein Wort Liebeskonsens Treue Untreue Geschlechter Mrs Yin und Mr Yang Dreiklang Wunder
Literatur
482 492 495 503 517 524 528 539 546 550 558 574
579
13
Vorwort
Noch ein Buch über die Liebe? Warum? Weil es fehlt. Weil es an der Zeit ist. Wieso? Es gibt doch bereits eine Unmenge an Büchern über die Liebe. Das ist es ja gerade! Es gibt hunderte, ja tausende von Büchern, in denen über die Liebe geschrieben wird. Aber es fehlt eine Synthese. Es fehlt eine zusammenfassende Erörterung all der Erkenntnisse. Was nun eigentlich ist Liebe? Da sagt jeder etwas anderes … Kein anderes Thema wird wohl so umfassend behandelt. Bei amazon.de wirft die Suchfunktion 842 Bücher allein für das Jahr 2006 aus, die auf irgendeine Weise das Wort Liebe enthalten. Doch Vorsicht! Nicht immer ist Liebe drin, wo Liebe draufsteht. Sogar bei weitverbreiteten »Klassikern«, maßgeblichen Büchern, die den Zeitgeist durchdrungen und das Allgemeinverständnis von der Liebe geprägt haben, wird man enttäuscht. Die Liebe, wie sie dort zuweilen gepredigt wird, ist nicht immer die Liebe, die Menschen meinen, wenn sie von ihr träumen. Manch stattlicher Liebesbegriff verspricht da das Blaue vom Himmel, doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass das auch nicht das Gelbe vom Ei ist. Erhebt sich nämlich in den erhabenen Liebesvorstellungen, die am allgemeinen Diskurs teilhaben, der pädagogische Zeigefinger oder beginnt gar ein verklärtes Raunen, dann protestiert die gelebte
14 · Vorwort
Liebe gegen solche hehren Überzeugungen, die ihr im Grunde ganz wesensfremd sind. Und dann ist bei solchem aus dem inneren Zentrum der Liebe kommenden Protest gegen die lebensfernen Ideen von ihr zu fragen, wie sich dieses Innen der lebendigen Liebe zusammensetzt und aus welchen Ingredienzien sie wirklich besteht. Hier hilft allein die Selbstbesinnung der Liebe, die ihre allzu edlen Vorstellungen von sich in die gelebte Wirklichkeit zurückführen kann. Indem sie sich selbst durchdenkt und ihrer Voraussetzungen erneut vergewissert, kann die Liebe wieder auf den Teppich kommen, wo sie sich dann in der richtigen Schwebe befindet zwischen dem harten Boden der Tatsachen und ihrer Wesensbestimmung, den Menschen Flügel zu verleihen. Es gibt in der Tat eine Unmenge von Liebesbüchern, die diesen oder jenen Diesseitigkeits- oder Jenseitigkeitsaspekt hervorheben, aber keines, das synoptisch zusammenführt, was man heute einfach über die Liebe weiß und wissen sollte und somit den gegenwärtigen Diskurs behandelt. Nirgends wird die Frage beantwortet, wie heute, bei all der immensen Wissensflut, Liebe zu verstehen ist. Wie ist sie am Beginn des 21. Jahrhunderts, gut 50 Jahre nach Erich Fromms Kunst des Liebens, zu fassen? Viele reden von der Liebe auf ihre höchstpersönliche Weise und eine jede und ein jeder hat dabei natürlich eine Ansicht, eine Meinung, eine Erfahrung und eine Erklärung. Mindestens eine. Die Professionellen, die sich mit der Liebesforschung oder mit Beratung und Therapie in Liebesdingen beschäftigen, reproduzieren in aller Regel die Essentials, die ihr Wissenszweig hergibt: Die Biologen reproduzieren Biologisches, die Psychologen Psychologisches und die Therapeuten strengen sich an, den Leuten mit ihren Techniken und Lebensweisheiten, die sie hundertfach erprobt und mittlerweile sogar an die Gesetzlichen Krankenkassen weitergegeben haben, das beizubringen, was diese zur Lösung ihrer Liebesprobleme offenbar noch lernen müssen. Was aber fehlt, ist ein Überblick. Ein kritischer Überblick. Kritik kommt von: Unterscheiden, Auseinanderhalten. Das vorliegende Buch kommentiert den gegenwärtigen Diskurs über die Liebe, es referiert, es polemisiert, es stimmt zu, es setzt das Mosaik neu zusammen, es
Vorwort · 15
setzt sich auseinander. Insofern versteht es sich als Sachbuch, weil es aufgreift, was zur Sache gesagt und gedacht wird. Nicht wird, wie im innovativen Denken, grundsätzlich Neues behauptet, und auch nicht, wie im verschärften kritischen Denken, das Vorhandene grundsätzlich negiert. Indem es sich in der Zusammenschau auseinandersetzt, setzt es das Vorhandene neu zusammen. So entstehen neue Erkenntnisse über die Liebe, und zwar just aus der Neukomposition des vorhandenen Wissens über sie. Diese Erkenntnisse werden von der Hoffnung begleitet, dass sich durch deren Darlegung in einem Buch über die Liebe die gängigen Argumentationslagen des Zeitgeistes im Sinne eines Einstellungswandels beeinflussen lassen. Aus diesem Grunde kann es daher