David Lätsch: Schreiben als Therapie?

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PSYCHOLOGISCHEN &ORSCHUNGSSTANDS LEGT DER !UTOR EINE EMPIRISCHE 3TUDIE ZUM KU RATIVEN 0OTENZIAL FIKTIONALEN 3CHREIBENS VOR UND ERLiUTERT SEINE "EFUNDE MITHILFE DER NARRATIVEN 0SYCHOLOGIE ,ITERATURWIS SENSCHAFT UND 0SYCHOANALYSE !LS GR~ND LICHE SYSTEMATISCHE %INF~HRUNG RICHTET SICH DAS "UCH AN ,ESER DIE SICH F~R DIE THERAPEUTISCHE $IMENSION DES LITERA RISCHEN 3CHREIBENS INTERESSIEREN

Schreiben als Therapie?

$AVID ,iTSCH §7ER LITERARISCH SCHREIBT THERAPIERT SICH SELBST ¦ $IESES HARTNiCKIGE 'ER~CHT BE FRAGT DER !UTOR AUF SEINEN 7AHRHEITS GEHALT 6ERHILFT DIE 0RAXIS FIKTIONALEN 3CHREIBENS TATSiCHLICH ¯ UND SEI ES IM +LEINEN UND 5NSCHEINBAREN ¯ ZU ER HyHTEM 7OHLBEFINDEN EINEM BESSEREN ,EBEN EINEM AUFGEKLiRTEREN 6ERHiLTNIS ZU SICH SELBST 6OR DEM (INTERGRUND DES AKTUELLEN

$AVID ,iTSCH

Schreiben als Therapie? Eine psychologische Studie über das Heilsame in der literarischen Fiktion

$AVID ,iTSCH - 3C IST 0SYCHOLOGE UND WIS

SENSCHAFTLICHER -ITARBEITER AM &ACHBEREICH 3OZIALE !RBEIT DER "ERNER &ACHHOCHSCHULE !N DER 5NIVERSITiT :~RICH FORSCHT ER ZUR MO RALISCHEN $IMENSION DES %RZiHLENS %R VERyF FENTLICHTE ZUR )NTEGRATION PHILOSOPHISCHER

LITERATURWISSENSCHAFTLICHER UND PSYCHOANALYTISCHER +ONZEPTE IN DIE 0SYCHOLOGIE

WWW PSYCHOSOZIAL VERLAG DE

ISBN 978-3-8379-2082-6

0SYCHOSOZIAL 6ERLAG 258 Seiten, Rückenstärke: 17 mm


Forschung Psychosozial


$AVID ,iTSCH

3CHREIBEN ALS 4HERAPIE %INE PSYCHOLOGISCHE 3TUDIE ~BER DAS (EILSAME IN DER LITERARISCHEN &IKTION -IT EINEM 'ELEITWORT VON "RIGITTE "OOTHE

Psychosozial-Verlag


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2011 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: info@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: © David Lätsch Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Gießen www.imaginary-art.net Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar www.majuskel.de Printed in Germany ISBN 978-3-8379-2082-6


FĂźr meine Eltern Denen ich wenig zu schulden meine Und alles zu verdanken weiĂ&#x;


)NHALT

$ANKSAGUNG

'ELEITWORT

%INLEITUNG

3CHREIBEN UND 4HERAPIE :UR +LiRUNG DER "EGRIFFE

7AS HEI33T FIKTIONALES 3CHREIBEN &IKTIONALITiT %RZiHLEN

$IE MINIMALE %RZiHLUNG %RZiHLEN IM ENGSTEN ENGEREN WEITEREN UND WEITESTEN 3INN :USiTZLICHE !TTRIBUTE DES %RZiHLENS

$ER LITERARISCHE !NSPRUCH

7AS HEI33T 4HERAPIE 4HERAPIE UND +RANKHEIT 4HERAPIE UND 'ESUNDHEIT 4HERAPIE ALS %NTWICKLUNG UND 7ACHSTUM 3ELBSTTHERAPIE 0SYCHOTHERAPIE 3OZIOTHERAPIE

+LINISCHE %RZiHLFORSCHUNG

EXPRESSIVES 3CHREIBEN UND 0OESIETHERAPIE

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Inhalt

+LINISCHE %RZiHLFORSCHUNG $AS %RZiHLEN UND DIE 2EGULATION DES 7OHLBEFINDENS 6IER -ODELLIERUNGSLEISTUNGEN DES %RZiHLENS 4HERAPEUTISCHE 7IRKFAKTOREN VON %RZiHLEN ALS "EWiLTIGUNG +LINISCHE %RZiHLFORSCHUNG UND 3CHREIBEN ALS 4HERAPIE (YPOTHESEN

3CHREIBEN WIRKT 0SYCHOLOGISCHE %XPERIMENTE ZUM EXPRESSIVEN 3CHREIBEN 2EPLIKATIVE UND DIE %RKENNTNIS ERWEITERNDE 3TUDIEN 4HERAPEUTISCHE 7IRKFAKTOREN EXPRESSIVEN 3CHREIBENS %XPRESSIVES 3CHREIBEN eBERSICHT POSTULIERTER 7IRKFAKTOREN %XPRESSIVES 3CHREIBEN UND FIKTIONALES 3CHREIBEN 4RANSFER DER "EFUNDE

3CHREIBEN ZWECKS 4HERAPIE 0OESIETHERAPIE 'ESCHICHTE DER 0OESIETHERAPIE 4HERAPEUTISCHE 7IRKFAKTOREN DER 0OESIETHERAPIE

%MPIRISCHE 5NTERSUCHUNG %INE QUALITATIVE )NHALTSANALYSE

%RHEBUNG DER $ATEN ,AIENSCHRIFTSTELLERINNEN UND SCHRIFTSTELLER ALS 'ESPRiCHSPARTNER :UR 'ESPRiCHSF~HRUNG $IE 7AHL DER )NTERVIEWFORM $ER &RAGENKATALOG !UFBEREITUNG DER $ATEN 4RANSKRIPTION NACH -ERGENTHALER

!USWERTUNG DER $ATEN 1UALITATIVE )NHALTSANALYSE -ETHODISCHES 6ORGEHEN 7ARUM QUALITATIVE )NHALTSANALYSE

%RGEBNISSE $OKUMENTATION DES INHALTSANALYTISCHEN 6ERFAHRENS 1UANTIFIZIERENDE $ARSTELLUNG DER %RGEBNISSE

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Inhalt

+RITISCHE !NMERKUNGEN

4HEORETISCHE %RTRiGE

3CHREIBEN ALS LUSTVOLLE 4iTIGKEIT

3CHREIBEN ALS EIN 3PIEL DER 0HANTASIE

3CHREIBEN ALS EIN )NSTRUMENT DER 'ESTALTUNG VON %RFAHRUNG

3CHREIBEN ALS EIN -EDIUM DER !CHTSAMKEIT

3CHREIBEN ALS $OKUMENTATION UND 6EREWIGUNG IN EFFIGIE

&IKTIONALES 3CHREIBEN 3ELBSTKENNTNIS UND 3ELBSTBESTIMMUNG

$AS LITERARISCHE %RZiHLEN UND SEIN 6ERHiLTNIS ZUM !LLTAG DES )MMERGLEICHEN

,ITERARISCHES %RZiHLEN UND DIE 7AHRHEIT DES 3ELBST

$AS 3ELBST ALS +ONSTRUKTION UND ALS 7ESEN

.ARRATIVE 4HERAPIEN

&IKTIONALES 3CHREIBEN ALS EINE 0RAXIS DER 7IEDERBEGEGNUNG MIT 7~NSCHEN UND _NGSTEN

3CHREIBEN ALS 4HERAPIE 3CHREIBEN STATT 4HERAPIE 6ARIANTEN DER 7UNSCHERF~LLUNG IN FIKTIONALER 0ROSA

7UNSCH UND 7UNSCHERF~LLUNG IN !LLTAGSPSYCHOLOGIE UND 0SYCHOANALYSE 7UNSCH UND 7UNSCHERF~LLUNG BEI &REUD +INDERSPIEL UND 4AGTRAUM )MAGINATIVE 7UNSCHERF~LLUNG IN FIKTIONALER 0ROSA

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Inhalt

6ARIANTEN DER 7UNSCHERF~LLUNG IN DER 0RAXIS FIKTIONALEN 3CHREIBENS %RSTE %BENE 7UNSCHERF~LLUNG AN DEN )NHALTEN DES 4EXTES :WEITE %BENE 7UNSCHERF~LLUNG AM AUKTORIALEN -ODUS DES %RZiHLENS $RITTE %BENE 3CHREIBEN ALS 3CHRIFTSTELLERN

$IE THERAPEUTISCHE +RAFT DER 7UNSCHERF~LLUNG 3CHREIBEN STATT 4HERAPIE $IE &LUCHTGEFAHR &IKTION ALS -AHNUNG

3CHLUSSBETRACHTUNG

/FFENE &RAGEN

"EWERTUNG DER %RGEBNISSE

,ITERATUR

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%INLEITUNG

Die folgenden rund 250 Seiten antworten auf eine Frage von zweifelhaftem Ruf. Sie lautet: Ist fiktionales Schreiben eine Spielart der Therapie? Kann literarische Fiktion demjenigen, der schreibt, zu einem gelungeneren Leben verhelfen? Zweifelhaft ist ihr Ruf, weil man den Fragenden unedler Absichten verdächtigt. Die glänzende Praxis der Herstellung von Literatur als Kunst werde betrachtet als ein bloßes Instrument der Befähigung zum Leben. Der hehre Selbstzweck der Literatur sinke herab zur niedrigen Nebensächlichkeit: Sie werde zum Handlanger des Glücks. Wir alle kennen die Binsenweisheit, dass es keine dummen Fragen gibt, nur dumme Antworten. Über jeden Zweifel erhaben ist diese Einsicht nicht, aber sie hat etwas: Mindestens stellt sie sicher, dass man eine Frage nicht deshalb unbeachtet lässt, weil man sie mit einer dummen verwechselt. Wo psychologische Theorien das literarische Schreiben als bloßen Ausweg aus Not und Misere darstellen, als Therapie und nichts weiter, geben sie keine gescheiten Antworten. Aber das ist in der psychologischen Literatur weniger oft geschehen, als das Vorurteil vermuten lässt. Und vor allem darf man sich davon die Frage nicht verderben lassen. Warum verdient die therapeutische Dimension des fiktionalen Schreibens unsere Aufmerksamkeit? Eine vollständige Antwort auf diese Frage kann dieses Buch nicht schon auf seinen ersten Seiten geben; sie soll sich Schritt für Schritt entfalten. Nur soviel vorneweg: Literarische Texte sind Tatorte des menschlichen Phantasierens über menschliche Verhältnisse; 17


