Analyse der Psyche und Psychotherapie

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Mathias Hirsch Trauma

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!NALYSE DER 0SYCHE UND 0SYCHOTHERAPIE

144 Seiten ยท 11 mm


Viele Begriffe, die wir aus der Psychoanalyse kennen, blicken auf eine lange Geschichte zurück und waren zum Teil schon vor Freuds Zeit ein Thema. Einige Begriffe haben längst den Weg aus der Fachwelt hinaus in die Umgangssprache gefunden. Alle diese Begriffe stellen heute nicht nur für die Psychoanalyse, sondern auch für andere Therapieschulen zentrale Bezugspunkte dar. Die Reihe »Analyse der Psyche und Psychotherapie« greift grundlegende Konzepte und Begrifflichkeiten der Psychoanalyse auf und thematisiert deren jeweilige Bedeutung für und ihre Verwendung in der Therapie. Jeder Band vermittelt in knapper und kompetenter Form das Basiswissen zu einem zentralen Gegenstand, indem seine historische Entwicklung nachgezeichnet und er auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Diskussion erläutert wird. Alle Autoren sind ausgewiesene Fachleute auf ihrem Gebiet und können aus ihren langjährigen Erfahrungen in Klinik, Forschung und Lehre schöpfen. Die Reihe richtet sich in erster Linie an Psychotherapeuten aller Schulen, aber auch an Studierende in Universität und Therapieausbildung. Unter anderem sind folgende Themenschwerpunkte in Planung: Geschwisterdynamik | Psychose | Infantile Sexualität Soziale Ängste | Suizidalität | Borderline-Störungen Depression | Triangulierung | Übertragung/Gegenübertragung Adoleszenz | Fetischismus

Band 1

Analyse der Psyche und Psychotherapie


Mathias Hirsch

Trauma

Psychosozial-Verlag


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2011 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: info@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung & Layout: Hanspeter Ludwig, Gießen www.imaginary-art.net Satz: Andrea Deines, Berlin Druck: Fuldaer Verlagsanstalt GmbH & Co. KG www.fva.de Printed in Germany ISBN 978-3-8379-2056-7


Inhalt

Vorwort · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

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Einleitung · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

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Zur Geschichte psychoanalytischer Traumakonzepte Der frühe Freud · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Das ich-psychologische Traumakonzept · · · · · · · · · Der Pionier der psychoanalytischen Psychotraumatologie: Sándor Ferenczi· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

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Der Begriff »Trauma« in der heutigen Psychoanalyse · Akuttraumatisierung im Gegensatz zu chronisch-familiären Traumata · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Zerstörung der Symbolisierungsfähigkeit durch familiäre Traumatisierung · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen · Dissoziationen · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

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Psychoanalytische Therapie mit traumatisierten Patienten · 63 Phasenverlauf der Therapie traumatisierter Patienten· · · · · · · 71 Das Trauma in der Übertragung · · · · · · · · · · · · · · · · · 75 Übertragung und Gegenübertragung in der Traumatherapie Intersubjektivität · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Enactment · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Sexualisierung und Liebe · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

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Inhalt

Aktive Psychotherapie mit traumatisierten Patienten · · · Benennung der Realität – der »Supervisionsaspekt« der Therapie · Schuldgefühldifferenzierung · · · · · · · · · · · · · · · · · · Metaphorische Deutungen · · · · · · · · · · · · · · · · · · Psychodramatisches Mitagieren · · · · · · · · · · · · · · · · Aggression in der Gegenübertragung · · · · · · · · · · · · · Grenzen setzen · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

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Traumatisierte Patienten in der analytischen Gruppenpsychotherapie · Die Gruppe als Container · · · · · · · · · · · · Triangulierung und Zeugenschaft · · · · · · · · Übertragungsspaltung· · · · · · · · · · · · · · Kreuzidentifikation von Tätern und Opfern · · · · Kombinierte Einzel- und Gruppenpsychotherapie ·

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Schlussbemerkung · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 127 Literatur · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 129

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Vorwort

Anscheinend bedarf es der Entwicklung eines gesellschaftlichen Bewusstseins, hinsehen und anerkennen zu können, dass Menschen, insbesondere Kinder in ihren Familien, durch traumatisierende Gewalterfahrungen akute und auch lang dauernde psychische Schäden davontragen. Erst 1962 »entdeckte« der Kinderarzt C. Henry Kempe und Kollegen ein neues »Krankheitsbild« mit seinen typischen Symptomen: Kindesmisshandlung (»battered child syndrome«). Seit Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts konnte überhaupt erst (wieder) sexueller Missbrauch in der Familie gesehen, erkannt und von den Betroffenen auch berichtet werden (vgl. Hirsch 1987). Wie sehr die Augen verschlossen bleiben können und sich plötzlich aus einem nicht erkennbaren Grund öffnen, sehen wir zuletzt durch das Öffentlichmachen der massenhaften Missbrauchsfälle in katholischen und reformpädagogischen Institutionen, die bis dahin von Tätern, Mitwissern und auch von den Opfern nicht benannt werden konnten. Die Psychoanalyse begann als Theorie der sexuellen Traumatisierung von Kindern und ihren Langzeitfolgen. In treuer Gefolgschaft haben aber die Vertreter des Mainstreams der Psychoanalyse jahrzehntelang Freuds Dogma vom Primat des ödipalen Triebkonflikts gelten lassen, und erst heute kann man aufgrund der Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre eine Umkehr sehen (»intersubjective turn«). Gute und 7


Vorwort

schlechte Erfahrungen des sich entwickelnden Kindes in Beziehungen, im Extremfall eben traumatisierende, werden heute konzeptionell in den Vordergrund gestellt und Schicksale als Zusammenspiel von Innen und Außen, Trieb und Beziehungseinflüssen verstanden. Ansätze dafür gab es schon lange, oft den »Dissidenten« der psychoanalytischen Bewegung geschuldet wie Otto Rank, besonders auch Sándor Ferenczi. In dessen Nachfolge sind Michael Balint und durchaus auch Donald W. Winnicott zu sehen. Die Psychoanalyse als Beziehungswissenschaft wird sich eher der Dynamik und den Folgen von Traumatisierungen in Beziehungen (»komplexes Trauma«) zuwenden. So stehen auch die Schicksale verschiedener Traumatisierungen von sich entwickelnden Kindern in ihren Familien, die Abwehrdynamik von Dissoziation, insbesondere Internalisierung von Gewalt, sowie die Folgeerscheinungen im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes (siehe auch Hirsch 1997, 2004 und 2010). Eine Bemerkung zur Sprachregelung: Es ist üblich geworden, von »sexuellem Missbrauch« eines Kindes zu sprechen. Das impliziert, genau genommen, dass es auch einen korrekten »Gebrauch« von Kindern geben müsse. Eigentlich handelt es sich also um einen Missbrauch von Macht, die ein Erwachsener über ein Kind hat. Es wirkt aber künstlich, sich stets gegen den Sprachgebrauch zu stemmen, also spreche auch ich meist von sexuellem Missbrauch. Ich danke wieder Bianca Grüger, die den Text und seine vielfältigen Korrekturen wie immer unermüdlich in den Computer geschrieben hat. Ich danke auch den Patientinnen und Patienten, die mir am Beginn ihrer Therapie jeweils pauschal ihre Zustimmung zu einer eventuellen Veröffentlichung ihres »Materials« gegeben haben.

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Einleitung Von der Schwierigkeit der »Bearbeitung«

Seit vielleicht 25 Jahren ist das »Trauma« in den verschiedensten Bereichen von Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychiatrie und Sozialarbeit ein geradezu inflationär gebrauchter Begriff. Er bedeutet immer – wie verschieden er auch verstanden wird – das massive Einwirken von außen auf die Psyche des Individuums, mit zerstörerischen, psychisch nicht zu integrierenden Folgen, das Notmaßnahmen erfordert. Wir Menschen scheinen nicht immer in der Lage zu sein, zerstörerische Aggressionen gegen unser eigenes Selbst klar genug zu sehen und dann bearbeiten zu können. Immerhin aber ist es heute entsprechend der Entwicklung des gesellschaftlichen Bewusstseins möglich, psychische Störungen und Erkrankungen auf reale destruktive, also traumatisierende Einflüsse auf sich entwickelnde Kinder zurückzuführen. Viel zu lange sah sich die Psychoanalyse als Wissenschaft des intrapsychischen Konflikts (zwischen Trieb und sozialer Umwelt), als »Ein-Personen-Psychologie«, die das Individuum konzeptionell von seiner komplexen Beziehungsrealität isolierte. Und die Psychiatrie ist leider noch heute (oder heute wieder) in großem Ausmaß von biologischen, also genetischen und Stoffwechselkonzepten beherrscht. Sie reduziert den Patienten allzu häufig auf seine Gehirnphysiologie und sieht ihn nicht als Produkt komplexer lebenslanger sozialer (Beziehungs-)Einflüsse, die auf eine genetische Matrix, auf ein Entwicklungspotenzial einwirken. 9


