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DIE WENDE DES WIZARDS
Von den Straßen Vancouvers tanzte er sich in den Kreis der besten Breaker der Welt. Doch in ihm rumorte es: „Du bist nicht gut genug, verdienst keine Siege.“ Bis B-Boy Phil Wizard die Choreografie seines Lebens änderte – und so zum Favoriten für Olympia wurde.
Seine grelle Jacke in Lila-Rot und die leuchtend helle Wollmütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hat, sind die einzigen Farbtupfer inmitten einer brutalistischen Großstadtarchitektur. Phil Kim, in der BreakingSzene als Phil Wizard berühmt, sind die Strapazen der letzten Monate kaum anzumerken, als ich ihn zum Interview treffe. Dabei ist das Leben eines Breaking-Profs, das ihn rund um den Globus von Battle zu Battle führt, unglaublich anstrengend.
Der Wizard strahlt Leichtigkeit aus, als er uns da vor der Kulisse des Wohnparks Orgues de Flandre, Paris, federnden, hüpfenden Schrittes entgegenmovt. Rechtzeitig zum Fotoshooting bricht die Sonne durch, als müsste sie diesen Magier ins Rampenlicht rücken. Der sucht und findet vor der Kamera seinen Rhythmus, immer im Takt der Beats, die blechern aus einem mitgebrachten Lautsprecher dröhnen. Immer mehr Passanten halten an, um den jungen Mann zu beobachten, der hier wie beiläufg die wildesten Verrenkungen raushaut. Was die wenigsten von ihnen wissen: Der Straßenkünstler ist Olympiateilnehmer.
Es ist Oktober 2023, und in Paris steigt das 20. Red Bull BC One World Final, der größte Breaking-Wettbewerb der Welt. Das Gipfeltreffen einer bunten, dynamischen, lautstarken Subkultur, zu deren herausragenden Vertretern Phil Wizard gehört. Wenn Breakdance im kommenden Sommer hier in der Stadt erstmals olympisch sein wird, wird der 26-jährige Kanadier ein heißer Medaillenkandidat sein. Vor nicht einmal fünf Jahren war er hier in Paris in der ersten Runde ausgeschieden. Heute ist er Teil der Red Bull BC All Stars, einer exklusiven Crew, bestehend aus den weltbesten Tänzern.
Sein erster Move? Blenden wir zurück auf die Straßen von Vancouver, Phils Heimatstadt. Im zarten Alter von elf Jahren hatte ihn dort eine Performance der Now or Never Crew, des Fixsterns der örtlichen Hip-Hop-Szene, wie aus dem Nichts in ihren Bann gezogen. Was für ein Zufall: Ausgerechnet eines der Crewmitglieder leitete wenig später einen Workshop in Phils Schule – was diesen dazu inspirierte, sich für ein Tanzcamp anzumelden. So weit, so leichtfüßig. Doch Phil fand eine weitere, in seinen Worten „nicht ganz so coole“ Inspiration: die romantische, etwas klischeehafte Tanzfilmreihe „Step Up“. Als wir zwischen den Fotos eine kurze Pause einlegen, gibt
er zu: „Es ist mir etwas peinlich, aber ich habe dieses kitschige Zeug geliebt. Als Kind denkt man zuerst einmal nur: ‚Wow, die tanzen im Regen – wie cool ist das denn?!‘“ Choreografie und Kreativität hätten ihn am Anfang viel mehr fasziniert als das Breaken an sich, sagt er. „Ich war ein lebhaftes und fantasievolles Kind. Ich habe viele Animes und Superheldenfilme geschaut und getan, als wäre ich ein Teil dieser Geschichten.“
Es begann mit den Heartbreakern – doch bald gab es nur noch Breaking: Der Teenager Phil schaute statt Animes YouTubeVideos der angesagtesten Breaker und holte sich bei den großen Crews aus Vancouver Tipps, wie man am schmalen Grat zwischen kreativer Selbstverwirklichung und kommerziellem Erfolg trittsicher wird. Davon abgesehen war Phil auf sich allein gestellt. Denn je tiefer er in die Breaking-Szene eintauchte, desto weniger Rückhalt spürte er von daheim. „Meine älteren Brüder haben im Versicherungsgeschäft und als Juristen Karriere gemacht“, sagt er. „Ich war der Außenseiter. Der Druck war auch deshalb so groß, weil ich aus einer Einwandererfamilie komme.“