1 Einleitung

darin werden sie für das psychologische Interesse unmittelbar relevant. Der Zusammenhang zwischen Schreiben und Therapie verweist, wie in diesem Buch gezeigt wird, auf grundsätzlichere Verhältnisse, auf die Beziehung von Konstruktion und Konstitution, von Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung, von Phantasie und Leben. Wie wirkt sich das Leben eines Einzelnen auf seine Phantasie aus, und wie wirkt diese Phantasie auf sein Leben zurück? Fragen wie diese ergeben sich aus dem besonderen Verhältnis von Schreiben und Therapie – und, was für die Wissenschaft mindestens so wichtig ist, sie werden empirisch zugänglich. Bevor dieses Buch allerdings in kleinen Schritten auf große Fragen zusteuert, sind die Besonderheiten des Vorhabens zu skizzieren. Die Erkenntnisse der Studie werden in ihrem empirischen Kern an einer Gruppe von Autorinnen und Autoren entwickelt, die noch nichts Eigenes veröffentlicht haben, die noch nicht »erschienen« sind. Es geht in diesem Buch also nicht (jedenfalls nicht im Brennpunkt) um das therapeutische Potenzial der als Kunst akkreditierten Literatur, des schriftstellerischen Werks von Rang. Im Fokus steht eine alltäglichere Ausübung fiktionalen Schreibens, die mit der Praxis des beruflichen Schriftstellers vieles gemein hat, indes nicht immer das Kriterium des ästhetischen Gelingens. Die im Titel formulierte Frage Schreiben als Therapie? ist nicht im Sinn einer Entweder-oder-Auswahl zu verstehen, kein eindeutiges Ja oder Nein wird sie entscheiden. Schreiben leistet nicht entweder Therapie oder keine Therapie, sondern mehr oder weniger davon, in manchen Fällen gar keine, im äußersten Fall das Gegenteil: Dann setzt sie dem Schreibenden mehr zu, als dass sie ihm zugute kommt. Verschiedene Praktiken fiktionalen Schreibens sind unterschiedlich therapiekräftig: Manche sind kraftlos, andere verfügen über eine gewisse Kraft, wiederum andere strotzen davor, bei einigen wendet sie sich ins Negative. Worin diese Unterschiede im Genauen bestehen, soll diese Arbeit aufzeigen. Der Untertitel des Buches benennt es als eine psychologische Studie. Damit ist ein wenig mehr ausgedrückt als die fachliche Herkunft des Verfassers. Der psychologische Charakter der Studie besteht – nebst den intensiven Bezügen zu psychologischen Theorien – darin, dass die therapeutische Dimension des Schreibens auf der individuellen Ebene des Autors/der Autorin in den Blick rückt. Die Formulierung »Schrei18


1 Einleitung

ben als Therapie« lässt ja offen, wen die Therapie betrifft: den Autor, die Leserschaft oder das soziale System derer insgesamt, die in irgendeiner Form an der literarischen Praxis teilhaben. Eine soziologische Sicht auf fiktionales Schreiben als Therapeutikum bezöge sich auf dieses Letztere; daraus würden etwa Erkenntnisse wie diejenige resultieren, dass die Literatur der defizitären Gesellschaft als eine Art kathartisches Remedium dient (Culler 2002, S. 31ff.). Die soziale Verfasstheit der selbstkonstruktiven Prozesse, die fiktionales Schreiben prägen, spielen zwar auch in der vorliegenden Studie eine gewichtige Rolle, insofern fehlt es nicht an einer sozialpsychologischen Perspektive. Aber letztlich beziehen sich die Erkenntnisse dieses Buches doch psychologisch auf Individuen, die in einer sozialen Gemeinschaft stehen, und nicht soziologisch auf diese Gemeinschaft (oder die Gesellschaft) als solche. Gliederung der Studie Am Anfang des Buches stehen terminologische Präzisierungen zum Begriff des fiktionalen Schreibens und zum Begriff der Therapie (Kapitel 2). In Kapitel 3 werden vorliegende Untersuchungen und Theorien zum therapeutischen Potenzial fiktionalen Schreibens erkundet, insbesondere solche aus der klinischen Erzählforschung (3.1), der Forschung zum expressiven Schreiben (3.2) und der psychotherapeutischen Bewegung der Schreib- bzw. Poesietherapie (3.3). Alle drei Forschungsfelder werden daraufhin untersucht, welche Aussagen sie bezüglich der therapeutischen Wirkfaktoren fiktionalen Schreibens zulassen. In Kapitel 4 werden die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung vorgestellt. Sieben Autorinnen und Autoren fiktionaler Prosa wurden nach den therapeutischen Aspekten ihres Schreibens befragt. Die inhaltsanalytische Auswertung der Transkripte führt zur Aufstellung von sieben Wirkfaktoren. Fünf davon werden im darauf folgenden fünften Kapitel theoretisch ausdifferenziert. Den zwei verbleibenden Themenfeldern – »Schreiben als Instrument der Selbstkenntnis« (Kapitel 6) und »Schreiben als wünscherfüllendes Spiel der Phantasie« (Kapitel 7) – ist je ein eigenes Kapitel gewidmet. In Kapitel 6 wird der Frage nachgegangen, wie der inhaltsanalytische Befund, wonach Autoren fiktionaler Texte sich selbst durch das Schreiben »besser kennenlernen« bzw. »zu sich finden«, theoretisch interpretiert werden 19


1 Einleitung

kann. Orientierungshilfe leistet dabei die sogenannte narrative Psychologie. Im Inneren der narrativen Psychologie schlagen wir die Unterscheidung zwischen dem Narrativ als Skript und dem Narrativ als Erzählung vor, damit eine notorische Doppeldeutigkeit und insofern eine theoretische Schwäche dieses Ansatzes vermieden wird. Auf die Erörterung des narrativen Konstruktivismus und seines Gegensatzes, des Essenzialismus, folgt ein Vorschlag, wie die Praxis fiktionalen Schreibens als eine Art Balanceakt zwischen den zwei Polen verstanden werden kann, der ein zugleich selbstbestimmtes und authentisches Selbstverhältnis ermöglicht. Im ersten Abschnitt von Kapitel 7 wird die Frage untersucht, wie alltagspsychologische Konzepte des Wunsches und das psychoanalytische Konzept der sogenannten Wunscherfüllung herangezogen werden können, um fiktionales Schreiben als ein wunscherfüllendes Spiel der Phantasie plausibel zu machen. Im zweiten Abschnitt werden drei verschiedene Ebenen der Wunscherfüllung berücksichtigt: neben der Wunscherfüllung am Textinhalt diejenige am auktorialen Modus des Erzählens und die Erfüllung des Wunsches nach der Lebensform des Schriftstellers. In diesen Passagen wird deutlich, dass mit dem therapeutischen Potenzial literarischer Fiktion ein anti-therapeutisches korrespondiert; dass Autoren fiktionaler Prosa manchmal implizit für ein Gelingen ihres Lebens arbeiten, aber gelegentlich auch dagegen. Das achte und letzte Kapitel fasst die Erträge des Buches zusammen. Bevor es losgeht, sei noch eine Bemerkung grundsätzlicher Art erlaubt. Als einen Einwand gegen die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Praxis fiktionalen Schreibens hört man heute des Öfteren die Meinung, es schreibe ja ohnehin keiner mehr; insbesondere die in die sozialen Netzwerke des Internets abgewanderte Generation habe für eine so zurückgezogene, konzentrierte, kontemplative Tätigkeit nichts mehr übrig. Aber das ist weit gefehlt. Eine Nachfrage in den Lektoratsabteilungen deutschsprachiger Verlagshäuser liefert den Gegenbeweis: Zehn Manuskripte täglich nimmt ein bekannter Verlag durchschnittlich entgegen, und das, wie man versichert, auch und gerade von jungen Verfasserinnen und Verfassern. Ob die hohe Schule des literarischen Schreibens derzeit schwindet, wie manche befürchten, bleibe dahingestellt. Sicher ist: Die Volksschule blüht. 20


3CHREIBEN UND 4HERAPIE :UR +LiRUNG DER "EGRIFFE

Bevor sich eine Frage beantworten lässt, muss sie präzise verstanden sein. Im einleitenden Kapitel ist bereits klar geworden, dass die verknappte Frageformel Schreiben als Therapie? so aufgefasst werden soll, dass wir herauszufinden hoffen, in welcher Art und Weise fiktionales Schreiben therapeutisch wirksam zu werden vermag. Diese Form der Relation zwischen fiktionalem Schreiben und Therapie wird in den folgenden Kapiteln eingehend untersucht. Neben der gesuchten Beziehung zwischen fiktionalem Schreiben und Therapie sind indes die Begriffe fiktionales Schreiben und Therapie vorläufig selbst noch erklärungsbedürftig. Insofern muss der Frage, wie fiktionales Schreiben und Therapie zusammenhängen, eine Klärung dieser beiden Begriffe vorausgehen. Dass eindeutige Definitionen gerade am Eingang einer wissenschaftlichen Studie unverzichtbar sind, macht ein Blick auf andere Wissenschaften deutlich: Niemand wird die brennende Frage der zeitgenössischen Physik, wie die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik in Übereinstimmung gebracht werden können, ohne eine Vorstellung davon beantworten wollen, was die beiden Theorien für sich genommen präzise aussagen. Unbedingt muss man das, was man in Beziehung zu setzen wünscht, bereits einigermaßen verstanden haben, bevor man es in Beziehung setzt. In diesem Sinn charakterisiert das folgende Kapitel zunächst (Abschnitt 2.1) jene spezifische Form des Schreibens, von der in dieser Studie gefragt werden soll, ob sie therapeutisch wirksam werden kann: das Schreiben 21


2 Schreiben und Therapie: Zur Klärung der Begriffe

fiktionaler Prosa. Durch vier grundlegende Eigenschaften ist fiktionale Prosa prototypisch ausgezeichnet: ¹ Sie liegt schriftlich vor; ¹ sie ist fiktional; ¹ ihre Darstellungsform ist mehrheitlich erzählerisch; ¹ sie ist der Absicht nach literarisch. In dieser Reihenfolge werden in Abschnitt 2.1 die vier wesentlichen Bestimmungsbegriffe fiktionaler Prosa erläutert.