keineswegs darum gehen, die Liebe vorrangig im Zustand ihres spätmodernen Scheiterns oder ihres Verkümmerns zu nehmen, um dann mit viel Positivität und professionellem Wissen über richtige Kommunikation und das richtige Handeln ihr Wiedererstarken voranzutreiben, wie es die Beratergilde tut, die damit das Elend bestätigt. Denn die sogenannte Zweierbeziehung, die da mit den Liebesratgebern ›therapiert‹ wird, hat mit Liebe in der Regel nicht allzu viel zu tun. Auch kann es nicht darum gehen, die Liebe als prominenten Beweis einer wissenschaftlichen Modethese oder eines fundamentalen Erklärungsparadigmas heranzuziehen und sie, etwa evolutionsbiologisch oder kommunikationstheoretisch oder psychoanalytisch durchzudeklinieren. Und schließlich kann es nicht darum gehen, allein ihre kulturellen und gesellschaftlichen Daseinsbedingungen zu beleuchten (vgl. Illouz 2007a), um am Ende vielleicht ihre Unmöglichkeit oder ihre Relativität oder ihre Interdependenz mit allem, was sie als etwas Bedingtes dastehen lässt, zu behaupten. Nein, es muss schon aus der Zusammenschau herausschauen, was die Liebe von innen, gewissermaßen aus der Teilnehmerperspektive ihres eigenen Anspruchs und ihres eigenen Wollens und Strebens ist. Und das auf der Basis des gegenwärtigen Wissens und, vor allem, des allgemeinen Diskurses, der sich an dieses veröffentlichte Wissen dranhängt. Denn die Liebe, so wie wir sie heute verstehen, realisiert sich inmitten des gegenwärtigen Diskurses über die Liebe (vgl. Liebsch 2008, S. 131ff.).
48 · Teil 1 · Der erste Augenblick der Liebe: Wenn zwei sich finden
Riechen Eine Vielzahl undurchschaubarer, blitzschneller Informationen fliegt uns an und bestimmt intuitiv, wer rasch unsere Sympathie genießt oder wer prompt in Ungnade fällt. Wenn alles passend und stimmig ist, dann stellt sich jenes leise kribbelnde Gefühl ein, das ein Vorbote des Verliebtseins sein dürfte. Dich konnte ich von Anfang an gut riechen, sagen wir im Nachhinein und meinen, ohne es zu ahnen, genau das, worum es wortwörtlich geht. Biologisches drängt sich abermals auf, denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir körperlich aufeinander reagieren, noch bevor Worte gewechselt werden und der Geist einschreitet. Das Vermögen unserer Nase und ihr Einfluss auf unser Gefühlsleben scheint immer noch größer als wir gemeinhin annehmen, denn die Nase lenkt uns auch im grauen düsteren Alltag auf den Weg der bunten Vielfalt und nimmt ihre Witterung dort auf, wo Blütenduft und Pesthauch dicht beieinander liegen. Der Geruchssinn ist, was die Entwicklung der Menschheit und was die Entwicklung einer einzelnen Person angeht, der frühere, archaische Sinneseindruck. Er liegt vor dem dann dominant werdenden Gesichtssinn. Verführerisches Wohlfühlaroma, welches unbemerkt von irgendwo her in uns hineinströmt, senkt in der Regel die Hemmschwelle unserer Berührungsängste und ermöglicht, noch bevor das Auge seine dominante Rolle übernommen hat, die Liebe auf den ersten, besser: die Liebe noch vor dem ersten Blick. Wer mehr oder weniger gezielt auf Partnersuche ist, dürfte ein einfaches, pragmatisch handhabbares Raster zur Beurteilung in Kopf und Bauch haben, das etwa drei Hauptkategorien für die Wunschkandidaten umfasst, die auf einer ansteigenden Qualifikationslinie liegen: akzeptabel, interessant und traumhaft. Traumgestalten werden aus dem schmiegsamen Material der Sehnsucht erschaffen, und manchmal zeugt das innige Verlangen nach Symbiose in der Fantasie eine Idealfigur aus Gleichklang und Übereinstimmung mit sich selbst. Dann ist der Schritt zur Geburt eines Märchenprinzen oder einer Märchenprinzessin nicht mehr weit. Die Frage, ob ich meiner subjektiven Fantasie oder der objektiven
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Wirklichkeit aufsitze, ist bei der inneren Verarbeitung des allerersten Eindruckes nicht leicht zu beantworten. Eigentlich ist sie gar nicht zu beantworten. Zu komplex sind die polymorphen Informationen, die meine Gedanken und Gefühle verwirren. Aber ist die Beantwortung dieser Frage überhaupt relevant? Ist es nicht völlig egal, ob dieser Mensch da, den ich gleich gut riechen kann, mich durch die Beschaffenheit meiner eigenen Nase oder seines höchstpersönlichen Geruchs fasziniert? Die Überlebensfrage, »Freund oder Feind?