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BOULEVARD DER HELDEN

HARRY HOUDINI DER ENTFESSELUNGSKÜNSTLER

Serie: MICHAEL KÖHLMEIER erzählt die aussergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit. Folge 2: Wie der geniale Zauberer fast einer Intrige zum Opfer gefallen wäre.

Spiritismus ist Intrige gegen die Natur dennoch gefährlich, manche lebensgefährgesetze.» Dies ist der erste Satz eines lich. In seinem Vortrag an der Universität Vortrags, den der amerikanische erzählte er die Geschichte einer Intrige, die Entfesselungskünstler Harry Houdini ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Eines 1925 an der ColumbiaUniversität Tages habe ihn ein Herr aus Philadelphia in New York hielt. Die naturwissenschaft besucht. Er stellte sich als Agent vor und bot lichen Institute hatten ihn anlässlich der Er seine Dienste an. Er habe schon vorgearbeitet, scheinung seines Buches «A Magician Among MICHAEL KÖHLMEIER sagte er. So sei er mit über zwei Dutzend the Spirits» eingeladen. Der Vortrag fand Der Vorarlberger Grossveranstaltern in den USA und einem vor nur wenigen ausgewählten Gästen statt. Bestsellerautor gilt weiteren Dutzend in Europa im Geschäft, er Mister Houdini hatte nämlich zu bedenken als bester Erzähler werde eine weltweite Tournee organisieren, gegeben, er werde einige Dinge sagen, die, wenn sie Kreise zögen, der Universitätsleitung deutscher Zunge. Zuletzt erschienen: «Die Märchen», Mister Houdini werde ein reicher Mann werden. Und ein berühmter Mann, ein in der Unannehmlichkeiten bereiten könnten. Der 816 Seiten, Verlag ganzen Welt berühmter Mann, schliesslich zitierte erste Satz spielte bereits auf diese Carl Hanser. gebe es niemanden, der ihm in seiner Kunst Unannehmlichkeiten an. «Aber wenn es etwas das Wasser reichen könne. Houdini liess gibt», fuhr der Redner fort, «was die Naturgesetze den Mann ausreden. Er habe ein gutes Gespür dafür, aushebeln kann, dann ist es die Intrige.» ob einer ein Scharlatan sei oder ehrlich, erklärte er vor

Nachdem sich Harry Houdini vom Showgeschäft dem Auditorium und erntete anerkennendes Gelächter zurückgezogen hatte, setzte er seine ganze Autorität – wer denn sonst, wenn nicht Harry Houdini. Er habe ein, um, wie er sich ausdrückte, «der Seuche des Spiri gespürt, dass der «Agent», wie der Mann sich nannte, tismus» den Krieg zu erklären. Der Spiritismus und ihm schmeichelte, weil er in Wahrheit etwas anderes seine Praxis – Geisterbeschwörung, Totenbeschwörung, im Schilde führte. Und schliesslich rückte der Mann daTischrücken und so weiter – war seit Mitte des 19. Jahr mit heraus: Er habe eine Geisterseherin unter Vertrag, hunderts zu einer Modeerscheinung in den USA ge eine gewisse Madame PickPock. Vor ihm, Houdini, worden, weit mehr: zu einem hysterischen Massen brauche er nicht den Naiven zu spielen. phänomen, sodass sich der Kongress genötigt sah, eine Untersuchungskommission einzurichten, der Harry Houdini als ihr prominentestes Mitglied angehörte. Am Beginn dieser merkwürdigen Bewegung standen N atürlich sei sie eine Schwindlerin, aber, Hand aufs Herz, alle Künstler seien Schwindler, die ungeschickten geben es zu, die geschickten nicht, die Schwestern Margaret und Kate Fox, die behaupteten, und den ganz Geschickten komme man nicht drauf. mit Verstorbenen über Klopfzeichen zu kommunizieren. Die Entfesselungskunst, die er, Houdini, betreibe, sei Sie traten im ganzen Land auf und demonstrierten ihre grossartig, aber eigentlich, müsse er doch zugeben, sei «Fähigkeiten». Sie waren Betrügerinnen und gestanden sie grossartig gewesen. Die Zeit solcher Spässe sei vores am Ende ihres Lebens öffentlich ein. bei. Die Attraktion sei der Spiritismus. Mit ein bisschen

