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MENSCHEN IN GÖRLITZ

Renovierte Altbauten und Neubauten im Hintergrund prägen die harmonische Skyline von Zgorzelec am Ostufer der Neiße

Bauen F R Die Menschen In G Rlitz

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Ende Januar berichtete die Sächsischen Zeitung über einen modernen Neubau, der in der Görlitzer Nicolaivorstadt als Mehrfamilienhaus eine Baulücke zwischen zwei historischen Gebäuden schließen soll. Die meisten Kommentare der Leser waren negativ, aber beeindruckt hat mich vor allem die Aussage, es sei nicht der Sinn des Lebens, ausschließlich in den Spuren der Ahnen zu wandeln. Der Schreiber legte nach, es sei arm, wenn Städte wie Görlitz keine zeitgenössischen Spuren haben dürften Ich hätte zu dieser Aussage einiges erwidern können, aber dazu ist mir besonders auf Facebook meine verbleibende Lebenszeit zu kostbar In den letzten Jahren sind ohnhin in sozialen Netzwerken sachliche Diskussion und ein Gedankenaustausch kaum noch möglich, da in unserer Gesellschaft der kulturelle Konsens verschwunden ist, der es ermöglicht, Debatten zu führen und Kompromisse auszuhandeln Besonders die Themen Corona, Waffenlieferungen an die Ukraine, E-Mobilität sowie Gendersprache und –wissenschaften haben jedoch deutlich gemacht, dass es anstelle dieses Konsens einr tiefe Spaltung in der deutschen Gesellschaft gibt Das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung stößt sehr schnell dort an seine Grenzen, wo der Meinungskorridor des eigenen Standpunktes verlassen wird

Jedenfalls musste ich noch lange über den Artikel in der Sächsischen Zeitung und die Kommentare auf Facebook nachdenken Architektur hat mich schon immer interessiert und letztlich waren es neben einigen persönlichen Gründen auch die Bausünden in meiner Heimatstadt Kamen bei Dortmund und ihren Nachbarstädten im Ruhrgebiet, sowie in Dortmund selbst, die mich 2017 zu einem Umzug nach Görlitz - in die Geburtsstadt meiner Eltern - bewegten Doch zuvor staunte ich während einer sonntäglichen Wande- rung am Phoenix-See in Dortmund Hörde Bauklötze über die architektonischen Artefakte, die sich dem Auge des Betrachters an den Hängen des künstlichen Sees aufdrängen (Fotos auf der rechten Seite)..

Vorgewarnt durch euphorische Berichte regionaler Medien, die den Phoenix-See bereits großspurig mit der Hamburger Außenalster verglichen, waren meine Erwartungen nicht besonders hoch. Sie wurden allerdings von dem, was ich dort an Scheußlichkeiten entdeckte, weit unterboten. Nun lässt sich ja über Geschmack bekanntlich vortrefflich streiten, aber das "anspruchsvolle Wohngebiet" mit "Einfamilien-, Doppel-, Reihen- und Mehrfamilienhäuser in Form von Stadtvillen und Terrassenhäusern" (Phoenix See Entwicklungsgesellschaft mbH) erinnert mich an die ersten – mißlungenen – Versuche in meiner Kindheit, mit Legosteinen eine Siedlung zu gestalten: Am Phoenix See gleicht kein Haus dem anderen und doch ist ihnen allen eines gemeinsam: Sie ähneln Schuhkartonagen, sind quadratisch, eckig aber nicht gut Trotzdem scheint es Menschen zu geben, die viel Geld ausgeben, um in so etwas ihr Dasein fristen zu wollen, zum Beispiel zahlreiche Fußballprofis von Borussia Dortmund Ich habe allerdings in diesem Gucci-Ghetto keine gesehen - nur die vor einigen Häusern abgestellten Edel-Limousinen deuteten auf Spuren menschlichen Lebens hin „Die Häuser sehen zwar scheußlich aus, aber die Aussicht vom Hang aus ist doch klasse“, hörte ich einen Spaziergänger am See seiner Ehefrau ehrfurchtsvoll ins Ohr raunen Stellt sich die Frage, was an der Aussicht auf diesen nierenschalenförmigen kahlen Tümpel inklusive weiterer architektonischer Grausamkeiten am gegenüberliegendem Ufer interessant sein soll Selbst die Mietshäuser und ersten Arbeitersiedlungen vom Ende des 19 Jahrhunderts waren so gut gebaut, dass sie auch heute noch begehrt sind. Sogar aus Gefängnissen jener Zeit lassen sich attraktive Wohnungen machen – während manche neuen Luxusvillen - wie eben die meisten am Phoenix-See - heute aussehen wie Gefängnisse. Das Dilemma, dem man sich dort konfrontiert sieht, ist nicht zuletzt ein Ergebnís des heutigen Bestrebens immer dem Neuen auf der Spur zu sein, blind für das Bessere und blind für traditionelle Werte, für das über lange Jahre bewährte.