7AS HEI 33 T FIKTIONALES 3CHREIBEN

An der Wortverbindung fiktionales Schreiben scheint zunächst nur das Adjektiv erklärungsbedĂźrftig, das Substantiv selbstverständlich. Wer schreibt, bringt mindestens WĂśrter, in der Regel aber ganze Sätze auf eine konservierende Unterlage (frĂźher meist Papier, heute zunehmend elektronische Speichermedien). Genauer: Er fertigt ein Schriftbild an, das von einem Leser als ein Set von Zeichen einer Sprache erkannt und in bedeutungstragende Begriffe und Aussagen Ăźbersetzt werden kann. Ăœblicherweise lässt sich das Schriftbild auch, indem es vorgelesen wird, in ein Lautbild verwandeln, das dann HĂśrern die entsprechende Gelegenheit bietet, Bedeutungen akustisch wahrnehmend zu konstruieren. In dieser sozusagen basalen Bestimmung des Schreibvorgangs ist indessen noch allzu Vieles enthalten, was mit Schreiben nicht gemeint sein kann, wenn in dem vorliegenden Buch nach der Therapiekräftigkeit des Schreibens gefragt wird. Gemeint ist beispielsweise nicht das therapeutische Potenzial, das im Anfertigen eines Einkaufszettels, im Hinterlegen einer Unterschrift oder in der beflissenen Niederschrift eines Diktats beschlossen sein mag. Damit der hier geltende Begriff des Schreibens aus dieser unerwĂźnschten Inklusivität befreit werden kann, muss er zuerst auf das Schreiben von Texten beschränkt werden, auf das Schreiben jener sprachlichen Einheiten also, die sich aus mehr oder weniger stark aufeinander bezogenen Sätzen zusammensetzen. Eine detaillierte Bestimmung dessen, was ein Text ist, eine Bestimmung der sogenannten Textualität des Textes, ist nicht notwendig. Unser dem Alltagswissen entnomme22


2.1 Was heiĂ&#x;t fiktionales Schreiben?

nes Verständnis reicht aus. Texte sind aus Sätzen zusammengesetzte sprachliche Gebilde, wobei zwischen den Sätzen logisch-gedanklich (Kohärenz) und bezßglich der sprachlichen Mittel (Kohäsion) ein mehr oder weniger deutlicher, jedenfalls erkennbarer Zusammenhang besteht. Texte breiten mit linguistisch mehr oder weniger konstanten Mitteln eine logisch-inhaltlich zusammenhängende Rede aus. Wenn nicht Schreiben ßberhaupt, sondern das Schreiben von Texten in seinem Verhältnis zur Therapie Gegenstand dieser Studie ist, dann präzisiert sich der Begriff fiktionales Schreiben als ein Schreiben fiktionaler Texte.

&IKTIONALITiT

Worin Fiktionalität besteht, wird in unterschiedlichen Theorien (sog. Fiktionstheorien, siehe Reicher 2006) verstärkt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert. Zu einer einheitlichen Auffassung hat der Diskurs bisher nicht gefßhrt, aber es sind einflussreiche Konzeptionen entwickelt worden, die eine Orientierung erlauben. Fiktionalität ist nach der im folgenden dargelegten Auffassung charakterisiert durch den aufgegebenen Anspruch, dass der Fiktion als Symbol ein sogenannter Referent (nach Richards/Ogden 1923/1974) entspreche, sowie damit zusammenhängend durch eine bestimmte Einstellung der Fiktionsteilnehmer (Urheber und Rezipienten) zu der Fiktion. Die folgenden Absätze fßhren diese Behauptungen näher aus. Wer fingiert, also Fiktion herstellt, entwirft im weitesten Sinn ein System von Zeichen fßr etwas anderes, fßr das er keine Wirklichkeit beansprucht. Der Fingierende bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern simuliert sie. Der Unterschied zwischen einer fiktionalen1 Darstellung (oder Abbildung im weitesten Sinn) und einer faktualen besteht also darin, dass es die faktuale auf eine Beschreibung der Wirklichkeit, wie sie .ACH EINER SINNVOLLEN SPRACHLICHEN 'EPFLOGENHEIT IN DEN SOG &IKTIONSTHEORIEN DIE ALLERDINGS NICHT IMMER UND ~BERALL ZU IHREM 2ECHT KOMMT BEZEICHNET DER !USDRUCK FIKTIONAL SOLCHE 0ROZESSE DIE ETWAS &IKTIVES HERVORBRINGEN DIE $ARSTELLUNG IST FIKTIO NAL DAS $ARGESTELLTE DAS %RFUNDENE FIKTIV )N SPRACHLICHER 3YMMETRIE DAZU WIRD EINE $ARSTELLUNG DIE AUF 7IRKLICHES "EZUG NIMMT ODER NEHMEN MyCHTE ALS FAKTUAL UND DAS 7IRKLICHE AUF DAS "EZUG GENOMMEN WIRD ALS FAKTISCH BEZEICHNET $IE "EGRIFFS PAARE FIKTIONAL FIKTIV UND FAKTUAL FAKTISCH ENTSPRECHEN EINANDER

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2 Schreiben und Therapie: Zur Klärung der Begriffe

wirklich ist, abgesehen hat, während in der fiktionalen dieser Anspruch nicht erhoben wird. Was das problematische Wort Wirklichkeit in diesem Zusammenhang bedeuten soll, lässt sich anhand des semiotischen Dreiecks veranschaulichen, wie es durch Richard und Ogden (1923/1974) in die Sprachwissenschaft eingeführt wurde. Dieses Dreieck stellt die Beziehung dar, die zwischen einem (sprachlichen) Symbol, dem von diesem Symbol hervorgerufenen Begriff und dem vom Begriff referierten »wirklichen« Objekt (Referent) besteht. Die triadische Auffassung besagt, dass sich das Symbol nicht direkt auf das wirkliche »Ding in der Welt« (den Referenten) bezieht, sondern erst über die Vorstellung (den Begriff), die es hervorruft. Nehmen wir an, wir hören von einem Freund den Satz: »Ich ging gestern ins Kino.« Stellen wir uns die Aussage dieses Satzes vor, dann erzeugt sie in uns die Vorstellung von unserem Freund, wie er ins Kino geht. Diese Vorstellung bezieht sich ihrerseits auf den wirklichen Vorgang in der Welt: auf die außersprachliche Existenz des Freundes wie des Kinos und die Tatsache, dass der Freund ins Kino ging. Unter normalen Umständen besteht zwischen uns und unserem Freund nun die Übereinkunft, dass dieser Bezug der von der sprachlichen Mitteilung hervorgerufenen Vorstellung zum wirklichen Vorgang in der Welt tatsächlich gegeben sein muss. Korrespondiert der Vorstellung wider Erwarten – wider die Übereinkunft – kein Wirkliches in der Welt, dann sind wir berechtigt, die Aussage unseres Freundes als eine Lüge oder jedenfalls einen Irrtum seines Gedächtnisses anzusehen, abhängig davon, ob der Freund selbst von der Korrespondenz zwischen dem Begriff und dem Referenten überzeugt ist. Ein eindeutiger Fall von Fiktionalität kommt zustande, wenn zwischen dem Urheber eines Symbols, das auf Begriffe verweist, die sich ihrerseits auf Referenten beziehen könnten (Begriffe, die sich auf ein in der Welt Vorkommendes beziehen), und dem Adressaten des Symbols die Übereinkunft besteht, dass sich die von den Symbolen erzeugten Vorstellungen nicht auf wirkliche Dinge in der Welt beziehen, also keinen Referenten haben. Fiktion ist insofern nach Übereinkunft aller an der Fiktion Beteiligten (Urheber wie Rezipienten) ohne Referent. Die Dreierbeziehung des Dreiecks wird zur Zweierbeziehung. Dieser Gedankengang lässt sich auch einfacher ausdrücken. Der Unterschied zwischen faktualer und fiktionaler Rede besteht nicht darin, 24


2.1 Was heiĂ&#x;t fiktionales Schreiben?

dass faktuale Rede auf Wirkliches bezogen ist und fiktionale Rede auf Nicht-Wirkliches. Denn das wĂźrde voraussetzen, dass faktuale Rede immer fĂźr Dinge steht, die es wirklich gibt (das tut sie nicht, wenn sie irrt oder lĂźgt), und dass fiktionale Rede nie fĂźr Dinge steht, die es wirklich gibt (das tut sie sehr wohl gelegentlich, aus Zufall oder in bewusster Vermischung des Wirklichen mit dem Erfundenen). Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass faktuale Rede als Regel den Anspruch erhebt, den von ihr hervorgerufenen Vorstellungen korrespondiere ein Wirkliches, während fiktionale Rede als Regel genau diesen Anspruch nicht erhebt.2 Der faktuale Satz etwa: ÂťDer Eiffelturm ist 324 Meter hochÂŤ hat einen Referenten, das 324-Meter-hoch-Sein des Eiffelturms, was sich durch Nachmessen auf seine Tatsächlichkeit hin ĂźberprĂźfen lässt. Folglich ist der Satz wahr (seine Aussage erfĂźllt) oder falsch, jeweils abhängig von der Tatsächlichkeit seines Referenten. Das gilt nicht fĂźr einen Satz der Fiktion. Wenn es ganz zu Beginn von Kafkas Verwandlung (Kafka 1915) heiĂ&#x;t: ÂťAls Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bette zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandeltÂŤ, so erhebt dieser Satz nicht den Anspruch darauf, dass er sich durch entsprechende Nachforschungen in der Wirklichkeit bestätigen oder widerlegen lieĂ&#x;e. Sein Autor, Franz Kafka, wäre nicht der LĂźge ĂźberfĂźhrt, wenn sich einmal herausstellen sollte, dass es ganz sicher nie einen Herrn Gregor Samsa gegeben hat, der sich Ăźber Nacht in ein Ungeziefer verwandelte. Der Satz behauptet nicht, dass ihm einmal ein Wirkliches in der Welt entsprach; insofern ist er weder wahr noch unwahr. Dieser fehlende Anspruch auf einen Referenten unterscheidet also die Erfindung als Fiktion von der Erfindung als LĂźge. Wer lĂźgt, mĂśchte, dass seine LĂźge als faktuale Rede mit intaktem Wahrheitsgehalt verstanden wird. NatĂźrlich sind die Dinge bei näherem Hinsehen etwas komplizierter. Denn der Verzicht auf den Referenten ist in der Fiktion nicht vollständig. Fiktion in der Literatur schafft zwar meist dezidiert erfundene Figuren und oft auch erfundene Szenerien, aber die Darstellung der Verhältnisse "EI 'ABRIEL WIRD DAS !UFFINDEN DES 2EFERENTEN ZU EINEM SPRACHLICHEN 3YMBOL BZW DER VOM 3YMBOL HERVORGERUFENEN 6ORSTELLUNG ALS 2EFERENZIALISIERUNG BEZEICH NET )NSOFERN LiSST SICH SAGEN DASS &IKTION §KEINEN !NSPRUCH AUF 2EFERENZIALISIERBAR KEIT ;¨= ERHEBTÂŚ EBD 3