Houdini betonte stets, seine Kunst beruhe auf Tricks Knacksen und Tischrücken, mit Huhu aus dem Bühnenund Übung, manche dieser Tricks verriet er, die sensatio boden liessen sich heutzutage dreimal mehr Menschen nellen nicht, alle waren sie bis ins Detail berechnet und anlocken als mit den kühnsten und gefährlichsten Vor

führungen der Entfesselungskunst. Und dies war der Vorschlag des Herrn: Harry Houdini werde um die ganze Welt reisen, ein letztes Mal werde er sich, kopfüber an der Fahnenstange eines Hochhauses hängend, aus einer zwanzig Meter langen Stoffbahn wickeln, ein letztes Mal aus einem Staatsgefängnis ausbrechen, ein letztes Mal einen Elefanten verschwinden lassen. Dann werde er sich zur Ruhe setzen und in aller Ruhe die Machenschaften der Spiritisten anprangern, alle Machenschaften aller Spiritisten – mit einer Ausnahme: Madame PickPock. Sie werde er als Einzige ihres Fachs anerkennen. Wenn der grosse Houdini, der Spürhund im Kampf gegen Scharlatanerie, dieser Dame und ihrer Show ein Echtheitszertifkat ausstelle, ihr als Einziger, dann gebe es bald keine Halle in Amerika, die nicht ausverkauft sei. Und er, Houdini, würde Prozente kassieren. Sage er zu, jetzt, auf der Stelle, sei er, der Agent, bereit, ihm 10.000 Dollar in bar auszuzahlen, als Vorschuss sozusagen. Im Hörsaal der Columbia-Universität war es still. Alle warteten darauf zu erfahren, wie sich Harry Houdini, der Unbestechliche, verhalten hatte. Und alle waren entsetzt, als er sagte: «Ich war einverstanden.» Er habe, sagte er, das Geld genommen.

Harry Houdini wurde am 24. März 1874 in Budapest als Erik Weisz geboren. Noch bevor er in die Schule kam, wanderten seine Eltern nach Amerika aus. Schon im Alter von sechzehn Jahren trat er mit Zauberkunststücken auf, bald gab er sich einen neuen Namen: Harry Houdini. Den Vornamen wählte er als Hommage an den Zauberkünstler Harry Kellar, den Nachnamen in Verehrung für den französischen Magier Jean Eugène Robert-Houdin. Mit neunzehn heiratete er die Tänzerin und Sängerin Bess Rahner, die beiden wurden von einem katholischen Pfarrer und einem Rabbiner getraut. Gemeinsam traten sie von nun an auf, gemeinsam entwickelten sie die Entfesselungsnummern. Bess war Harry eine treue Frau, Harry Bess ein treuer Mann. Die beiden waren immer zusammen, privat und in der Arbeit, sie führten kein geselliges Leben und waren damit zufrieden – ein glückliches Paar. Harry wollte den Betrüger betrügen. Er nahm das Geld und spendete es der Society of American Magicians, der Vereinigung der amerikanischen Illusionskünstler, die sich inzwischen als erste Aufgabe gestellt hatte, den Spiritismus zu bekämpfen und die Menschen daran zu erinnern, dass es so etwas gab wie Vernunft, die nichts anderes sei als der Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. «Ich dachte», erzählte Houdini in seinem Vortrag, «das wäre ein gelungener Streich: den Betrüger zu betrügen. Und ich liess es ihn wissen.»

Der Agent war ein rachsüchtiger Mensch. Er sah ein, dass ihm keine legale Möglichkeit offenstand, sein Geld zurückzubekommen. Und ihm war auch gar nicht mehr so viel daran gelegen. Er wollte kein Geld von Houdini, er wollte Houdini vernichten. Obwohl Houdini niemandem, dessen Hilfe er nicht für seine Show benötigte, seine Tricks verriet, gelang es dem betrogenen Betrüger, wahrscheinlich wieder mit Bestechung, wenigstens ein Detail eines Tricks in Erfahrung zu bringen. Ein entscheidendes Detail allerdings. Dies war die berühmteste, unglaublichste Entfesselungsnummer: Mitten im Winter liess Houdini im zugefrorenen East River in New York ein Loch in das Eis schlagen. Dann fesselten ihn zwei Polizisten mit Ketten an Armen und Beinen und sperrten ihn in einen Safe. Der Safe wurde in dem Eisloch versenkt. Auf der Brooklyn Bridge drängten sich Tausende von Zuschauern. Sehr dramatisch verabschiedeten sich Harry und Bess voneinander. Bess weinte und schrie, fehte ihren Gatten auf Knien an, er möge auf diese Vorführung verzichten. Kurz schien es, als wanke Houdini, als sei er sich nicht mehr sicher, ob er dieses Wagnis bestehen könnte. Dann küsste sich das Ehepaar innig, und Houdini liess sich die Ketten anlegen. Ein Teil des Tricks bestand darin, dass Bess ihrem Mann beim Kuss den Schlüssel zu den Ketten in den Mund schob. Und diesen Teil des Tricks hatte der Agent herausbekommen.