Kampf gegen den eigenen Kopf
Als Phils Mutter mit ihm schwanger wurde, lebte die Familie noch in Korea. Noch vor seiner Geburt emigrierte sie mit Phils Vater und den Söhnen nach Kanada. „Meine Eltern haben viel dafür geopfert, um in Kanada ein neues Leben zu beginnen. Sie wollten die größtmögliche Sicherheit für ihre Kinder“, sagt Phil und wirkt nachdenklich. „Nicht nur für meine Eltern, auch für mich selbst war die Entscheidung hart, ganz andere Wege zu gehen und eine Karriere als Breaker einzuschlagen.“
Um seine Familie zu beruhigen, schrieb sich Phil für ein Psychologiestudium ein. Doch schon nach einem Semester war für ihn Schluss. „Ich habe das Studium sein lassen, weil ich ein anderes Ziel vor Augen hatte: das Red Bull BC One in Los Angeles, die Vorqualifikation für die World Finals. Ich dachte mir: Wenn ich dieses Event tatsächlich gewinne, lasse ich alles stehen und liegen und versuche mein Glück mit Tanzen.“ Das Risiko zahlte sich aus. Phil Wizard holte in Kalifornien auf Anhieb den Titel – der Grundstein für ein Leben als Prof-Breaker war gelegt.
Doch dafür musste er sich erst gegen den schwierigsten Gegner überhaupt durchsetzen – seinen eigenen Kopf. Während er andere mit seinen Moves beeindruckte, musste Phil sich immer wieder und wieder selbst davon überzeugen, gut genug für die ganz große Bühne zu sein. „Es war ein täglicher Struggle. Ich fragte mich stets, ob ich beim Breaken bleiben sollte“, erinnert er sich an seine schwierigste Phase.
Er zog wieder bei Mama und Papa ein und verdiente sich als neues Mitglied der Now or Never Crew, mit der er auf Firmenfeiern und Hochzeiten tanzte, ein paar Dollar dazu. Neben den Shows ging er bei kleineren Wettkämpfen an den Start und etablierte sich allmählich als fester Bestandteil von Vancouvers HipHopSzene. „ Damals habe ich viele Kämpfe mit mir selbst ausgefochten, um herauszufinden, was ich tun wollte“, sagt er. „Rückblickend glaube ich gar nicht, dass ich der talentierteste Tänzer war. Ich war sicher nicht der Junge, bei dem sich alle einig waren, dass er es schafft. Aber ich habe mich Schritt für Schritt hochgearbeitet, weil ich mit Leidenschaft bei der Sache war.“
Choreografe einer Wandlung
Die harte Arbeit beschränkte sich bei weitem nicht auf Moves und Beats. Viel schwieriger war es für Phil, seine Mentalität umzukrempeln. Denn was ihn jahrelang kleingehalten hatte, war er selbst. „Es gab Competitions, in denen ich unter einem starken HochstaplerSyndrom litt. Ich habe mich gefühlt, als wäre ich ein Betrüger und würde anderen etwas vormachen. Selbst wenn ich im Halbfinale stand, hatte ich das Gefühl, den Sieg nicht zu verdienen. Und dann stürzte alles auf mich ein.“
Mangelndes Selbstvertrauen und großer Ehrgeiz verbanden sich zu einer toxischen Mischung, die Phils Leistung und mentale Gesundheit verschlechterte. „Ich musste gewinnen, um weiterzukommen, und irgendwann genug Geld verdienen, um davon leben zu können. Deshalb hatte jedes Event für mich eine riesengroße Bedeutung. Entsprechend down war ich, wenn ich verlor. Aber auch wenn ich gewann, machte ich mir selbst das Leben schwer. Dann hatte ich eben dieses Gefühl, nicht meine beste Leistung abgerufen zu haben.“