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2 Schreiben und Therapie: Zur Klärung der Begriffe

unter den Figuren ist so angelegt, dass sie in indirekter Weise doch wieder die Verhältnisse »in der Welt« widerspiegeln soll, wie sie wirklich sind. Das Fiktive als allgemeingültiges Muster soll im Faktischen wiedererkennbar sein, soll dieses in objektivierter, erhellender Klarheit abbilden. Insofern literarische Werke Folien zum Verständnis der Wirklichkeit sind, bilden sie indirekt doch wieder wirkliche Verhältnisse ab. Das Ausmaß, in dem es der Fiktion gelingt, in fiktiven Konstellationen wirkliche Verhältnisse so abzubilden, dass sie für den Leser einsehbar, durchschaubar werden, wird gelegentlich als Wahrheitsgehalt der Fiktion bezeichnet. Während also der Wirklichkeitsbezug in der Fiktion nicht direkt angestrebt wird, bleibt sie der Wahrheit durchaus verpflichtet (so sah es bereits Sydney 1595/2002). Sobald man den Begriff Fiktionalität an einen intersubjektiven Referenzverzicht (den Verzicht auf Referenzialisierbarkeit nach Gabriel 1975) knüpft, wird Fiktionalität also nicht mehr als (quasi) objektive Eigenschaft eines Textes verstanden. Die Erfundenheit der Fiktion ist durch subjektive Einstellungen vermittelt, im Fall des Autors durch den Referenzverzicht, im Fall des Lesers durch die Unterstellung desselben. Man kann sagen: Ob ein sprachliches Erzeugnis als fiktionale oder als faktuale Darstellung anzusehen ist, hängt von der Absicht dessen ab, der die Darstellung hervorbringt, wie auch vom Verständnis derer, die sie rezipieren. Das ist – im Groben – die Position Searles (1975). Diese Art der Betrachtung ist indes nicht unproblematisch. Man hat sie insbesondere dahingehend kritisiert, dass sich die intentionale Einstellung eines Autors zu seinem Erzeugnis niemals zweifelsfrei feststellen lässt, weil die sogenannten Fiktionalitätssignale, falls vorhanden, nicht absolut verlässlich sind. So kann ein Autor seine Erzählung mit dem Fiktionalität signalisierenden Etikett »Roman« versehen und dabei den angeblichen Romantext doch dazu nutzen, reale Personen und Geschehnisse abzubilden. Oder ein die Zensur fürchtender Erzähler kann eine faktuale Darstellung so verschlüsseln, dass sie dem Zensor als Fiktion, dem eingeweihten Leser aber als wirklichkeitsgetreu erscheint (eher ist sie dann wahr im oben skizzierten Sinn). Oder aber ein Autor setzt kein Fiktionalitätssignal, gibt seinen Text als faktuale Darstellung zu verstehen, während es sich in Wahrheit um eine Erfindung (insofern also um eine Lüge) handelt. Die deutschsprachige 26


2.1 Was heiĂ&#x;t fiktionales Schreiben?

Literatur hat mit dem sogenannten ÂťFall WilkomirskiÂŤ3 (Neukom 1999) vor nicht langer Zeit ein eindrĂźckliches Beispiel fĂźr eine solche Âťfalsche FaktualitätÂŤ erlebt. Unproblematisch ist die Bindung des Fiktionsbegriffs an subjektive Einstellungen also nicht, aber sie hat Vorteile. Vor allem bewahrt sie uns vor dem Irrtum, die Begriffe der Fiktion und der faktualen Darstellung unmittelbar vom Kriterium der Wirklichkeitstreue abhängig zu machen. Dass sich intentionale Einstellungen oftmals nicht zweifelsfrei klären lassen, ist ein ernst zu nehmender Einwand fĂźr den Theoretiker der Fiktion. Aber fĂźr denjenigen, der zwischen faktualer Darstellung und Fiktion im Alltag zu unterscheiden hat, wird sich die Orientierung an Intentionalitätssignalen meist bewähren. Diese Haltung wird auch fĂźr die vorliegende Studie gelten: Wo von fiktionalen Texten die Rede ist, sind solche Texte angesprochen, die der Verfasser selbst als Fiktion meint und anhand von Fiktionalitätssignalen als solche zu erkennen gibt. In der bisherigen rein sprachlogischen Skizze des Fiktionalitätsbegriffs ist die psychologisch spannende Frage noch gar nicht berĂźhrt worden, warum es Fiktion gibt, wie Menschen dazu kommen, Wirklichkeit zu simulieren. Das soll an dieser Stelle, wo es ja lediglich um eine formale Bestimmung der Fiktionalität geht, auch nicht geschehen. Ăœberlegungen zum psychischen Sinn der Fiktion finden sich weiter unten in Abschnitt 6.3 sowie in Kapitel 8.

%RZiHLEN

Vier Eigenschaften prägen den Begriff des fiktionalen Schreibens: Schriftlichkeit, Fiktionalität, die Form des Erzählerischen, der literarische Anspruch. Fßr die ersten beiden gilt, dass sie mit der Praxis fikti "INJAMIN 7ILKOMIRSKI HATTE IM *AHR EIN "UCH MIT DEM 4ITEL "RUCHST~CKE VERyFFENT LICHT DAS ANGEBLICH AUTHENTISCH FAKTUAL VON DEN +INDHEITSERLEBNISSEN DES !UTORS IN EINEM DEUTSCHEN +ONZENTRATIONSLAGER ERZiHLTE %RST DREI *AHRE SPiTER ¯ NACHDEM DIE +RITIK DAS "UCH LOBEND BEURTEILT HATTE ¯ KAM EIN *OURNALIST DAHINTER DASS DIE %RZiH LUNG ERFUNDEN WAR )N DER OBEN EINGEF~HRTEN 4ERMINOLOGIE 7ILKOMIRSKIS %RZiHLUNG HATTE SICH WEIL SIE ALS FAKTUALE $ARSTELLUNG AUSGEGEBEN WURDE REFERENZIALISIEREN LASSEN UND DER "EFUND AUS DIESER 2EFERENZIALISIERUNG ERGAB DIE .ICHT 4ATSiCHLICHKEIT DES DER 2EFERENTEN ALSO DIE 5NWAHRHEIT DER %RZiHLUNG

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2 Schreiben und Therapie: Zur Klärung der Begriffe

onalen Schreibens notwendig verbunden sind, die Ăźbrigen beiden sind lediglich prototypisch dafĂźr. So sind Texte fiktionaler Prosa typischerweise (vgl. Weber 1998, S. 90; Stanzel 1964, S. 14), aber nicht immer erzählende Texte. Neben der fiktionalen Erzählung ist vor allem die fiktionale Beschreibung geläufig, also die Beschreibung von Sachen, die es nicht wirklich gibt. Fiktionale Beschreibungen dĂźrften zwar in der Ăźberwiegenden Mehrheit der Fälle innerhalb fiktionaler Erzählungen auftreten, aber in der literarischen Prosa insbesondere seit dem 20. Jahrhundert finden sich doch auch immer wieder Texte, die nur fiktional beschreiben, nicht aber auch erzählen. Dass Fiktionalität grundsätzlich auf jede Textsorte der Gattung Prosa Ăźbertragen werden kann, hat beispielsweise StanisĹ‚aw Lem (1973, 1976, 1981, 1983) mit seinen fiktionalen Buchbesprechungen, Lexikaeinträgen, wissenschaftlichen Aufsätzen usw. bewiesen. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich dennoch auf das therapeutische Potenzial allein der erzählerischen fiktionalen Prosa, weil die GrĂźndlichkeit der Untersuchung an einer zu weitläufigen Bestimmung des Gegenstandes Schaden nehmen mĂźsste. FĂźr das, was sich im Verlauf dieses Buches immer deutlicher als das therapeutische Potenzial des fiktionalen Schreibens herausstellen wird, ist gerade das prototypische Moment des Erzählerischen zentral. Das schlieĂ&#x;t eine Anwendung zahlreicher ErĂśrterungen auf nicht-erzählerische Formen der Fiktion natĂźrlich nicht aus. $IE MINIMALE %RZiHLUNG Die folgenden Absätze skizzieren die Merkmale, an denen die spezifische sprachliche Praxis des (schriftlichen) Erzählens zu erkennen ist. Ich orientiere mich dabei im Wesentlichen an einer Schrift des Literaturwissenschaftlers Weber (1998), zu der ich an wenigen Stellen deutliche Einwände formuliere. Allem Erzählen ist gemeinsam, dass es als sprachlicher Vorgang auf ein Geschehen Bezug nimmt (es referierend oder fingierend darstellt), das sich an einem Ort zu einer bestimmten Zeit zuträgt. Die fĂźr das Erzählen typischste Form des Geschehnisses ist die Handlung4, wobei das Wort "EZEICHNENDERWEISE WIRD DAS 'ESCHEHEN EINER 'ESCHICHTE ALS DEREN (ANDLUNG BEZEICHNET OBWOHL SICH DIESE MITNICHTEN NUR AUS (ANDLUNGEN IM 3INN BEABSICHTIG TEN 4UNS DURCH PERSONALE !KTEURE ZUSAMMENSETZT (ANDLUNGEN SIND OFFENBAR DAS TRAGENDE %LEMENT DER (ANDLUNG

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2.1 Was heißt fiktionales Schreiben?