«, war unter urzeitlichen Bedingungen vielleicht kommentarlos klar und eindeutig zu beantworten. Im Dschungel des modernen gesellschaftlichen Lebens allerdings glauben wir, auf kultiviertere Richtschnüre zurückgreifen zu müssen, um freundschaftliche oder feindselige Gefühle bei Mitmenschen und Wunschpartnern hervorzubringen. Viele Männer, die nicht in der Anonymität der Masse ihrer Geschlechtsgenossen untergehen wollen und ebenso viele Frauen, die von ihm und keinem anderen entdeckt werden wollen, verlassen sich längst nicht mehr biologistisch darauf, dass ihre natürliche Ausstrahlung bei anderen einen positiven ersten und entsprechend nachhaltigen Eindruck erweckt. Sie sehen ihren Weg zum Erfolg darin, ihre Außenwirkung mit diversen Kunstgriffen aufzupeppen. Schrill oder edel muss das Outfit sein, mindestens aber individuell, wenn es in der Massengesellschaft einen echten Hingucker wert sein soll, und der Auftritt ist meistens eine entsprechende Provokation, untermalt mit einem Parfüm, das auf jeden Fall verleugnen soll, dass der Partnersuchende einen verlockenden, riechenden Körper hat, der wie die Seele, geliebt werden will. Wer morgens vor Arbeitsbeginn an einem Geschäft vorbeigeht, dem eine Geruchsmischung aus frisch gemahlenem Kaffee, Brot, und Kuchen entströmt, hat zuweilen sehnsüchtige Erinnerungen an ein gemütliches Sonntagsfrühstück, gemeinsam zelebriert mit einem einmal geliebten Menschen, mit guten Freunden oder einfach nur untermalt mit schöner Musik zum Träumen. Vielleicht entsteht eine Vorfreude auf den nächsten freien Tag mit Ausschlafen, Muße und Genuss. Die Sinne empfangen Wohlfühlaroma, die Gedanken kreisen blitzartig um wunderbare Momente von Ungebundenheit, Freude und Spaß. Der
50 · Teil 1 · Der erste Augenblick der Liebe: Wenn zwei sich finden
Bauch signalisiert gute Laune. Die nächste Begegnung mit einer bekannten oder mit einer fremden Person wird von dieser Positiv-Einstimmung profitieren. Wer uns in solchen Augenblicken in die Quere kommt, wird eher mit einem Flirt beglückt als mit schnöder Abfuhr. Umgekehrt funktioniert der Mechanismus allerdings ebenso gut, beziehungsweise, in diesem Falle, unheilvoll. Es gibt nämlich auch so etwas wie »Frust durch Duft« (Der Spiegel 18/2003, S. 148). Möglicherweise empfangen die Sinne dieselben Signale, und auch die Assoziationen nehmen lustvoll ihre Fährte auf, aber der Bauch grummelt dazu, weil das Frühstück zu Hause in der Kindheit neben der geruchlichen Verheißung immer mit Vaters dämlichen Standpauken kontaminiert war, und die Gedanken verengen sich ärgerlich auf Pflichterfüllung, Einschränkung und Fremdbestimmtheit. Forschungsergebnisse der Brown University in Rhode Island bestätigen, was man erfahrungsgemäß längst weiß: Wiedererinnerungen sind oft mit einen Geruch verbunden, der im Moment des damaligen Erlebens on air, das heißt in the air, war. Durch denselben Geruch werden dann die früheren Gefühle wiederbelebt. Nun ist schlechte Laune angesagt, und die nächste Begegnung ist damit entsprechend vorbelastet. Wer in solcher Stimmungszusammensetzung unseren Weg kreuzt, kommt uns gerade recht, um als Ventil für unseren Frust herzuhalten. Vielleicht ringen wir uns ihm oder ihr gegenüber gerade mal das ab, was man euphemistisch einen aggressiven Flirt nennt, der von souveränen Zeitgenossen und -genossinnen zu unserer Überraschung vielleicht sogar richtig verstanden wird. Aber meistens formulieren wir eine mehr oder weniger offene Kampfansage, damit es zum Schlagabtausch kommt. Der Seelenfrieden muss wiederhergestellt werden, und sei es durch eine schnell vom Zaun gebrochene Auseinandersetzung mit Menschen, die an unserem inneren Drama und seiner Bewältigung gänzlich unbeteiligt und unschuldig sind. Was hat das mit der Liebe zu tun? Nun, so manche Chance zu einer lohnenden Kontaktaufnahme wird auf diese Weise vergeigt. Auch in der Nase, diesem archaischen Sinnesorgan, mischen sich die lebensgeschichtlichen Erfahrungen in liebsamer oder unliebsamer Weise und unsere spontanen Reaktionen sind so spon-