Einleitung

Der Begriff »Trauma« ist eigentlich eine Kurzformel für ein sehr komplexes Prozessgeschehen. Ein überwältigendes Ereignis überrollt den psychischen Apparat und durchbricht den Reizschutz des Ichs, das die Gewalterfahrung nicht integrieren kann. Es ist vielmehr gezwungen, Notmaßnahmen zu ergreifen, insbesondere die der beiden vorherrschenden Bewältigungsversuche: Dissoziation und Internalisierung der Gewalt. Sándor Ferenczi hat dies als Erster als Introjektion und Identifikation mit dem Aggressor beschrieben. Diese kaum gelingenden Abwehrmechanismen haben wiederum Folgen, die uns als Symptome der Traumatisierten begegnen: dissoziative Zustände, Intrusionen, unbeeinflussbares Wiederherstellen der traumatischen Situation, Angststörungen als Äquivalente der Dissoziation. Allerdings erzeugt die Internalisierung lang dauernde schwere Schuldgefühl- und Selbstwertprobleme, Beziehungsstörungen, Depressionen und Suizidalität, verfehlte Identitätsentwicklung und Lebensverläufe, aber auch dissoziales, gewalttätiges Verhalten in einer Täter-Opfer-Umkehr aufgrund einer Täter-Identifikation. Ein »Trauma« ist also ein Prozess, in dem einer Gewalteinwirkung (traumatisches Ereignis) die direkte Abwehrreaktion des Opfers in der Gewaltsituation folgt und sich schließlich Langzeitfolgen einstellen. Diesen Prozesscharakter gibt der Begriff »Traumatisierung« besser wieder als die Kurzformel »Trauma«. Das »Trauma« kann also nie als ein wenn auch noch so furchtbares Ereignis allein dastehen. Und nicht jedes Ereignis wirkt auf alle gleich. Ähnliche Einwirkungen und Situationen haben auf verschiedene Individuen ganz unterschiedliche traumatische Einflüsse. Internalisierung von Gewalterfahrung und Dissoziation markieren die beiden Pole, die das Traumaspektrum umgrenzen. Sie lassen sich den beiden grundsätzlich zu unterscheidenden Bereichen im Prinzip zuordnen: einerseits lang andauernde komplexe Beziehungstraumata, meist in der Kindheit, also in der Familie, die eher durch Internalisierung zu bewältigen versucht werden; andererseits Extremtraumatisie10


Einleitung

rungen, meist im Erwachsenenalter, durch Gewalteinwirkung von Personen, zu denen vorher keine bedeutsame Beziehung bestanden hatte. Letzteres trifft umso mehr auf nicht von Menschen hervorgerufene traumatische Einwirkungen wie Naturkatastrophen zu. Die unmittelbaren Folgen der plötzlichen extremen Gewalteinwirkung, die den psychischen Apparat überrollt (das ist das »psychoökonomische Prinzip«), sind der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zuzuordnen. Sie sind vorrangig Gegenstand der verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Schulen, die sich auch der »neuen Traumatherapietechniken« bedienen und die zunehmend eine Verbindung zu neurobiologischen Forschungen zu den Veränderungen der Hirnstrukturen durch traumatische Einwirkungen herstellen können. Die Folgen chronischer familiärer Beziehungstraumata sind ganz andere und beruhen überwiegend auf Internalisierung, insbesondere auf verschiedenen Formen der Identifikation mit dem Täter bzw. dem Gewaltsystem. Beide Traumabereiche sind nicht ganz voneinander zu trennen, denn es gibt durchaus auch in Familien entsetzliche Durchbrüche von kaum vorstellbarer Gewalt gegen Kinder, die zu Dissoziationsphänomenen führen. Ebenso existieren bei der Extremtraumatisierung Beziehungs- und Identifikationsanteile. Doch auch wenn sich beides nicht exakt trennen lässt, so halte ich es für nicht angemessen, die für Extremtraumatisierung gefundenen und wertvollen Mittel der »neuen Traumatherapien« (Übungen, Imagination, EMDR, Traumaexposition, Ausschließung von vergangenen und aktuellen Beziehungsanteilen) undifferenziert auf in der Kindheit traumatisierte, persönlichkeitsgestörte Patienten anzuwenden. Chronisch familiäre Traumata finden immer in Beziehungen statt, mehr noch: Das traumatische Ereignis kann geradezu erst durch Beziehungsanteile zum Trauma werden: Verlustdrohung, Verrat, unterlassener Schutz durch Verweigerung der Zeugenschaft. Solche Internalisierungen gehen auch transgenerational vonstatten, das Trauma der Eltern bildet 11


Einleitung

traumatische Introjekte in den Folgegenerationen. Das Introjektkonzept wirft auch ein Licht auf klinische Erscheinungen wie negative therapeutische Reaktion und Wiederholungszwang. Es ist zudem für Phänomene der außergewöhnlichen Kreativität verantwortlich wie auch für ihre Hemmung. Für die Konzepte des therapeutischen Vorgehens in der Therapie traumatisierter Personen halte ich es also für unbedingt notwendig, zwischen chronischen familiären Traumata, die eher zu Persönlichkeitsstörungen führen, und akuten, einmaligen Extremtraumatisierungen jeden Lebensalters, die eher zu Posttraumatischen Belastungsstörungen führen, zu unterscheiden. Auf die Notwendigkeit dieser Differenzierung weist auch Otto F. Kernberg (1999) hin. Die erste Traumaform findet in langjährigen, für das Kind lebensnotwendigen Beziehungen statt, wie es bereits Ferenczi (1933, 1985) drastisch beschrieben hat, sodass die traumatische Einwirkung, die sich überdies über die Jahre mehrfach wiederholt, nicht von den pathogenen Beziehungen und Strukturen der Familie getrennt werden kann. Ganz anders bei Extremtraumatisierungen im Erwachsenenalter, die nur insofern Beziehungstraumata sind, als dem Täter, zum Beispiel dem Folterer, in der traumatischen Regression vom Opfer, das sich als lebensunfähiges Kind erlebt, in einer Art Übertragung Qualitäten von übergroßer elterlicher, paradoxerweise gar rettender Macht verliehen werden. Insofern halte ich es für ebenso einfach wie zwingend, dass die heute propagierten Techniken der Traumatherapie eher für extrem traumatisierte Erwachsene geeignet sind, während die Folgen langjähriger chronischer Beziehungstraumata eben im Prinzip nur durch eine langjährige Beziehungstherapie, insbesondere eine modifizierte psychoanalytische Therapie wirklich an der Wurzel zu packen sind. Die wichtige Aufgabe ist, eine sorgfältige Indikation zu erstellen, für welchen Patienten welche Behandlungsform optimal ist. Ähnlich wie Beziehungserfahrungen grundsätzlich vom psychoanalytischen Denken lange nicht berücksichtigt wurden 12


Einleitung

(bestenfalls als »akzidentelle« Einwirkung, zusätzlich zum Triebkonflikt), wurde lange Zeit der für uns heute selbstverständliche Zusammenhang von traumatisierenden Erfahrungen und Persönlichkeitsstörung insbesondere bei BorderlinePersönlichkeitsstörungen nicht gesehen. Wie in einer Ironie der Wissenschaftsgeschichte genau hundert Jahre nach dem Aufgeben der »Verführungstheorie« durch Sigmund Freud 1897 (Freud 1985, S. 283f.) konnte Kernberg (1999) feststellen, dass an der Wurzel der Persönlichkeitsstörung, zumindest in einem großen Teil der Fälle, Gewalterfahrungen, insbesondere Missbrauchserfahrungen, in der Kindheit lagen. Dabei wurde jahrzehntelang die weitgehende Überschneidung der Symptome bei persönlichkeitsgestörten und bei traumatisierten Patientinnen und Patienten übersehen. Eine Ursache dafür mag darin liegen, dass »Persönlichkeitsstörung« als klinisches Phänomen aus einer gewissen Distanz beschrieben werden kann, während ein Traumakonzept schwerer psychischer Störungen und Persönlichkeitsveränderungen ein ätiologisches Konzept darstellt. Dieses fordert schnell zu einer Identifikation mit dem Opfer heraus, wobei die Gefahr besteht, sich als Therapeutin oder Therapeut zu sehr hineinziehen zu lassen und sich selbst so zu schwächen, also selbst als Opfer zu empfinden, und die Identifikation zu verweigern. Dafür hat Hans Holderegger (1993) den Begriff der »traumatisierenden Übertragung« verwendet, deren Opfer der Therapeut werden könne und die letztlich auf projektiver Identifikation beruhe. In den letzten Jahren ist jedoch eine weitgehende Übereinstimmung dieses Zusammenhangs von Traumatisierung und späterer Störung erreicht worden. Heute ist der Gedanke nicht mehr fremd, dass schwer und früh gestörte Patienten oder welche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung alle massive Traumata erlitten haben (vgl. Rohde-Dachser 1991; Sachsse 1995; Eckert u. a. 2000; Paris 2000). In einer Untersuchung fanden Birger Dulz und Maren Jensen (2000) bei 82 Prozent der stationär behandelten Borderline-Patientinnen 13


