JEDES LOS GEWINNT
MIT MÖBELN ZUM MITREISEN, PATRICIA URQUIOLA, MONICA ARMANI, ANDRÉE PUTMAN, MIUCCIA PRADA, KENGO KUMA UND GANZ VIEL RUMMEL
Wir sind wieder da: Auf der Mailänder Möbelmesse präsentierte sich Poltronova blendend aufgelegt
Achtung , Farbe!
Farbig, verrückt und radikal anders: In den 1960ern produzierte Poltronova Möbel, die die Welt verbessern sollten. ROBERTA MELONI konnte die Firma und ihr Erbe bewahren. Gabriele Thiels traf die Unternehmerin in Florenz
Sie fühlte sich ertappt. Roberta Meloni saß abends in ihrer Küche, wie so oft vertieft in die Diskussion mit einem befreundeten Designerpaar. Da fragte ihr kleiner Sohn plötzlich: „Mama, bist du ein Projekt aus den 60er-Jahren?“ Weil Roberta Meloni Jahrgang 1965 ist, konnte sie wahrheitsgemäß mit „ja“ antworten. Aber sie wusste natürlich, dass der Begriff, aufgeschnappt und ausprobiert von einem Vierjährigen, ihre Firma betraf und zeigte, wie sehr diese von ihr Besitz ergriffen hatte.
„Es war sehr komisch und zugleich ein bisschen entlarvend“, erinnert sie sich lachend. Aber im Grunde bringt diese Anekdote auf den Punkt, wie eng, hingebungsvoll und persönlich ihr Verhältnis zur Möbelmarke Poltronova ist. Vor fast 20 Jahren kaufte sie das Unternehmen, in dessen Kollektion fast jedes Stück ein Projekt aus den 60er-Jahren ist. Poltronova hat in der italienischen Designgeschichte einen festen Platz. 1957 in Florenz gegründet, wurde die Firma Ende der 1960er-Jahre zur Spielwiese für junge Gestalter. Sie rebellierten mit verrückten Formen, starken Farben und wohldosiertem Kitsch gegen das Establishment. Radical Design hieß die Bewegung, die vor allem Italien erfasste, und ihre Vertreter hatten
Retterin: Roberta Meloni führt eine Design-Ära in die Zukunft
nichts am Hut mit konventionellem Mobiliar aus industrieller Fertigung und dem „Form follows function“-Ideal der Moderne. Mit ihrer provokanten Ästhetik wollten sie zum Nachdenken anregen und eine Debatte über grundlegende soziale Fragen anstoßen. Sie glaubten, mit Design die Welt verändern zu können.
Wohl keine andere Firma hatte sich dem Radical Design so konsequent verschrieben wie Poltronova. Das lag auch an Ettore Sottsass, der, lange bevor er die berühmte Gruppe Memphis in Mailand gründete, hier Kreativdirektor war und gezielt mit jungen, radikalen Designer-Gruppen wie „Superstudio“ oder „Archizoom Associati“ arbeitete. Wenn man die Möbel heute sieht, ist man verblüfft über die Kreativität, den Mut und die Lust am Experiment, die in ihnen steckt. Das muss man sich erst mal ausdenken, ein Sofa wie „Rumble“ (von Gianni Pettena), das bloß ein Geviert aus losen Schaumstoffblöcken ist, in dem man wie in einem Whirlpool versinkt. Der Sessel „Joe“ (von De Pas, D’Urbino, Lomazzi) wiederum, ein Klassiker, hat die Form eines riesigen Baseballhandschuhs. Während „Safari“ (Archizoom), ein Ensemble weißer Boxen mit Sitzmulden aus Leopardenplüsch, wie eine Disco-Koje wirkt. Und dann ist da natürlich „Ultrafragola“ von Ettore Sottsass selbst, der Standspiegel mit dem Leuchtrahmen aus zartrosa Kunststoffwellen, der heute als Selfie-Spiegel Karriere macht.