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tan nicht, wie sie sich anfühlen. Dort wo wir meinen, höchstpersönlich und äußerst subjektiv zu sein, sozusagen unserer Natur freien Lauf zu lassen, haben sich soziale Verhältnisse und Zwangszusammenhänge eingenistet, die geeignet sind, den noch so duftenden Kaffee zur ekelerregenden Brühe werden zu lassen. Leider ist es noch komplizierter mit der Erinnerung und mit den Assoziationen. Der Kaffeeduft kann zwar durchaus eine hochexplosive oder eine absolut betörende Gefühlsmischung an die Oberfläche der Empfindungen katapultieren und einen zuckersüßen oder gallebitteren Nachgeschmack des Erlebten wachrufen, aber das Bewusstsein bringt es fertig, sich gegen die bestimmten Gedächtnisinhalte und gegen die damit verwobenen Wünsche, Sehnsüchte und Ängste aus der Vergangenheit zu sperren: Wir wissen gar nicht, wieso wir uns jetzt so blöd oder so toll fühlen. Der Zustand eines bloß diffusen Wohlbehagens, der im flachen Irgendwie hängen bleibt oder einer völlig unklaren Lustlosigkeit, die sich als Frust ihren Weg bahnt, macht sich breit. Die nachfolgende Verwirrung der Stimmung lässt sich meistens kaum zurückverfolgen und daher auch nicht auflösen. In bestehenden Partnerschaften ist diese Unbewusstheit und dieses blockierte Erinnerungsvermögen oftmals ein Graus, und es entstehen mitunter wahnwitzige Spannungen und furchtbarer Streit, die sich aus nicht zurückzuverfolgenden Assoziationen speisen, die ein Kaffeegeruch oder irgendetwas anderes ausgelöst haben mag. Für den Beginn einer Liebesgeschichte dürfte diese Karambolage zweier Assoziationswelten ebenso der ausschlaggebende Moment sein, sofern es sich dabei um zwei zusammentreffende Sphären handelt, die durchweg positiv aufgeladen sind. Deshalb versuchen die Internet-Chatter in den Partnerschaftsforen ihre Matches auf diesen Ebenen herzustellen: Was magst Du lieber, Leberwurstbrot oder Hyazinthenduft? Die Passung des Profils, wie es von der dazugehörigen Psychologie zuweilen genannt wird, soll schließlich das entscheidende Kriterium für die spätere Stabilität einer Liebe sein (vgl. Illouz 2007a, S. 234; Illouz 2007b, S. 117). Oft genügt ein kleinster Sinneseindruck, um dem eigenen Verhalten die weitere Richtung vorzugeben. Blond muss er sein. Dunkle Haare muss sie haben. Ihre Stimme! Seine Augen!
266 · Teil 2 · Sexualität
Fitness Auf dem Banner des allgemeinen Wandels steht der Wert Gesundheit. Nach Wiederaufbau, Revolte und Reintegration der widerstrebenden Kräfte hat sich das gesellschaftliche System darauf kapriziert, positiv zu sein und allerorten nun zu heilen, zu reparieren oder gesund zu halten, wo der institutionalisierte Dauerverfall notwendig seine Opfer zeitigt. Das sind mehr als 11.000 gelungene Selbsttötungen, ein Zehntel bis ein Zwanzigstel aller Suizidversuche, die alljährlich in Deutschland stattfinden. Und das sind mindestens 15 Millionen westliche Bundesbürger, die nach einem Massenscreening des Mannheimer Instituts für Seelische Gesundheit weit noch vor der Wende, eine recht gravierende psychogene Störung aufweisen. In den psychotherapeutischen Bemühungen, in Körper- und Seelenarbeit am gestörten Kunden offenbart sich praktisch-sinnlich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft genauso wie in den gesellschaftlich gratifizierten Definitionen von Gesundheit und Krankheit theoretisch-abstrakt. Weltanschauung und gehandhabte Praxis ergänzen einander aufs Trefflichste. Die Hinwendung zu scheinbar effektiveren Therapiemethoden und die Abwendung von anderen, beispielsweise von der Psychoanalyse, stehen in diesem Zusammenhang. Vorbei die Zeit, da psychologische Kategorien auch als politische gesehen wurden. Vergessen die Erkenntnis, dass Krankheit, zumal die psychogene des Körpers, »als selbstzerstörerische Flucht aus dem Gehäuse der Hörigkeit, als ins Organische übersetzte Unbehagen an der Kultur« (Greiff 1986, S. 63) gedeutet wurde. Dass Therapie auch wesentlich Gesellschaftskritik und Heilen immer auch Politikum ist, wird von einem Krankheits- und Gesundheitsverständnis vergessen gemacht, das, individualistisch wie die Massengesellschaft, die es hervorbringt, bloß auf die Leistungsfähigkeit der Einzelnen und bloß auf die soziale Kontrolle seines sonst abweichenden Verhaltens kapriziert ist. Medizin und gelegentlich Jurisprudenz sind heute die gesellschaftlichen Medien, die gesund und krank voneinander abgrenzen. Die Krankheiten in der Gesellschaft, und schon gar die der Gesellschaft, bedürften aber nach wie vor eines viel umfassenderen Begriffs, der den
Fitness · 267