Einleitung

und -Patienten körperliche Misshandlung und/oder sexuellen Missbrauch. Unter Einbeziehung schwerer Vernachlässigung stieg der Anteil sogar auf 100 Prozent. Während Traumata in der Wiederannäherungsphase im Kleinkindalter eher mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung zu tun haben, hängen narzisstische Persönlichkeitsstörungen vorrangig mit Deprivationstraumata des Säuglingsalters zusammen (etwa Modell 1976, S. 303). Damit haben wir schon die der Persönlichkeitsstörung zugrunde liegenden Traumaformen benannt; Otto F. Kernberg (1999) fügt mit Kroll (1993) noch das Miterleben körperlicher und sexueller Gewalt anderen Personen gegenüber hinzu. Modifikationen der psychoanalytischen Psychotherapie wurden seit Langem entwickelt, auch ohne dabei unbedingt die Vorstellung der traumatisierenden Beziehungserfahrungen in der Ätiologie zu berücksichtigen. Wenn man Beziehungserfahrungen, im Extremfall eben auch traumatisierende, für die Ätiologie in den Vordergrund stellt, dann folgt daraus, dass auch das Therapiekonzept die Beziehung als Hauptmedium des therapeutischen Prozesses versteht. Eine zeitgenössische Hauptströmung der Psychoanalyse verwendet das Konzept der Intersubjektivität. Das zu Verstehende ist nicht mehr der Patient in seinen unbewussten und un integrierten Anteilen, sondern das von Analytiker und Analysand gemeinsam hergestellte »analytische Dritte« (Ogden 1997). Übertragung und Gegenübertragung sind nur noch das jeweils verschiedene Erleben dieses Dritten von Analysand (»Übertragung«) und Analytiker (»Gegenübertragung«). Auffällig ist es, in welchem Ausmaß sich eine solche moderne psychoanalytische »Technik« (die keine mehr ist) auf die psychoanalytische Kindertherapie bezieht. Donald W. Winnicott, dessen »Spielraum«, in dem sich beide, Analytiker und Analysand, bewegen und etwas Gemeinsames schaffen, ganz auf die psychoanalytische oder psychotherapeutische Beziehung angewendet wird. Insofern ist es für mich nicht übertrieben, dass auch auf der therapeutischen Ebene ein 14


Einleitung

Anschluss an Ferenczis (1931) Kinderanalysen mit Erwachsenen erreicht wurde. Eine psychoanalytische Psychotherapie Traumatisierter wird heute die Wiedergewinnung der Symbolisierungsfähigkeit, die das Trauma beeinträchtigt oder zerstört hatte, in das Zentrum rücken. Dadurch erhält die therapeutische Beziehung Qualitäten der entwicklungsfördernden frühen Mutter-Kind-Beziehung, mit der eine haltende Umgebung (Winnicott) und eine Symbolisierung mit dem Konzept des Containings verbunden wird: Nichtsymbolisierte Inhalte und insbesondere Affekte werden modifiziert und benannt an den Patienten zurückgegeben. Eingefrorene oder verschüttete, aber auch impulsartig unkontrollierte Affekte werden in der therapeutischen Beziehung wiedererlebt und können so nach und nach unter Ich-Kontrolle gebracht werden. Der Therapeut wird Hilfs-Ich-Funktionen übernehmen, besonders in Form des Grenzensetzens, aber auch beim Aufrichten von inneren Grenzen, nämlich den bei traumatisierten Patienten immer gestörten Selbst-Objekt-Grenzen. Die Realität des Traumas, aber auch alltäglicher unbewältigter Lebenssituationen werden aktiv benannt, bis hin zum Coaching von interpersonellen Bereichen des Patienten. Neben Techniken der Verwendung von Bildern und Metaphern werden auch spontan psychodramatische Elemente angewandt, um ein affektives Erleben in der therapeutischen Beziehung zu fördern. Persönlichkeitsgestörte bzw. traumatisierte Patienten profitieren sehr von einer analytischen Gruppenpsychotherapie, in der gegenseitige Identifikationen, aber auch direktere Konfrontationen, auch die Möglichkeit der Übertragungsspaltung, einen fördernden Charakter auf die Persönlichkeitsentwicklung ausüben können. Wenn heutzutage das Trauma bzw. genauer die Traumatisierung als prozesshaft auf die Psyche einwirkendes, destruktives Beziehungsgeschehen in den Sozialwissenschaften und der Psychoanalyse hochaktuell ist, dann darf nicht vergessen werden, dass in den 1960er und 1970er Jahren 15


Einleitung

bereits aus ich-psychologischer Sicht eine lebhafte Diskussion stattfand, sodass man heute eher von einer Renaissance der Traumadiskussion sprechen sollte. Das verdienstvolle Buch von Sidney S. Furst (Psychic Trauma), in dem namhafte psychoanalytische Autoren Aufsätze zur Traumatheorie beitrugen, ist bereits 1967 erschienen. Sowohl im Bereich der therapeutischen Technik als auch in dem der Theorie hatte die Psychoanalyse das »Trauma« immer im Blick, auch wenn sie, zugegeben, in der Nachfolge Freuds lange Zeit die Bedeutung der Beziehungserfahrungen zugunsten der Triebschicksale vernachlässigte.

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Mathias Hirsch Trauma

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Günter Gödde, Michael B. Buchholz

Unbewusstes

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2011 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: info@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung & Layout: Hanspeter Ludwig, Gießen www.imaginary-art.net Satz: Andrea Deines, Berlin Druck: Fuldaer Verlagsanstalt GmbH & Co. KG, www.fva.de Printed in Germany ISBN 978-3-8379-2068-0


Inhalt

Vorwort · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

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Einleitung · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Der Metaphernreichtum des Unbewussten – Perspektivität · · · · Vorgeschichte der Seelenlehren · · · · · · · · · · · · · · · · ·

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Das »vertikale« Unbewusste – Schichtmodelle von Verdrängung und Repression · · · · · · Drei philosophische Kontroversen über Bewusstsein und Unbewusstes · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Leibniz versus Descartes – Die Anfänge einer bis heute dauernden Problemgeschichte · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Romantik versus Aufklärung – Von der »Lebenskraft« zum vitalen Unbewussten · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · »Wille« versus »Intellekt« – Die Wende zum Triebunbewussten · · · Erste Annäherungen an das psychisch Unbewusste – »Verdrängung« · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Verdrängung und »Wahnsinn« bei Schopenhauer · · · · · · · · · · Verdrängung in Nietzsches »entlarvender Psychologie« · · · · · · · Verdrängung in der Herbartianischen Psychologie · · · · · · · · · Die Kontroverse zwischen Bewusstseinspsychologie und Psychoanalyse · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Freuds Konzeptualisierung eines Verdrängungsund Triebunbewussten · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Der Stellenwert von Freuds Traumdeutung · · · · · · · · · · · · ·

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Inhalt

Von der Verdrängung zum dynamischen Unbewussten · · Die Topografie der Verdrängung · · · · · · · · · · · · · Verdrängung und Trieb im Instanzenmodell· · · · · · · · Konzeptionelle Mehrdeutigkeit des Unbewussten in tiefenpsychologischen Schulen · · · · · · · · · · · Kompensation versus Verdrängung – Adlers Aufklärung über unbewusste Machttendenzen · · · · · · · · · · · Jungs Hinwendung zum kollektiven Unbewussten · · · · Das Unbewusste in der postfreudianischen Psychoanalyse Die horizontale Ergänzung· · · · · · · · · · · · · · ·

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Das horizontale Unbewusste – Ein System sozialer Resonanzen· · · · · · · · · · · · · · Eine Zwei-Personen-Psychologie · · · · · · · · · · · · · · Unbewusstes versteht Unbewusstes – Resonanzphänomene · Duale Kodierung · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Soziale Resonanz ist lebensnotwendig· · · · · · · · · · · · · Kategorisierung versus Offenheit in der Psychotherapie · · · · · Die doppelte Verortung von Tiefe · · · · · · · · · · · · · · Die Entdeckung der Spiegelneuronen · · · · · · · · · · · · · Das Verstehen von Intentionalität · · · · · · · · · · · · · · · Relationale Psychophysiologie · · · · · · · · · · · · · · · ·

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Die Verbindung von vertikaler und horizontaler Dimension Emotionale Positionen· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Das »Nebeneinander im Kino«· · · · · · · · · · · · · · · · Eine Schwierigkeit: Das Scannen des Gegenübers · · · · · ·

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Therapeutische Dialoge – Schlussbemerkung· · · · · · · · · 125 Literatur · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 129

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Vorwort

Bewusstsein versus Unbewusstes – das ist ein Thema, das seit Jahrhunderten in immer wieder neuen Anläufen aufgegriffen und diskutiert wird. Im Verhältnis zu anderen Themen wie Erkenntnis und Wahrheit, Tugenden und Laster, Glück und Leid ist es ein vergleichsweise »junges« Problem, wie man schon daran sehen kann, dass der Begriff »Bewusstsein« erstmals im Jahre 1720 von Christian Wolff und der Begriff des Unbewussten sogar erst im Jahre 1800 von Friedrich Wilhelm Schelling verwendet wurde. Es gibt nicht die Kontroverse über Bewusstsein und Unbewusstes, sondern allenfalls eine anhaltende Kontroverse oder besser: eine ganze Reihe von Kontroversen mit höchst unterschiedlichen Pointierungen. Zunächst handelt es sich um ein philosophisches Thema, das in der Epoche des Rationalismus und der Aufklärung initiiert wird, in der Romantik eine eminent wichtige Rolle spielt, aber auch in der Philosophie des 19. Jahrhunderts virulent bleibt, besonders in einer Richtung, die als »Philosophie des Unbewussten« bezeichnet wird (etwa Eduard von Hartmann, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche). Bei Johann Friedrich Herbart, Gustav Theodor Fechner und Carl Gustav Carus sind erste Ansätze einer Psychologie des Unbewussten erkennbar. Am Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer Abtrennung der wissenschaftlichen Psychologie von der Philosophie; hier formiert sich die »klassi7