Diese Art moderner Architektur stellt Hypothesen auf, die sich kraft ihrer Andersartigkeit nicht beweisen müssen, weil sie im Moment angesagt sind, die aber, wenn ihre Untauglichkeit nach 20 oder 30 Jahren zum Vorschein kommt, mit Sicherheit ein Opfer der Spitzhacke werden dürften.

Nun werden einige Leser fragen „Was hat das mit Görlitz zu tun?" Denen kann ich nur antworten „Sehr viel“ Auch wenn es zur Zeit noch viele leerstehende Wohnungen in überwiegend renovierungsbedürftigen Altbauten Im Görlitzer Zentrum sowie der Südstadt gibt, so wird die Situation auf dem Wohnungsmarkt in wenigen Jahren völlig anders aussehen. Das CASUS Zentrum für datenintensive Systemforschung, das derzeit noch im Bau befindliche Senckenberg Forschungsinstitut sowie das Deutsche Zentrum für Astrophysik (DZA), das als nächstes nach Görlitz kommt, sind Einrichtungen, die Personal aus aller Welt anziehen. Dieses Personal, das sicherlich nicht zu den Geringverdienern zugerechnet werden kann, achtet neben einer interessanten berufliche Aufgabe auch auf attraktiven Wohnraum. Nebenbei wächst die IT-Branche mit ihren aktuell über 1.000 Beschäftigten in der Neißestadt stetig. Dass die Webseite WELCOME GÖRLITZ ZGORZELEC bereits das "Silicon Valley Görlitz" bewirbt, mag manchem Ein- heimischen etwas übertrieben erscheinen, aber eines ist sicher: Auch die Spezialisten dieser Unternehmen wollen wohnen. Und das möglichst nahe an ihrem Arbeitsplatz. Und wenn der Wohnraum nicht mehr in alten Bauten zur Verfügung steht, dann müssen eben neue Häuser gebaut werden. solange sie sich stilistisch vom Gesamtbild der Stadt nicht wie ein Krebsgeschwür abheben. Als gelungenes Beispiel für einen perfekt integrierten Neubau darf m.E. der schon bald fertiggestellte Neubau des Senckenberg-Museums Ecke Bahnhofstraße /Jakobstraße (siehe Seite 84/85) in Görlitz gelten. Auch die er-

Friedrich Wilhelm Schumacher, Baumeister und Stadtplaner von 1909 – 1933 Oberbaudirektor in Hamburg

Dagegen ist nichts zu sagen, so lange der Baustil dieser neuen und modernen Häuser mit ihren Fassaden nicht wie ein Fremdkörper inmitten von renovierten Altbauten wirkt und das gesamte Stadtbild zerstört Zum Glück gibt es in Görlitz bisher wenige solcher architektonischen Verirrungen, denn ein großer Teil der Attraktivität unserer Stadt als Urlaubs- und Wohnort generiert sich aus dem Interesse an der Architektur unserer Innenstadt und nicht an den wenigen „zeitgenössische Spuren“ des modernistischen Städtebaus Ich kann mir kaum vorstellen, dass Touristen beigeistert vorm City Center Frauentor stehen bleiben, um dessen Anblick für die Lieben daheim auf ihrem Smartphone festzuhalten Zum Glück ist das Gebäude einer der wenigen Neubauten in der weitgehend erhaltenen historischen Görlitzer Innenstadt Solche Verunstaltungen gibt es leider in fast jeder Deutschen Stadt zu bestauen, dafür muss man nicht extra nach Görlitz reisen Städtebauliche Wunderwerke wie Paris, Prag oder eben auch Görlitz konnten hingegen nur bestehen bleiben, weil so gut wie kein moderner Architekt darin sein eigenes Genie verewigen wollte und in ihnen herumpfuschen durfte Selbstverständlich können neue Häuser auch wie neu aussehen, sten Entwürfe des DZA zur zukünftigen Gestaltung seiner Gebäude auf dem Görlitzer Kahlbaumareal (Abbildung oben links auf dieser Seite) stimmen zuversichtlich Es wäre ohnehin ratsam, wenn sich Architekten bei der Entwicklung von neuen Gebäuden an Immanuel Kants kategorischen Imperativ erinnern würden: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde “ Auf die Architektur bezogen bedeutet dies in etwa „Baut in einer Weise, dass Ihr selbst und Eure Familie zu jeder Zeit mit Freude Eure Gebäude benutzen, in ihnen wohnen und arbeiten, die Freizeit verbringen und in ihnen alt werden könnt “

Leider wird und wurde das ausgerechnet von vielen bekannten modernistischen Highttech-Archtitekten wie zum Beispiel Richard Rogers und Norman Foster anders gesehen Diese neigen dazu – ähnlich wie viele Politiker dieser Tage - Wasser zu predigen und Wein zu trinken – oder anders gesagt: Sie bewohnen privat elegante Altbauten in charmanten Wohnvierteln, wo Handwerkskunst, traditionelle Werkstoffe und humane Maßstäbe das architektonische Gesamtbild prägen Dagegen zwingen Sie den Städten und ihren Bewohnern aus

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