in die einzelnen Lebensgeschichten eingebundenen Konflikt zwischen dem Individuum und dessen sozialen Verhältnissen zusammenfasst. Individuelle Krankheiten sind immer auch »als Resultate unterschiedlichen Umgangs mit psychosozialen Konflikten« (Horn/Beier/Kraft-Krumm 1984, S. 20) zu deuten. Aber das ist Gerede von gestern. Heute befindet sich Krankheit im Alleinbesitz kurativer Medizin, und die hat mit kritischer Theorie nichts mehr am Hut. Angeschlossen sind die Fitnessstudios, die Wellness-Hotels und die Bräunungsinstitute. Durch die Medikalisierung der Konflikte bleibt die Definitionsmacht über Gesundheit und Krankheit beim System und seinen Experten, welche die Krankheiten, losgelöst von demselben gesellschaftlichen System, das sie vermittelt hervorbringt, in den heilenden Würgegriff nehmen. Krankheiten waren einmal als adäquate Antwort des somato-psychischen Organismus auf Unerträglichkeiten verstanden worden, die zu verändern wären. Krankheiten, so die radikalisierte These, waren verzweifelte Selbstheilungsversuche (vgl. Beck 1985). Heute hingegen dürfte just das Gesunde Teil einer allumfassenden Krankheit sein. So will es scheinen, dass Georges Devereux zu spätem Recht kommt, wenn er sagt, dass es gesellschaftlich bereitgestellte Devianz-Modelle gibt, vorgeschlagene Pathologien, die »eine Kultur ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt« und die es erlauben, »einen intrapsychischen Konflikt auszudrücken und eine Scheinlösung dafür zu entwickeln, ohne daß man deswegen gleich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird« (Nathan 1979, S. 15). Diese gesellschaftlich erlaubten und vorgeschlagenen Formen abweichenden Verhaltens normieren die Psyche der Massen. Solche Normierung dürfte sich aber auch in den gesellschaftlich vorgeschlagenen Mustern für das verbergen, was der Zeitgeist mittlerweile als Wert an sich anpreist – in der offiziellen Gesundheit. Gesundheit, Konsum- und Leistungsfähigkeit sowie entsprechend properes Aussehen sind, als realer Schein, mit dem der Zeitgenosse sein Selbst ins rechte Licht zu setzen hat, geradezu zur Pflicht geworden. Darauf hatte, genauso wie Erich Fromm, Theodor W. Adorno bereits Mitte des letzten Jahrhunderts hingewiesen: Dass die Krankheit gerade
268 · Teil 2 · Sexualität
im Normalen, dass das Pathologische in der gesellschaftlich verordneten Gesundheit zu suchen ist. Heute dürfte sich der damals kassandrahaft beklagte Integrationsprozess vollendet haben. An die gesellschaftliche Modellierung der Persönlichkeitsdefekte und Neurosen durch die Bewusstseins- und Kulturindustrie hat sich eine des Körperschemas, gar des somatischen Substrats selbst angeschlossen, welche die äußere Körpererscheinung, schizoid abgespalten ihrem Träger gegenüber, zum Gegenstand von Prestige und Status macht. Die Metrosexuellen, die in einer coolen Bar am Tresen hängen, im Cookies oder im 103, wissen ein grelles Lied davon zu singen. Davon zeugt die Sucht nach unaufhörlicher Fitness, dieser sozialpathologische Kleinkrieg gegen den eigenen Körper im Dienste des KörperObjekts. Der französische Kultsoziologe Baudrillard merkte hier an, dass diese moderne Ethik, im Gegensatz zur traditionellen Ethik, die wollte, dass der Körper diene, »nunmehr jedem befiehlt, seinem eigenen Körper zu dienen« (Baudrillard 1981, S. 112) – die Befreiung des Körpers habe diesen zu einem Objekt repressiver Fürsorge werden lassen. Im sozialpathologischen Fitness-Terror wird das funktionalistische Gesundheits- und Krankheits-Konzept, nach welchem die Erkrankung Abweichung von gesellschaftlich normiertem Verhalten sein soll, zur lebendigen Realität, die Abstraktion zum empirischen Fakt. Die gesellschaftlichen Bilder vom gesunden Körper sind klar und eindeutig: Gesund ist, wer sich so verhält und vor allem, wer so aussieht wie Lifestylemanagement und Beautyfarm es ausmalen. Die Oberflächen: Das sind ganz konkrete normative Vorgaben.
Alternativkörper Dennoch, und vielleicht gerade deshalb, trotz der Totalvergesellschaftung des Körpers und insbesondere auch der daran angeschlossenen Sexualität, gibt es Lücken in der totalen Integration. Sonst würden die Menschen nicht leiden, wenn sie nicht insgeheim wüssten, dass es jenseits der Welt des realen Oberflächenirrsinns etwas anderes gibt: dass es, der Realität entrückt, Liebe und beglückende Sinnlichkeit gibt.
Säulen · 503
Säulen Es geht zum Beispiel um Säulen der Liebe, wie anhand des Inhaltsverzeichnisses des Buches von Witte und Wallschlag deutlich wird: »›Wir zeigen uns, dass wir uns lieben.‹ Die erste Säule der Liebe: die Beziehungsdefinition. ›Das mag ich an dir; das passt mir nicht.‹ Die zweite Säule der Liebe: die verbale Beziehungskritik. ›Du willst dies und ich jenes.‹ Die dritte Säule der Liebe: die Machtbalance. ›Ich will dir nahe sein.‹ Die vierte Säule der Liebe: die emotionale Beziehung. ›Gemeinsam sind wir stark.‹ Die fünfte Säule der Liebe: die Abgrenzung nach außen und der Kontakt mit anderen« (Witte/Wallschlag 2000, S. 5f.).