Handlung das absichtsvolle Tun eines personalen Akteurs bezeichnet. Typisches Erzählen erzählt im Kern von Geschehnissen (bevorzugt Handlungen) an Orten und in der Zeit. Die Kontexte des Orts und der Zeit müssen zwar nicht unbedingt expliziert sein (es muss nicht gesagt sein, wo genau und wann genau das Erzählte sich abspielt), aber es muss vorstellbar sein, dass sich das Erzählte überhaupt in Raum und Zeit ereignet. Dem Geschehnis muss ferner eine minimale Form von Wandel eingeschrieben sein: In der elementaren Gestalt des Erzählens führt ein einziges Geschehnis ein Vorher in ein Nachher über, so etwa im Satz: »Es kam ein Wind auf.« Das vorstellbare Vorher (»Es war windstill«) geht in ein Nachher über (»Es windete«), und der sprachliche Vorgang, der davon erzählt, ist eben das Erzählen. »Es kam ein Wind auf« ist dann die ganze Erzählung. Diese Bestimmung (vgl. Genette 1994, S. 202ff.) ist natürlich derart inklusiv, dass ihr zufolge fast sämtliche Formen des mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauchs als ein Erzählen aufgefasst werden müssten. Doch der Schein trügt. Wo immer nämlich kein Wandel von einem Vorher in ein Nachher an einem vorstellbaren Ort in einer vorstellbaren Zeit dargestellt wird, da darf auch nicht von Erzählen die Rede sein. So ist der Satz: »Es windete«, solange er allein dasteht, kein Erzählsatz, weil er keinen Wandel ausdrückt, kein Vorher in ein Nachher überführt. Alle genannten Kriterien für ordentliches Erzählen scheint dagegen der folgende Satz zu erfüllen: »Im 18. Jahrhundert kam in Deutschland der Idealismus auf.« Hier liegt ja offenbar ein Wandel von einem Vorher in ein Nachher vor, der sowohl zeitlich wie örtlich situiert ist. Dennoch würden wir den Satz ungern als Erzählsatz gelten lassen, eine kritische Eigenschaft scheint ihm abzugehen. Dieses von Weber (1998) nicht erwähnte Attribut lässt sich leicht identifizieren. Es verhält sich offenbar so, dass wir in unserem intuitiven Verständnis von Erzählungen davon ausgehen, bei den Objekten des erzählten Geschehens müsse es sich um Konkreta handeln, um körperlich ausgedehnte Objekte der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit. Eine reine Geistesgeschichte, wie sie sich in dem genannten Satz über den Idealismus andeutet, kann uns als Erzählung nicht überzeugen, weil sie nicht von Konkretem handelt (und sich folglich nicht verbildlichen lässt). Anders verhielte es sich, wenn es dem Verfasser der Geistesgeschichte gelänge, die dort dargestellten 29


2 Schreiben und Therapie: Zur Klärung der Begriffe

Ideen in ihrer Auseinandersetzung so plastisch zu schildern, dass sie anthropomorphisiert wĂźrden: Der Rezipient kĂśnnte dann dem Ringen der Ideen die ÂťBilderÂŤ eines Ringens unter Menschen (Personen) unterlegen. Die Geistesgeschichte wäre dann (mindestens fast so etwas wie) eine Erzählung. Das bisher Gesagte legt die Schlussfolgerung nahe, dass Erzählungen Ăźberall dort entstehen, wo Erzählsätze gebildet werden. Das ist nicht richtig. Der einzelne Erzählsatz ÂťEs kam ein Wind aufÂŤ begrĂźndet zwar nach der an Genette (1994) angelehnten Auffassung bereits eine minimale Erzählung. Dies ist aber nur deshalb so, weil dieser einzelne Satz in dem Text, den er zugleich darstellt, die dominierende (weil einzige) Rolle spielt. StĂźnde derselbe Satz in einem sprachlichen Zusammenhang, der sonst lauter nicht-erzählerische Sätze enthielte, so besäĂ&#x;e er kaum mehr das Gewicht, die betreffende Ă„uĂ&#x;erung zur Erzählung werden zu lassen. Man stelle sich vor, wie sich zwei Personen in einem Restaurant begegnen und wie die eine fragt: ÂťWas machst du denn hier?ÂŤ Die andere kĂśnnte antworten: ÂťEs kam ein Wind auf. Deswegen bin ich froh, hier im Warmen zu sitzen.ÂŤ Diese letzte Ă„uĂ&#x;erung ist gewiss keine Erzählung, sondern eher eine BegrĂźndung im Kontext der Beantwortung einer Frage. Es zeigt sich, dass Erzählungen nur dort entstehen, wo Erzählsätze (in erzählerischer Funktion) im Ganzen einer sprachlichen Ă„uĂ&#x;erung die dominierende Rolle spielen; wo also im Kern etwas erzählt wird. %RZiHLEN IM ENGSTEN ENGEREN

WEITEREN UND WEITESTEN 3INN Weber (1998) unterscheidet zwischen Erzählen im engsten, im engeren, im weiteren und im weitesten Sinn. Beim Erzählen engsten, engeren und weiteren Sinnes handelt es sich um ein Geschichtenerzählen, bei den jeweils hervorgebrachten Erzählungen also um Geschichten, um Erzählungen par excellence. Im Folgenden werden die Unterschiede zwischen den verschiedenen Erzählformen ausgefßhrt. Erzählen im engsten Sinn Erzählen im engsten Sinn unterliegt einer bestimmten erzähldynamischen oder dramaturgischen Struktur, die von der Literaturwissenschaft 30


2.1 Was heißt fiktionales Schreiben?

traditionell in fünf Phasen eingeteilt wird. Schütze (1976, S. 10; zit. nach Weber 1998) bietet für diese Phasen die folgenden Bezeichnungen an: ± Phase 1: Vorspiel/Exposition/Orientierung ± Phase 2: Auftauchen von Krisenfaktoren/Komplizierung ± Phase 3: Krise/Höhepunkt ± Phase 4: Krisenabwicklung/Schlichtung/Auflösung ± Phase 5: Endzustand/Konklusion Wo im engsten Sinn erzählt wird, da lässt sich im Erzähltext eine Sequenz von Phasen identifizieren, die alle im Bezug auf das Ganze einen bestimmten dramaturgischen (erzähldynamischen) Zweck erfüllen. Der Einstieg in die Erzählung ist nicht abrupt, sondern orientierend, die Krise bricht nicht herein, sondern baut sich in der Komplizierung langsam auf, das Ende kommt nicht unvermittelt, sondern wird in der Phase der Krisenabwicklung sorgsam vorbereitet. Dies, so der Befund der Linguistik, ist der typische Verlauf einer wohlgeformten Erzählung, das Muster einer Geschichte. Je enger eine Erzählung diesem Muster entspricht, desto eher neigen wir als Hörer oder Leser dazu, das Erzählte als Geschichte (statt bloß als Erzähltes) zu identifizieren. Erzählen im engeren Sinn Erzähltes im engeren Sinn gliedert sich nicht mehr in fünf, sondern in drei unterscheidbare Phasen; es entsteht aus dem »narrativen Dreischritt« nach Aristoteles (1982) mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Das Konzept dieses Dreitschritts bezieht sich bei Aristoteles nicht auf das Epos (ein Erzählwerk), sondern auf die Tragödie (ein Bühnenwerk). Es soll die Frage beantworten, welche »Beschaffenheit« die »Zusammenfügung der Geschehnisse« in der Tragödie haben muss. Aristoteles (1982, S. 25) bestimmt die Begriffe Anfang, Mitte und Ende wie folgt: »Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nachdem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie 31


2 Schreiben und Therapie: Zur Klärung der Begriffe

gut zusammengefßgt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle enden, sondern sie mßssen sich an die genannten Grundsätze halten.

Diese knapp zweieinhalbtausendjährigen Definitionen erfreuen sich bei zeitgenĂśssischen Erzähltheoretikern noch immer groĂ&#x;er Beliebtheit. Bei näherem Hinsehen erweist sich der aristotelische Dreischritt indes als wenig praktikabel, weil hier nicht, wie bei den berichteten fĂźnf Phasen SchĂźtzes (1976), erzähldynamische Funktionen an die Begriffe gebunden sind. Kein Geschehnis ist ÂťnatĂźrlicherweiseÂŤ, wie Aristoteles es wollte, ein Anfang, eine Mitte oder ein Ende. So lässt sich etwa der Tod eines Menschen zunächst noch als absolutes Ende dessen missverstehen, was sich Ăźber ihn als Protagonisten erzählen lässt. Viele Erzählungen5 nehmen aber gerade den Tod des Protagonisten zum Anfang der Geschichte. In erzähldynamischer Perspektive eignet sich das vermeintliche Ende als Anfang manchmal besonders gut, weil es die Frage auslĂśst: Was war mit diesem Menschen? Wie ist es dahin gekommen, wo er endet? Der Tod lĂśst dann erzählzeitliche Folgeerwartungen aus. Diese initialen Folgeerwartungen, und nicht irgendeine ÂťnatĂźrlicheÂŤ Anfänglichkeit, machen einen Anfang zum guten Anfang. Die erzähldynamische Unbestimmtheit der Begriffe Anfang, Mitte und Ende fĂźhrt in der linguistischen Praxis dazu, dass Anfänge, Mitten und Enden tautologisch nach der Position identifiziert werden, die sie im Erzählttext einnehmen. Was am Anfang steht, gilt als Anfang, was in der Mitte steht, als Mitte und was am Ende positioniert ist, gilt als Ende. Dieser Sitte entspricht selbst Weber, wenn er folgende Erzählung Wondratscheks (1992, S. 54; zit. nach Weber 1998, S. 15) als einen minimalistischen Paradefall des narrativen Dreischritts zitiert: ÂťTĂśte mich, sagte sie. Und er tĂśtete sie. Und als sie endlich tot war, sagte sie noch, mach weiter.ÂŤ Aristoteles hätte den Satz ÂťTĂśte mich, sagte sieÂŤ kaum als Anfang einer Geschichte gelten lassen. Hier geht jenem Geschehnis, das in der Erzählung den Anfang macht, sogar natĂźrlicherweise etwas voraus, was dieses Geschehnis als Anfang im aristotelischen Sinn disqualifiziert: Kein %IN BER~HMTES "EISPIEL FINDET SICH IM &ILM 3UNSET "OULEVARD VON 2EGISSEUR "ILLY 7ILDER §%INE GUTE 'ESCHICHTE BRAUCHT EINEN !NFANG EINE -ITTE UND %NDE ABER NICHT ZWINGEND IN DIESER 2EIHENFOLGEÂŚ SOLL *EAN ,UC 'ODARD GESAGT HABEN

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2.1 Was heiĂ&#x;t fiktionales Schreiben?

