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BOULEVARD DER HELDEN

YVONNE LOUISE STOLZ DER EINZI-FALL

Serie: MICHAEL KÖHLMEIER erzählt die außergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit. Folge 21: Wie Einzi, Frau des Komponisten Robert Stolz, in schweren Zeiten Mut bewies.

Am 21. Juni 1962 – ich war gerade noch für vier Monate zwölf Jahre alt – begegnete ich Robert Stolz und seiner Frau Einzi. Es war der Tag der Premiere der Operette „Trauminsel“ auf der Seebühne der Bregenzer Festspiele. Ich brauche mich nicht anzustrengen, um mich zu erinnern; die Szene steht vor mir, als wäre keine Zeit vergangen – außerdem habe ich die Geschichte schon ungefähr hundertmal erzählt…

Mein Vater war auf eine gewisse Art befreundet mit dem damaligen Festspieldirektor Dr. Beer. Die „gewisse Art“ will ich erklären, ohne die ganze tragische Geschichte zu erzählen. Mein Vater war um einiges jünger als Dr. Beer, und sie hätten einander wahrscheinlich im Leben nicht kennengelernt, wäre nicht der Krieg gewesen. Mein Vater war Anfang zwanzig, aber bereits ein alter „Landser“, da wurden im letzten Aufgebot halbe Kinder und ältere Herren eingezogen. Einer der Letzteren war Dr. Beer. Gemeinsam erlebten sie irgendwo in Russland einen entsetzlichen Angriff. Während meinem Vater bereits jedes Zittern abhandengekommen war, hatte Dr. Beer Todesangst. Die beiden Vorarlberger klammerten sich aneinander, der Jüngere tröstete den Älteren, verkehrte Welt. Dr. Beer vergaß meinem Vater nie, dass er ihn in diesen fnsteren und demütigenden Stunden nicht im Stich gelassen hatte. Er wollte nicht mit ihm darüber sprechen, zu viel Scham, nach dem Krieg gingen die beiden einander aus dem Weg; aber jedes Jahr im Sommer brachte die Post ein dickes Kuvert, darin waren je zwei Karten für alle Veranstaltungen der Bregenzer Festspiele, Theater, Konzerte, Liederabende, Lesungen und eben auch zwei Karten für das berühmte Spiel auf dem See,

das Flaggschiff der Festspiele. Das war dann ein Drängen und Jammern in unserer Familie: Wer darf heuer nicht mitgehen? Wir wollten nämlich alle nicht. Zum Spiel auf dem See schon gar nicht, da fand die Jahreshauptversammlung aller stechbereiten Insekten statt. AußerMICHAEL KÖHLMEIER dem Operette … Mein Vater besuchte

Der Vorarlberger jede Veranstaltung, aus Loyalität; die

Bestsellerautor gilt jeweils zweite Karte dienten meine als bester Erzähler Mutter, meine Schwester und ich abdeutscher Zunge. Zuletzt erschienen: der Roman „Matou“, wechselnd ab, manchmal wurden Verwandte eingeladen. 960 Seiten, Am 21. Juni 1962 war ich dran.

Hanser Verlag. Heute sind die Seeveranstaltungen Riesenevents, siebentausend Besucher pro Abend; damals waren die Aufführungen überschaubar. Sie waren tatsächlich überschaubar, das heißt, ich konnte von meinem Platz aus – wir hatten immer Karten für die besten Plätze – nicht nur das Geschehen auf der Bühne nahe verfolgen; wenn ich mich reckte, konnte ich auch in den Orchestergraben schauen, zuvorderst auf den Rücken des Dirigenten. Der fuchtelte wunderschön, war ich der Meinung. Beim Applaus, wie es sich gehörte, drehte er sich zum Publikum. Sein Gesicht prägte ich mir ein. Ein zufriedenes Gesicht.

Wir waren zur Premierenfeier geladen. Das war meinem Vater sehr unangenehm, er fürchtete, er werde dort um ein Gespräch mit Dr. Beer nicht herumkommen. Aber Dr. Beer dachte wohl wie er. Die beiden grüßten einander aus der Ferne, das war alles. Damit nicht mehr daraus würde, suchte mein Vater das Gespräch mit anderen; er meinte, wenn er allein irgendwo am Rand stehe, bliebe Dr. Beer nichts anderes übrig, als sich doch noch um ihn zu kümmern.