Vorwort

sche Bewusstseinspsychologie« und als Gegenbewegung zu ihr die Psychoanalyse, für die das Unbewusste zum Grundpfeiler und Aushängeschild wird. Im 20. Jahrhundert fächert sich die Psychoanalyse in verschiedene tiefenpsychologische Richtungen wie die analytische Psychologie, die Individualpsychologie, die Daseinsanalyse und andere auf. Aber auch innerhalb der Psychoanalyse im engeren Sinne wechseln die Perspektiven: von der Triebkonzeption über die Ich-, die Objektbeziehungs- und Selbst-Psychologie bis zur intersubjektiven Wende. Parallel dazu entwickelt sich die von Edmund Husserl angebahnte »phänomenologische Bewegung«, die in ihren Analysen konsequent vom Bewusstsein ausgeht, aber die Phänomene des Unbewussten durchaus ernst nimmt. In den letzten Jahrzehnten spielt die Kontroverse über Bewusstsein und Unbewusstes besonders in der »Philosophie des Geistes«, der Säuglings- und Bindungsforschung, der kognitiven Psychologie und den Neurowissenschaften eine Rolle. Es ist nicht ohne Bedeutung, sich klarzumachen, in welcher Weise eine Theorie basale Unterscheidungen bzw. Schemata anlegt, die dann in der weiteren Entwicklung normalerweise nicht mehr reflektiert werden. Zu diesen Schemata gehören die Polaritäten von Höhe und Tiefe, höheren und niedrigeren Seelenkräften, Vernunft und Leidenschaft, Geist und Fleisch, Leib und Seele, Gut und Böse, oben und unten, vertikal und horizontal, hell und dunkel etc. Solche basalen Unterscheidungen haben erhebliche Konsequenzen – auch für die praktische therapeutische Arbeit. Wir wollen das Unbewusste unter zwei Hauptperspektiven betrachten: vertikal gesehen als Verdrängungsapparat, horizontal gesehen als sozialer Resonanzraum, kurz gefasst als repressives und resonantes Modell des Unbewussten. Repression hat mit psychischen Prozessen zu tun, in denen Verdrängung, Hemmung, Abwehr und Unterdrückung wirksam sind. Resonanz kommt dem intuitiven bzw. empathischen Verstehen nahe. Beide Perspektiven spielen bereits in der philosophischen und psychologischen Tradition des 19. 8


Vorwort

Jahrhunderts eine gewichtige Rolle und erst recht in Freuds Werk und den Weiterentwicklungen seiner theoretischen und therapeutischen Konzepte bis hin zur heutigen psychodynamischen Psychotherapie. Das repressive kann auch als vertikales Modell des Unbewussten bezeichnet werden. Es spricht sich etwa in der Aufforderung an einen Patienten aus, Gedanken »aufsteigen« lassen zu sollen. Freuds Wort von der Tiefenpsychologie gehört ebenso dazu wie die Vorstellung von seelischen Abgründen. Das vertikale Modell unterscheidet zwischen Oberfläche und Tiefe, die nicht nur gefürchtet, sondern auch als Ort des Wahren, Ursprünglichen und Wirklichen geschätzt wird. Die theoretische Ausarbeitung des vertikalen Modells hat vorrangig den Aspekt des Repressiven herausgestellt, also die Verdrängung und andere Abwehrleistungen. Die »Wiederkehr des Verdrängten« wird als »Aufstieg« durch die Verdrängungsschranke hindurch gesehen und das passt zur Umgangssprache, wenn wir von Unterdrückung reden. Während die Verdrängungsschranke das »Untere« vom »Oberen« quer liegend verriegelt, könnte man vom »verinnerlichten« und »inneren Konflikt« sprechen. Stavros Mentzos (2009) hat zuletzt darauf hingewiesen, dass hier schon eine Wendung zu einem horizontalen Modell des Unbewussten angedeutet wird, weil das Äußere vom Inneren geschieden ist. Die Auffassung von einem resonanten Unbewussten, das gleichsam in horizontaler Richtung soziale Bezüge zum anderen entfaltet, steht in eigentümlicher Spannung zu den vertikal gedachten Richtungen eines Unbewussten, das »unten« vermutet wird. So bevorzugte Freud für die therapeutische Haltung in der Praxis ein horizontales Resonanzmodell nach der Devise: Unbewusstes versteht Unbewusstes. Der Analytiker solle »dem gebenden Unbewußten« des Patienten »sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telephons […] die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen verwandelt« (Freud 1912a, S. 381). 9


Vorwort

Mit einer Haltung »gleichschwebender Aufmerksamkeit« könne das Unbewusste des Therapeuten anhand der »freien Assoziationen« des Patienten dessen Unbewusstes erschließen. Christopher Bollas spricht hier vom »Freud’schen Paar«. Der Bezug zur großen Liebe, die da mit anklingt, stellt einerseits Bezüge her zu jener Sympathie, ohne die es auch bei Sándor Ferenczi »keine Heilung« gibt, andere könnten mit Carl Gustav Jung Bezüge zur unio mystica ahnen, moderne Baby-Watcher denken eher in musikalischen Metaphern und sprechen von »attunement« oder von Resonanzen. In der Behandlungssituation ist das vertikale Modell eher eine Art Hintergrund, eine Ressource, ein orientierender Kompass – nicht aber eine reale Abbildung dessen, was geschieht. In der Behandlungssituation kommen vielfache Resonanzen zum Tragen, die im vertikalen Modell nicht ausgedrückt werden könnten, die aber für die therapeutische Beziehungsgestaltung, für den Kontakt, für den Behandlungserfolg, fürs Verstehen von größter Bedeutung sind. Gerade in der horizontalen Dimension liegt unseres Erachtens eine weitere Innovation, die schon von Freud angestoßen wurde. Sie findet durch die Entdeckung der Spiegelneuronen (Bauer 2005) ihre neurowissenschaftliche Bestätigung – wir kommen darauf zurück. Darüber hinaus findet die Freud’sche Idee einer Resonanz neuerdings auch in vielen anderen Studien eine Bestätigung. Wir wollen einige davon berichten und so begründen, weshalb wir meinen, dass die Konzeption des Unbewussten der Überlappung von vertikalem und horizontalem Denken bedarf. Dort, wo sich die Linien beider Betrachtungsweisen kreuzen, findet Psychoanalyse nach unserer Auffassung ihre theoretische und eben auch praktische Mitte. Für die therapeutische Arbeit ein unschätzbarer Wert. Günter Gödde und Michael B. Buchholz

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Einleitung

Der Metaphernreichtum des Unbewussten – Perspektivität Wie auch immer man es formulieren mag, es muss klar sein, dass es hier um Metaphern geht, weil eben Seelisches nicht anders als durch Metaphern formuliert werden kann. Das horizontale Modell vollzieht jedenfalls eine »Umwertung der Werte«, schätzt die Oberfläche und sucht unbewussten Sinn im verbalen und gestischen Austausch, nicht dahinter. Freud war ein ungemein vielseitiger Denker. Er wusste, dass man in der Welt des Unbewussten nicht klarkommt, indem man die Dinge auf eine und nur eine Theorie zurechtschneidert. Das Unbewusste entzieht sich solchen Formatierungen und bezwingenden Eindeutigkeiten. Es ist gerade dadurch charakterisiert, dass es in keine alleinige theoretische Schematisierung passt. Jede Theorie des Unbewussten muss sich deshalb immer ihrer Unzulänglichkeit bewusst bleiben. Eine mögliche Theorie des Unbewussten verbirgt sich hinter der Metapher, dass es sich um einen »Dampfkessel brodelnder Energien« handle. Eine andere steckt in der Vorstellung, das Unbewusste verliere nichts, es sei ein Gedächtnisarchiv von gewaltigen Ausmaßen. Eine weitere liegt in der Vermutung, das Unbewusste beherberge alles Verdrängte. Solche Bilder verführen schnell zu der Annahme, beim Unbewussten liege eine grenzenlose Beliebigkeit vor, die sich 11


Einleitung

eher in Zufälligkeiten ausdrücke. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall. Schon Sigmund Freud versuchte, den unterschiedlichen Aspekten des Unbewussten gerecht zu werden. Dabei zeigt sich, wie sehr die Betrachtung des Unbewussten von der Perspektive abhängt. Der Mensch, seine Geschichte, seine Psyche lassen sich ähnlich wie bei einem kugelförmigen Körper aus unendlichen Perspektiven betrachten. Denkt man daran, dass in der griechischen Antike Aristophanes die Menschen als »Kugelwesen« beschrieb, dann deutet sich hier an, wie sehr schon damals die Perspektivik und die mit ihr verbundene Komplexität für die Menschen an Bedeutung gewann. Ein solches perspektivisches Denken ergab sich für Freud aus der therapeutischen Praxis. Hier hat er den Analytiker als »Dämonenbekämpfer« (in der Fallgeschichte der Dora) beschrieben, dann aber auch seine eigene Rolle als jemand gesehen, der die »Dämonen« ruft. Er verglich seine Tätigkeit mit der des »Chirurgen«, ja er formulierte sogar, der Analytiker solle sich den Chirurgen »zum Vorbild nehmen« wegen dessen sachlich-kühler Einstellung. Das steht in klarem logischem Widerspruch zu der nächsten Beschreibung, nach der der Analytiker ein »Spiegel« sein solle, der dem Analysierten nichts zeige, als was dieser ihm zeige. Aber ein Spiegel ist weit passiver als ein Chirurg! Der Chirurg muss heilen, indem er öffnet, eindringt und verletzt. Ein Spiegel hingegen heilt durch homöopathische Dosierung, ein menschlicher Spiegel durch emotionale Wärme. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu, wenn Freud davon spricht, der Analytiker sei manchmal »Bergführer« und manchmal sogar »Erzieher«. Über welche »Berge« will er führen? Wieso erzieht der Analytiker, der doch »neutral« und »abstinent« bleiben soll? Logisch gesehen sind das Widersprüche, praktisch gesehen aber erscheint ein solcher Blick unbedingt erforderlich. Eine solche vergleichbare Situation findet sich auch in anderen Bereichen, sie ist für die Psychoanalyse keineswegs einzigartig. Kartografen etwa zeichnen eine Straßenkarte für Autos anders als dieselbe Landschaft mit Wegen für Wanderer 12