ÂťtĂśte michÂŤ ist je aus heiterem Himmel gefallen. Wondratscheks Erzählung wĂźrde also, wenn sie gut aristotelisch hätte sein wollen, ganz anders begonnen haben: mit einem Anfang, der den Leser nicht wundernehmen lässt, was dem Anfang vorausliegt. Dennoch ist die Idee nicht gleich preiszugeben, das Drei-PhasenModell des Aristoteles entwerfe die sequenzielle Struktur von Erzählen im engeren Sinn. Anfang, Mitte und Ende mĂźssen nur erzähldynamisch reformuliert werden. Eine solche Reformulierung kĂśnnte lauten: Ein ordentlicher Anfang interessiert den HĂśrer oder Leser fĂźr das Danach, nicht aber fĂźr das Vorher des Anfangs. Die Mitte interessiert sowohl fĂźr das Vorher wie fĂźr das Danach der Mitte.6 Das Ende beantwortet das Interesse nach dem Vorher des Endes, bringt aber keine Interesse am Danach hervor. Der Anfang produziert Folgeerwartungen, die Mitte Bedingungs- und Folgeerwartungen, das Ende nur Bedingungserwartungen, aber keine Folgeerwartungen mehr.7 NatĂźrlich ergibt sich diese Verteilung von Folge- und (hypothetischen) Bedingungserwartungen teilweise bereits aus der Positionierung der entsprechenden Geschehnisse im narrativen GefĂźge. Was etwa am Anfang eines von vornherein als Erzählung deklarierten Textes steht, wird schon kraft seiner Anfangsposition gewisse Folgeerwartungen wecken, allein weil der Leser weiĂ&#x;, dass auf Anfänge immer Entwicklungen folgen. Diese positionalen Erwartungseffekte aber muss ein versierter Erzähler in der inhaltlichen Ausgestaltung der Geschehnisse zu nutzen verstehen. Denn den Interessenskredit, dem der Rezipient ihm schenkt, kann er nach MaĂ&#x;gabe seines erzählerischen Geschicks vermehren oder vernichten. Eine gute Erzählung wird sich am Ende nur dann ergeben, wenn der Erzähler die Positionen des Anfangs, der Mitte und des Endes mit Vorgängen zu besetzen weiĂ&#x;, die sich erzähldynamisch fĂźr diese Besetzungen eignen. $IESES )NTERESSE AM 6ORHER DER -ITTE GILT NAT~RLICH NUR HYPOTHETISCH 7ENN DER (yRER ,ESER DEN !NFANG NICHT BEREITS KENNEN W~RDE M~SSTE ER SICH DAF~R INTERESSIE REN !NALOGES GILT F~R DAS %NDE $ABEI ZEICHNEN SICH GUTE 'ESCHICHTEN BEKANNTLICH NICHT DADURCH AUS DASS IHR %NDE ALLE &RAGEN BEANTWORTET %IN GUTES %NDE SOLL ZWAR DIE (ANDLUNG ABSCHLIE†EN ABER NICHT DAS )NTERESSE DES (yRERS ,ESERS AN DER (ANDLUNG ODER AN DEN DIE (ANDLUNG TRAGENDEN 0ROTAGONISTEN KASSIEREN 7O DIESER "ALANCEAKT BESONDERS GUT GELINGT ENT STEHEN &ORTSETZUNGEN SEQUELS

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2 Schreiben und Therapie: Zur Klärung der Begriffe

Erzählen im weiteren und weitesten Sinn Wer im engeren Sinn erzählt, hält sich noch an Grundsätze der dramaturgischen Gestaltung – er lässt Ende, Mitte und Anfang aufeinander folgen. Eine derartige Sequenzialität ist fĂźr das Erzählen im weiteren Sinn nicht mehr gefordert. Dieses ist nach der Formulierung Webers da schon gegeben, wo ein Erzähler Âťeine Reihe zeitlich bestimmter SachverhalteÂŤ (Weber 1998, S. 23) in Âťserieller RedeÂŤ (ebd., S. 11) darstellt. Weber nennt es das Und-dann-Erzählen: bestehend aus einer ersten Proposition (ÂťDer KĂśnig schlief ein ‌), an die sich mindestens eine zweite in zeitlicher VerknĂźpfung anschlieĂ&#x;t (‌ und dann wachte er wieder aufÂŤ). Die im Und-dann-Erzählen berichteten Geschehnisse werden in ihrem zeitlichen Zusammenhang definiert. Auf der Ebene der manifesten Darstellung sind sie also nicht beziehungslos, arrangieren sich aber ebenso wenig zu einer Erzähldynamik mit distinkten Phasen, wie es beim Erzählen engsten und engeren Sinnes geschieht. Beim Erzählen im weitesten Sinn ist schlieĂ&#x;lich auch noch diese zeitliche Beziehung aufgehoben, kein chronologischer Faden gibt sich mehr zu erkennen. Weber nennt es das Und-und-Erzählen (zum Beispiel: ÂťDer KĂśnig schlief ein. Die Mutter ging mit ihrem Kind in das DorfÂŤ). Die ersten drei Formen des Erzählens lassen sich unter der Kategorie Âťstarkes ErzählenÂŤ zusammenfassen, während das Erzählen im weitesten Sinn ein Âťschwaches ErzählenÂŤ darstellt. Starkes Erzählen erzeugt Geschichten, schwaches Erzählen dient anderen Zwecken (etwa der Herstellung eines erzählerischen Porträts). :USiTZLICHE !TTRIBUTE DES %RZiHLENS Die folgenden Absätze entwerfen – immer noch entlang der AusfĂźhrungen Webers (1998) – weitere Attribute des Erzählens, die fĂźr die vorliegende Studie wichtig sein werden. (1) Erzählen gilt Nichtaktuellem Selbstverständlich scheint, dass Erzähler meist von Vergangenem erzählen. Wer erzählt, nimmt in aller Regel Bezug auf Ereignisse, die vorĂźber sind. Erst die zeitliche Distanz erlaubt dem Erzähler ja jene Freiheiten des narrativen Arrangements, die ihm als Gestalter einer Geschichte unentbehrlich sind. Schon die oberflächlichste linguistische Analyse 34


2.1 Was heißt fiktionales Schreiben?

scheint das zu bestätigen: Die quintessenzielle Zeitform des Erzählens ist (zumal im Deutschen) das Präteritum oder Imperfekt, jenes Tempus also, das der gewiefte Erzähler nach einer berühmten Formulierung Thomas Manns »raunend zu beschwören« weiß (Mann 1924/1996, S. 6). Sowohl die faktuale Erzählung im Alltag als auch die fiktionale Erzählung in der Literatur bedienen sich vorwiegend der grammatikalischen Vergangenheitsformen. Aus diesen Tatsachen könnte nun der Schluss gezogen werden, Erzählen gelte immer Vergangenem. Dagegen wendet Weber (1998, S. 31) ein, dass auch Zukünftiges oder genauer als zukünftig Vorgestelltes sich erzählen lässt, und er findet für diese Möglichkeit mehrere Beispiele in der fiktionalen Literatur. So prägt er für das Vergangene, das als vergangen und zukünftig Vorgestellte den naheliegenden Sammelbegriff des Nichtaktuellen. Erzählen gilt Nichtaktuellem. Aber ist diese Argumentation stichhaltig? Die Germanistin Käte Hamburger hatte es anders geahnt. Ihr Einspruch gegen die gängige Auffassung vom Vergangenheitsbezug des Erzählens bezog sich auf die literarische Fiktion, zumal auf jenen verbreiteten Typus, bei dem der Erzähler nicht mit dem Gestus des Zurückblickens erzählt (wie er es in der Ich-Perspektive meist tut). Hamburger (1957) stellte die These auf, dass das Vergangenheitstempus in der literarischen Fiktion oft nur den Schein des Vergangenen erzeugt, bei genauerem Hinsehen aber auf eine »fiktive Gegenwart« verweist. Das fiktional Erzählte ist dann weder vergangen noch wird es »als vergangen vorgestellt«, wie Weber überzeugt ist, sondern es existiert exakt zum Zeitpunkt des Erzählens, nur gleichsam im konkurrierenden Wirklichkeitsmodus der Erfindung. Diese These Hamburgers hält Weber für »widerlegt« (Weber 1998, S. 26). Die vermeintliche Widerlegung bezieht sich aber nur darauf, dass die linguistischen Phänomene, auf die Hamburger zur Stützung ihrer These hinwies, in der Tat auch unter den theoretischen Prämissen des Vergangenheitskonzepts erklärt werden können. Kurz: Es ist fraglich und bedarf daher der genauen Untersuchung, ob die sprachliche Vergangenheitsform des Erzählens wirklich immer auf eine begriffliche Vergangenheit verweist. Weitgehend überzeugend ist das noch dort, wo sich Autoren auf vergangene Zeitperioden beziehen, in historischen Erzählungen im allerweitesten Sinn. Ebenfalls leuchtet 35