Unterstellt wird wohl, dass die Ratsuchenden etwas Entscheidendes nicht wissen oder es einfach nicht verstanden haben. Ratschläge sind auch Schläge, sagt man unter professionellen Helfern, um auf jeden Fall zu vermeiden, dass in der psychologischen Beratung Ratschläge erteilt werden. Man versucht dort stattdessen, mit den Ratsuchenden zusammen deren höchstpersönlichen Weg und deren höchstpersönliche Entscheidungen kommunikativ zu erarbeiten. In der Ratgeberliteratur ist die individuelle Problemerörterung naturgemäß nicht möglich. Hier wird viel eher versucht, allgemeinen Mustern nachzuspüren und entsprechend allgemeine Richtlinien zu verfassen. Leider gehört offenbar zu den allgemeinen Mustern die Annahme oder auch die Beobachtung, dass Zweierbeziehungen nach Klischees verlaufen: Nach der Verliebtheitsphase mitsamt intensivem Gefühlsaustausch geht’s bergab: »Ist der Prozess der Paarbildung abgeschlossen, reden Paare auch nicht mehr so viel über ihre Partnerschaft. Auch die Liebesbeweise werden seltener. In dieser Phase öffnen Paare sich wieder mehr zur Außenwelt. […] Die romantische Komponente nimmt ab« (ebd., S. 50). geschrieben von Holger Schlageter und Patrick Hinz. Das alles sind Versprechen, uns die Sache nun wirklich ganz, ganz einfach zu machen.
504 · Teil 3 · Verliebtheit & Liebe
Sollte das Klischee tatsächlich zutreffen und nicht nur ein Produkt der Beratergilde sein, dass Leidenschaft und Dauer sich nicht miteinander vertragen85, dann wäre, Ratschlag hin oder her, doch auch einmal zu hinterfragen, ob es in der Tat nur der Binnendynamik von Liebesbeziehungen mitsamt gegebenenfalls ihren biologisch-hormonellen Hintergründen anzulasten ist, dass die Liebenden die Kraft verlieren, sich zu lieben. Die Schwerkraft der sozialpsychologischen Verhältnisse jedenfalls wird in den Ratgeberbüchern nicht angesprochen. Es könnte ja auch sein, dass die Liebenden Kinder der Jetztzeit sind und vom allgegenwärtigen Konsumismus derart durchtränkt, dass ihnen gar nicht bewusst ist, wie unfähig sie geworden sind, das, was sie haben, noch wertschätzen zu können. Es könnte ja sein, dass die Massenpsyche, deren Teil sie sind, mittlerweile so beschädigt ist, dass sie das, was sie hat, stets als wertlos betrachtet, weil all ihr Streben darauf getrimmt ist, immer Neues und anderes erwerben zu müssen. Dann wäre das Erschrecken, wenn nicht das Entsetzen darüber und die Trauer über die Beschädigung der eigenen Subjektivität die richtige Reaktion, die in der Liebesbeziehung ihren Platz hätte und nicht das quicke Reagieren mit vermehrten Liebesbeteuerungen: »Wir beginnen jetzt nämlich auch, dem anderen nicht mehr zu sagen, wie sehr wir ihn lieben. Damit setzen wir einen unseligen Prozess in Gang. Der Partner meint jetzt ebenfalls, spüren zu können, dass sich die Liebe verringert und die Partnerschaft an Glück verloren hat. […] Dabei scheint die Befreiung aus dem Dilemma so einfach. Die Paare müssen nur in der Lage sein, ihre Gefühle wie früher zu zeigen« (Witte/Wallschlag 2005, S. 50).
85 Experten betonen jedenfalls immer wieder, dass leidenschaftliche Liebe nicht dauern kann. Aus ihrer »Beobachtung gesellschaftlicher Realität« folgern sie, dass, was ist, auch so sein muss: »Nach durchschnittlich drei bis fünf Jahren findet das Paradies sein Ende« (Mary 2004, S. 196); Liebe sei bloß »ein schönes Fieber«, wird dann konstatiert (ebd., S. 209). Indes gilt für die Liebe just das Gegenteil: »Liebe muß immer so tun, als könne sie ewig dauern. Und es ist ja auch gerade dieser Funken der Ewigkeit, der sie […] so groß erscheinen lässt« (Schandl 1996). Der der Liebe innewohnende Ewigkeitsfunken ist es denn auch, der das gesellschaftliche Diktat über die konsumistisch sinnvolle bloß kurze Verweildauer der Leidenschaft leidenschaftlich konterkariert.