Der Metaphernreichtum des Unbewussten – Perspektivität

oder Radfahrer. Ganz zu schweigen von einem Geologen, der die Gesteinsarten und ihre Verteilung grafisch darstellt. Die Landschaft bleibt dieselbe, Landkarten jedoch fallen ganz verschieden aus. Teils so verschieden, dass der Autofahrer mit einer Wanderkarte nichts anzufangen wüsste, ja sich sogar behindert fühlen würde – und umgekehrt. Landkarten enthalten sehr unterschiedliche Informationen. Sie sind keine Abbildungen! Information wird durch Selektion erzeugt. Man kann gar nicht anders, als bestimmte Aspekte aus dem Gesamten der Landschaft gedanklich gleichsam herauszuschneiden und diese auf der Karte darzustellen. Es ist sogar unmöglich, eine Landschaft vollständig abzubilden. Wenn es gelänge, hätte man nicht eine Karte, sondern eine Verdoppelung der Landschaft im Maßstab 1:1 – und eine solche »Karte« wäre extrem unhandlich. Information ist nicht etwas, was immer »da« ist und konstant bleibt. Information ist höchst variabel. Die Landkarte entsteht, indem der Kartograf etwas weglässt. Und mehr noch: Er gibt Bedeutung. Bedeutungen wiederum wandeln sich bzw. sind von ihrem Kontext abhängig. Was dem einen zentral für die Linienführung, ist dem anderen ein lästiges Wanderhindernis. Manchmal ist diese Änderung so stark, dass solche Gegenstände der Welt (Autobahnen, Hügelketten) vollständig ignoriert werden. Dann werden sie, um im Vergleich zu bleiben, gleichsam »unbewusst«. Solche Prozesse, in denen etwas unbewusst bleibt, treten in unserem Alltag fortwährend auf. Führen wir ein Gespräch in einem Zimmer, dann achten wir meistens überhaupt nicht auf die Farbe der Wände oder auf die Temperatur – es sei denn, die Farben sind grell oder »hässlich« und die Temperatur übersteigt bestimmte Werte. Gleichwohl bemerken wir manchmal während eines Gesprächs den fehlenden Knopf am Hemd unseres Gegenübers oder die eigene Müdigkeit oder die Zahnschmerzen – und zugleich ignorieren wir es. Solche Beobachtungen führen wir häufig nicht in die Kommunikation ein, weil sie sie »verstören« würde. Erst wenn wir sie aussprechen, wird es »Information«, obwohl es für unser 13


Einleitung

körperliches Empfinden immer schon eine war und sich in die Wahrnehmung vordrängte. Warum aber lassen wir solche Wahrnehmungen weg? Weil wir Selektion betreiben, damit das Geschäft der Kommunikation weitergehen kann. Auch Kommunikation basiert auf Selektion. Oder noch stärker formuliert: auf Ignoranz! Wir lassen beständig etwas aus, ignorieren es als »nicht bedeutsam«, als »nebensächlich«, als »nicht dazugehörig«. Aber solche »Ignoranz« darf natürlich nicht zu weit gehen! Ein Lehrer in der Schule, der sich beschränken würde auf das bloße Vermitteln von Wissensinhalten und der nicht etwa zugleich Ansprechpartner wäre für seine Schüler, der sich nur beschränken würde auf das eine und nur das eine – der würde seine Aufgabe doch wohl recht schlecht erfüllen! Ein Anwalt, der einer wegen Scheidungssachen vor ihm sitzenden weinenden Frau, die nicht ein noch aus weiß, nur die Paragrafen erklären würde, käme seiner Aufgabe wohl schlecht nach. Und würden wir nicht erwarten, dass er sich verantwortlich fühlt, wenn eben diese Frau gewisse Sicherheiten braucht, weil der Ehemann gewalttätig geworden ist? Ein Arzt, der sich nur für die organischen Aspekte der Krebs-Diagnose interessieren würde, nicht aber für Empfinden, Angst und Ratlosigkeit seiner Patientinnen und Patienten, würde bald das Vertrauen verlieren. Ein Arzt muss sich nicht nur um die körperlichen Aspekte des Wohlergehens seiner Patienten kümmern, sondern ebenso um die seelischen und sozialen, manchmal auch um die finanziellen – und wo er es nicht tut, empfinden wir das als Vernachlässigung seiner ärztlichen Aufgaben. Medizin ist nicht nur technische Lösung körperlicher Probleme, sie bezieht den ganzen Menschen mit ein. Das Problem der Ganzheitlichkeit bzw. der Perspektivität haben also nicht nur Psychotherapeuten. In all diesen Fällen drückt sich nämlich eine multiperspektivische Beschreibung dessen aus, was einer zu tun hat, und wir begreifen, dass diese Beschreibungen logisch widersprüchlich sein können. So widersprüchlich oder unlogisch, 14


Der Metaphernreichtum des Unbewussten – Perspektivität

wie es ist, wenn wir auf einer meteorologischen Karte die Autobahn suchten. Wie aber kann ein Lehrer, ein Anwalt, ein Arzt all diese Aspekte realisieren? Wie kann man sich mit dem »ganzen« Menschen« beschäftigen? Es lässt sich nun besser verstehen, warum Freud eine solche Vielzahl von metaphorischen Rollen für den Analytiker verwendete. Er löste dies Problem für die analytische Profession, indem er mit seiner Metaphorik vom Chirurgen, vom Spiegel, vom Bergführer, vom Dämonenbekämpfer und Erzieher einige der wichtigsten Perspektiven beschrieb; solche, von denen er meinte, sie könnten helfen, das Problem des »ganzen Menschen« einigermaßen in den Blick zu bekommen. Freuds Multiperspektivität ist also nicht Problem, sondern Lösung. Nur wer auf der Idee bestehen wollte, dass man mit einem und nur einem einheitlichen Ansatz die Welt bewältigen könnte, müsste darin ein Problem sehen. Nur wer meint, ein einziges wissenschaftstheoretisches Programm müsse überall wirksam durchgesetzt, mit einer einzigen Methode könne jedes Problem gelöst, Effektivität nachgewiesen und Vergleiche durchgeführt werden, der müsste diese Multiperspektivität eliminieren. Wer so denkt, muss sich belehren lassen, dass ein etwas weniger methodischer Rigorismus ein beachtliches Mehr an Realismus zur Folge hat. Das ist das Problem von Menschen, die meinen, man könne in menschlichen Belangen immer eindeutige Anweisungen geben. Nein, wahrscheinlich ist es richtig, Menschen stattdessen zu befähigen, solche multiperspektivischen »Widersprüchlichkeiten« lebbar zu machen, sie auszuhalten, aus ihnen kreative Kraft zu schöpfen und sie nicht eliminieren zu wollen. Das gilt erst recht, wenn man sich auf das Unbewusste einer Person einstellen möchte, dessen Bedeutung in dieser Beschreibung in die Nähe von »Unendlichkeit« rückt. Nicht etwa »unendlich weit entfernt«, sondern »unendlich viel« an Bedeutungsgehalt, an Stimmungen, an Schwankungen und Instabilitäten, an symbolischen Chiffren und Schattierungen, an Verknüpfungen von Ideen, Bildern, Worten. Sich dieser Dimension zu öffnen, ist der Sinn der behandlungstechnischen 15


Einleitung

Grundregel, wonach sich das empfangende Unbewusste des Analytikers auf das des Analysanden einstellen solle wie der Receiver des Telefons auf den Teller. Gleichsam magnetische Schwingungen aufnehmen und sie durch die Aufnahme hörbar machen – schon wieder eine Metapher.

Vorgeschichte der Seelenlehren Das Wesen des Menschen ist Gegenstand Jahrtausende alter Erörterungen. Der Streit geht darum, ob der Mensch ein mehr von seiner Geistigkeit oder von seinen niederen Kräften bestimmtes Wesen sei. Ein früher (christlicher) Ausgangspunkt für die Abtrennung des »inneren Menschen« ist Paulus: »So finde ich nun ein Gesetz, daß mir, der ich will das Gute tun, das Böse anhanget. Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen, ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern« (Röm. 7, 22ff.).