2 Schreiben und Therapie: Zur Klärung der Begriffe

es ein, wo fiktive Erzähler im Nachher der erzählten Geschehnisse positioniert sind, also betont retrospektiv auf eine im Vorher des fiktiven Erzählens liegende Ereigniskette zurückblicken. Anders aber verhält es sich in den vielen Fällen, in denen der Erzähler sich jeder besonderen Historisierung enthält, also jenseits des Imperfektgebrauchs die Vergangenheit des Erzählten nicht weiter signalisiert. Schreibt etwa eine Autorin in einem nicht-historisierten Kontext denn Satz »Sie küsste ihn«, dann ist zunächst nicht anzunehmen, dass sie sich die Aussage dieses Satzes als vergangen vor Augen ruft. Sondern die Autorin stellt sich wahrscheinlich vor, wie ihre Protagonistin einen Mann küsst, ohne diesen Vorgang überhaupt zeitlich zu kontextualisieren. Man kann dann nur sagen: Sie stellt sich jetzt, zum Zeitpunkt des Schreibens vor, dass ihre Protagonistin jetzt im konkurrierenden Wirklichkeitsmodus der Erfundenheit dies und jenes tue. Die beiden Zeitadverben »jetzt« stellen zwei verschiedene Aktualitäten auf zwei verschiedenen zeitlichen Kontinuen dar; das eine Kontinuum bezogen auf die reale Wirklichkeit der Autorin, das andere auf die erfundene Wirklichkeit der Protagonistin – und doch ereignen sich beide »jetzt« zum gleichen Zeitpunkt. Und dasselbe dürfte gelten für den rezipierenden Leser: Auch für diesen wird jetzt in der realen Wirklichkeit gegenwärtig, was jetzt in der erfundenen Wirklichkeit sich zuträgt. Man kann diese Erwägungen über Vergangenheit oder Gegenwärtigkeit des Erzählten für überflüssig oder allzu spitzfindig halten. Für die Untersuchung des therapeutischen Potenzials fiktionalen Schreibens sind sie indes höchst bedeutsam, wie sich noch zeigen wird (Kapitel 7). Denn die »imaginative Wunscherfüllung«, die sich im Prozess des fiktionalen Schreibens vollzieht, beruht wesentlich auf der Gegenwärtigkeit der Fiktion. (2) Erzähler sind Außenstehende Erzähler sind in das erzählte Geschehen zum Zeitpunkt (in der Situation) des Erzählens nicht involviert. Erzähler erzählen in irgendeinem Sinn – örtlich, zeitlich, psychologisch – gleichsam aus der Ferne. Gewiss spielen die Erzähler als Akteure im erzählten Geschehen oft genug ein wichtige Rolle, in der aus der Ich-Perspektive erzählten Geschichte meist gar die Rolle des Protagonisten, des Haupthandelnden. Aber natürlich ist der Erzähler als Figur des Erzählten vom Erzähler als Erzähler zu 36


2.1 Was heißt fiktionales Schreiben?

unterscheiden. Zu dem Zeitpunkt, wo die Erzählerin auf das Geschehene bzw. Geschehende blickt, sei dieses erfunden oder nicht, ist sie selbst nicht unmittelbar darin verwickelt. Dieser Abstand ist die Bedingung jener prinzipiellen gestalterischen Freiheiten, die für die Erzähltätigkeit bestimmend zu sein scheinen. Nach Webers (1998, S. 34) Formulierung: Ein Erzähler ist kein Livereporter oder Teichoskop, wie der antike Begriff für den Livereporter lautet. In einer bestimmten Spielart, dem szenischen Erzählen nach Ludwig (1977), imitiert die Erzählung allerdings die Liveberichterstattung. Das wird häufig von einem abrupten Wechsel der Zeitform ins Präsens angezeigt, zum Beispiel: »Ich ging fröhlich pfeifend durch den Wald. Und plötzlich steht da dieser gewaltige Hirsch vor mir.« In solchen Fällen tut die Erzählung so, als berichte sie live, und steigert dadurch noch den Aktualitätseindruck, von dem wir – mit Hamburger, aber gegen Weber – angenommen hatten, dass er eine regelmäßige Leistung des Erzählens darstelle. (3) Erzählen hat zwei Orientierungszentren Aus dem Außenstehen des Erzählers ergibt sich, dass dessen Äußerungen potenziell immer auf zwei grundlegend verschiedene Situationen bezogen sein können: auf die Erzählsituation einerseits und die »erzählte Situation«, die Szene des narrativen Geschehens, andrerseits. Am deutlichsten wird das an den sogenannten Deiktika, jenen Zeigewörtern im weiteren Sinn, die nur verstanden werden können, wenn die Situation, aus der heraus das entsprechende Wort gebraucht wird, dem Hörer bzw. Leser vor Augen steht. Wenn ein Erzähler »jetzt« sagt, dann kann er das Jetzt des Erzählens oder das Jetzt des Erzählten meinen. Er kann sagen: »Ich weiß jetzt nicht mehr, ob ich fröhlich gepfiffen habe«, oder aber: »Plötzlich stand jetzt dieser gewaltige Hirsch vor mir.« Seit Bühler (1934) bezeichnet man die zwei Orientierungszentren des Erzählens als Erzählsituation und erzählte Situation. Die Unterscheidung der beiden »Zentren« scheint in den mündlichen Alltagserzählungen besonders wichtig. Denn hier wechseln sich wiedergegebene Zustände, Gedanken, Empfindungen, Bewertungen von damals (»Mir lief es eiskalt über den Rücken«) besonders häufig mit aktuellen Zuständen, Gedanken usw. (»Mir läuft es eiskalt über den Rücken, wenn ich daran denke«) ab. Nicht selten sind die beiden Zentren konfundiert, 37


2 Schreiben und Therapie: Zur Klärung der Begriffe

sodass es dem Hörer schwerfällt, zwischen ihnen zu unterscheiden. Die Erwägung linguistischer Merkmale (etwa: Präsens in der Erzählsituation, Präteritum in der erzählten Situation) reicht dann nicht aus. Ein reflektierender, erzähltheoretisch geschulter Hörer wird sich immer wieder Fragen stellen wie: Lief es dem Erzähler damals wirklich eiskalt über den Rücken oder sieht er das erst heute so? Stehen womöglich heutige Interessen dahinter, dass er mir seinen damaligen Schrecken mit solchem Nachdruck vermitteln will? (4) Erzählen ist adressiert Dass Erzählen immer adressiert ist, hört sich zunächst wie eine Selbstverständlichkeit an. Erzählen ist ja eine sprachliche Tätigkeit, und zum Wesentlichen sprachlicher Tätigkeiten gehört es, dass sie sich an jemanden richten. Wer spricht, spricht jemanden an. Nicht einmal das Selbstgespräch bildet eine Ausnahme: Adressat des Selbstgesprächs ist der Sprecher selbst. Mündliche Erzählungen sind natürlich an Hörer, schriftliche an Leser gerichtet. Im Einzelnen intrikat ist aber die Frage, welche Hörer bzw. welche Leser nun genau mit einer konkret vorliegenden Erzählung adressiert sein mögen. Für wen erzählt jemand, der im Alltag mündlich von seinem gestrigen Erlebnis berichtet? Wirklich für den Hörer, der ihm gegenübersteht? Für sich selbst? Für einen insgeheim imaginierten Mithörer (den »lieben Gott« zum Beispiel oder die abwesende Geliebte)? Und an wen schreibt der Verfasser eines literarischen Erzähltextes? An einen idealisierten, alles verstehenden Wunschleser? An sich selbst? An den Freund, dem er das Manuskript zeigen wird? An einen gefürchteten Literaturkritiker? Oder wie Stendhal an eine vorwegphantasierte Leserschaft des nächsten Jahrhunderts? Kapitel 6 dieses Buches wagt eine Antwort auf diese Fragen. Vorläufig ist nur wichtig, dass Erzählen, wie es scheint, immer in irgendeiner Form adressiert ist. (5) Erzählungen bestehen nicht nur aus Erzählsätzen Wer sich in linguistischer Hinsicht mit Erzählungen beschäftigt, stellt sogleich fest, dass die von ihm untersuchten sprachlichen Gestalten aus allerlei Textsorten zusammengesetzt sind. Sätze, die im genauen Sinn ein narratives Geschehen darstellen, also eine Handlung entwickeln, mögen zwar inhaltlich die dominierende Rolle spielen, zumal dann, wenn die 38


2.1 Was heiĂ&#x;t fiktionales Schreiben?

sogenannte Erzählung diesen Namen tatsächlich verdient; aber sehr selten sind die Erzählsätze ganz unter sich. Beschreibungen, Ăœberlegungen, Bewertungen – und allerlei andere Sorten – fordern fast immer gehĂśrigen Raum im Erzählten ein. Dieser Einschluss nicht-erzählender Elemente in die Erzählung bedeutet keineswegs eine Verunreinigung: Ein Prototyp der Erzählung, wenn es einen solchen gäbe (vgl. Labov/Waletzky 1967), entspräche keiner reinen Aufreihung von Erzählsätzen. Insofern kĂśnnen die Adjektive erzählerisch und erzählend auseinandergehalten werden: Wer einen Gegenstand im strengen Sinn erzählend behandelt, spricht in Erzählsätzen davon; wer ihn dagegen erzählerisch behandelt, mischt unter die inhaltlich dominierenden Erzählsätze auch allerlei andere Satzformen wie Beschreibung, Reflexion, Argumentation.

$ER LITERARISCHE !NSPRUCH

Wie fiktionale Prosa nicht immer, aber typischerweise erzählende Prosa ist, so geht mit der Praxis fiktionalen Schreibens nicht immer, aber typischerweise die literarische Ambition der Autorin bzw. des Autors einher. Das ist ein deutlicher Befund aus der empirischen Studie, die in Kapitel 4 vorgestellt wird. Wer fiktional schreibt, schreibt meist mit literarischem Ehrgeiz. Oder wenn Ehrgeiz das falsche Wort ist: mit der Absicht, den Text literarisch gelingen zu lassen. Das wirft die Frage nach dem Gegenstand dieses Ehrgeizes auf: Was ist Literatur? Was heiĂ&#x;t literarisch? Eine kurze, an darstellerischer Ă–konomie orientierte Antwort soll genĂźgen. Der Begriff Literatur leitet sich her von der spätlateinischen Pluralform litterae, die ÂťGeschriebenesÂŤ, Âťschriftlich VorliegendesÂŤ bedeutet. Literatur kann also nach der Herkunft des Wortes nur das sein, was schriftlich vorliegt. Der Umkehrschluss freilich trifft nicht zu: Nicht alles, was schriftlich (literal) vorliegt, ist zugleich Literatur (literarisch). Literatur muss noch etwas anderes sein als bloĂ&#x; Geschriebenes: eine besondere Art von Schriftwerk. Welche Zusatzbedingung macht das Schriftliche zur Literatur? In der sogenannten Sachliteratur scheint das die Publikation zu sein: Was publiziert ist (von einem Verlag gedruckt worden ist und vom Buchhandel verkauft wird), gehĂśrt zur Literatur, zur Sach- oder Fachliteratur. Ein Qualitäts39