„Es gab nie etwas, das Poltronova ähnelte“, sagt Roberta Meloni, und es klingt auch nach 20 Jahren noch enthusiastisch. Sie führt durch den kleinen Showroom ihres Unternehmens, das heute mitten in Florenz in einer einstigen Seiden-Manufaktur von Pucci liegt, zeigt dabei Schnappschüsse von Designern, alte Poltronova-Kataloge und die neuen Teppiche, für die ein Stoffmuster der Gruppe Archizoom Pate stand. Dann lässt sie einen in „Rumble“ steigen. Dessen Schöpfer, der Architekt und Künstler Gianni Pettena, war Roberta Melonis Universitätslehrer und machte sie auf Poltronova aufmerksam. Als sie 1985 bei ihm in Florenz ihr Architekturstudium begann, war das Radical Design
1 + 4 Bodenfarbe: Teppiche „Tappeto Cielo“ (blau) und „Tappeto Farfalla“, beide 2023, Archizoom Associati
2 Meeresschnecke: Tischleuchte „Gherpe“ aus beweglichen Acrylglaselementen, Superstudio, 1968 3 Inspiration Baseball: Sessel „Joe Gold“ von De Pas, D’Urbino, Lomazzi 1970
5 Barbies Bester: Spiegel „Ultrafragola“ feiert gerade sein Comeback, Ettore Sottsass, 1970 6 Stuhlkreis: Sitzlandschaft „Safari“ von Archizoom, 1968 7 Wellenspiel: Sofa „Superonda“ besteht aus zwei Teilen eines Schaumstoffblocks, Archizoom 1967
8 Glühblume: Tischleuchte „Passiflora“ von Superstudio, 1967
schon wieder Geschichte und Poltronova nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Firmengründer und Sottsass hatten das Unternehmen längst verlassen, die neue Führung versuchte, das Portfolio mit Regalwand-Programmen kommerzieller auszurichten.
„Trotzdem verliebte ich mich sofort“, sagt Roberta Meloni. Sie sah das reiche Erbe und erkannte auch den widerspenstigen Geist dahinter, schrieb ihre Abschluss-Arbeit über Poltronova, arbeitete im Archiv und ging gegen den CEO an, der nicht verstand, welchen Schatz es da zu bewahren galt. Dass sie es 2000, als es richtig heruntergewirtschaftet war, kaufen und so retten konnte, lag an der Unterstützung von Ettore Sottsass. Sie hatte ihn während ihrer Recherchen kennengelernt: „Er wurde mein größter Freund, Lehrer und Mentor.“
Die ersten Jahre waren „harte Arbeit“, wie Roberta Meloni sagt. Das Unternehmen war verschuldet, sie eine alleinerziehende Mutter, und dass ihre Familie so gar nichts von ihrem Projekt hören wollte, eine zusätzliche Belastung. Zugleich aber bekam sie viel Vertrauen entgegengebracht: von Ettore Sottsass, den anderen Designern und den Mitarbeitern. Sie wollte Poltronova die Seele zurückzugeben. Dabei ging sie mit einer Kompromisslosigkeit vor, die gut zum Geist des Radical Design passt.
So musste der Katalog von konventionellen Möbeln bereinigt werden, um den Charakterstücken zu ihrem Recht zu verhelfen. Selbst wenn deren Schöpfer manchmal Zweifel am Erfolg hatten. „Glaubst du wirklich, die interessiert die Leute noch?“, fragten die Designer von „Superstudio“, als Roberta Meloni deren „Passiflora“, eine Tischleuchte mit dem Umriss einer Blüte, wieder auflegen wollte. Sie wurde ein Bestseller. Poltronova-Objekte sind nie für die Serienproduktion gedacht gewesen und werden auch heute in Handarbeit gefertigt. Es gibt ein kleines Netzwerk von Zulieferern, der Zusammenbau findet in der firmeneigenen Manufaktur nahe Florenz statt. Neben der Kollektion baut Roberta Meloni auch das Archiv kontinuierich aus, und machte daraus 2005 das „Centro Studi Poltronova“. Es ist Rehercheprojekt, Dokumentationszentrum, Forschungsstätte und Kommunikaionsabteilung in einem. Gibt Monografien zu einzelnen Möbelstücken eraus und bereitet Ausstellungen vor. Studenten und Historikern steht es ür Recherchen offen. So bietet Roberta Meloni zu den Objekten, die vor ut 50 Jahren ihrer Zeit weit voraus waren, auch den Kontext ihrer Enttehung an. Wie eine Mutter, die ihren Kindern noch einen Mantel mitgibt, bevor sie sie in die Welt entlässt.
Als Andrea Branzi, einer der „Archizoom“-Gründer, im letzten Jahr tarb, brachte Roberta Meloni der Familie zur Beerdigung den Originaltoff mit, den die Gruppe vor 55 Jahren entworfen hatte: Ein wunderbar leichtes Gewebe, das uster ein knallbunter ix aus Pop-Art und chmetterlingen. Sie aben es über Branis Sarg gebreitet.