Und an einer anderen Stelle schreibt er: »Darum werden wir nicht müde; sondern ob auch unser äußerlicher Mensch verfällt, so wird doch der innerliche von Tag zu Tag erneuert« (2. Kor. 4, 16). Hier ist mit der Unterscheidung des inneren vom äußeren Menschen zugleich die Unterscheidung des Guten vom Bösen angesprochen; in den Gliedern wohnt »ein ander Gesetz« als im »Gemüte«. Zwar schreibt Paulus im ersten Brief an Timotheus (6, 16), dass Gott in »unzugänglichem Lichte wohnt«, aber zugleich gibt er auch der Überzeugung Ausdruck: »Ich lebe aber, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir« (Gal. 2, 20). Man muss sich nicht auf lange theologisch-hermeneutische Klärungen einlassen, um zu sehen, dass der in Paulus lebende 16


Vorgeschichte der Seelenlehren

Christus einer ist, der von oben aus der Höhe, aus der himmlisch-göttlichen Sphäre zu ihm gesandt, in ihn eingesenkt wurde, und dass der Ort, den er als »Gemüt« bezeichnet, jener ist, an dem er ihn empfängt. Dem so von erleuchtendem Licht erstrahlten Gemüt stehen die »anderen Gesetze des Fleisches« entgegen, die sich auszutreiben ein die Menschheit fesselndes Unternehmen geworden ist. Die Stichworte dazu lauten: Geißler und Ketzer, Inquisition und Zucht, Askese und freier Wille. Sie werden zu seelischen Mächten, die darüber gebieten, ob wir das Gute tun und das Böse lassen. So sah es die christliche Tradition, und die Philosophen wurden in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht müde, dies ebenso zu sehen. Freilich reichen hier die Wurzeln weit über die christliche Tradition hinaus. Vor allem ist die Platon’sche Seelenlehre zu nennen, die mittelalterliche Philosophie mit Thomas von Aquin und seinen Gegenspielern wie Albertus Magnus, Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart sowie der Deutsche Idealismus bis hin zu so esoterischen Denkern wie Rudolf Steiner. Nicht zufällig will uns erscheinen, dass diejenigen, die anders dachten, zugleich diejenigen waren, die eine Geschichte der persönlichen Verfolgung, Ausgrenzung und Marginalisierung hinter sich hatten. Wir denken an den von Thomas von Aquin gleichsam politisch niedergetretenen Ibn Ruschd, dessen arabische Tradition und Aristoteles-Interpretation bis zu den Pariser Erlassen um 1270 höchst einflussreich war. Wir denken aber auch an Spinoza, dessen radikale Rationalität sich aus den Erfahrungen der inquisitorischen Verfolgung ebenso speiste wie aus seiner Vertreibung aus der jüdischen Gemeinde von Amsterdam. Nur wenige dachten nicht im Schema von höheren und niederen Seelenkräften. Cusanus lehrte die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Teilhabe an der Unendlichkeit, Meister Eckhart die Befreiung des Ichs aus den Banden der Selbstbehauptung (vgl. Flasch 2004, S. 46, und 2006, S. 136). Das waren sozusagen frühe Relationalisten, Denker der menschlichen Bezogenheit in einem göttlichen Kosmos. Aber die meis17


Einleitung

ten dachten gleichsam autistisch, sahen »den Menschen« in diesem Pluralis majestatis als vereinzelten Einzelnen, der von höheren oder niederen Kräften bestimmt war. Schopenhauer nannte dies 1819 die »Welt als Wille und Vorstellung«, wobei der Wille wohl dem nahekommt, was wir heute als »Trieb« bestimmen würden, und die »Vorstellung« das anvisiert, was heute unter dem Titel des Konstruktivismus thematisiert würde. Wir sehen die Welt als unser Gebilde und sind dabei vom Willen in einer uns nur höchst beschwerlichen Durchsichtigkeit getrieben. Nietzsche schließt sich dem an, wenn auch mit einer »Umwertung der Werte«; er feierte die Triebe und wandte sich gegen die einengenden Mächte des Moralischen, die den Menschen nur schwächten. Den Widerstreit zwischen diesen Kräften greift dann die ebenfalls weitgehend solipsistisch, ich-orientiert verfahrende Psychoanalyse auf, jedenfalls in Wendungen wie denen, die vom Unbewussten als einem Dampfkessel brodelnder Energien reden, oder wenn Freud sich an seinem Lebensabend anbietet, zu erweisen, dass sich auch die höheren Stockwerke des Seelenlebens, eben jene geistigen Mächte, aus dem naturhaften unteren Grunde ableiten ließen. Dass Freud vielfach aus diesem Schema ausgebrochen ist, wollen wir hier gerne bestätigen, etwa wenn er die Psychoanalyse als »weltliche Seelsorge« bestimmt (vgl. Buchholz 2003). Dennoch sah er ähnlich wie Carl Gustav Jung auch noch tiefere Grabungen für möglich an, wenn er gelegentlich vom gemeinsamen Unbewussten sprach. Jung jedenfalls grub, immer in diesem Schema von Oben und Unten bleibend, noch das kollektive Unbewusste aus. Der Fortschritt wurde eindeutig darin gesehen, tiefer zu graben und wie ein Archäologe Schätze ans Tageslicht zu fördern; darin überboten sich die Psychoanalytiker der ersten Generation in kleinen Aufsätzen, die kurze klinische Notizen waren und die dem Leser die frischen Befunde der seelischen Ausgrabungen zum Staunen überreichten. Das vertikale Schema bestimmte also auch die Haltungen der Psychoanalytiker. Während manche weiterhin »pauli18


Vorgeschichte der Seelenlehren

nisch« vor den bösen Mächten des Fleisches warnten, konnten diejenigen, die tiefer sahen, leichter für eine Befreiung der niederen Kräfte eintreten, was sich etwa am Stichwort der »kulturellen Sexualmoral« und ihren rigiden Einschränkungen zeigt (vgl. Freud 1908). Der aufklärerische Gestus war der einer Enttabuisierung, einer Lockerung der Mächte und Kräfte statt deren Niederhaltung. Dies wandelte sich, als Freud 1920 nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs vom Todestrieb zu sprechen begann. Bis hin zu Alexander Mitscherlich reichte nun der neue Gestus des Warners und Mahners, der die Öffentlichkeit über das Raubtier unter dem »dünnen Firnis der Zivilisation« informierte. Aufklärung wurde hier nicht als Befreiung der unteren Seelenvermögen, sondern als Warnung vor ihnen umbuchstabiert. Auch das war bei Freud, etwa in seinem der Traumdeutung von 1900 vorangestellten Motto enthalten. Darin heißt es: Wenn er die oberen Kräfte nicht bewegen könne, dann wolle er die unteren mobilisieren – und dies Motto war von Ferdinand Lassalle entliehen, der es in lateinischer Form von Vergil übernommen hatte. Dies ist deutlich ein Motto, das die gesellschaftliche Schichtung von »unten« und »oben« auf die seelischen Verhältnisse übertrug. Freilich scheinen diese oder vergleichbare Formeln heute weitgehend ausgereizt. Bereits Immanuel Kant hatte in seiner Anthropologie in pragmatischer Absicht empfohlen, die eigene Vernunft zu perspektivieren, sie also vom Standpunkt der fremden Vernunft aus wahrzunehmen. Nietzsche nannte das in Menschliches, Allzumenschliches das Rätsel der »großen Loslösung«: sich lösen zu können von der Einseitigkeit jedes einzelnen eingenommenen Standpunktes. Die Vernunft habe nämlich, so Kant, keine eigene Wahrheit; sie gehe von Standpunkten aus, die ihre Horizonte notwendigerweise begrenzten. Man könne die Vernunft anderen nicht »eingießen«, sondern sie nur »aus sich selbst herausbringen«, wolle man zu Weisheit gelangen. Dazu gibt Kant drei Maximen an: Man müsse »selbstdenken«, sich »an die Stelle des Anderen denken« und »jederzeit mit sich selbst einstimmig denken« können. 19


Einleitung

Die eigene Vernunft zu perspektivieren, das nennen wir heute: »Mentalisierung«. Wenn hier ein Zusammenhang besteht, dann ist doch die Begründung durch Kant auch heute noch interessant: Es müsse nämlich einen Streit der Vernunft geben, aber der heißt nicht »Krieg«, sondern verhindert ihn geradezu. Ziel der Vernunft ist deshalb nicht »Wahrheit«, sondern nach Kant der Friede unter den Individuen. Sieht man, wie sehr die bisherige Anthropologie im Schema von oberen, hellen, vernunftgeleiteten Kräften im Gegensatz zu den unteren, verderbten, affektiven oder triebbestimmten Kräften gedacht hat, und sieht man, wie dies Schema die Kur und die denkbaren Heilmittel bestimmt hat, dann sieht man auch, wie sehr sich die Situation heute verändert hat. Freud konnte die Erkenntnis, dass das Ich nicht »Herr im eigenen Hause« sei, noch als eine weitere große Kränkung der Menschheit bezeichnen. Heute aber mehren sich die Zweifel, ob diese These noch stimmt. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty (1991) hat in einer Reihe von Texten gegen die Vorstellung von einer wesenhaften menschlichen Natur polemisiert, und das zielte auch auf die Aufhebung des Oben-unten-Schemas. Weder »Natur« noch platonische Ideen oder mentale Bilder – nichts von alldem sei unabhängig von anderen Gegebenheiten. Er kritisiert auch den frühen Wittgenstein und den späten Heidegger, weil diese immer noch nach etwas suchten, was »ursprünglich« sei, oder aber etwas, was geschaut oder gezeigt, nicht aber ausgesagt werden könne. Eine ähnliche Suche, so kann man mit Marcia Cavell (1997) vermuten, könnte auch Freuds Archäologie angetrieben haben, als Suche nach einem Ursprung in der Tiefe.