2 Schreiben und Therapie: Zur Klärung der Begriffe

prädikat wohnt der Bezeichnung nicht inne. So kann man sinnvoll von miserabler Literatur reden; sobald das Miserable gedruckt ist und verkauft wird, gehört es trotz seiner mangelnden Qualität zur Literatur. Der Transfer vom Substantiv Literatur im Sinn von Sach- oder Fachliteratur auf das Adjektiv literarisch ist dabei nicht gerechtfertigt. Wer sagt, Sachliteratur sei literarisch, hat sich entweder im Adjektiv vertan oder er sagt vom betreffenden Stück Sachliteratur etwas aus, was in seiner Bestimmung als Sachliteratur keineswegs schon enthalten ist. Das Adjektiv literarisch leitet sich nicht vom Substantiv Literatur überhaupt ab, sondern vom Substantiv Literatur in spezifischer Bedeutung. Diese Bedeutung ist diejenige der Schönen Literatur (Belletristik), wie die (nicht unproblematische) Bezeichnung seit dem 18. Jahrhundert lautet. Literarisch sein heißt nicht etwa immer schöne Literatur sein, aber es heißt: von der Art Schöner Literatur sein. Zur Bedeutung von Literatur als Schriftwerk kommt im Literarischen also diejenige von Literatur als Kunstwerk hinzu. Interessanterweise verschwindet dabei das Kriterium der Publikation wieder völlig: Im Bezug auf das Literarischsein eines sprachlichen Objekts scheint es nämlich gleichgültig, ob dieses veröffentlicht ist oder nicht. Es kommt vor, dass unveröffentlichte Texte von Lesern als literarisch gelobt werden, während man unter dem Namen Schöne Literatur veröffentlichte Texte gelegentlich als nichtliterarisch verurteilt. Publiziertheit ist zwar ein Hinweis auf die Literarizität eines Werks, weil man davon ausgehen kann, dass der Publikation evaluative Prozesse vorausgehen, die in der Regel von Fachleuten unternommen sind: Was publiziert ist, haben sachverständige Leute als literarisch qualifiziert. Publiziertheit korreliert also mit Literarischsein, aber sie schafft keine hinreichende Bedingung dafür. Die Formel, Literatur sei künstlerisches Schriftwerk, verweist auf den Begriff der Kunst. Literatur im Sinn des Literarischen muss wesentliche Definitionsmerkmale der Kunst aufweisen. Doch weil diese Definitionsmerkmale ihrerseits sehr umstritten sind, täte man nicht gut daran, diesem Hinweis zu folgen. Denn man müsste dann nicht mehr nur erläutern, was Literatur, sondern sogar, was Kunst ist. Versucht sei stattdessen eine schlichte Annäherung an den Begriff des Literarischen, die sich an dessen alltagssprachlicher Verwendung orientiert. Vier Beschreibungsmerkmale ragen dabei heraus: 40


2.1 Was heißt fiktionales Schreiben?

± ± ± ±

Das Literarische ist darauf angelegt, durch Schönheit zu beeindrucken; das Literarische ist vielfältig in seiner Bedeutung; das Literarische ist beispielhaft; das Literarische ist originell.

Das offenkundigste Gattungsmerkmal gelungener literarischer Texte besteht darin, dass sie gefallen oder, in einem von der Kunstrezeption geprägten Sinn des Wortes, dass sie schön sind. Literarische Texte sind kunstschön: Ihr Gehalt ist durch mikroskopische Bearbeitung (Formulierungen, Stil) und makroskopische Bearbeitung (das Arrangement der Teile zum Ganzen) in eine Form gebracht, die den Rezipienten im Fall gelungener Literarizität als eine schöne Form beeindruckt. Wer literarisch schreibt, sucht mit der Schönheit seines Textes zu faszinieren. Diese Feststellung trifft nur zu, wenn ihr eine hinreichend raffinierte Auffassung vom Schönen zugrunde liegt: Das Adjektiv schön darf hier nicht als synonym mit gefällig, schmuck, nett anzusehen und dergleichen gelten. Die Frage, was einen Text schön und insofern literarisch macht, lässt sich nicht mit einem Rezept, einer Anleitung beantworten. Aber man kann, wie das im russischen Formalismus getan wurde (Propp 1928/1975; Jakobson 2005; zur Übersicht Striedter 1994), auf der syntaktischen, semantischen, phonetischen, rhythmischen Ebene objektive Merkmale herausarbeiten, die für die literarische Stilisierung typisch sind. Das Literarische ist vielfältig in seiner Bedeutung Eine Besonderheit literarischer Texte ist ihr Bedeutungsreichtum, ihre prinzipielle Unzugänglichkeit für die eine und einzige Auslegung, die die Aussage des Textes, das eigentlich Gemeinte ein- für allemal erschließt. Insofern sind literarische Texte dem Rätsel ähnlich; mit dem wichtigen Unterschied allerdings, dass das Rätsel eine einzige Bedeutung hat, die es verbirgt, während der literarische Text – in der Regel, nicht immer – eine Vielzahl von Bedeutungen bereithält. Oder genauer: Der literarische Text hat gar keine Bedeutung, er erlaubt bloß eine Vielzahl von Deutungen. Dabei erlaubt er nicht jede: Die nie wirklich dingfest zu machende Objektivität des Textes ist rätselhafterweise imstande, der Subjektivität der Lesart dennoch Grenzen zu setzen. Gerade das gehört zu den Geheimnissen der Kunstgattung Literatur. Manche Deutungen 41


2 Schreiben und Therapie: Zur Klärung der Begriffe

scheinen auf den literarischen Text zu passen, als ob sie in ihm angelegt wären; und doch gemahnt die Vernunft daran, jedesmal der Versuchung zu widerstehen, diese Auslegung als die eine und wahre zu unterstellen. Es gehört ganz wesentlich zur Begabung der Literatin/des Literaten, durch den Text mehr zu sagen, als sie/er eigentlich zu sagen weiß. Dieser Teil des poetischen Geschicks erscheint am wenigstens erlernbar; wer über keine literarische Begabung verfügt, durchdringt den Text mit seinen guten Absichten, die dem Leser entweder allzu verständlich sind oder ihm wirr und unscharf erscheinen. Dabei ist Bedeutungsreichtum natürlich nicht mit Bedeutungsunschärfe zu verwechseln: Unscharfe Texte erlauben nicht eine Fülle interpretatorischer Fokussierungen, sondern gar keine. Das Literarische ist beispielhaft Literarisch reüssierende Autorinnen und Autoren geben nicht nur diejenigen Verhältnisse gültig wieder, die ihnen direkt vor Augen stehen, sondern indirekt auch die Verhältnisse ihrer Leserschaft. Anders formuliert: Die beispielhafte Welt des literarischen Werks ähnelt den Welten der Leser, nur dass in die literarische für gewöhnlich ein kräftigeres Licht der Erkenntnis dringt. Literarische Texte erlauben es den Lesern, sich selbst in den fiktiven Figuren des Textes (und ihre Verhältnisse in deren Verhältnissen) wiederzuerkennen, obwohl die Gemeinsamkeiten äußerlich, zum Beispiel hinsichtlich der Lebensumstände usw., bescheiden sein mögen. Hier ist der Ort, wo die Lektüre der Klugheit des Lesers zustatten kommt: Im Glücksfall der literarischen Erfahrung macht der Leser seine Einsicht in das erzählte Geschehen zur Einsicht in sein eigenes Leben. Das Literarische ist originell Wenn ein Text also schön ist, vielfältig in seinen Bedeutungen und beispielhaft: Lässt sich dann sagen, er sei in einem genauen Sinn literarisch gelungen? Meist verhält es sich wohl so: Literarisch ist er mindestens in dem Sinn, dass er wie Literatur ist, an Literatur gemahnt. Aber bezeichnen wir ihn deshalb auch schon als Literatur im strengsten Sinn, als gültiges Werk der Literatur? Dafür scheint eine weitere Bedingung hinzukommen zu müssen. Ein genuin literarischer Text soll nämlich schön, bedeutungsreich und beispielhaft sein – auf eine Weise, in der es noch kein anderer vor ihm gewesen ist. Mit einem Wort: Er soll originell sein. Der Text mag sich an 42


2.1 Was heiĂ&#x;t fiktionales Schreiben?

literarischen Vorbildern orientieren – das soll er sogar –, aber er muss dieser Reihe seiner Vorbilder etwas hinzufĂźgen, was in ihnen nicht bereits enthalten war. Diese HinzufĂźgung soll sich auf mindestens eine der drei wesentlichen Hinsichten beziehen, die genannt worden sind: auf die Ă„sthetik des Textes, seine Bedeutungsvielfalt oder seine Beispielhaftigkeit. Ist auch das erreicht, dann verdient der Text im vollen Sinn, zur Literatur gezählt zu werden. Zusammenfassung Aus den dargelegten Bestimmungen zu den vier Eigenschaften fiktionalen Schreibens, die entweder notwendig zur Definition dieser Praxis gehĂśren (Schriftlichkeit, Fiktionalität) oder dafĂźr prototypisch sind (Form des Erzählerischen, literarischer Anspruch), geht nun folgende tabellarische Zusammenfassung hervor (Abb. 2.1). Sie beschreibt den genauen Begriff fiktionalen Schreibens, der in diesem Buch gelten soll.

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4AB )N DER VORLIEGENDEN 3TUDIE WIRD NACH DER 4HERAPIEKRiFTIGKEIT JENER BESONDEREN &ORM DES 3CHREIBENS GEFRAGT DIE ½KTIONALE ERZiHLERI SCHE UND DER !BSICHT NACH LITERARISCHE 4EXTE HERVORBRINGT 43


PSYCHOLOGISCHEN &ORSCHUNGSSTANDS LEGT DER !UTOR EINE EMPIRISCHE 3TUDIE ZUM KU RATIVEN 0OTENZIAL FIKTIONALEN 3CHREIBENS VOR UND ERLiUTERT SEINE "EFUNDE MITHILFE DER NARRATIVEN 0SYCHOLOGIE ,ITERATURWIS SENSCHAFT UND 0SYCHOANALYSE !LS GR~ND LICHE SYSTEMATISCHE %INF~HRUNG RICHTET SICH DAS "UCH AN ,ESER DIE SICH F~R DIE THERAPEUTISCHE $IMENSION DES LITERA RISCHEN 3CHREIBENS INTERESSIEREN

Schreiben als Therapie?

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Schreiben als Therapie? Eine psychologische Studie über das Heilsame in der literarischen Fiktion

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHER UND PSYCHOANALYTISCHER +ONZEPTE IN DIE 0SYCHOLOGIE

WWW PSYCHOSOZIAL VERLAG DE

ISBN 978-3-8379-2082-6

0SYCHOSOZIAL 6ERLAG 258 Seiten, Rückenstärke: 17 mm


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