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Genauso wie es sicherlich fatal und falsch ist, sich in den Liebesbeziehungen immer weniger die Liebe zu zeigen und es kaum noch zu sagen, dass man sich liebt, ist es fatal und falsch, wenn man annimmt, dass man mit der Oberfläche der Liebesbekundung gegen die Tiefen des inneren Kräfteverfalls der Liebe ankommen kann. Die Leidenden kommen doch nicht in die Paarberatung und -therapie, weil sie etwas nicht kapiert haben oder einander nicht mehr sagen, dass sie sich lieben, sondern sie kommen, weil sie es aufgrund ihrer subjektiven Beschädigungen nicht können. Wirkliche Liebe bestünde darin, gemeinsam die Augen zu öffnen und sich solidarisch mit aller Kraft aus dem Sumpf der beschädigten Subjektivität herauszuarbeiten. Das, was in qualitativ guten Therapien stattfindet, hat mit Psychotechniken nichts zu tun, sondern es ist dasselbe, was die Liebe auch jenseits professioneller Hilfe aus sich heraus potenziell leisten können muss, nämlich die Selbstheilungskräfte zu bündeln und im Widerstand gegen die liebesverhindernden Bedingungen zu leben. Dieses widerständige Leben der Liebe besteht in einer Einheit von Handlung, Haltung und Gefühl, welche dem Einschlafen der Liebe trotzt und an ihr festhält, wo sie scheinbar aufgrund allerlei objektiver Ablenkungen und Nöte zu schwinden droht. Kritisch und desillusioniert realistisch könnte man mit Eva Illouz (2007a) dagegen halten, dass Liebe mit dem Kapitalismus längst eine Liaison eingegangen sei (vgl. Busch/Ebrecht 2008, S. 9f.) und Schaden genommen habe. Larcher fasst Illouz’ These prägnant zusammen: »Illouz stellt […] fest, dass zu den kulturellen Widersprüchen des Kapitalismus der Gegensatz von romantischem Liebesideal und der kalten Welt der Ökonomie gehört; dass jedoch die beiden Sphären sich längst wechselseitig beeinflussen und ineinander übergehen. So wie die Konsumsphäre in wachsendem Maße auf die Erzeugung romantischer Gefühlszustände abzielt, so geraten die Intimbeziehungen immer stärker in Abhängigkeit von den Inszenierungen und dem Erlebnis des Konsums. Die kollektive Utopie der Liebe, einst als Transzendierung des Marktes idealisiert, ist im Prozess ihrer Verwirklichung zum bevorzugten Ort des kapitalistischen Konsums geworden« (Larcher 2008, S. 231).
Aber von solch desillusioniertem Realismus war die Liebe noch nie gezeichnet, vor allem nicht gegenüber sich selbst. Im Gegenteil, sie lebt vom
506 · Teil 3 · Verliebtheit & Liebe
Überschuss ihrer Energien, die den Traum Wirklichkeit werden lassen wollen. Dass der spätmoderne Konsum sich ihrer zu bemächtigen versucht, um sich mit Ablichtungen auszustaffieren, die ihre harmonischen Tendenzen oder ihre Leidenschaften kopieren, um ihrer überschüssigen Energien habhaft zu werden, kann ihr nichts anhaben. Die gelebte Liebe ist durchtränkt vom genossenen Leben, die Hochglanzbilder dagegen sind blutleer. Die Illouz’sche Sicht wäre dialektisch über sich hinauszutreiben. Alle Lieben sind Lieben in ihrer Zeit. Es gibt keine Liebe, die nicht inmitten soziokultureller, historischer und politökonomischer Zusammenhänge stattfände. Der soziokulturelle Kontext, der heute die Liebe »codiert« (Luhmann 1994), bildet zugleich auch jene zeitgemäßen Überschüsse, die über ihn hinausweisen. Zum historischen Stand der Liebe gehört der historische Stand des Möglichen, den sie in sich aufnimmt. Im späten Kapitalismus, so der Einspruch gegen den mit der Konsumindustrie amalgamierten Liebesrealismus, den Eva Illouz in Amerika empirisch nachzeichnet, gedeihen mit seiner Globalität auch die utopischen Potenziale der Liebe, die aufs Ganze gehen: »Als ihr emanzipatorischer Kern wird die ›reine Beziehung‹ ausgemacht […]. In ihr gipfeln, in der späten Moderne […] die Individuierungs- und Emanzipationsbestrebungen der Subjekte. […] Sie [die Liebe] erscheint als die Utopie einer Beziehung, die frei ist von Kalkül und Zweck, also auch frei von Verwertungs- und Machtinteressen. Psychoanalytisch wäre die ›reine Beziehung‹ etwa zu fassen als eine, die das innere Liebesobjekt als eigenständige Quelle des Guten wertschätzt« (Busch/Ebrecht 2008, S. 9f.).