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Wolfgang Berner Perversion

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ISBN 978-3-8379-2067-3

0SYCHOSOZIAL 6ERLAG WWW PSYCHOSOZIAL VERLAG DE

!NALYSE DER 0SYCHE UND 0SYCHOTHERAPIE

144 Seiten ยท 11 mm Rรผckenstรคrke



Wolfgang Berner

Perversion

0SYCHOSOZIAL 6ERLAG


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2011 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: info@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung & Layout: Hanspeter Ludwig, Gießen www.imaginary-art.net Satz: Andrea Deines, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar www.majuskel.de Printed in Germany ISBN 978-3-8379-2067-3


Inhalt

Einleitung · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

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Klassifikationen in der Psychiatrie: Störungen der Sexualpräferenz oder Paraphilie · · · · · · ·

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Die Entwicklung des psychoanalytischen Perversionsbegriffs · · · · Die »Perversion« bei Sigmund Freud· · · · · · · · · · Psychoanalytische Perversionskonzepte heute · · · · · Der funktionell-dynamische Störungsbegriff · · · · · · Eine integrierte psychoanalytische Perversionsdefinition

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· 17 · 17 · 21 · 26 · 29

Der Trieb: Ein Grenzbegriff zwischen Psyche und Körper Evolutionspsychologie der Triebmuster · · · · · · · · · · · · »Libido« und »Aggression« · · · · · · · · · · · · · · · · · Wie wirken Libido und Aggression? · · · · · · · · · · · · · Zur empirischen Absicherung psychoanalytischer Einsichten ·

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33 33 34 39 41

Erscheinungsformen der Perversion · Fetischismus · · · · · · · · · · · · · Sadomasochismus · · · · · · · · · · Pädosexualität und Pädophilie · · · · · Exhibitionismus · · · · · · · · · · · · Pornografiekonsum · · · · · · · · · · Exkurs: Perversionen bei Frauen · · · ·

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53 53 61 71 78 81 85

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Inhalt

Unterschiede in Intensität und Verlauf · · · · · · · Die Rolle des »Analen Universums« · · · · · · · · · · Die Rolle der Aggressivität · · · · · · · · · · · · · · Die Rolle der inneren Objekte und der Objektbeziehung Äußere Ereignisse als Auslöser · · · · · · · · · · · · Suchtartiger und zwanghafter Verlauf · · · · · · · · ·

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Konsequenzen für die psychotherapeutische Arbeit · Eine »Basis-Therapie« zur »Ich-Stärkung« · · · · · · · · Entsexualisierung der Übertragung · · · · · · · · · · · Das Dilemma in der Behandlung pervers-erotischer Übertragungen · · · · · · · · · · · · Der Ausweg aus dem Dilemma · · · · · · · · · · · · · Prinzipien einer psychoanalytischen Behandlung von Perversionen · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Medikamentöse Behandlung · · · · · · · · · · · · · ·

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· 87 · 88 · 90 · 91 · 96 · 97

· · · · 101 · · · · 101 · · · · 104 · · · · 107 · · · · 119 · · · · 126 · · · · 128

Schlussbemerkung Identitätsverlust und Persönlichkeit · · · · · · · · · · · · · · 131 Literatur · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 133

6


Einleitung

Der Begriff der Perversion wird heute im Kontext der Psychiatrie und Psychotherapie kaum noch benutzt. In den psychiatrischen Klassifikationssystemen wird er durch die Bezeichnung »Paraphilie« (DSM-IV-TR) oder durch »Störung der Sexualpräferenz« (ICD-10) ersetzt. Die Gründe dafür sind vielfältig, und ihre Darstellung wird mir die Gelegenheit geben, deutlich zu machen, warum der alte Begriff der Perversion und die neuen Begriffe nicht dieselben Phänomene bezeichnen. Der Perversionsbegriff wird heute vorrangig in der Psychoanalyse verwendet, scheint aber auch dort schon lange nicht mehr ausschließlich das zu bezeichnen, was Sigmund Freud ursprünglich damit gemeint hatte. In den ersten Kapiteln dieses Buches wird es zunächst um eine Begriffsklärung gehen, bevor die damit bezeichneten Phänomene behandelt werden können. Ein kurzer Ausflug zu den »Grenzlinien zwischen Körper und Psyche«, die Freud veranlassten, seine Triebtheorie mit den beiden Grundkräften Libido und Destrudo zu konzipieren, soll zeigen, wo wir heute (in der Biologie und Psychologie) diese Grenzlinie ziehen könnten. Freud verstand den Trieb als »Arbeitsauftrag des Körpers an die Psyche«. Gerade bei der Sexualität kann man an diesen »Arbeitsaufträgen« nicht vorbeigehen. Die neueren Konzepte aus Biologie und Evolutionspsychologie haben das, was als »Störung der sexuellen Präferenz« bezeichnet wird, beeinflusst und in indirekter Form auch unsere Vorstellungen von der Perversion im psychoanalytischen Sinn. 7


Einleitung

Die meisten ursprünglich von Richard von Krafft-Ebing (zwischen 1886 und 1902) als »Perversionen« beschriebenen Phänomene, die später von Freud einer psychodynamischen Betrachtung und Interpretation unterzogen wurden, sind heute noch anzutreffen und werden in den folgenden Kapiteln exemplarisch (eine Enzyklopädie der Perversion ist nicht zu leisten) und mit Fallbeispielen beschrieben, so wie man ihnen in der psychotherapeutischen Praxis begegnet. Die psychodynamischen Ansichten über die Entstehung von Perversionen haben sich stark verändert. Die Frage, ob diese Veränderungen mehr geänderten Blickwinkeln oder ob diese neuen Blickwinkel neuen Erkenntnissen entsprechen, muss einstweilen offenbleiben. Liegt es daran, dass die alten Sichtweisen zu wenig therapeutische Effekte zeigten, oder hat das ganze Thema »Sexualität und Erotik« eine neue gesellschaftliche Bedeutung bekommen, die es notwendig macht, ganz andere Erscheinungen zu »pathologisieren« und für behandlungsbedürftig zu erklären, als das vor hundert Jahren der Fall war? Ein Beispiel der geänderten Sicht ist, dass auch Psychoanalytiker heute geneigt sind, eine erzwungene Kohabitation mit einem heterosexuellen Partner als Perversion zu bezeichnen, besonders wenn diese grob ausbeutenden Charakter hatte und nur dem Spannungsabbau eines der beiden Beteiligten diente. Nach der klassischen Definition handelte es sich dabei keineswegs um eine »Perversion«, sondern höchstens um Egoismus, möglicherweise um einen asozialen Übergriff. Der klassische Psychoanalytiker hätte sich vermutlich gefragt, ob er einen so psychopathisch veranlagten Menschen überhaupt analysieren könne, er wäre aber nicht auf die Idee gekommen, dem Betreffenden die Diagnose »Perversion« zu geben, da er ja keine Probleme hat, das Sexualziel der Kohabitation mit einem dazu geeigneten Partner zu vollziehen. Aber außerhalb dieser definitorisch kontroversen Fälle möchte ich zeigen, dass wir auch in den »klassischen Fällen« (Fetischismus, Sadismus und Exhibitionismus) zunächst die zugrunde liegende Persönlichkeitsstruktur untersuchen und differenzieren müssen, um entscheiden zu können, welche Form einer psychoanalytischen oder einer anders strukturierten 8


Einleitung

Therapie den Personen angeboten werden kann. Ein Hauptanliegen dieses Bandes wird sein, zu zeigen, dass die klassische Psychoanalyse in einigen dieser Fälle (bei der neurotischen, eventuell auch bei der Borderline-Persönlichkeitsstruktur) Hilfe bringen kann, dass bei anderen Fällen eine etwas veränderte psychoanalytische Technik zur Anwendung kommen muss und dass in den mit Psychoanalyse nicht behandelbaren Fällen psychoanalytisches Verstehen andere Techniken effektiver gestalten lässt.

9



Klassifikationen in der Psychiatrie: Störungen der Sexualpräferenz oder Paraphilie

Um zu verstehen, warum sich die Psychoanalyse noch immer der Bezeichnung »Perversion« bedient, ist zunächst zu klären, warum diese Bezeichnung in den empirisch orientierten Wissenschaften aufgegeben wurde. Die Definitionen im Bereich der Psychiatrie sind nur vor dem Hintergrund der Ideologie der modernen psychiatrischen Klassifikationssysteme zu verstehen, die sich erst nach einem schwierigen Einigungsprozess unter Fachvertretern entwickelt haben: Für das »Diagnostic and Statistical Manual« (DSM) – dessen vierte Fassung derzeit im Gebrauch ist – fand dieser Einigungsprozess innerhalb der Mitglieder der Vereinigung amerikanischer Psychiater (APA) statt; für die »Internationale Klassifikation der Krankheiten« (ICD) – deren zehnte Revision in Europa als verbindlicher Standard gilt – innerhalb der Psychiater der Weltgesundheitsorganisation. Diese Ideologie vermeidet es, sich für eine der kontroversen Konzepte über die ungeklärte Entstehung psychischer Störungen (auch der Krankheitsbegriff wird vermieden) festzulegen, und will Störungen auf einer beobachtbaren Symptomebene definieren, wobei die genannten Symptome jeweils »reliabel« beschreibbar sein müssen – das heißt, mehrere Beobachter würden diese Symptome nach Prüfung des Falles in gleicher Weise sehen und beschreiben können. Ein weiterer Grundsatz psychiatrischer Diagnostik besteht darin, nur jene Phänomene dem Störungsbegriff zuzuordnen, die tatsächlich eine möglichst objektive und subjektive Funktionseinschränkung (Leiden) für den Betroffenen bedeuten. Gerade 11