Bess war eine sehr schöne, sehr leidenschaftliche und, bevor sie Harry kennengelernt hatte, lebenslustige und gesellige Frau, die sich, im Unterschied zu ihrem Mann, leicht in einen emotionalen Ausnahmezustand bringen liess. Das wusste Harry, und er wusste, dass sie in diesem Zustand leicht zu manipulieren war. Er wiederum war berufsbedingt ein misstrauischer Mensch, der es gewohnt war, jede Eventualität zu erwägen und in seine Berechnungen einzubeziehen. Er liebte seine Frau und kannte seine Frau und vertraute seiner Frau, aber er wusste auch – oder meinte zu wissen –, dass niemand in die tiefste Seele eines anderen Menschen schauen kann. Darauf setzte der Agent. Über einen Mittelsmann füsterte er ihm Misstrauen ein. Bess habe einen anderen Mann kennengelernt, sie habe sich bedingungslos verliebt, und weil sie wisse, dass Harry sie nie freigeben werde, habe sie gemeinsam mit ihrem Liebhaber seinen Tod geplant. «Wenn es etwas gibt, was die Naturgesetze aushebeln kann, dann die Intrige», wiederholte der Redner in der Columbia-Universität.

Der Trick mit dem Safe im Eisloch vom East River war gefährlicher als alle Kunststücke zuvor. Dazu kam, dass der Trick bis dahin nur im Trockenen und Warmen geprobt worden war. Es blieben Houdini nur wenige Sekunden, um sich zu befreien. Der Safe war zwar mit versteckten Luftkissen ausgestattet, damit er nur

«Ich dachte, das wäre ein gelungener Streich: den Betrüger zu betrügen.»

langsam sank, aber im Eiswasser würde ein Mensch auch mit Taucheranzug nicht lange überleben. Das hiess: Jeder Gedanke, der nicht auf die Aktion gerichtet war, könnte verhängnisvoll sein. Und dies war die böse Überlegung des Agenten. Ist wahr, was mir über Bess zugefüstert wurde? Ich kenne sie doch? Kenne ich sie wirklich? Wenn nun der Schlüssel in meinem Mund der falsche ist? Muss ich mich darauf vorbereiten? Gibt es darauf überhaupt eine Vorbereitung?

Harry Houdini hat sich nicht irritieren lassen durch seine Gedanken. Er hat das grösste Kunststück in seiner Karriere, das grösste Stück, das je ein Entfesselungskünstler präsentierte, bravourös absolviert. Die Brooklyn Bridge bebte unter dem Getrampel der johlenden Zuschauer, als er aus dem Loch im Eis auftauchte. Er wusste, er hatte einen bösen Feind. Einen Feind, der ihn vernichten wollte. Einen Intriganten.

«Intrige», sagte er zu seinen Zuhörern, «kann man nur bekämpfen, indem man sie öffentlich macht.» Das und nur das sei der Grund, warum er diese Geschichte erzählt habe. Ein Jahr nach dem Vortrag in der ColumbiaUniversität sprach Harry Houdini vor Studenten darüber, wie er für seine Vorführungen trainierte. Er blähe seine Muskeln auf und ziehe sie zusammen, sodass er seine Arme und Beine aus jeder Fessel befreien könne. Und er sei misstrauisch allem und jedem gegenüber, dem Material gegenüber und jedem Menschen gegenüber. Das Misstrauen sei seine Überlebensgarantie. Das bedeute, er sei immer und auf alles gefasst. Da holte einer der Studenten mit der Faust aus und schlug ihm in den Magen. Houdini war darauf nicht gefasst. Er starb an den Folgen des Schlages.

Harry wusste, er hatte einen bösen Feind. Einen Feind, der ihn vernichten wollte. Einen Intriganten.

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