Man könnte auch sagen: Es ist deren aus ihrer Vereinigung selbst hervorgebrachte und gelebte Interaktionsqualität, welche die Liebenden heute zum Maßstab ihres Zusammenseins machen und gerade nicht die kulturellen Technologien der Waren- und Freizeitindustrie, die auf aufdringliche Weise ihre Liebe zu versüßen vorgeben und die Menschen zu »hyperrationalen Idioten« macht (Illouz 2007b, S. 167). Dass die Liebenden die Qualität ihres Bezogenseins und ihrer Interaktionen von gesellschaftlichen und kulturellen Zutaten freihalten wollen, ja, dass sie sich vehement dagegen sperren, ist selbst ein gesellschaftlich hervorgebrachtes Geschehen, das auch damit zu tun haben mag,
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dass über den verfeinerten Konsum und die elaborierte Massenkultur sich, zumindest in privilegierten Zusammenhängen, vom Markt eher unintendiert, ein gesteigertes Bewusstsein für wirkliche Qualität und wirklichen Genuss entfalten konnte, das des ganzen Humbugs im falschen Schlaraffenland überdrüssig wurde. Der viel geschmähte Oberflächenhedonismus entdeckt seine philosophisch verbürgten Wurzeln und streckt seine Fühler nach dem wirklichen Glück aus, von dem die »hedonistischen Waren« (Illouz 2007a, S. 100f.) zwar bloß Trugbilder vermitteln, dem sie andererseits aber auch soziokulturell die »dionysischen Energien« (ebd., S. 111) freischaufeln. Liebe wird diesseits der verdinglichenden Zurichtungsattacken des gesellschaftlichen Systems um ihrer selbst willen begriffen, im besten Sinne hedonistisch, weil sie auf den Genuss des unverstellten Lebens hinaus will. Damit befindet sie sich, wie ehedem, in der guten alten Tradition der subversiven Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen: »Indem sie den Supremat der menschlichen Beziehungen, die geleitet sind von der interessenlosen Hingabe der eigenen Person, verkündet, feiert die Liebe nicht nur die Verschmelzung individueller Seelen und Körper, sondern eröffnet auch die Möglichkeit einer anderen gesellschaftlichen Ordnung. Die Liebe vermittelt damit eine Aura der Transgression, die verspricht und fordert eine bessere Welt« (ebd., S. 37).
Solch eine transgressive Liebe, die ihren gesellschaftlichen Beschädigungen trotzt und den allgemeinen Diagnosen ihres soziohistorischen Todes mit ihrem Dennoch die Stirn, besser noch: das Herz bietet, wird weiß Gott nicht das Problem haben, dass einer der Partner oder beide darunter leiden, dass es ratgebergeschulte Phasen der Beziehung gibt, in denen zu wenig »Ich liebe dich« gesagt wird. Nein, man soll sich freilich ständig sagen und zeigen, dass man sich liebt, unzählige Male am Tag, wenn es denn in dieser Form von beiden genossen werden kann. Aber nicht als wohlfeile Technik gegen beziehungsimmanente Schwächen, sondern als Bekräftigung dessen, was ist! Sehr richtig weist Michael Mary darauf hin, dass es völliger Quatsch ist, auf dem Wege technischer Anweisungen zur Liebe zu gelangen. Außerdem werden
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hier oft Ursache und Wirkung verwechselt, und das sogar auf höchster akademischer Ebene: »Beispielsweise beobachten Wissenschaftler, dass glückliche Partner einander Blumen schenken. Daraus ziehen sie einen […] Rückschluss: Wer einander Blumen schenkt, erhält seine Beziehung glücklich« (2006, S. 59f.). Insgesamt, so Mary, stellen die Expertenratschläge eher eine Überforderung denn eine Hilfe dar: »Arbeit an der eigenen Persönlichkeit, an der Kommunikation, an der Sexualität, an der Balance von Geben und Nehmen, an der Nähe/DistanzBilanz, an der Entwicklung gemeinsamer Ziele, an der Leidenschaft, am Erwerb dutzender Fähigkeiten – mit der von Experten empfohlenen ›Liebesarbeit‹ sind die Menschen restlos überfordert« (ebd., S. 89).
Liebe erhält sich am Leben durch immer neue Liebe und nicht durch gesellschaftlich sanktionierte Psychoübungen oder andere wohlfeile romantische Zutaten, die vorgeben, die Liebe runderneuern zu können. Paare, die sich nicht in permanenter Interaktion befinden, das heißt, die sich nicht permanent miteinander auseinandersetzen, können sich auch nicht mit verbalen Frischeinjektionen aus der psychosozialen KittApotheke erreichen. Die gesellschaftlich injizierten Mechanismen, welche die Beziehung einschlafen lassen, sind von vornherein, zu jedem Zeitpunkt, außer Kraft zu setzen. Wer liebt, lehnt sich nicht einfach zurück, sondern gegen die verordnete Liebe auf. Daher müsste es heißen: Keine Selbstverständlichkeiten, von Anfang an! Und: Keine Phasen der Beziehung! So etwas Herbeigeredetes gar nicht erst einreißen lassen! Auch die anderen Üblichkeiten aus dem gesellschaftlich angebotenen Hilfsrepertoire nicht! Das nur als Rat! Denn eines ist sonnenklar, davon singt Juliette Gréco und hat damit Recht: Wo keine Liebe mehr ist, da soll man sich trennen. Es hat überhaupt keinen Zweck weiterzumachen, wenn die Liebe gänzlich entschlafen ist. Freilich gibt es faktisch eine riesige Anzahl Beziehungen, in denen keinerlei Liebe herrscht, sondern nur das Grauen und der alltägliche Terror, die könnten höchstwahrscheinlich ihren Alltag mit manchen guten Ratschlägen aus der Ratgeberecke technisch echt verbessern.
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