Klassifikationen in der Psychiatrie: Störungen der Sexualpräferenz…

in jenen Bereichen, in denen eindeutige körperliche Funktionseinschränkungen – das Definitionsmerkmal körperlicher Krankheiten – fehlen, ist Vorsicht und Beschränkung geboten, um der Gefahr zu entgehen, dass die Medizin als Sanktionsmittel von der Gesellschaft missbraucht wird. Das ist besonders bei den sogenannten Persönlichkeitsstörungen und den sexuellen Störungen so. In einer »offenen« demokratischen Gesellschaft gehört der Schutz von Minderheiten zu den Grundprinzipien. Zu solchen Minderheiten gehören auch Menschen mit bestimmten sexuellen Vorlieben, etwa der Neigung zu promisken Beziehungen oder erotischen Fesselspielen. Sie sollen weder direkt noch indirekt zu einer Behandlung gezwungen werden, wenn sie selbst nicht leiden und auch niemand anderen gefährden. Durch die Erfahrungen des Missbrauchs der Medizin unter bestimmten politischen Verhältnissen gewarnt, haben sich daher die großen internationalen Psychiater-Vereinigungen entschlossen, ihr diagnostisches Instrumentarium von allen moralisierenden und anderen einseitigen Wertsystemen so weit wie möglich freizuhalten und sich auf das zu beschränken, was als die ursprüngliche und anerkannte Aufgabe der Medizin in der Gesellschaft gilt: individuelles (körperliches) Leiden zu benennen (Diagnosen zu stellen) und mit den Maßnahmen zu behandeln, die die Integrität der Person am wenigsten gefährden (Therapien durchzuführen): Nur Leiden, die körperlichen Ursprungs sind oder bei denen ein Zusammenhang mit körperlichem Erleben naheliegt, fallen unter die Zuständigkeit der Medizin. Der Begriff der Störung bezeichnet den großen Übergangsbereich zwischen behandlungsorientierter Psychologie und (psychiatrischer) Medizin. Da besonders im Bereich der Psychosomatik ein ständiger wechselseitiger Einfluss von Körper und Psyche reflektiert werden muss, bedarf es für diesen Übergangsbereich eines eigenen Begriffs. Das gilt auch – wenn nicht sogar besonders – für sexuelle Vorlieben – etwa die Begeisterung für einen Fetisch –, wobei sich die Frage aufdrängt, ob sie überhaupt als behandlungsbedürftig angesehen werden dürfen. Diese Frage hat sich besonders an der Homosexualität entzündet, die nach einer heftig geführten Debatte in der amerikanischen Psychiater-Vereinigung zunächst aus dem amerikanischen DSM entfernt wurde und anschließend auch aus der ICD ver12


Klassifikationen in der Psychiatrie: Störungen der Sexualpräferenz…

schwand. Damit war es den Vertretern der homosexuellen Minderheit gelungen, endlich nicht mehr als krank oder prinzipiell gestört im psychiatrischen Sinn bezeichnet zu werden, sondern als eine »Variante des Natürlichen« Anerkennung zu finden. Ähnliche Tendenzen haben nun auch Interessenvertreter anderer sexueller Vorlieben gezeigt, wie der an BDSM-Interessierten (die Abkürzung bezeichnet Vorlieben für »bondage«, »discipline«, »submission«, »sadism« und »masochism«, um das belastete Wort »Sadomasochismus« zu vermeiden). Sie haben den Anspruch, dass auch ihre Vorlieben nicht als behandlungsbedürftige Störung disqualifiziert werden. Da allerdings nach den genannten psychiatrischen Diagnosesystemen nur diejenigen sexuellen Vorlieben dem Störungsbegriff zugeordnet werden, bei denen eindeutig subjektives Leiden auftritt oder bei denen anderen zugefügtes Leiden eindeutig objektivierbar ist, scheinen die BDSM-Interessierten ohnehin nicht betroffen. Das wäre nur so lange der Fall gewesen, solange man den umfassenderen Begriff »Perversion« beibehalten hätte. Störung der Sexualpräferenz (ICD-10) beziehungsweise Paraphilie (DSM-IV-TR) wird in den diagnostischen Manualen zunächst allgemein definiert: ± wiederkehrende, intensive, sexuell erregende Fantasien, sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen, bezogen auf ± nichtmenschliche Objekte, ± das Leiden oder die Demütigung von sich selbst oder eines Partners, ± Kinder oder andere nicht einwilligende bzw. nicht einwilligungsfähige Personen; ± Dauer der angesprochenen Symptome, um sie als Störung bezeichnen zu können: mindestens sechs Monate; ± die Störung kann obligaten oder episodischen Charakter haben; ± sie muss zu Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen Lebensbereichen geführt haben. Diese allgemeinen Definitionsmerkmale werden im DSM-IV-TR als Kriterium A bezeichnet. Das Kriterium B definiert im Einzelnen die Bedingungen der Diagnosen für Pädophilie, Voyeurismus, 13


Klassifikationen in der Psychiatrie: Störungen der Sexualpräferenz…

Exhibitionismus und Frotteurismus auf der einen Seite sowie des Sadismus auf der anderen Seite. Während für die ersten vier Diagnosen das »Ausleben« der Störung genügt, wird für den Sadismus die Möglichkeit ins Auge gefasst, dass dieser einvernehmlich mit einem Partner ausgelebt werden könnte, was dann nicht mehr als behandelbare Störung, sondern als eine »Vorliebe« gelten würde. Bei Sadismus wird die Diagnose gestellt, wenn die Person das sexuell dranghafte Bedürfnis mit einer nicht einverstandenen Person ausgelebt hat oder wenn das Bedürfnis zu deutlichem Leiden oder zu zwischenmenschlichen Schwierigkeiten führte. Die übrigen Paraphilien werden diagnostiziert, wenn das Bedürfnis in klinisch bedeutsamer Weise zum Leiden oder zu einer Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen Funktionsbereichen führt. Bei diesen Definitionen wird deutlich, dass sich auch der Gegenstand, den die Bezeichnung »Störung der Sexualpräferenz« bzw. »Paraphilie« umfasst, von dem unterscheidet, was man früher allgemein als »Perversion« bezeichnet hat. Das war ein sexuelles Erregungsmuster, das das vermeintliche biologische Ziel der Sexualität, nämlich das Zeugen von Kindern durch Kohabitation mit einem heterosexuellen Partner, aufgegeben hat und sich mit einem Teil der damit verbundenen Lust als Hauptziel begnügte. Es handelte sich um eine Art sexueller Ersatzbefriedigung zur Vermeidung von Kohabitation und Prokreation. Die neuen Begriffe der Paraphilie bzw. der Störung der Sexualpräferenz stellen ein anderes zentrales Definitionsmerkmal in den Vordergrund, und das ist die Beziehungsfeindlichkeit. Die Unfähigkeit, die eigenen sexuellen Bedürfnisse in Gegenseitigkeit mit einem Partner zu teilen und zu entwickeln, wird zum zentralen Merkmal, gleich ob es sich um die Idealisierung eines Fetischs handelt oder einen sadistischen Impuls, der die Angst im Auge des anderen benötigt, um sexuelle Erregung zu erreichen. Darum werden auch in den derzeitigen psychiatrischen Klassifikationen sadomasochistische Arrangements, bei denen beide Partner im gegenseitigen Einvernehmen handeln, nicht mehr als »Störung« eingestuft, sondern als eine private Vorliebe, die für psychologische oder medizinische Therapeuten ohne Belang sind, solange niemand darunter leidet. Im Einzelnen werden in den Klassifikationen die in der Tabelle genannten Störungen abgehandelt. 14


Klassifikationen in der Psychiatrie: Störungen der Sexualpräferenz…

Tabelle 1: Die einzelnen Störungen der Sexualpräferenz (ICD-10) bzw. Paraphilien (DSM-IV-TR) Die letzten zwei Kategorien in der ICD und die letzte im DSM sind besonders wichtig, da es auf der phänomenologischen Ebene eine große Zahl weiterer beschreibbarer Störungen gibt – etwa die Koprophilie (eine Vorliebe für Fäkalien) oder den Amelotatismus (eine Faszination an amputierten Gliedmaßen) –, die als Einzelerscheinungen oder in Kombination auftreten können. Die erstaunliche Vielfalt der beschreibbaren Störungen, unter denen die Betroffenen mehr oder weniger leiden, wirft die Frage auf, wie es wohl möglich ist, dass so ganz unterschiedliche Vorlieben entstehen können, die – besonders wenn sie ausschließlichen Charakter haben – oft nur einer kleinen Minderheit von Menschen – zum weitaus überwiegenden Teil Männern – nachvollziehbar erscheinen. Die anderen stehen zunächst staunend davor und können nicht verstehen, wie diese Vorlieben zur einzigen und ausschließlichen sexuellen Lustquelle werden. Die veränderte gesellschaftliche Haltung gegenüber dem, was vor etwa 130 Jahren von Richard von Krafft-Ebing und vor etwas mehr als 100 Jahren von Sigmund Freud als »Perversion« bezeichnet wurde, drückt sich in der eben beschriebenen psychiatrischen Klassifikation aus. Aber auch im Rahmen der Psychoanalyse hat sich trotz Beibehaltung des Begriffs das Spektrum dessen, was als Perversion bezeichnet wird, deutlich verschoben, was nur vor dem Hintergrund einer hundertjährigen Entwicklung zu verstehen ist. 15


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ISBN 978-3-8379-2067-3

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