Ich war es schließlich, der allein irgendwo am Rand stand.

Und dann kümmerte sich jemand um mich. Nämlich eine Dame mittleren Alters. Sie brachte mir ein Tellerchen mit geschnittenen belegten Broten und ein Glas Orangensaft. Ich war der Jüngste im Saal. Das gefel ihr. Sie fragte mich, ob ich aus freien Stücken hier sei. Ich verstand die Frage nicht. Was sollten freie Stücke mit meiner Anwesenheit zu tun haben, und überhaupt, was waren freie Stücke? Meine Mutter hatte mir eingeschärft, alles zu unterlassen, was meinen Vater blamieren könnte – nicht in der Nase bohren, nicht furzen und Antwort geben, wenn mich jemand etwas fragt.

Ich sagte: „Ja, ich bin aus freien Stücken hier.“

Wie alt ich sei. „In vier Monaten dreizehn.“

Die Dame war entzückt von mir. Das war ich gewohnt. Ich sah niedlich aus. Zu meinem Ärger. Sie sah auch niedlich aus, klein und in ein rosa Kleid gehüllt. Sie lachte laut und rief nach hinten, man möge mir ein Stück von der Premierentorte bringen und für sie noch ein Glas Sekt. Schon waren viele Leute um uns herum. Ich schaute nach meinem Vater, sah ihn aber nicht. Auf einmal war ich, jedenfalls in diesem Winkel des Saals, die Hauptperson. In der einen Hand hielt ich einen Teller mit einem Stück Torte, grünliches Marzipan, in der anderen einen zweiten Teller mit einem angebissenen Schinkenbrötchen.

Die Dame fragte mich: „Wie hat dir das Stück gefallen?“ Ich sagte wahrheitsgetreu: „Die Musik hat mir gut gefallen und der Dirigent auch, leider habe ich den Text nicht verstanden, also weiß ich nicht, was für eine Geschichte dort oben erzählt werden sollte.“

Einige lachten, andere nicht. Einer von den anderen sagte: „Du musst dir eben die Ohren ausputzen!“

Ich wurde zornig und sagte: „Meine Ohren sind gewaschen“, und betonte das „meine“. Beinahe hätte ich eine gefangen.

Die Dame aber sagte: „Ich habe den Text auch nicht verstanden, das ist bei so etwas immer so.“ Sie hat mich rausgehauen.

Die Dame war Yvonne Louise Stolz, die Frau von Robert Stolz, dem Komponisten und Dirigenten der Operette. Alle nannten sie „Einzi“.

Alle meinten, den Spitznamen oder Kosenamen habe ihr der dreißig Jahre ältere Robert Stolz gegeben, eben weil sie, seine fünfte Ehefrau, nun endgültig die Einzige für ihn sei. Das stimmte aber nicht. Den Namen hat ihr der jüdische Komponist Paul Abraham gegeben. Sie sei die „Einzige“, die sich um die Flüchtlinge aus dem Nazireich – zu dem damals auch das gehörte, was früher Österreich genannt wurde – kümmerte, die fast ihr ganzes Geld ausgab, um Menschenleben zu retten und den Überlebenden ein bisschen Würde zu geben. Yvonne Ulrich, wie sie damals noch hieß, war Jüdin, verheiratet mit einem sehr reichen Engländer. In Paris in Emigrantenkreisen lernte sie Robert Stolz kennen, und die beiden verliebten sich ineinander. Yvonne war sechsundzwanzig Jahre alt, Juristin, hatte einen entscheidungsfreudigen Charakter und, wie alle, die sie kannten, bestätigten, ein gütiges und sehr weites Herz.

Yvonne Louise war in Warschau geboren, sie stammte aus einer wohlhabenden Familie; man hatte überall, wo es vornehm zuging, ein Domizil, die meiste Zeit ihrer Jugend verbrachte sie in der Schweiz. Als Paris von den Nazis besetzt wurde, foh sie mit Robert Stolz in die USA. Sie hatte Geld und Beziehungen, organisierte die Flucht vieler anderer Künstler. Sie und ihr Mann ließen sich scheiden, einvernehmlich, ihre gemeinsame Tochter blieb vorerst in England, sie war zwei Jahre alt. In Amerika machten sich Einzi und Robert stracks auf den Weg nach Reno; dort heirateten sie. So viel moderne Romantik müsse sein, meinten beide.