Wizard erkannte, dass er in sämtlichen Belangen lockerer werden musste. Er ging in sich und lernte, eine gesunde Distanz zum Wettkampf zu bewahren, anstatt ständig zu grübeln. „Es ging darum, Erwartungen zu vergessen – die eigenen und jene von außen – und den Moment zu genießen“, erklärt er die Choreografie seiner Wandlung. „Ich meditiere nicht, aber ich versuche schon, den Moment bewusst wahrzunehmen, präsent zu sein und mit einer positiven Einstellung in jeden Wettkampf zu gehen. Ich habe lange gebraucht, um das zu verinnerlichen. Das HochstaplerSyndrom kommt und geht, auch heute noch. Aber meine Lebensphilosophie ist, dass ich eben nicht alles kontrollieren kann. Ich versuche jetzt, mir in den Wettkämpfen mehr Freiheiten zu nehmen.“
Vancouver chillt, die Welt bebt
Allein im Jahr 2023 hat er vier Goldmedaillen auf dem Circuit der Weltelite ertanzt. Die fndet rund um den Globus statt, in Südkorea zum Beispiel, Brasilien, Portugal oder England. Phil konnte in diesem Jahr kaum länger als eine Woche in seiner Heimat verbringen. Wenn er es nach Vancouver schaft, reduziert er seine sozialen Kontakte deshalb auf ein Minimum. „Das ist meine Zeit zum Abschalten, Chillen und Schlafen“, sagt er. „ Zu Hause bin ich kein besonders lustiger Mensch. Die aufregenden Sachen mache ich lieber unterwegs.“
Und wie! Denn das hier ist Paris, und am nächsten Tag machen sich Wizard und eine kleine kanadische Clique auf den Weg zum Cent Quatre, einem ehemaligen Beerdigungsinstitut aus dem 19. Jahrhundert. Heute ist die frühere „ Fabrik der Trauer“, wie sie genannt wurde, ein Zentrum für zeitgenössische Kunst: eine der Eventlocations für die BC One World Finals.
Die Luft ist zum Schneiden dick, die Atmosphäre ist, und das ist wohl der größte Unterschied zu früher, an diesem Abend so richtig lebendig. Hunderte Menschen strömen ins Studio in Erwartung, dass vor ihren Augen Breaking-Geschichte geschrieben wird. Auch ein Vertreter von Guinness World Records ist vor Ort, zu erkennen am förmlichen Outfit.
Ein B-Boy nach dem anderen tritt an, um einen „Double Airfare“ zu meistern – eine spektakuläre Figur, bei der die Breaker ihr ganzes Gewicht auf eine Hand verlagern, sich zu einer Ganzkörperdrehung in die Luft katapultieren und dann auf der anderen Hand landen. „ Ein übermenschlicher Kraftakt, den noch niemand auf der Welt bei einer ofziellen Veranstaltung gezeigt hat!“, überschlägt sich der Moderator. Darf der herausgeputzte Mister Guinness schon jetzt den Notizblock zücken?
Als Erster betritt Monkey King aus Taiwan die Matte, um die sich ein Kreis aus Zuschauern versammelt hat. Er schraubt sich wie ein Korkenzieher hinauf – aber statt eines Weltrekords wird er letztendlich nur einen gebrochenen Finger verbuchen.
Zwischen Leistung und Lifestyle
Wizard ist nur hier, um die Cypher zu beobachten, einen Contest, bei dem BreakerFormationen nacheinander antreten und improvisieren. Auf den Plattentellern der DJs drehen sich Old-School-Scheiben, zu deren Klängen die Breaker ihre Körper rhythmisch verformen. In diesem Kosmos, mitten in der Community, wirkt Phil völlig entspannt. Hier ist er eine Celebrity. Begeistert springt er von seinem Platz auf und zückt sein Handy, um besondere Moves festzuhalten. Wenn er das Ergebnis danach auf Social Media postet, verfasst er Lobeshymnen auf die Konkurrenz.
