The Red Bulletin AT 02/22

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B O U L E VARD DER HEL DEN

YVONNE LOUISE STOLZ

DER EINZI-FALL

Serie: MICHAEL KÖHLMEIER erzählt die außergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit. Folge 21: Wie Einzi, Frau des Komponisten Robert Stolz, in schweren Zeiten Mut bewies.

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THE RED BULLETIN

BENE ROHLMANN, CLAUDIA MEITERT MICHAEL KÖHLMEIER

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GETTY IMAGES (2), PICTUREDESK.COM (4)

A

m 21. Juni 1962 – ich war ge­ das Flaggschiff der Festspiele. Das war rade noch für vier Monate zwölf dann ein Drängen und Jammern in un­ Jahre alt – begegnete ich Robert serer Familie: Wer darf heuer nicht mit­ Stolz und seiner Frau Einzi. Es gehen? Wir wollten nämlich alle nicht. war der Tag der Premiere der Zum Spiel auf dem See schon gar nicht, Operette „Trauminsel“ auf der Seebühne da fand die Jahreshauptversammlung der Bregenzer Festspiele. Ich brauche aller stechbereiten Insekten statt. Außer­ dem Operette … Mein Vater besuchte mich nicht anzustrengen, um mich zu MICHAEL KÖHLMEIER Der Vorarlberger jede Veranstaltung, aus Loyalität; die ­erinnern; die Szene steht vor mir, als Bestsellerautor gilt ­jeweils zweite Karte dienten meine wäre keine Zeit vergangen – außerdem als bester Erzähler ­Mutter, meine Schwester und ich ab­ habe ich die Geschichte schon ungefähr deutscher Zunge. wechselnd ab, manchmal wurden Ver­ hundertmal erzählt … Zuletzt erschienen: wandte eingeladen. Mein Vater war auf eine gewisse Art der Roman „Matou“, Am 21. Juni 1962 war ich dran. befreundet mit dem damaligen Festspiel­ 960 Seiten, direktor Dr. Beer. Die „gewisse Art“ will Hanser Verlag. Heute sind die Seeveranstaltungen ich erklären, ohne die ganze tragische Riesenevents, siebentausend Besucher Geschichte zu erzählen. Mein Vater war um einiges pro Abend; damals waren die Aufführungen über­ schaubar. Sie waren tatsächlich überschaubar, das ­jünger als Dr. Beer, und sie hätten einander wahr­ scheinlich im Leben nicht kennengelernt, wäre nicht heißt, ich konnte von meinem Platz aus – wir hatten der Krieg gewesen. Mein Vater war Anfang zwanzig, immer Karten für die besten Plätze – nicht nur das aber bereits ein alter „Landser“, da wurden im letzten Geschehen auf der Bühne nahe verfolgen; wenn Aufgebot halbe Kinder und ältere Herren eingezogen. ich mich reckte, konnte ich auch in den Orchester­ Einer der Letzteren war Dr. Beer. Gemeinsam er­ graben schauen, zuvorderst auf den Rücken des lebten sie irgendwo in Russland einen entsetzlichen Dirigenten. Der fuchtelte wunderschön, war ich der Angriff. Während meinem Vater bereits jedes Zittern Meinung. Beim Applaus, wie es sich gehörte, drehte abhandengekommen war, hatte Dr. Beer Todes­ er sich zum Publikum. Sein Gesicht prägte ich mir angst. Die beiden Vorarlberger klammerten sich an­ ein. Ein zufriedenes Gesicht. einander, der Jüngere tröstete den Älteren, verkehrte ir waren zur Premierenfeier geladen. Das Welt. Dr. Beer vergaß meinem Vater nie, dass er ihn war meinem Vater sehr unangenehm, er in diesen finsteren und demütigenden Stunden fürchtete, er werde dort um ein Gespräch mit nicht im Stich gelassen hatte. Er wollte nicht mit Dr. Beer nicht herumkommen. Aber Dr. Beer dachte ihm darüber sprechen, zu viel Scham, nach dem wohl wie er. Die beiden grüßten einander aus der Krieg gingen die beiden einander aus dem Weg; Ferne, das war alles. Damit nicht mehr daraus würde,­ aber jedes Jahr im Sommer brachte die Post ein suchte mein Vater das Gespräch mit anderen; er ­dickes Kuvert, darin waren je zwei Karten für alle meinte, wenn er allein irgendwo am Rand stehe, Veranstaltungen der Bregenzer Festspiele, Theater, bliebe Dr. Beer nichts anderes übrig, als sich doch Konzerte, Liederabende, Lesungen und eben auch noch um ihn zu kümmern. zwei Karten für das berühmte Spiel auf dem See,


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