Warum Robert Stolz den Nazis aus dem Weg ging und Österreich nach der Besetzung durch die deutschen Truppen verließ, hatte keinen anderen Grund als den, dass er Hitler und dessen Weltanschauung und Menschenbild zutiefst verachtete. Er wäre nicht verfolgt worden, im Gegenteil: Die Nazis, allen voran Goebbels, hatten ihn hofert, sie wollten sich schmücken mit einem so bekannten Komponisten, jedes Kind auf der Straße wusste mindestens einen Schlager, den dieser Mann geschrieben hatte. Nicht einen Augenblick war er in Versuchung, eines der vielen sehr lukrativen Angebote anzunehmen. Er wusste nicht, was in Paris auf ihn zukam, erst recht nicht später, was ihn in Amerika erwartete. Viele, die vor den Nazis in Deutschland Stars gewesen waren, gingen im Meer der amerikanischen Unterhaltungsindustrie unter, Bertold Brecht zum Beispiel oder Carl Zuckmayer oder Heinrich Mann, dessen Roman „Professor Unrat“, verflmt als „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle, immerhin ein Welterfolg war. Robert Stolz, der Meister der leichten Musik, entschied sich zwischen Karriere und Anstand für den Anstand. Und er fand in seiner Frau Einzi eine tapfere Partnerin. Als Hitler in Deutschland an die Macht gekommen war, hatte Robert Stolz jüdische Freunde über die Grenze nach Österreich gebracht, sie versteckten sich im Fond seines Autos, er setzte am Kühler ein Hakenkreuzfähnchen auf, die Grenzpolizisten erkannten den überaus populären Komponisten, sie salutierten und brachten ihm ein Ständchen dar – „Im Prater blüh’n wieder die Bäume …“.

Ihr Mann entschied sich zwischen Karriere und Anstand für den Anstand.

Sie war die „Einzige“, die Überlebenden ihre Würde zurückgab.

Vielen Künstlern hatte Einzi im Pariser Exil geholfen. Sie hat nie eine große Sache daraus gemacht. Was sei schon Geld im Vergleich zu einem Leben, soll sie einmal gesagt haben, außerdem habe sie nur getan, was jeder andere anständige Mensch auch getan hätte, wenn er im Besitz ausreichender Mittel gewesen wäre. Ihrer Mutter und ihren Geschwistern, die in Warschau lebten, konnte sie nicht helfen. Sie wurden in das Konzentrationslager Treblinka verschleppt und dort ermordet.

In dem kleinen Saal, in dem in Bregenz die Premierenfeier nach der Aufführung von „Trauminsel“ stattfand, bat mich Frau Stolz zu warten, sie wolle mir etwas mitgeben. Ich drückte mich in den Winkel, suchte weiter mit den Augen nach meinem Vater, fand ihn, winkte ihm, und er kam schnellen Schritts auf mich zu.

„Ich verstehe“, sagte er, „es geht dir alles hier auf die Nerven. Mir auch. Also ab!“

Ich wollte noch sagen, dass eine Dame, nämlich die Gattin des Komponisten und Dirigenten, mir etwas mitgeben wolle und ich deshalb noch ein paar Minuten warten müsse. Aber er hatte mich schon an der Hand genommen und schritt mit gesenktem Kopf voraus. Als ob man unsichtbar wäre, wenn man den Kopf senkt …

So habe ich nicht erfahren, was Einzi Stolz mir schenken wollte. Ich schätze, es war das Libretto zur Operette, geschrieben von Robert Gilbert – auch einer, dem Einzi geholfen hat. Damit ich verstehe, worum es in „Trauminsel“ geht.

Michael Köhlmeiers Geschichten gibt es, von ihm selbst gelesen, auch zum Anhören im Podcast-Kanal von The Red Bulletin. Zu finden auf allen gängigen Plattformen wie Spotify und auf redbulletin.com/podcast. Oder einfach den QR-Code scannen.

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