Ja, die Breaker und Hip-Hopper sind eine solidarische, eng verbundene Gemeinschaft. Doch wenn es darum geht, dass Breaking in diesem Jahr eine olympische Disziplin sein wird, scheiden sich die Geister. Puristen fürchten, dass sich Breaking, ursprünglich kreatives Ventil für die marginalisierte migrantische Jugend New Yorks, von seinen subkulturellen Wurzeln entfernt. Wizard dagegen betrachtet die Entwicklung überwiegend positiv. „Natürlich wird sich so einiges ändern, und das macht viele nervös. Die Atmosphäre ist jetzt schon wettbewerbsorientierter, die Veranstaltungen werden ernster“, sagt er. „Sicher steht jetzt der Sport im Vordergrund, aber es gibt dahinter immer noch eine Kultur. Die Underground-Szene wird es immer geben –man kann immer noch Jams veranstalten, und die Leute werden kommen.“
Denn wie für viele andere ist Breaking auch für Wizard in erster Linie Kunst, und dennoch: „Ich trainiere 20 bis 25 Stunden pro Woche, wenn ich zu Hause bin“, sagt er. „ Ich gehöre zur jüngeren Generation, die sich mehr um ihren Körper kümmert, um länger durchzuhalten zu können.“
Breaking hat seine Identität verändert. Aber auch Wizard selbst gesteht, dass er innerlich zwischen den Stühlen steht, seit er 2022 Mitglied der Red Bull BC One All Stars wurde – und damit ein ganz großes Ziel erreicht hatte: „Klar, ich will BC One oder die Olympischen Spiele gewinnen, das wäre natürlich großartig“, sagt er. Doch nach all seinen Siegen im Vorjahr fiel er wieder auf den Dancefoor der Tatsachen zurück. „Ich hatte das Gefühl, dass ich Karriere mäßig fast alles erreicht hatte, was ich wollte“, sagt er. Hatte sich der Magier noch satt gesiegt? Denn auf einmal schlich sich da – erst sanft, dann fast schon bohrend – wieder diese eine unverwüstliche Frage ein: „Und was kommt als Nächstes?“ Nicht an Titeln, an Emotionen.
Die Antwort fand Phil Wizard in seiner neuen Mentalität. Ehrgeizige Ziele, Pläne und Strategien waren gestern, nun konzentriert er sich auf Ausdruck und Kreativität. „In Wettkämpfen bin ich auf einem hohen Niveau, aber künstlerisch bin ich noch lange nicht am Ende“, sagt er. „Wenn ich mich ansehe, sehe ich Mängel und Blockaden. Jetzt geht es darum, meine Entwicklung voranzutreiben, einen Sinn für Freiheit zu entfalten und neue Moves zu fnden. Es gibt noch so viel zu tun.“ Und diese Selbstkritik ist keine Koketterie. Denn Phil will den Flow genießen und mit einem guten Gefühl aus jeder Runde hervorgehen. „ Das ist eigentlich unmöglich“, gibt er lachend zu, „aber genau das motiviert mich.“
Der stille Sieg des Zweiten
Doch jetzt ist Showtime, und die Motivation wächst wie von selbst: Red Bull BC One World Final – und zwar das Finale des Finales: Wizard steht im Scheinwerferlicht von Roland Garros, wo jedes Jahr die French Open der besten Tennisspieler stattfinden, um hier seine veränderten Ansprüche erstmals auf die Probe zu stellen. Nach einem intensiven, vier Stunden dauernden Wettbewerb, in dem 16 B-Boys und 16 B-Girls gegeneinander antreten, hat er es in die allerletzte Runde geschafft und trifft dort auf seinen alten Freund Hong 10: einen südkoreanischen B-Boy, der für seine enorme Ausdauer bekannt ist.
Head Spins, Freeze-Posen und die präzise Fußarbeit sind spektakulär genug. Aber noch beeindruckender ist der Spaß, mit dem Phil bei der Sache ist. Bei guten Moves applaudiert er seinem Kontrahenten, umarmt ihn sogar zwischen den Runden. Als Hong 10 letztendlich zum Sieger erklärt wird, freut sich Wizard sichtlich mit ihm. „Wir hatten von Anfang an vereinbart: ‚Wir trefen uns im Finale‘“, sagt er. „Ich wollte einfach Spaß beim Battle haben. Vor allem wollte ich aber zeigen, dass es auch auf der größten Bühne der Welt einfach nur um die Liebe zum Breaken geht.“
Hong 10 gewinnt am Ende den Titel, aber Wizard hat erreicht, was er einst für unmöglich hielt: loszulassen und den Job zu genießen. „Früher fanden die Kämpfe in mir selber statt, aber das passiert mir nicht mehr“, sagt er. Diesmal ist Phil Wizard Zweiter geworden und hat doch gewonnen.
Langsam erlöschen die Lichter von Roland Garros. Drinnen düster, draußen düster – nur einer, der weiterhin brennt.
Instagram: @philkwizard